Die Gartenlaube (1861)/Heft 45
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No. 45. | 1861. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Unter Fremden.
„Sie haben bereits meine Schwester, sowie die Wirthschafterin kennen gelernt,“ fuhr Major Wood nach einer Pause fort; „Beide halten Ihr Erscheinen hier für einen Eingriff in ihre Rechte, und ich bin nicht dazu gemacht, um Frauen, die in anderer Beziehung ganz ihre Stellung ausfüllen mögen, zur Raison zu bringen. Können Sie Beide vermeiden, können Sie sich hier Ihre eigene Welt schaffen, so will ich meine Maßregeln danach treffen, daß Ihnen in keiner Beziehung etwas fehlen soll, Sie dürfen nur gegen Flora deshalb Ihre Wünsche äußern – im andern Falle aber versieht es sich, daß Ihnen jeden Tag der Austritt mit Beibehaltung Ihren ersten vierteljährlichen Gehaltes offen steht. Mich selbst werden Sie wenig sehen, da mich meine Geschäfte einen großen Teil meiner Zeit vom Hause fern halten, nöthigenfalls werden Sie sich aber durch Flora stets mit mir in Rapport setzen können.“ Er hob langsam den während des letzten Theils seiner Rede leicht gesenkten Kopf nach ihr, und in seinen Augen spielte ein Ausdruck von unsicherer Erwartung, der ganz verschieden von dem gewöhnlichen Charakter seines Blicks war und dem Mädchen eine größere Anhänglichkeit des Mannes an seine Kinder, als er wohl hatte zeigen wollen, zu verrathen schien.
„Ich werde thun, Sir, was in meinen Kräften steht,“ sagte sie mit der Wärme, welche im Augenblick ihren Entschluß beseelte, „und wenn sich dennoch die Unmöglichkeit eines solchen Verhältnisses herausstellen sollte, so sein Sie versichert, daß weder mein Herz noch mein guter Wille die Schuld daran tragen werden!“
Er blickte ihr zwei Secunden wie in halber Selbstvergessenheit in’s Auge, erhob sich dann aber rasch und wandte sich nach dem Schreibtisch zurück. „Gut, Miß, ich danke Ihnen!“ sagte er kurz, dort nach einer augenscheinlich bereit gelegten Banknote greifend, „nehmen Sie hiervon Ihren vierteljährlichen Gehalt und bestreiten Sie mit dem Uebrigen die Ausgaben, welche für die Kinder nöthig werden – berechnen wollen wir uns später einmal – und nun, bitte,“ schloß er, ihr die Hand reichend und die ihre mit einem kräftigen Drucke umschließend, „senden Sie mir Flora!“
Lucy glaubte die Selbstständigkeit ihres Denkens erst ganz wieder zu erlangen, als sie ihr Zimmer betreten. Die Kinder spectakelten in der Nebenstube, sie achtete indessen, nachdem sie die Mulattin weggesandt, im augenblicklichen Drange ihrer Gedanken nicht darauf und trat an’s Fenster. Die nächste Zukunft ihres Lebens war also festgestellt; was ihr aber, dem Major gegenüber, kaum beachtenswerth erschienen, daß sie sich hier ihre eigene Welt zu bilden habe, das wollte bei einem allgemeinen Blicke über ihre Lage eine ganz veränderte Färbung annehmen; es hieß doch nur, sie zu einer völligen Abgeschlossenheit und Einsamkeit, für wie lange wußte sie nicht, verdammen. Daß die Schwester des Majors ihr niemals den Entschluß zu bleiben, niemals ihr directes Verhandeln mit dem Hausherrn und ihre einzunehmende selbstständige Stellung, welche die Autorität Jener völlig bei Seite setzte, verzeihen werde, war ihr beim ersten Blicke, welchen sie in das graue Auge dieser Frau geworfen, klar geworden; daneben hatte ihr auch ihre rasche Auffassung der Dinge gesagt, daß sich ein Einfluß auf den Major nur durch die Kinder erreichen lasse, die nun in ihrer Hand waren – durch diese Frau allein aber wäre es ihr möglich geworden, zu einem irgend passenden Umgänge aus der Nachbarschaft zu gelangen, und so wenig sie auch bis jetzt auf viel Gesellschaft gegeben, so war sie doch jung, war für den Kreis gebildeter Menschen erzogen, und eine Art Sorge, ob sie werde ausführen können, was sie versprochen, überkam sie bei dem Bilde ihres künftigen abgeschlossenen Lebens. Sie hatte indessen einmal ihr Wort gegeben, und fast war es ihr, wenn sie an die letzten Momente ihres Gesprächs mit dem eigenthümlichen Manne dachte, als würde sie es, selbst jetzt, noch einmal geben.
Draußen schien eben Richard unter dem Aufschreien der kleinen Mädchen gymnastische Uebungen anzustellen, und Lucy warf von sich, was sich drückend auf ihre Seele gelegt, mit festem Sinne dem Beginne ihrer Wirksamkeit zueilend. –
Ein eigenthümliches Leben war es jedenfalls, was sich von da ab in dem Hause gestaltete. In den ersten Tagen hatte Lucy genug zu thun gefunden, um nicht auf ihre Umgebung viel achten zu müssen; die Garderobe der Kinder war einer genauen Durchsicht unterworfen worden, und Flora hatte auf ihren kaum geäußerten Wunsch zwei nähkundige Negermädchen herbeigebracht; dann mußte an den Beginn eines regelmäßigen Unterrichts gedacht werden, der jedenfalls schon einmal versucht worden war, da sich die zum Anfange nöthigen Bücher im Hause vorfanden – schon das Wort Unterricht aber hatte die Kinder, die nicht die angenehmsten Erinnerungen daran in sich tragen mochten, völlig rebellisch gemacht, und es bedurfte der ganzen Freundlichkeit und Mühe Lucy’s, um die alten Eindrücke zu verwischen. Als aber eine sichere Regelmäßigkeit in des Mädchens Tagewerk kam, erhielt sie mehr Augen für das, was um sie her vorging. Sie schien für die beiden Frauen im Hause durchaus nicht in der Welt zu sein. Keine achtete bei den nothwendigen einzelnen Begegnungen auch nur mit einem Blicke auf sie; ihr ernster Gruß, den sie niemals unterließ, [706] ward nicht gesehen, das Zimmer im untern Stock, worin sich das ihr überwiesene Piano befand, ward auffällig gemieden, und wo die Kinder einer oder der andern der Frauen in die Hände liefen, wurden sie mit einem „Armes Ding! aufgenommen, mitleidig gestreichelt und dann mit einem Kopfschütteln entlassen. Lucy sah die Absicht sie zu kränken – durch eine Vernachlässigung ihrer Mahlzeiten schien dies nicht mehr geschehen zu können, denn ihr Tisch war schon vom zweiten Tage an reichlich und gut besetzt, und Flora hatte ihr mit einem bedeutsamen Augenzwinkern gesagt, sie möge darauf rechnen, daß es so bleibe – Lucy sah die zur Schau getragene Absicht und fühlte, daß sie sich darüber leicht werde hinwegsetzen können; sie schritt unbefangen mit den Kindern durch das Haus, wenn sie mit diesen nach den Unterrichtsstunden einen Gang in’s Freie machte; sie setzte sich Abends leichten Herzens allein an das Piano, um ihre schöne Fertigkeit nicht einschlafen zu lasten, und vergaß in der Musik für eine Weile eine Gegenwart, die kaum schmuckloser und nüchterner für sie hätte sein können, die aber bis jetzt wenigstens noch nicht zur Last für sie geworden war.
Erst am Ende der zweiten Woche sollte sie weitere Erfahrungen machen. Ausnahmsweise hatte es ein kärgliches, mißrathenes Frühstück gegeben, und Lucy schritt soeben mit den Kindern nach ihrem Zimmer hinauf, als sie Flora’s zankende Stimme in der Küche vernahm.
„Ruhig hier, wir Beide haben nichts mit einander zu verhandeln,“ hörte sie die Wirthschafterin erwidern; „hast einmal wieder für eine neue Tochter zu sorgen, Flora, und möchtest Dich um sie zerreißen; laß sie sich aber nur vorsehen, daß sie nicht als Zweite hinüber in’s Gartenhäuschen kommt!“
Es lag etwas wie stille Drohung in dem Tone der Worte, und Lucy halte unwillkürlich ihren Schritt angehalten. Kaum konnte mit der „neuen Tochter“ Jemand anders gemeint sein, als sie; was aber um Gotteswillen waren die Gedanken dieser Frau, die sie, die Fremde, mit dem Gartenhäuschen, wo die Geisteskranke sich befand, in Verbindung bringen konnte? Einen Augenblick lang trat der Abend, an welchem sie die Klagetöne dort vernommen, sammt dem unheimlichen Gefühle, das sie damals überschlichen, vor ihre Seele und fast wollte es sie überkommen, als sei sie in Verhältnisse getreten, die in ihrer Verborgenheit sich wie ein unsichtbares Netz um sie schlingen würden, bis sie rettungslos verwickelt irgend einem unbekannten Verderben Preis gegeben sei – nur einen Augenblick lang währte die Regung, dann scheuchte ihr kräftiger Geist die wirren Vorstellungen hinweg und sie sagte sich, daß dem Aerger jede Weise recht sei, um sich Luft zu machen. Sie sah Flora bleich und mit zuckendem Gesichte aus der Küche schießen und, statt ihren Weg wie gewöhnlich nach Lucy’s Zimmer zu nehmen, sich nach den hinteren Theilen des Hauses wenden, und mit einem bedauernden Kopfschütteln schritt das Mädchen weiter; oben angelangt aber konnte sie es nicht unterlassen, einen Blick hinüber nach dem kleinen Hause zu werfen. An manchem Abende hatte sie den Lichtschein, der ihr am ersten Abende aufgefallen, wieder beobachtet, aber nie mehr einen Laut von dort vernommen; deutlicher als je aber trat jetzt von Neuem das damals belauschte Bild vor sie, und als sie sich endlich abwandte, konnte sie, trotz ihres Strebens, sich von dem erhaltenen Eindrucke frei zu machen, sich einer Art innerer Beklemmung nicht ganz erwehren. Sie hieß endlich die Kinder zum Beginn des Unterrichts niedersitzen, aber so viel sie sich auch zur Aufmerksamkeit zwingen mochte, immer stiegen wieder die Worte der Wirthschafterin, in ihr auf, hörte sie den eigenthümlich drohenden Ton derselben, begann sie fast unbewußt über eine Deutung zu grübeln.
Es mochte vielleicht eine Stunde verflossen sein, und sie wollte eben ihren Schülerinnen eine Pause zur Erholung gönnen, als sich vorsichtig die Thür ihres Zimmers öffnete, ein spähendes, gutmüthiges Gesicht sich hereinschob und diesem mit einem lachenden deutschen „Da sind Sie ja endlich!“ die Gestalt einen jungen Mannes folgte. Lucy blickte einen Moment verwundert auf, im nächsten aber hatte sie trotz der veränderten Erscheinung ihren Helfer in der Noth bei ihrem nächtlichen Abenteuer in der Stadt erkannt, und ein wohlthuendes Gefühl überkam sie beim Anblick dieses ehrlichen, jovialen Gesichts. Der Angekommene schien es auf einen Besuch bei ihr abgesehen zu haben, wenigstens hatte seine frühere Arbeitstracht einem völlig modernen Anzüge Platz gemacht, und trotz der etwas derben Hände bot er eine durchaus passabele Erscheinung.
„Mr. Reinert! das ist ja eine angenehme Ueberraschung!“ rief das Mädchen sich mit aufgeklärtem Gesichte erhebend, „wer aber, um Gotteswillen, hat Sie denn hier herauf gebracht? War denn Niemand da, der mich hätte nach dem Parlor rufen können?“
„Das heißt wahrscheinlich: es ist ein Bock gegen die feine Lebensart, ohne Weiteres hier herein zu tappen,“ erwiderte der Eingetretene mit einem gutmüthigen Lachen die ihm entgegengestreckte Hand drückend, „ich bin indessen nur froh, daß ich Sie überhaupt gefunden – ’s sind curiose Leute in Ihrem Hause, wollte Sie Keins auch nur kennen, und die alte Lady sah mich an wie ein deutscher Polizeicommissär. Ich hätte wohl unverrichteter Sache wieder meiner Wege gehen können, wenn sich nicht eins von den schwarzen Gesichtern meiner erbarmt und mich hier herauf geschickt hätte!“
Lucy war bleich geworden – sie halte nicht geglaubt, daß die Opposition ihrer Gegnerinnen so weit gehen könne, und ein peinliches Gefühl ihrer schutzlosen Lage überkam sie. „Und Sie sind sicher, daß Sie richtig verstanden worden sind?“ fragte sie, sich nach einem Stuhle wendend, um die Zeichen ihrer Erregung zu verbergen.
„Hat es doch das schwarze Gesicht gethan!“ lachte der junge Mann zuversichtlich; „aber lassen Sie nur, Miß, und ärgern Sie sich nicht, wenn sonst über nichts Schlimmeres!“ setzte er gutmüthig hinzu, „ich kenne schon den amerikanischen Hochmuthteufel, der die Deutschen kaum für richtige Menschen ansehen möchte; ich hatte schon damals meine Gedanken, als ich erfuhr, daß Sie in eine amerikanische Familie gingen!“
„Setzen Sie sich, Mr. Reinert!“ sagte Lucy, kaum halb auf die Worte hörend.
„Nur eine halbe Minute, Sie haben auch zu thun!“ erwiderte er mit einem Blicke auf die Kinder, welche mit offenem Munde die fremde Erscheinung anstarrten und der fremden Sprach lauschten. „Ich komme wegen zweierlei! Sie haben ein Tuch bei uns liegen lassen,“ fuhr er fort, ein kleines Packet auf den Tisch legend, „und ich dachte oft daran, es mit heraus zu nehmen, wenn ich zum Einkaufen in die hiesige Gegend fuhr – das geschieht nun aber erst heute, wo ich noch einen andern Auftrag für Sie habe. Ich weiß nicht, ob Sie an dem Morgen, wo Sie von uns gingen, etwas gemerkt haben – nun es ist einerlei!“ sprach er mit einer launigen Kopfbewegung weiter, „und kurz heraus, meine bisherige Wirthin wird meine Frau und läßt bitten, ob Sie nicht morgen zur Hochzeit auf ein paar Stunden, oder so lange es Ihnen gefiele, mit bei uns sein wollten – sie hat Sie geradezu in’s Herz geschlossen und die ganze Zeit her von Ihnen gesprochen!“
Dem Mädchen ward es bei der schmucklosen Einladung, als überwehe sie in der eisigen Luft ihrer jetzigen Verhältnisse ein warmer Hauch, und nie glaubte sie das deutsche Gemüth mehr ausgeprägt gesehen zu haben, als jetzt in den Mienen des vor ihr Sitzenden. Sie konnte es nicht unterlassen, ihm nochmals mit einem lebhaften Drucke die Hand zu reichen, und sagte: „Ich wünsche Ihnen alles Glück, das gewiß nicht ausbleiben wird, Mr. Reinert, und ich würde mich jedenfalls einstellen, wenn meine Verhältnisse es nur einigermaßen erlaubten. Aber ist es auch nicht morgen, so komme ich sicher einmal in den nächsten Tagen – Sie haben mir wirklich eine große Freude durch Ihre Einladung gemacht.“
„Ich hab’s doch gewußt, Sie sind eine echte Lady, Zoll für Zoll, daß man Ihnen nicht einmal für die abschlägige Antwort böse sein kann,“ erwiderte der junge Mann, mit einem eigenthümlichen Gemisch von Unmuth und Herzlichkeit die dargebotene Hand schüttelnd und sich dann erhebend. „Meine Alte wird schimpfen und meinen, ich habe meine Commission nicht fein genug angebracht, aber ich will Sie nicht weiter damit plagen. Versprechen Sie mir nur, Miß, daß Sie nicht vergessen wollen, wo die Reinert’s wohnen, wenn Sie einmal nach der Stadt kommen, und daß Sie uns für alle Fälle zu Ihren Freunden rechnen, wenn Sie einmal nichts Besseres bei der Hand haben.“
„Ich weiß wahrhaftig nicht, womit ich so viel Freundlichkeit verdient habe,“ gab das Mädchen zurück, „aber verlassen Sie sich darauf, daß ich sie zu würdigen weiß!“ und mit einem: „Wir werden ja sehen, uns sollen Sie wenigstens immer auf dem Platze finden!“ verabschiedete sich der Besucher, von dem Mädchen bis nach der Treppe geleitet.
Lucy war in ihr Zimmer zurückgekehrt und fühlte sich leichter, als sie es noch vor wenigen Minuten für möglich gehalten. Es war [707] nichts als eine einfache Herzlichkeit, die ihr entgegen getreten, und der, welcher sie ihr geboten, stand weder in gesellschaftlicher noch geistiger Beziehung auf einer Stufe mit ihr; aber es war ein Sonnenstrahl, den gerade jetzt ihre Seele bedurfte, und ohne daß sie daran dachte, jemals einen Nutzen daraus ziehen zu wollen, war es ihr doch, als stehe sie nicht mehr so vereinsamt und haltlos, als sie sich bisher gefühlt. Sie überlegte gelassen das Geschehene. Die Dame des Hauses hatte wieder eine Gelegenheit benutzt, um ihr eine Demüthigung zuzufügen; aber Lucy konnte zuletzt auch darüber hinaus kommen, um dem Vertrauen des Majors genug zu thun und sich selbst zu sagen, daß sie gelernt habe, sich zu fügen, selbst wo dies schwer sein mochte. Ruhig lag sie den Geschäften, welche der Morgen noch für sie hatte, ob, und selbst als die Mulattin sie mit einem Gesichte zu Tische rief, das von einer nur mühsam überwundenen Erregung sprach, vermochte sie dieser beruhigend auf die Schulter zu klopfen und sie zu ermahnen, nicht noch der Wirthschafterin die Freude zu machen, sich an ihrem Aerger weiden zu können. ——
Es war am späten Nachmittag, als sie mit den Kindern von einem Spaziergange zurückkehrte. Auf dem Rasenplatze vor dem Hause stand eine kleine Gesellschaft ältlicher und jüngerer Damen, augenscheinlich im Abschiednehmen von der Schwester des Majors begriffen, und Richard nannte schon von Weitem die Namen Einzelner derselben und bezeichnete sie als nahe Nachbarn. Lucy überflog mit unwillkürlicher Theilnahme die ihr zugewandten Gesichter. Das waren die Elemente, aus welchen sich leicht ein Umgangskreis für sie hätte bilden können, wenn ihr nur durch eine einfache Vorstellung Gelegenheit geboten worden wäre, sich geltend zu machen, und ihr Auge traf auf manche Züge, die ihr reges Interesse weckten. Da sah sie, wie sich einzelne Köpfe nach ihr drehten, um sich indessen nur schnell wieder zurückzuwenden und eine gleich kurze Aufmerksamkeit Anderer auf sie zu lenken; sie sah, wie Mrs. Lowell eine steife Kopfhaltung annahm und die Oberlippe verächtlich hob, wie die Gesichter der Uebrigen fast nur den Wiederschein des ihren zu bilden begannen, wie augenscheinlich die bisherige Conversation verstummte, und blitzschnell stieg die Erkenntniß in dem Mädchen auf, daß der Haß ihrer Gegnerin sich ein noch weiteres Feld als den Kreis ihres Hauses gesucht, daß durch irgend ein Mittel selbst jeder möglichen Freundlichkeit der Nachbarschaft gegen die Erzieherin vorgebeugt worden war. Ein mit tiefer Bitterkeit gemischter Stolz hob sich in ihr, als sie die halb neugierigen, halb unfreundlichen Blicke bemerkte, die bei ihrem Nahen auf sie fielen, während die Dame des Hauses ihr den Rücken zudrehte und mit den ihr Nächststehenden ein Gespräch über das Wetter begann. Mit hochgehobenem Kopfe, die Hände der beiden kleinen Mädchen festfassend, schritt sie an der Gesellschaft vorüber, verneigte sich leicht und betrat das Haus. Sie hörte, wie Richard hinter ihr angerufen wurde, aber ohne zurückzublicken, schritt sie nach ihrem Zimmer und blieb hier, die Kinder von sich lassend, in der Mitte des Raumes stehen. War das nicht mehr, als selbst ein ruhiges Gemüth zu ertragen vermochte? Was auf Erden konnte es wohl geben, das ihr, unbetheiligten Fremden gegenüber, zum Vorwurf gereichen, das ein Begegnen wie das eben erlittene rechtfertigen konnte, wenn ihre Feindin nicht die Lüge und die Verleumdung zu ihren Bundesgenossen gemacht? War aber dies Verfahren einmal gegen sie eingeschlagen, so konnte doch ihr Aufenthalt hier kaum anders als in einem Ruin ihres guten Namens enden, hier, wo sie nur an der Wirkung zu erkennen vermochte, was gegen sie geschah, ohne nur die Möglichkeit einer Vertheidigung für sich zu haben! Und warum ging sie denn nicht und überließ ihren Feinden das Feld, auf dem ihr, doch niemals ein Segen erwachsen konnte?
In einem Zwiespalte mit sich, der ihr den Glauben an die eigene Energie zu rauben drohte, sah sie Richard eintreten, der mit einer Art von Siegesmiene auf sie zuschritt. „Sie sind böse auf Sie da unten, Miß Lucy, ich hab’s wohl gemerkt, als sie mich ausfrugen; aber ich habe es ihnen gesagt!“ begann er mit blitzenden Augen. „Ich habe gesagt, Miß Lucy ist unsere neue Mama, der Niemand weh thun soll; Pa hat sie lieb und wir haben sie lieb. Tante Lowell und die Wirthschafterin mögen fortgehen, wenn sie wollen, hat Pa gesagt, aber Miß Lucy bleibt hier! Tante Lowell hat mich dafür schlagen wollen, aber sie ist nicht schnell genug gewesen!“ Er lachte lustig auf und sprang nach dem anstoßenden Zimmer; dem Mädchen aber war das Blut in’s Gesicht getreten, sie wußte selbst nicht warum; es waren nur kindische Worte, die sie gehört, und doch meinte sie noch von nichts so warm und wohlthuend im Herzen berührt werden zu sein, und erst nach einer Weile tauchte langsam der Gedanke in ihr auf, daß die ihr augenblicklich gewordene Genugthuung doch kaum zu etwas Anderem führen könne, als die Erbitterung ihrer Gegnerinnen nur zu vermehren. Sie saß nieder am Fenster und begann von Neuem über ihre Lage zu grübeln, bis ihr der Kopf weh that; von drüben blickte ihr das Gartenhaus wie ein verkörpertes Geheimniß entgegen; das Gesicht des Majors in eigenthümlichem Zusammenhange mit den seltsamen Worten der Wirthschafterin trat vor sie, und wirre, abenteuerliche Vermuthungen begannen sich in ihr zu bilden, bis endlich Flora’s Eintritt, welche zum Abendessen rief, sie ihrem Hinbrüten entriß.
Es war dunkel geworden, die Zeit, in welcher die Kinder zum Schlafen gebracht wurden, fast fürchtete sich aber Lucy vor dem Alleinsein und ihren Phantasie-Gebilden. Morgen früh beim klaren Sonnenlichte wollte sie einen klaren Entschluß fassen, heute in ihrem erregten Zustande aber jeden Gedanken daran von sich werfen. So nahm sie ihre Zöglinge mit sich in das Zimmer, wo das Piano stand, ließ die kleine Maggy auf ihrem Schooße sitzen und erzählte eine lange Geschichte; als aber das kleine Mädchen am Ende derselben fest eingeschlafen war, hob sie es leise herab, bettete es in den Schaukelstuhl und setzte sich dann zum Piano, dem, was in ihr lebte, was sie drückte, in den Tönen des prächtigen Instruments Ausdruck gebend; Lotty hatte sich bald einen niedrigen Schemel neben sie gezogen, den Kopf an ihren Körper gelehnt und die Augen geschlossen, während Richard auf einem Stuhl in der Fenstervertiefung nur eine kurze Zeit langer gegen seine Müdigkeit kämpfte, und erst nach geraumer Weile ließ Lucy mit einem tiefen Athemzuge die Hände von den Tasten gleiten. Als sie aber jetzt nach den Kindern um sich blickte, begegnete ihr Auge dem des Majors, welcher, bequem auf dem Sopha im Hintergründe niedergelassen, den Blick wie in voller Selbstvergessenheit auf sie geheftet hielt, und Lucy fühlte eine plötzliche Verlegenheit über sich kommen, als sei das Geheimste ihren Herzens belauscht worden. „Ich wußte nicht, Sir, daß Sie hier waren!“ sagte sie, sich nach dem Kinde an ihrer Seite niederbeugend.
„Bin ich Ihnen lästig, Miß, so gehe ich,“ erwiderte er, den Kopf rasch hebend, und Lucy sah im Aufblicken eine tiefe Falte sich zwischen seine Augen legen, „ich will Sie nicht hier vertreiben!“
Fast meinte das Mädchen einen Anflug von Bitterkeit in seinen Worten zu hören, und eine Ahnung der gänzlichen Gemüthlosigkeit, in welcher der Mann im eigenen Hause leben mochte, beschlich sie. „Ich glaube doch kaum etwas Derartiges gesagt zu haben,“ versetzte sie mit unwillkürlicher Herzlichkeit, „ich war nur überrascht, nicht mit den Kindern allein zu sein!“
„Und sind Sie des hiesigen Alleinseins noch nicht müde?“ fragte er, ohne den Ausdruck seiner Züge zu ändern. Lucy aber begegnete einem so scharf beobachtenden Blicke, daß sie eine größere Bedeutung in der Frage suchen mußte, als in den einfachen Worten zu liegen schien. Halte er etwas von den ihr gewordenen Kränkungen erfahren?
„Ich habe voraussehen können, daß ich völlig ohne Umgang und Gesellschaft sein würde,“ erwiderte sie zögernd, „wenn dies auch unter einigermaßen andern Verhältnissen nicht durchaus nothwendig gewesen wäre –“
„Und jedenfalls ist die Sache unangenehmer als sie schien, wollen Sie sagen!“ unterbrach er sie. „Sie haben Recht, und ich hätte das Kommende wissen können. Sie haben heute Besuch gehabt, Miß?“
Sein Ton war von einer so sonderbaren Schroffheit, daß das Mädchen kaum wußte, wie ihn zu deuten, oder welche Antwort zu geben. „Ich habe allerdings Besuch gehabt, Sir,“ erwiderte sie, ihre Haltung zusammenraffend, „einen Landsmann von mir, der sich meiner in einer frühern dringenden Verlegenheit angenommen; aber ich weiß durchaus nicht, in welcher Beziehung er zu der vorigen Frage stehen soll –“
Sein Blick ruhte im finstern Forschen auf ihr. „Very well, Miß,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „Sie haben ein Auge, das sich kaum zum Lügen eignet, und ich frage nicht weiter nach der Beziehung dieses Mannes zu Ihnen. Flora hat mir einzelne Dinge von den Vorgängen im Hause hinterbracht, die mich um Ihre Festigkeit besorgt machten, und kaum hätte ich es Ihnen verdenken [708] können, wenn Sie irgend eine Gelegenheit zur Aenderung Ihrer Lage ergriffen hätten. Meine eigenen Empfindungen müssen Ihnen allerdings gleichgültig sein, aber um der Kinder willen möchte ich Sie bitten, auszuhalten, bis ich Ihnen freien Weg schaffen kann, was nicht mehr zu lange währen soll!“ Er erhob sich, als fürchte er mehr zu sagen, und ging einen Schritt nach der Seitenthür, wandte sich aber dort zurück und reichte dem Mädchen die Hand. „Denken Sie daran, daß den Kindern die Mutter fehlt!“ sagte er, und Lucy sah in ein Auge, in welchem eine herbe Bitterkeit mit der aufsteigenden Weichheit zu kämpfen schien; sie fühlte einen Druck seiner Hand, der ihr fast weh that, und dann sah sie die Seitenthür sich hinter ihm schließen; sie aber meinte in diesem Augenblicke, daß keine Macht der Erde stark genug sein könne, sie den übernommenen Pflichten abwendig zu machen. –
Sie hatte die Kinder zur Ruhe gebracht, aber eine stille Erregung, die nichts mit ihrer frühern Stimmung gemein hatte und die sie doch auch mit Worten nicht hätte bezeichnen können, ließ sie noch nicht daran denken, ihr eigenes Lager zu suchen. Ein klarer Mondschein lag rings um das Haus auf der Landschaft, und als sie einen Blick durch das Fenster warf, meinte sie, nicht schneller in sich selbst Ruhe schaffen zu können, als wenn sie noch einen Gang durch die nächsten Umgebungen mache, die wie ein Bild des Friedens und der Stille vor ihr lagen. Sie sah noch einmal nach den Kindern und verließ dann geräuschlos das Haus, ihren Weg an der Grenze der Gartenanlagen hinnehmend, bis sie den Obstgarten, welcher sie vor allen Blicken aus dem Hause schützte, erreicht hatte. Langsam folgte sie hier einem der geschlängelten Wege und bald begann sie den wohlthuenden Einfluß des freundlichen Nachtbildes, welches ihr von allen Seiten entgegenblickte, auf sich zu fühlen.
Sie grübelte jetzt nicht mehr über ihre Lage, sie wußte, daß sie hier bleiben und aushalten müßte, was auch über sie ergehen werde, bis er es vermöge, die Verhältnisse zu ändern. Sie dachte kaum daran, sich klar zu machen, was sie hier hielt, was diese Bereitwilligkeit in ihr hervorgerufen, sich für ein fremdes Interesse zu opfern, sie wußte nur, daß sie nichts gegen die Macht dieses Blicks vermochte, mit welchem der Major sie verlassen. Wohl hätte sie errathen mögen, was dieser kräftigen Natur im eigenen Hause die Hände binden und sie zu einer Bitterkeit treiben könne, wie sie heute ihr aus seinem Auge entgegengesprungen, aber sie stieß nur auf die alten Räthsel, die sich ihr seit dem ersten Tage geboten – da hielt sie plötzlich ihren Schritt an. Ihr Weg hatte sie ins Freie geführt, und dicht vor ihr lag das Gartenhaus. Matt stach das erleuchtete Fenster gegen die Mondhelle ab, und Lucy von einer Art plötzlicher Scheu vor dem Orte befallen, wollte sich eben wieder zurückwenden, als ihr Blick auf eine Gestalt fiel, die, auf eine unweit entfernte Bank hingeworfen, das Gesicht in die beiden untergelegten Arme verborgen, mehr dort lag als saß, und ein zweiter, schärferer Blick ließ sie ohne Schwierigkeit das Aeußere des Majors erkennen. Eine halbe Minute lang stand sie zögernd, unwillkürlich lauschend, ob sich kein Ton aus dem Häuschen vernehmen lasse, dann aber stieg eine plötzliche Besorgniß in ihr auf – die Gestalt lag so völlig regungslos, als sei das Leben aus ihr entwichen; dazu war die Stellung eine so auffallende, daß sich ganz von selbst der Gedanke an die Möglichkeit eines unglücklichen Vorfalls bot, und langsam trat das Mädchen näher, bereit, bei der kleinsten Bewegung sich zurückzuziehen. Aber sie stand schon neben dem Daliegenden, ohne auch nur ein Zeichen des Athemholens bemerken zu können, und in verstärkter Sorge legte sie mit einem „Major!“ die Hand auf seine Schulter. Aber mit einem plötzlichen Ruck schnellte er zu einer sitzenden Stellung auf, sah das fast erschreckte Mädchen zwei Secunden wie geistesabwesend an und stand dann auf seinen Füßen vor ihr. Seine Stirn zog sich finster zusammen, als er sie erkannte. „Was thun Sie hier? was wollen Sie von mir?“ sagte er barsch, „die Neugierde hat Sie getrieben, Sie sind mir nachgeschlichen! Eine wie die Andere!“ setzte er wie in tiefer Bitterkeit hinzu.
„Ich schleiche Niemand nach, Sir, und die Neugierde gehört am wenigsten zu meinen Fehlern!“ versetzte Lucy, welcher sein rauher Ausbruch schnell ihre volle Fassung wiedergegeben; „hätte mich nicht der bloße Zufall hergeführt, so wäre ich wohl schwerlich so weit gegangen, Sie in der Sorge um Ihren Zustand zu berühren.“
„Ah, und Sie haben, seit Sie hier sind, wahrscheinlich noch kein Wort von diesem Hause gehört,“ versetzte er mit einem Tone, dessen Ironie dem Mädchen weh that, „haben sich auch noch mit keinem Gedanken darum gekümmert!“
„Ich habe Sie einmal im Scheine dieses Fensters gesehen, Sir, und dabei eine Ahnung erhalten, daß Ihr Leben nicht ohne Schmerz ist,“ entgegnete sie ernst, „ich habe später einige unverständliche Worte in Bezug auf das Haus fallen hören, ohne nach Dingen zu forschen, zu deren Ergründung ich das wenigste Recht hatte, und wenn ich Sie jetzt bitte, mir zu glauben, so ist dies wohl nicht mehr, als worauf ich Anspruch machen darf.“ Sie neigte leicht den Kopf und wollte mit einem „Gute Nacht, Sir!“ sich wegwenden, aber die Hand des Dastehenden legte sich auf ihre Schulter.
„Bleiben Sie, Miß,“ sagte dieser, „es ist mir, als müsse ich glauben, daß Sie nicht zu dem großen Troß gehören, wenn dies auch ein wunderliches Gefühl für mich ist, aber wenigstens haben Sie ein Herz – die Deutschen, heißt es, besitzen einen Vorzug darin vor uns – und es ist besser, Sie hören von mir, was Ihnen doch einmal aus anderm, vielleicht gehässigem Munde zu Ohren kommen muß. Setzen Sie sich her!“ fuhr er fort und ließ sich auf die Bank nieder, das Gesicht in beide Hände legend, und von einem wunderbaren Interesse für das, was sie vernehmen werde, getrieben, nahm Lucy neben ihm Platz.
„In diesem Hause,“ begann er nach einer Pause langsam den Kopf hebend und den Blick vor sich auf den Boden richtend, „wohnt die einzige Frau, welche ich in meinem Leben ohne Selbstsucht gefunden, die einzige, die mich meiner selbst willen geliebt hat, und die gerade deshalb zu Grunde gerichtet worden ist, ohne daß ich sie hätte retten können.“
„Es gab eine Zeit,“ fuhr er nach einer neuen Pause fort, „da galt die alte Flora als das schönste Mulattenmädchen, und mein Vater wurde vielfach um ihren Besitz beneidet, obgleich er als eifriges Kirchenmitglied kein anderes Verhältniß zu ihr als das des Herrn zur Sclavin einräumen wollte. Ich war damals nie daheim, bald im Osten, bald in Europa, nur kam eines Tages gerade noch recht, um meinen Vater auf dem Sterbelager zu finden. Meine Schwestern waren verheiratet, und er hatte kaum noch etwas zu ordnen; dennoch schien ihn meine Ankunft zu erleichtern, und als er sich mit mir allein sah, war sein erstes Wort: „Richard, versprich mir eins, berühre Flora’s Tochter nicht, denn sie ist Deine Schwester!“ Es lag nichts Außergewöhnliches in dem eingestandenen Verhältniß, und ich dachte, als ich ihm das geforderte Versprechen in die Hand gab, nur daran, mich baldmöglichst einer Verwandtschaft, die nur zu Inconvenienzen führen konnte, zu entledigen, mein Vater selbst billigte diesen Plan lebhaft, aber mein leichtes Herz spielte mir bald einen verhängnißvollen Streich. Kaum war ich nach dem Tode des alten Herrn mit einer Uebersicht des Nachlasses beschäftigt, so trat eines Morgens ein Gesicht in meinen Weg, wie ich es kaum schöner gesehen; ein Paar tiefe, große Augen, die meine ganze Erscheinung mit einem Male erfassen zu wollen schienen, begegneten den meinen, und eine Stimme, die wie zum Bitten geschaffen war, sagte: „Master, ich flehe Sie an, lassen Sie mich bei meiner Mutter und verkaufen Sie mich nicht an Fremde – der alte Mr. Wood hat es gewollt, ich weiß es, aber seien Sie barmherzig – ich bin Mary, Flora’s Tochter, Sir!“
Das Mädchen war beinahe völlig weiß, ihre Gestalt hätte kaum von jugendlich edleren Formen sein können, und mich überlief ein warmes Mitleiden bei dem Gedanken, sie in irgend eine rohe Hand nur als Opfer der Sinnlichkeit fallen zu sehen; sie war zudem immer ein Stück von einer Schwester, und ich ließ der augenblicklichen Regung ihr Recht – sie erhielt das Versprechen, in ihren bisherigen Verhältnissen gelassen zu werden, und wortlos, aber mit einem wunderbar warmen Aufblick meine Hände küssend, eilte sie davon.“
Es waren lange Wagenzüge, welche aus dem Aachen der Preußenkrone die Masse der Theilnehmer und Zuschauer eines mittelalterlichen Festspiels wieder heimwärts beförderten. Die Krönung ist geschehen. Die Königsberger Hofchronik hat den Act ausführlich beschrieben; in der Geschichte wird er einst eine Zeile einnehmen.
Nicht kampfgewohnte Ritterschaaren mit der getreuen Vasallen Fähnlein und Wappentrompetern trabten aus den Thoren ihren Burgen zu, nein, der grelle Pfiff der Locomotive gebot der größten Menge, zu den Wagenreihen zu eilen, die alle Arten von Ständen mit demselben Dampfe davon trugen. Das hohe Eisenroß mit dem glühenden Athem ist das Wappenbild der Gegenwart. Was im öffentlichen Leben der Völker an Großartigkeit des Gedankens und der That diesem Bilde nicht entspricht, muß es sich gefallen lassen, auf seinen wirklichen Werth herabgesetzt zu werden.
Das Völkerleben der Gegenwart ist so hart durch die endlose Unsicherheit der Zukunft, und dazu ist der geistige Fortschritt in den Ländern der Bildung ein so entschiedener, daß sein strenger Ernst auch zu den Herrschergeschlechtern seine Ansprüche erhebt.
Die Zeit der Spiele ist vorüber,
Erstanden ist im Volk der Mann –
und wohin ein ganzes Volk sein Auge richten soll, da muß auch Etwas geschehen, das des Hinschauens werth ist. Die Tage liegen hinter uns, wo eine Dynastie glauben durfte, durch äußern Pomp ihren Glanz zu erhöhen. Es kann nicht mehr besondere öffentliche Feste der Fürsten und besondere öffentliche Feste des Volks geben. Beide gehören unzertrennlich zusammen, und die herrlichsten Feste werden die sein, mit welchen ein Volk aus freiem Herzen eine fürstliche That feiert. Eine solche Feier verkündet nicht nur den wahren Glanz der Dynastie, sie mehrt auch deren Macht, denn sie kommt auf der politischen Wagschale wiederum der Schwere einer That gleich. – Und wie leicht entbehrt ein solches Fürsten- und Volksfest alles kleinlichen Aufputzes, der nur zur Befriedigung ständischer Eitelkeiten dienen kann, wie tief stehen unter der geschichtlichen Würde einer solchen Feier selbst die schmuckreichsten Uniformen von Oberstküchenmeistern und die rothesten Staatsjacken des Domchors!
Aber noch etwas schon so oft Bekämpftes würde ein Verhältniß zwischen Fürst und Volk, wie das angedeutete, entbehrlich machen: nämlich die starke Selbstvergötterung, welche in der Behauptung eines ganz besondern dynastischen Vongottesgnadenthums liegt und die – wenn solch ein göttliches Privilegium für alle „Kronen“ in Anspruch genommen werden sollte, also auch für die neapolitanische, russische, französische, hessische, modenesische, dänische, römische, spanische etc. – als eine schwere Versündigung an Gott beklagt werden müßte. Deutschland kennt einen Fürsten, der „die Formel“ „von Gottes [710] Gnaden“ von seinem Namen streichen ließ, weil sie dem fortgeschrittenen Geiste der Zeit widerstreitet; die höchst absichtliche Betonung dieser „Formel“ bei feierlichster Gelegenheit konnte nur geeignet sein, den aufrichtigsten Dank der Nation gegen jenen Fürsten hinzulenken.
Wir überlassen die Königsberger Festlichkeiten den Spalten und dem Schicksale der Tagesblätter und führen unsere Leser, statt vor die goldenen Thronstufen an der Ostsee, zur Felsenwiege der Hohenzollern im schönen Schwabenlande.
Das Schwabenland ist eine der reichsten Schatzkammern deutscher Geschichte. Auf seinen Bergen ragen die Denkmäler vieler Herrschergeschlechter, untergegangener und noch heute blühender, und in den Thälern steht manches einfache Haus, aus welchem Geister hervorgegangen sind, deren Ruhmeskränze zu Deutschlands Ehre ewig blühen.
Von den Denkmälern der Berge haben zwei weltgeschichtliche Bedeutung erlangt: das der Hohenstaufen und das der Hohenzollern; von jenem zeugt nur noch der Berg und die Geschichte, die Trümmer des Kaiserschlosses sind verschwunden; dieses prangt, zur Königsburg erhoben, in erneuerter Pracht, aber den bessern Theil seiner Geschichte hat das Geschlecht sich erst zu verdienen. – Abseits von Beiden, auf Schweizergrund, verwittert die Habsburg, deren Geschlecht das Schicksal zwischen Beide gestellt hat. –
Die Stammburg der Hohenzollern zieht uns jedoch nicht blos als historischer Markstein an, auch die Natur hat den Berg mit ihren Reizen geschmückt, und der Kunst ist zur Verherrlichung der Dynastie dort Manches gelungen. So erfreut sie uns von ferne durch ihr eigenes Bild und eröffnet uns auf ihren Zinnen ein entzückendes Rundgemälde.
Südlich von dem ehemaligen souverainen Fürstensitze Hechingen erhebt sich der waldige Berg der Burg zu einer Höhe von 2347 Fuß über dem Meere. Der Weg zu dem Felsenschlosse empor ist steil, aber schattig, und kann auch zu Wagen zurückgelegt werden. Je weiter wir uns vom Thale entfernen, desto prächtiger dehnt es sich zu unseren Füßen aus und desto reicher wird sein Rahmen von Hügelrücken und Bergeshäuptern; bald aber geben wir die Aussicht auf vor dem Anblick, welchen, je näher wir ihm kommen, um so imponirender der Mauerkranz mit den Zacken seiner Krone von Thürmen uns bietet.
Der Weg zum Eingang in die Burg windet sich im Halbkreise um die Umfangsmauer. Das erste Thor, Adlerthor genannt, empfängt uns mit Steinbildwerk und Inschriften und öffnet uns einen stattlichen Thorweg, welcher uns weiter zur Burg hinauf und unter anderen Baulichkeiten an einer freien gothischen Wendeltreppe vorüber führt, die von üppigem Epheu malerisch umrankt ist. Wir gelangen vor ein zweites Thor. Die Kunst hat zu seinem Schmuck zwei Knappen angebracht, welche trotzige Blicke nach dem Zellerhorn hinüberwerfen, einem Nachbarberge, von welchem der Burg, wenn ihr der Charakter einer Bergfestung geblieben wäre, vorzugsweise hätte Gefahr drohen können. Haben wir endlich das letzte Thor, über welchem sich der ebenfalls reich mit Bildhauerei verzierte Thorthurm erhebt, durchschritten, so breitet das Innere der Burg sich vor uns aus. Der Anblick ist überraschend durch die Großartigkeit und Mannigfaltigkeit der Bauwerke, die hier vor uns aufragen. Die Reihe wird eröffnet durch die im altdeutschen Style erbaute evangelische Kirche; an diese schließt sich die Kaserne an, ein stattlicher Bau von gleichem Style und mit der Inschrift: „Adlerhorst auf Bergeskron’ – Zollerns Stamm auf Preußens Thron.“ Eine prachtvolle Treppe führt vom Hofe aus zu den Schloßgebäuden, die im Halbkreise den ganzen westlichen Theil der Burg einnehmen und die durch ihre vier Thürme und die alte Warte einen wahrhaft imposanten Anblick gewähren. Mit dem auf Marmorsäulen ruhenden Gewölbe des Grafensaals neben dem Markgrafenthurm beginnt eine ansehnliche Zimmerreihe, darunter die Räume der Bibliothek, die königlichen Gemächer und Säle. An diese Bauten grenzt die alte Warte und der sogenannte Bischofsthurm, der höchste der ganzen Burg. Von da zieht sich der Schloßtheil der Königin, überragt von dem Kaiserthurme und dem durch die Kolossalstatue des Erzengels Michael und die Pracht des Baues ausgezeichneten Michaelsthurme, bis zur katholischen Burgkapelle. Neben dieser hat das Pulvermagazin seinen Platz, und der Burggarten schließt den Hof ab. In der Mitte desselben breitet eine uralte Linde ihre riesigen Aeste aus; sie ist erst in der Gegenwart zu einem geschichtlichen Baume geworden, als König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen unter ihrer Blätterkrone die Erbhuldigung des Volkes seiner neuen „Hohenzollernschen Lande“ entgegennahm.
Auch der Anfang dieser Burg liegt im Dunkel der Sagenzeit, und gefällige Geschichtsforscher wühlten im Diensteifer für die „königliche“ Dynastie weit in die Jahrhunderte hinein, um die Wiege des Geschlechts in möglichst glänzender Umgebung zu finden. Es gelang ihnen wirklich, bis zu Antenor, einem Helden von Troja, vorzudringen. Wir lassen ihnen ihre Freuden und sind mit der Notiz zufrieden, daß man nicht weiß, wer den Grundstein dieses Bergschlosses gelegt hat. Die Gelehrten des Landes sehen hier sogar Spuren eines Römercastells. Erwiesen ist dagegen, daß zu Carl’s des Großen Zeit ein Graf Thassilo von Zollern lebte und um das Jahr 800 starb; er gilt als der erste mit Sicherheit bekannte Stammvater der Familie, und das Schloß seines Namens hat also damals schon gestanden. Es ritten tapfere Männer droben ein und aus. Thassilo’s Sohn oder Enkel Rudolf (I.) folgte dem Heerrufe des Königs Heinrich (des Städtebauers) gegen Hunnen und Wenden und erwarb sich hohe Ehren. Ein Urenkel desselben, Friedrich (Fridolin), soll um das Jahr 980 das Schloß erneuert und um mehrere Gebäude vergrößert haben. Wieder begegnen wir zwei Hohenzollernhelden im Jahre 1061: Burkard und Wetzel, die in einem Kriege zwischen den Herzögen von Schwaben und Zähringen bei Rheinfelden den Tod fanden. Burkard’s Sohn, Friedrich III., genannt Maute, war der unzertrennliche Gefährte des Kaisers Heinrich V. und machte sich um die Stadt Speyer so verdient, daß diese sein Bild und Wappen mit einem Platz im Dome beehrte. Ebenso tüchtig erwies sich sein Sohn Rudolf (II.). Er errang nicht nur im Turnier zu Zürich 1165 den Ehrenpreis, sondern trat im Kampfe der Welfen gegen den Pfalzgrafen Hugo von Tübingen auf des Letztern Seite, und sein Schwert gab den Ausschlag in der Entscheidungsschlacht im Neckarthal bei Tübingen, wo am 6. September 1164 der Welfen Macht erlag. Ein bedeutender Zuwachs von Gütern war der Lohn für seine Thaten. Dieses Helden Sohn war jener Konrad, welcher durch seine Vermählung mit einer Erbgräfin von Vohburg, deren Hause das Nürnberger Burggrafenthum übertragen war, selbst Burggraf von Nürnberg und dadurch der Stifter der konradinischen oder fränkischen Linie des Hauses Hohenzollern geworden ist.
Dieser regelrechte Verlauf einer so wichtigen Erwerbung scheint jedoch dem Schicksal nicht gefallen zu haben; es ersann einen bedeutungsvolleren Gang, der von Sage und Dichtung vorgezogen wird. Darnach starb Burggraf Konrad frühzeitig und kinderlos, als die schreckliche Zeit des deutschen Interregnums (1256 bis 1273) sich ihrem Ende nahete. Dies herbeizuführen, war aber gerade des Grafen Eitelfritz von Hohenzollern eifrigstes Bestreben, und zwar führte er bei den deutschen Fürsten das laute Wort für den Grafen von Habsburg. Und als sein Wirken gelungen und Rudolf zu des Reiches Kaiser gewählt war, da eilte der Hohenzoller zu dem Habsburger, der eben vor Basel lag, um, der Erste, ihm die Kunde seines Glücks zu bringen. Aus Dankbarkeit belehnte der Habsburger den Hohenzoller sofort mit dem Burggrafenthum von Nürnberg –
„Und auf diesen Grund erbauet
Wuchs auch Zollerns Macht und Ehre,
Daß des Hauses Adler schauet
Nun vom Felsen bis zum Meere.“
Auf Burg Hohenzollern behielt die schwäbische Linie des Hauses ihren Sitz. Die ritterlichste Erscheinung aus demselben ist Graf Friedrich, genannt der Oettinger (weil er am Hofe des Grafen von Oettingen erzogen worden war), dessen unbändige Streitlust den Untergang der Bergveste herbeiführte. Nachdem derselbe mit allen seinen Nachbarn, fürstlichen und städtischen, in Fehden gelegen, versah er es, selbst die Gräfin Henriette von Würtemberg persönlich zu verletzen, ein Weib, das ihm einst in Liebe zugethan gewesen. Sie schwur ihm Rache und hielt Wort. Im Bunde mit Ulm, Rottweil und noch fünfzehn anderen Reichsstädten begann sie 1422 den Krieg, besetzte Hechingen und schloß die Burg Hohenzollern ein. Da wagten Haß und Liebe manchen kühnen Gang, denn während die erzürnte Gräfin viele Mannen vor den festen Mauern in den Tod führte, erstand den bedrängten Vertheidigern eine Beschützerin in dem „Mädchen aus der Steinlach“, Amasia von Mößingen. Die Liebe zu dem schönen Oettinger ließ ihr keine Ruhe, sie erfüllte sie mit dem Muthe, trotz aller Gefahren die Noth in der Burg zu lindern. Jede Mitternacht durchschritt [711] sie in langem, wallendem Gewande das Feindeslager, und Niemand vertrat der engelhaften Erscheinung den Weg. So versorgte sie lange Zeit die darbenden Kämpfer, bis endlich das irdische Wesen in ihr erkannt wurde. Der Engel der Burg lag in Ketten, und die hohe Veste fiel. Graf Friedrich suchte sich mit den Tapfersten seiner Schaar durchzuschlagen, gerieth in Gefangenschaft und begab sich, als er auf die Fürbitte der Markgräfin von Brandenburg die Freiheit wieder erlangt, auf eine Wallfahrt zum heiligen Grabe, von der er nicht zurückkehrte. Die stattliche Zollernburg aber ward von den Fäusten der Rache in einen Trümmerhaufen verwandelt, über welchen Würtemberg das Scepter ausstreckte.
Erst nachdem des Oettingers Sohn, Jost Nicolaus, wieder Herr des öden Berges und des Landes geworden war, beschloß er den Wiederaufbau der Burg. Derselbe begann im Jahre 1453, und zwar mit einer absonderlichen fürstlichen Feierlichkeit. Weil nämlich die Reichsstädte sich dem Bau alles Ernstes zu widersetzen drohten, so erschienen auf des Burgherrn Bitte zur Grundsteinlegung seine fürstlichen Freunde und Verwandten, der Erzherzog Albrecht von Oesterreich, die Markgrafen von Brandenburg und Baden und der Graf von Fürstenberg, mauerten mit silbernen Kellen und Hämmern den Grundstein und stellten dadurch die neue Burg unter ihren Schutz. Und weil die Fürsten einiger waren als die Städte, so mußten diese schweigen. Die meisten Bauwerke der heutigen Burg stammen aus jener Zeit.
Wie anderwärts begab es sich auch hier, daß um die Mitte des 16. Jahrhunderts das Wohnen in der Höhe nicht mehr nach dem Geschmack der fürstlichen Herrschaften war; dies widerfuhr auch jenem Eitel Friedrich (VI.), welcher, als das schwäbische Hohenzollern abermals in zwei Linien zerfiel, der Stifter der Linie Hechingen wurde. Er baute sich ein Schloß in der Hauptstadt seines Ländchens, während die Burg als starke Bergveste ihre weiteren Schicksale erwartete. Diese kamen mit dem dreißigjährigen Kriege. Die Schweden eroberten Land und Veste und übergaben Beides an Württemberg; letzterem entrissen es, und zwar durch eine damals sehr übliche List, die Kaiserlichen wieder, indem sie dem Commandanten einen, jedoch gefälschten Befehl seines Herzogs zur Uebergabe zustellten. Für die damalige Kriegskunst galt Hohenzollern für einen Punkt von so großer strategischer Bedeutung, daß Oesterreich mit einer jährlichen Summe von 5000 Gulden von dem Fürstenhause das Recht erwarb, jeder Zeit eine Besatzung daselbst halten zu dürfen. Bis zum Jahre 1740 hatte diese Besatzung über eine halbe Million gekostet, trotzdem übergab sie sich in diesem Jahre, beim Beginn des österreichischen Erbfolgekriegs, ohne Gewissensbisse an ein französisches Corps. Dennoch zog Oesterreich erst im Jahre 1798 seine Soldaten und seine Gulden von Hohenzollern zurück. Nachdem somit die Burg auch ihren kriegerischen Werth verloren hatte, stand sie nur noch als ein Alterthum droben, das der Fremde der schönen Aussicht wegen besuchte. Sie war ihrem gänzlichen Verfall bedenklich nahe, als endlich Preußens Könige die Blicke nach der Stätte ihres Ursprungs hinlenkten. Schon im Jahre 1826 begann man mit den nothwendigsten Arbeiten zur Erhaltung des noch Vorhandenen; die völlige Neugestaltung ist ein Werk der preußischen Krone, mit welcher die Hohenzollernkönige im Jahre 1850 ihre altersgraue Wiege schmückten.
So stehen wir wieder in der Gegenwart und wollen uns hier oben ihrer freuen. Wir begeben uns aus dem Hofe auf den Wall der Burg. Da man bei der Wiederherstellung derselben auch ihr altes strategisches Ansehen vor Augen gehabt zu haben scheint, so ist sie nach der neuesten Befestigungskunst mit Allem ausgestattet worden, was ihr Haltbarkeit versprechen konnte, mit Schanzen und Bastionen, Kugelpyramiden und Geschützen aller Art. Erst König Wilhelm gab der Burg den friedlichen Charakter eines Schlosses zurück. – Wir beginnen unsere Rundschau auf der östlichen Seite des Walls. Zu unseren Füßen liegt der sogenannte „Königsgarten“, die Schießstätte von Hohenzollern, weiterhin wölben sich die Kuppen der waldreichen Höhen und Berge der rauhen Alp hintereinander auf. Mitten aus dem Waldesgrün erhebt sich ein Felsenvorsprung, auf welchem das Kirchlein „Maria-Zell“ heraufleuchtet. Die Legende thut’s nicht anders, sie kann das Kirchlein nicht ohne ein Wunder auf den Fels gebaut sehen. Die Bequemlichkeitsliebe der Menschen hat dieses Haus der Maria unten im Thale aufrichten wollen, die Steine lagen fertig umher und die Stätte war für die Werkleute bereitet, – aber was geschieht? Nächtlicherweile fliegt leise eine Schaar Engel vom Himmel herab, trägt emsig die Quadern auf den Fels und mauert die Kirche fix und fertig auf –
„Und als in Rosenschöne
Erwacht des Tages Strahl,
Da hallten Glockentöne
Hernieder in das Thal.“
Ein frommer Hirte hat’s mit angesehen, sonst wären die lieben Engel wahrscheinlich um die Anerkennung dieser architektonischen Leistung gekommen. Was hat unser deutsches Volk Alles erleben müssen, um Blindheit und Seligkeit verwechseln zu lernen! Noch heute schwört die Gewohnheit auf die zwei Sprüche: „Die Liebe macht blind“ und „der Glaube macht selig.“ Wie manches Licht wird noch im Lande vergeblich verbrennen, bis man zu der Ueberzeugung kommt, daß der Glaube blind und nur die Liebe selig macht!
Entzückend ist der Blick nach Norden. Er umfaßt die mit allem Wechsel der Fruchtbarkeit geschmückte Ebene, die sich bis nach Hechingen hinzieht. Ueber diesem freundlichen Städchen, das sich hinter seinen Obstwald halb versteckt, erhebt sich ein Hügel, an dessen Abhange das Franciscanerkloster St. Lucien liegt, und über denselben reicht das Auge weit in das lachende Schwabenland hinein und erkennt in blauer Ferne den Rechberg und den Hohenstaufen. Es ist wirklich so, wie wenig auch diese beiden Namen neben einander passen.
Wenden wir uns gen Westen, so erfreut uns im Thale der Anblick vieler schmucker Dörfer, in denen der Friede den Wohlstand genährt hat, mitten aus seinem heitern Kranze von Baumgruppen blickt das Lustschloß Lindich hervor, und weit muß der Blick über das blühende Land eilen, bis er den Hintergrund findet, den der Schwarzwald mit blauen Streifen zieht und wo er den Kniebis zum äußersten Wächter gesetzt hat. Noch weiter erstreckt sich die Hochebene nach Südwesten hin; sie reicht über viele Ortschaften und den herrlichsten Scenenwechsel über Rottweil hinaus bis zu den steilen Höhen von St. Georgen; Wälder und Bergzüge mit stolz erhobenen Häuptern winden sich am Horizont hin, und über zwanzig badische Wegstunden scheut der Feldberg nicht, um mit seiner 4650 Fuß hohen Schneekrone seine Grüße herüber zu winken. Fast ganz Oberschwaben liegt vor dem königlichen Hohenzollern ausgebreitet; es war kein Wunder, wenn kühnen Heldengeistern auf dieser Höhe selbst eine Thronstufe nicht zu hoch erschien, um sie zu erschwingen.
Diese Thronstufe ist erschwungen; seit 160 Jahren haben sieben Hohenzollern sich die Königskrone von Preußen auf das Haupt gesetzt; das markgräfliche Gebiet von 500 ist zu einem Königreich von 5000 Quadratmeilen angewachsen, das in Europa zu den Großmächten zählt. Daß die Dynastie diese hohe Stellung nach ihrem tiefsten Fall von 1806 jetzt einnimmt, verdankt sie dem unermeßlichen Opfermuthe des Volks, des preußischen und des gesammten deutschen. Trotzdem haben Beide sich lange Zeit dafür wenig Dankes zu erfreuen gehabt; die Umtriebe der Diplomatie triumphirten über die treuen Völker, bis das in Europa aufgethürmte Unrecht zusammenstürzte und viele der erschütterten Throne auf die neue Gefahr hinwies, die aus den nationalen Wolken hervordrohten, aus denen ein neuer Jupiter seine gefährlichsten Blitze zog. Seitdem wandte die Politik der Hohenzollern sich wieder dem eigenen Volke zu, aber unbekümmert um die Sympathien der übrigen deutschen Stämme, die draußen vor seinen Grenzen stehen – mit dem Programm einer deutschen Nationalpolitik in den hochgehobenen winkenden Händen. –
Es war ein treuer deutscher Mann, der von der Hohenzollernburg, als sie noch im Verfalle lag, einst mit folgenden Worten schied: „Hinter jeder Wiege liegt ein Grab. Auf Aufgang folgt Niedergang. Auch der Stern der Hohenzollern vollendet einen Kreislauf nach ewigen Gesetzen. Verfallen ist das Haus der Ahnen, verfallen wird das Haus der Enkel, bedünke es auch den Erben, es sei für die Ewigkeit gebaut. Aber was länger dauert, als das Geschlecht und sein Haus, sind zwei Blätter in der Weltgeschichte mit der Ueberschrift: Deutschland, Preußen. Ich möchte nimmer ein König sein; aber wäre ich einer, so müßte in meiner Geschichtszeile jedes Wort von Thaten reden, von Großthaten, welche nach Jahrtausenden noch die Völker mit Festen feiern und gute Fürsten zur Nachahmung begeistern.“ – So sprach der Mann, aber wie selten werden solche Wahrheiten gehört.
Vom verlassenen Bruderstamme.
In der Stadt Sonderburg starb an einem warmen und sonnigen Frühlingstage dieses Jahres in tiefer Armuth ein wahnsinniger und schwer kranker Mann. Nur im ganz hellen Sonnenlicht und gestützt auf zwei Stöcke war der Unglückliche im Stande, einige Schritte zu gehen. Das Licht seiner Augen reichte in den Momenten, wo nicht die finstere Nacht des Irrsinns seine Seele umdunkelte, nur bis zu dem Stück Boden, auf dem seine schwankenden Füße standen; wenn aber der Wahnsinn mit seinen schwarzen Fittichen heranzog, dann träumte er, er sei ein steinreicher und glücklicher Mann, besitze viele Millionen in Gold, Perlen und Diamanten und wohne in einem glänzenden, mit orientalischem Luxus ausgestatteten Schlosse, bis die Gestalten dänischer Gensd’armen und Soldaten ihn aus seinen Prunkgemächern jagten und in die elende Wirklichkeit voll Armuth, Blindheit und Elend zurückstießen.
Der Unglückliche hat mehrere schreckliche Jahre in diesem Zustande verlebt, bis der Todesengel, mitleidiger als der Wahnsinn und die Dänen, ihn endlich, als der Frühling wieder mit frischem Grün, mit schimmernder Blumenpracht und mit süßem Blüthenduft von Neuem über die schönen Küsten von Alsen wehte, aus seinen Qualen erlöste.
Der Unglückliche war nicht immer so arm und elend gewesen. Einst war er ein reicher, glücklicher Mann, weithin angesehen und geachtet in Schleswig, Holstein und Jütland, ein Mann von Energie, Intelligenz und reichem geistigen Wissen, in den letzten zehn Jahren ein tapferer Kämpfer unter den Deutschen in Schleswig. Es war der Apotheker Karberg aus Apenrade. Jedermann in Schleswig kennt seinen Namen und nennt ihn mit Hochachtung und einem Gefühle innigen Mitleids. Wenige aber kennen die Qualen und Martern, denen sein energischer Geist endlich unterlag. Er war ein Opfer von Gewaltthaten, welche sich die österreichische Regierung in Venetien und in der Lombardei niemals erlaubt hat; sein zerstörtes Leben ist unter die Acte dänischer Gerechtigkeit zu zählen, welche in Schleswig während der letzten zehn Jahre vielfach an Deutschen Angesichts Deutschlands verübt worden.
Der Apotheker Karberg kam im Jahre 1848 in das Land. Er hatte die Apothekerkunst in Lübeck erlernt, studirte Pharmacie in Kiel und Berlin, erhielt in dem Staatsexamen, welches er im Jahre 1831 vor dem Sanitätscollegium in Kiel ablegte, die erste Nummer und kehrte im Besitz eines Vermögens, welches er theils erheirathet, theils als Apotheker in Wiltingen in Hannover erworben hatte, in die Heimath zurück, um die Apotheke in Apenrade für eine Summe von 48,000 Thaler anzukaufen. Die Apotheke war immer eine der besten und einträglichsten im Lande. Und doch starb der Wahnsinnige in Sonderburg als ein armer Mann, dessen elendes Leben nur durch die Wohlthaten seines Bruders und Schwagers erhalten wurde. – Und wer waren diejenigen, welche ihn, den einst reichen, glücklichen und angesehenen Mann in diese Armuth und in diese Nacht von Irrsinn und körperlichen Schmerzen gestoßen hatten? Es waren die dänischen Beamten in Schleswig. Ich werde sie im Laufe meiner kurzen und traurigen Erzählung mit Namen nennen. Sie thaten das, was sie thaten, mit Bewußtsein, mit Absicht, ohne Erbarmen, ohne Mitleid! – Ein Mann, dessen Name in dem schleswig-holsteinischen Lande als Arzt, als wissenschaftlicher Schriftsteller, als Mensch und als Streiter für das Recht und die Freiheit seines heimathlichen Bodens hochgeehrt ist, übergab mir auf meiner Reise durch die Herzogthümer ein Manuscript, welches eine actenmäßige Darstellung der an dem Apotheker Karberg verübten Vergewaltigung enthielt.
Vor des Unglücklichen Tode hatte er nicht gewagt, es zu veröffentlichen. Er fürchtete, daß man aus Rache über die Veröffentlichung neue Gewaltthaten an dem Unglücklichen verüben könne. Als das Opfer dänischer Gerechtigkeit in Schleswig ausgelitten hatte, da versuchte er das Manuskript drucken zu lassen. Aber kein Buchhändler und kein Buchdrucker wagte, das Manuscript zu drucken. Er übergab es mir sodann mit der Bitte, in Deutschland diesen Fall dänischer Gerechtigkeit zu veröffentlichen, und ich erfülle nun seinen Wunsch durch Freund Keil in der gelesensten Zeitschrift in Deutschland, vor einem imposanten Publicum von mehr als Hunderttausend, damit man in Deutschland wissen möge, in welcher Art und Weise in Schleswig von den dänischen Beamten und Polizisten mit Deutschen umgegangen wird. Ich füge hinzu, daß meine Darstellung in den Thatsachen sich dem mir vorliegenden Manuscript genau anschließt, daß sie also ebenfalls actenmäßig ist, daß ich aber absichtlich meine Erzählung jedes rhetorischen Schmuckes entkleide. Man erstaune aber nicht; man wundere sich nicht über eine Reihe von Ungerechtigkeiten und administrativen Gewaltthaten.
Die Karberg’sche Vergewaltigung steht leider in der Leidensgeschichte des unglücklichen Schleswig nicht vereinzelt da. Mir sind viele ähnliche Dinge bekannt geworden. Von den vielen nenne ich hier nur zwei, die Vergewaltigungen, welche dem Apotheker Paulsen in Husum und dem Apotheker Funke in Quere widerfahren sind. Der Verlauf derselben war ein ganz ähnlicher; nur endete das Drama nicht so schrecklich. In der Schlußscene des letzten Actes trat dort nur die Armuth auf, nicht der Irrsinn und die Verzweiflung. Alle diese einzelnen Beispiele sind nur Fälle der konsequenten Verfolgung eines Princips. Das Princip ist die Danisirung eines deutschen Landes, und in diesem Princip liegt es, die Deutschen in Schleswig jeder Stellung als Aerzte, als Beamte, als Lehrer, als Geistliche zu berauben, sie zum Auswandern zu zwingen.
Apenrade ist eine sehr gewerbthätige und wohlhabende Stadt im nördlichen Schleswig. Neunzig Segelschiffe liegen in ihrem Hafen; ein einziger Rheder besitzt allein zwanzig Schiffe. In Apenrade war immer viel Intelligenz; aber in Apenrade wurden auch von jeher die deutschen Interessen mit großer Consequenz und Selbständigkeit vertreten. Das Apenrader Wochenblatt nahm immer in der die deutschen Interessen vertretenden Journalistik einen sehr ehrenvollen Platz ein. Deshalb hatten die Dänen auch einen bittern Groll auf die Stadt, und als die Schlacht bei Idstedt ihnen die Macht in die Hände gab, da fielen sie mit einer wahren Erbitterung über die deutsche Bevölkerung her. Sechsunddreißig Preßprocesse und über hundert Confiscationen tödteten das Leben des Apenrader Wochenblattes. Der Apotheker Karberg wurde aber besonders von ihnen gehaßt, weil er deutsche Sitte und Intelligenz mit Energie und mit dem Besitz eines bedeutenden Vermögens verband. In den Jahren 1848 bis 1850 war er Commandeur der Bürgerwehr gewesen, und hatte sich als solcher durch mehrere energische Handlungen, welche ihm die Dänen nicht vergessen konnten, ausgezeichnet. Seine Betheiligung an der politischen Bewegung in den Herzogthümern war indeß niemals von Bedeutung gewesen, weil schon damals die ersten Spuren eines Rückenmarkleidens bei ihm auftraten. Nach dem Erlaß des Amnestiepatents vom 8. Juli 1851 kehrte Karberg nach Apenrade zurück.
Er war kaum angekommen, da begannen schon die kleinlichen Plackereien, denen alle Amnestirte ausgesetzt waren. Die Maßregeln, welche die österreichische und päpstliche Polizei in Italien gegen politisch Compromittirte anwendet, und welche man unter dem Namen des Precetto zusammenfaßt,[1] wurden auch in Apenrade in Scene gesetzt. Sie wurden in der Stadt confinirt und es wurde ihnen bei schwerer Geld- und Gefängnißstrafe verboten, ihre Gärten vor der Stadt zu besuchen. Abends nach acht Uhr durften sie ihre Häuser nicht mehr verlassen; Nachts war es ihnen nicht gestattet, außer dem Hause zu schlafen. Alle drei Tage wurden sie vor den Polizeimeister zu einer bestimmten Stunde vorgeladen, um ihre Anwesenheit in der Stadt zu constatiren. Wehe ihnen, wenn sie nicht auf die Minute erschienen! Drei Thaler, acht und mehr Thaler Strafgelder waren die Folge jeder Versäumniß, und der Executor erschien am andern Morgen, um das Geld abzuholen. Waren sie aber zur vorschriftsmäßigen Zeit erschienen, dann ließ man sie stundenlang warten. Der Apotheker stand unter denen, welche in dieser Weise gemaßregelt wurden, obenan; ja, man dehnte das Precetto bei ihm noch in einer unerhörten Weise aus. Täglich mußte er der Polizei ein Verzeichniß sämmtlicher an ihn ankommenden Briefe einreichen, und in diesen, Verzeichnis; auf das Genaueste Ort und Namen des Absenders angeben. Da alle Briefe auf der Post erbrochen wurden, so wurde die Controlle seiner Angabe sehr leicht. Schwere polizeiliche Strafen trafen ihn, sobald er eine unrichtige oder falsche Angabe gemacht [713] hatte. Ferner mußte er täglich ein Verzeichniß sämmtlicher Personen einreichen, welche die Apotheke besuchten, und zwar nicht nur ein Verzeichniß solcher Personen, welche ihm selbst Besuche abstatteten, sondern auch derjenigen, welche Apothekerwaaren kauften. Der Apotheke gegenüber wohnte ein Buchbinder, der zu seinem Aufseher bestellt wurde und den Auftrag hatte, den Besuch in der Apotheke zu controlliren. Wehe dem Apotheker, wenn auf der Liste des Buchbinders ein Name figurirte, der nicht auf den Listen Karberg’s verzeichnet war! Neue, immer höhere Geldstrafen mahnten ihn zu einer strengern Aufmerksamkeit. Diese geistreichen Specialitäten des Precetto habe ich weder in Venetien, noch in Rom, noch in Modena entdecken können. Die Polizeibeamten des Papstes könnten wirklich in Schleswig erfolgreiche Studien machen.
So ging es viele Monate. Mancher wurde der täglichen Plackereien und Geldstrafen müde und verließ das Land. Karberg war aber ein konsequenter und energischer Mann. Er blieb. Mit unerschütterlicher Ruhe reichte er alle Tage seine Verzeichnisse ein, erschien täglich zur bestimmten Minute auf der Polizei, und bezahlte Brüche über Brüche. Den Dänen dauerte die Sache zu lange. Man mußte andere Mittel ersinnen, um Karberg los zu werden.
Eines Tages erschien in der Apotheke ein junger Mann, der sich für einen Candidaten der Pharmacie ausgab und sich Worsaal nannte. Er fragte Karberg, ob er nicht geneigt sei, seine Apotheke zu verkaufen. Karberg schien eine Ahnung seiner schrecklichen Zukunft zu haben. Er sagte Ja, führte den Käufer in der Apotheke umher, zeigte ihm die Waarenvorräthe, legte ihm die Bücher vor und bestimmte dann seinen Preis. Aber kaufen wollte der Mann die Apotheke nicht. Er wollte sie umsonst haben. Der Mann war ein Vetter des dänischen Amtmanns in Apenrade, des Kammerherrn und Ritters vom Danebrog, Heltzer. In die Apotheke Karberg’s kam er nicht wieder. Er kaufte sich in Apenrade ein Haus, und als er das Haus hatte, da richtete er sich dort eine Apotheke ein. Als Karberg eines Tages aufstand und auf die Polizei gehen wollte, um seine Listen einzureichen und seine Anwesenheit in der Stadt zu constatiren, erblickte er zu seinem nicht geringen Erstaunen eine neue Apotheke. Die Sache war mit großer Schnelligkeit und Heimlichkeit betrieben worden. Das Haus, worin die Apotheke über Nacht hergerichtet wurde, war einer sehr achtbaren Frau unter dem Verwande, man wolle in demselben eine Bierbrauerei anlegen, abgekauft worden. Zur Anlegung einer Apotheke hätte sie es niemals hergegeben. Das Realprivilegium hatte der neue Apotheker schon in der Tasche, als er Karberg’s Apotheke besah. Er hatte es aus Kopenhagen mitgebracht. Karberg hatte freilich das Realprivilegium seiner Apotheke mit 30,000 Thaler bezahlt, und am 23. Januar 1846 war dies Privilegium von König Christian VIII. auf ihn extendirt worden. Indeß auf solche Kleinigkeiten kommt es in Schleswig gar nicht an. Der Baron Hobe von Gelting wird seit mehreren Jahren von Seiten der Dänen angegangen, ihnen seine Baronie zu verkaufen. Wenn er dann sagt, sein Grundbesitz sei Fideicommiß, und er sei schon deshalb gar nicht berechtigt, denselben zu verkaufen, so giebt man ihm lachend die Antwort, darin liege gar keine Schwierigkeit, die Fideicommißangelegenheit würde man ihm sehr leicht in Ordnung bringen. So bot der Umstand, daß Karberg bereits im Besitz eines Realprivilegiums war, gar keine Schwierigkeiten.
Karberg reichte nun einen Protest bei dem Sanitätscollegium in Kiel ein, er wandte sich im Beschwerdewege an die Polizeibehörde, an die oberste Medicinalbehörde, an das Ministerium in Kopenhagen, er berief sich auf sein Privilegium – er bekam entweder eine abweisende, oder gar keine Antwort. Seine Apotheke war durch die Anlegung einer neuen Apotheke auf die Hälfte ihres frühern Werthes gesunken. Der jetzige Werth erreichte nicht mehr die Höhe der auf das Grundstück eingetragenen Hypothekenschulden. Karberg war bereits ein armer Mann geworden.
Aber der Amtmann und sein Vetter und das Ministerium in Kopenhagen hatten dennoch die Rechnung ohne den Wirth gemacht, wie man zu sagen pflegt. Zu einer Apotheke gehören Kunden, welche Recepte machen lassen und Waaren kaufen. In der neuen Apotheke war und blieb es still und leer. Kein Recept wurde bestellt, nicht das Mindeste gekauft. Die Deutschen in Schleswig sind groß im zähen, passiven Widerstande, wenn ihnen auch die Initiative in der Handlung abgeht. Da gab der Amtmann den dänischen Beamten, der städtischen Armencasse, der Verwaltung des Krankenhauses und der Gefängnißdirection auf, von nun an ihre Apothekerwaaren nur von dem neuen Apotheker, seinem Vetter, zu beziehen. Der neue Apotheker mußte aber auch verdienen. Karberg hatte der Armencasse, dem Krankenhause und der Gesängnißverwaltung immer einen Rabatt von 25 Procent bewilligt. Der Amtmann befahl, von diesem Rabatt jetzt abzustehen. Die Anstalten wurden freilich aus dem städtischen Vermögen verwaltet, und die Stadt büßte den Rabatt ein. Aber darauf kommt es in Schleswig wieder nicht an. Von den Beamten, aus der Armencasse und von den Kranken in den Gefängnissen konnte indeß die neue Apotheke nicht allein bestehen. Der Amtmann war um neue Mittel nicht verlegen. Wo wäre das jemals bei einem dänischen Beamten in Schleswig der Fall? Der Amtmann berief die zwölf Kirchspielvögte des Amtes zu sich. Er stellte ihnen vor, daß der Regierung Alles daran gelegen sei, daß die neue Apotheke reussire. Die Regierung befehle Jedem von ihnen durch seinen Mund, und zwar bei Strafe der höchsten Ungnade, durch alle möglichen Mittel dahin zu wirken, daß die Bauern und Hofbesitzer bei dem neuen Apotheker ihre Recepte machen ließen. – Aber die Kirchspielvögte waren brave und charakterfeste Männer. Sie erklärten dem dänischen Amtmann, Kammerherrn und Danebrogsritter, daß sie sich zu solchen Dingen nicht hergeben würden, daß sie sich den Teufel um die Gnade oder Ungnade der Regierung bekümmerten, und daß der Apotheker Karberg ein vortrefflicher Apotheker und ein hochgeachteter Mann sei. Nur Einer von den Zwölfen war der Ischarioth; er ging auf den Befehl des Amtmanns ein. Ich nenne deshalb seinen seit dieser Zeit in der ganzen Umgegend von Apenrade nicht mit Freude genannten Namen. Es war der Kirchspielvogt Reuter – ein Deutscher.
Aber trotz alledem blieb es in der neuen Apotheke still und leer. Alle Anstrengungen des Kirchspielvogts Reuter waren vergebens. Keiner von den in seinem Kirchspiel wohnenden Hofbesitzern und Bauern kaufte auch nur für einen Bankschilling in der neuen dänischen Apotheke. Es mußten andere Mittel in Bewegung gesetzt werden, um den Widerstand zu brechen und dem verhaßten Karberg das Handwerk zu legen – das sah der Amtmann von Apenrade, das sah das Ministerium in Kopenhagen ein.
Es wurde nun ein eigenes Sanitätscollegium für Apenrade errichtet, und der neue dänische Apotheker wurde zum Mitgliede desselben ernannt. So wurde Worsaal der Vorgesetzte Karberg’s, wurde Mitvisitator der Landesapotheken und konnte in dieser Eigenschaft bei Tag und bei Nacht in Karberg’s Apotheke kommen und dieselbe visitiren und inspiciren. Dies geschah auch. Bei jeder Gelegenheit wurde Karberg’s Apotheke auf’s Genaueste visitirt. Indeß auch mit den Visitationen kam man nicht weiter. Die Ordnung in Karberg’s Apotheke war so musterhaft, daß selbst der neue Apotheker keinen Makel entdecken konnte. Da verfiel man auf ein neues und wirklich teuflisches Mittel. Karberg erhielt unter Androhung einer schweren Geldstrafe den polizeilichen Befehl, seine beiden deutschen Gehülfen abzuschaffen und zwei Dänen zu engagiren, angeblich, weil die deutschen Gehülfen sich mit dem dänisch redenden Theil des Publicums nicht verständigen könnten. Die Absicht, welche diesem Polizeibefehl zu Grunde lag, war natürlich eine ganz andere. Man wollte gewaltsam Versehen provociren, Karberg dann schwerere Brüche auferlegen und auf Grund der Versehen die Apotheke schließen. Karberg wurde wirklich gezwungen, einen seiner guten deutschen Gehülfen zu entlassen und den Dänen zu engagiren, den ihm die Polizei vorschlug. Aber er merkte die Absicht der Polizei; er paßte genau auf. Der Däne war nicht im Stande, Versehen zu provociren, weil der deutsche Gehülfe und Karberg selbst ihn keine Minute in der Apotheke allein ließen. Aber der Däne hatte noch eine zweite Rolle in der Apotheke übernommen, die Rolle des Spions. Karberg hatte immer die Gewohnheit gehabt, mit seinen Gehülfen gemeinschaftlich zu Mittag zu speisen – er konnte den dänischen Gehülfen von dem gemeinschaftlichen Mittagsessen nicht ausschließen. Der Däne rapportirte nun jedes Wort, was bei Tisch gesprochen wurde. Als Karberg die zweite Rolle seines neuen Gehülfen durchschaute, warf er ihn aus dem Hause.
Man sah, auch so kam man nicht zum Ziele. Alle kleinen Mittel und Quälereien halfen nicht; es mußte zu andern Maßregeln geschritten werden. Andere Federn, andere Personen wurden in dem Karbergschen Drama in Bewegung gesetzt. Es ist das immer so in Schleswig.
Am 17. Februar 1855 erhielt Karberg ein Rescript des [714] Ministeriums aus Kopenhagen. Minister Raaslöff zeigte ihm in demselben an, daß auf ein vor sieben Jahren eingereichtes Gesuch, welches Karberg nach dem Tode des frühern Königs, nur um die Formalitäten zu wahren, eingereicht hatte und welches die nochmalige Bestätigung seines früher bereits bestätigten Privilegii Seitens des jetzigen Königs betraf, nicht eingegangen werden könne. Zu gleicher Zeit erhielt der Amtmann in Apenrade Seitens des Ministeriums den Befehl, die Apotheke zu schließen. An demselben Tage noch wurde von einem Polizeidiener ein Zettel an die Apotheke geklebt, worauf die Vorübergehenden staunend in dänischer Sprache die Worte lasen: „Die Apotheke ist geschlossen.“
Der Apotheker Karberg war ein energischer und muthiger Mann. Er wurde nicht bleich vor Schrecken, als er den Zettel sah, den der Polizeidiener an seine Hausthür klebte. Er ließ jedem seiner Gehülfen eine Flasche Wein geben und trank selbst eine Flasche, „weil doch so Etwas noch nicht in Schleswig passirt sei,“ sagte er. Dann protestirte er gegen dies unerhörte Verfahren bei dem Sanitätscollegium, und wandte sich zu gleicher Zeit im Beschwerdewege an den höchsten Gerichtshof des Landes, an das Appellationsgericht in Flensburg und an das Ministerium in Kopenhagen. Er erhielt die abweisende Antwort, daß es bei dem eingeschlagenen Verfahren sein Bewenden haben müsse. Nun wandte er sich mit der Bitte an den Minister in Kopenhagen, daß es ihm gestattet werden möge, die Apotheke noch ein Jahr lang fortzuführen, um dieselbe in der Zwischenzeit zu verkaufen. Der Minister Raaslöff wies ihn auch mit diesem Gesuche ab.
Ein zufälliger Umstand bewog das Ministerium indeß, von dem eingeschlagenen Wege in Etwas abzuweichen. Auf der Apotheke standen Pupillengelder und Capitalien dänischer Landleute hypothekarisch eingetragen. Diese Hypothekengläubiger erhoben in der Gefahr, vollkommen ruinirt zu werden, ein Geschrei durch das ganze Land. Man fürchtete in Kopenhagen, daß der Lärm zu groß werden würde, und so wurde Karberg gestattet, die Apotheke für eine von einer Medicinalcommission zu bestimmende Summe an einen bestimmten Pharmaceuten, den man ihm nennen würde, zu verkaufen. Diese Commission sollte aus drei Personen bestehen, von denen der dänische Medicinalrath Schleißner die eine, der zukünftige Inhaber der Apotheke die andere sein, und Karberg die dritte wählen möge. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß es auf diese Weise ganz in die Hand der Dänen gegeben war, welchen Preis man für das Eigenthum Karberg’s fixiren wollte. Einige Tage später zeigte auch der Medicinalrath Karberg an, daß ein Däne, Namens Stißgaard, zum zukünftigen Besitzer der Apotheke bestimmt sei. Nun schritt man zur Taxation der Apotheke. Dieselbe lautete auf 10,250 Thaler und 10,000 Thaler für das Privilegium. Zur Charakteristik dieser Taxation diene, daß die Bruttoeinnahme der Apotheke sogar während des letzten Jahres, wo bereits die zweite Apotheke bestand, jährlich 4282 Thaler betrug, daß ferner, selbst nach dänischer Schätzung, das Realprivilegium einen Werth von 30,000 Thaler, und daß Karberg 48000 Thaler für die Apotheke bezahlt hatte. Karberg verlor durch diesen Zwangsverkauf also fast 18,000 Thaler. Man sollte nun denken, die Sache sei zu Ende gewesen. Noch nicht! Man hatte gar nicht daran gedacht, dem jetzt bereits armen Apotheker 18000 Thaler zu bezahlen. Man verlangte die Apotheke umsonst. Ich werde nun mit wenigen Worten eine Reihe von Intriguen schildern, die den Zeitraum eines ganzen Jahres in Anspruch nahmen und den Unglücklichen vollkommen arm und elend machten.
Es wurde Karberg eine Punctation zum Abschluß des Kaufes vorgelegt, nach der der neue Apotheker die Apotheke für die Summe von 22,500 Thlr. zu übernehmen hatte. Hierauf zahlte er bei der Uebernahme der Apotheke nur 2000 Thaler. Die übrigen 19,500 Thaler sollten drei Jahre lang unkündbar stehen bleiben. Die Einwilligung der Creditoren habe Karberg zu beschaffen. Außerdem habe er sämmtliche Kosten und Steuern bis zur Uebernahme zu tragen. Als Karberg diese Punctation sah, erklärte er, er werde und könne sie schon aus dem Grunde nicht unterschreiben, weil er selbstverständlich nicht im Stande sei, seine Creditoren zu vermögen, ihre Capitalien drei Jahre unkündbar stehen zu lassen.
Man erwartete diese Weigerung Karberg’s, um ihm härtere Bedingungen aufzuerlegen. Die Veranlassung war gefunden. Sofort erhielt er ein weiteres Schreiben des Käufers, worin ihm dieser anzeigte, daß nun auch er von dem stipulirten Kaufe zurücktrete, und er ihm durch seinen Sachwalter andere Bedingungen stellen lassen werde. Diese Bedingungen wurden dem unglücklichen Karberg auch sofort mitgetheilt. Sie waren unerhört und bestanden in nichts Geringerem, als Karberg sollte seine Gläubiger dahin bringen, von ihren Forderungen 35 Procent fallen zu lassen, angeblich aus dem Grunde, um die letzten beiden Gläubiger zu decken, welche sonst ausfallen würden. Der neue dänische Apotheker dachte auf diese Weise noch 3487 Thlr. zu lucriren.
Natürlicherweise schlug Karberg dies neue Ansinnen ab und verlangte contractmäßige Abnahme der Apotheke. Der dänische Apotheker sagte Nein, um das Unmögliche durchzusetzen. Man vergesse nicht, daß während der ganzen Zeit, nämlich seit fast einem Jahre, wo diese Verhandlungen schwebten, die Apotheke geschlossen war, daß die Waarenvorräthe und das Verkaufslocal versiegelt waren, daß also sämmtliche Waaren verdarben, daß Karberg aber sämmtliche Lasten und Steuern, welche auf der Apotheke ruhten, tragen mußte. Der Arme war in einem verzweifelten Zustande. Das Vermögen, das ihm aus dem Erlös der Apotheke noch übrig blieb, verminderte sich von Tage zu Tage. Er mußte Steuern und Lasten bezahlen, ohne einen Schilling Einnahme zu haben.
Sein Gesundheitszustand wurde täglich schlechter. Nochmals wandte er sich verzweifelnd in einer ganzen Reihe von Bittschriften, Angaben und Rechtausführungen an die Polizeibehörde, an den Amtmann, an das Appellationsgericht, an das Ministerium. Entweder er erhielt gar keine oder nur abschlägliche Bescheide. „Es giebt in Schleswig gar kein Recht!“ Diese Worte habe ich alle Tage in Schleswig gehört, und Karberg hat die schreckliche Wahrheit dieses Ausspruchs im reichsten Maße erfahren. Der Unglückliche begriff immer noch nicht, daß die Dänen seine Apotheke umsonst haben wollten, und daß noch ein neuer Streich gegen ihn geführt werden solle. Es wurden neue Anschläge gemacht. Genug, diese beispiellose Vergewaltigung endigte damit, daß die beiden letzten Gläubiger auf ihre eingetragenen Forderungen zum Betrage von 675,0 Thalern verzichteten, wenn die Apotheke sofort von dem neuen Käufer übernommen werden würde. Das geschah am 6. Januar 1856, fast ein Jahr nach dem gewaltsamen Schluß der Apotheke. Alle Manövres und Intriguen waren nur auf dies letzte Ziel berechnet gewesen. Diese Verzichtleistung hatte man von Anfang an beabsichtigt und sie dadurch, daß man Karberg’s Lage täglich verzweifelter machte, zu erzwingen versucht. Man wußte, daß diese Verzichtleistung gelingen würde, denn – – die zuletzt eingetragenen Gläubiger waren Karberg’s Bruder und Schwager.
Das Märtyrerthum des unglücklichen Apothekern war zu Ende. Er war ein ganz armer Mann geworden und auf das Gnadenbrod bei seinen Verwandten, welche selbst einen großen Theil ihres Vermögens eingebüßt hatten, angewiesen. Er lebte noch fünf Jahre in schwerer Krankheit und im Wahnsinn. Dann starb er, ein beklagenswertes Opfer unerhörter Zustände und einer unerhörten Vergewaltigung, zu der sich Behörden, Gerichte und Minister wechselseitig die Hände gereicht hatten, um sie zu vollbringen.
Ich aber schließe meine Erzählung eines Actes dänischer Gerechtigkeit in Schleswig mit den Worten, mit denen das mir vorliegende Manuscript beginnt. Nachdem darin von den lieblosen und auf vollständiger Unkunde der Verhältnisse beruhenden Urtheilen über Schleswig-Holstein, welche der Verfasser bei einer Reise durch Deutschland hat hören müssen, die Rede gewesen ist, heißt es: „Schreiber dieser Zeilen, ein dem Greisenalter nahestehender Mann, geborner Schleswig-Holsteiner, des Landes und des Volkes, unter dem er gelebt, in aller und jeder Hinsicht kundig, im Genuß einer unabhängigen Muße, welcher von den Dänen, weil er ihrer Macht entzogen, Nichts zu fürchten, von den Deutschen Nichts zu erbetteln hat, hält es für seine Pflicht, da er dergleichen Urtheile bei Gelegenheit einer Reise durch Deutschland hörte, ein Zeugniß abzulegen in Sachen Schleswig-Holsteins und Dänemarks.“
[715]
Ein Winter-Asyl für geistige Handwerker-Ausbildung.
Der Neuzeit war es vorbehalten, in Verfolg rationeller volkswirthschaftlicher
Anschauungen die Gewerbe von den Zunft-, Innungs-
und Gildegesetzen zu befreien, welche selbst im Schooße des
Handwerks nur von den Schwachen als Stütze, von den Kräftigen
aber als gleichgültige Schranke, in vielen Fällen als Fesseln angesehen
wurden und welche aufzuheben das allgemeine Interesse sowohl,
als die zeitgemäße Entwickelung der Gewerbthätigkeit, auf
Grund des Bedürfnisses, längst verlangten. Eine große Anzahl
deutscher Regierungen hat bereits das Gewerbe, freilich mehr oder
weniger beschränkt, freigegeben. Fast alle aber haben, ähnlich wie
bei der Ausübung einer auf strenges, wissenschaftliches Studium
sich stützender Praxis, z. B. der der Aerzte und Juristen, den Betrieb
des Bauhandwerks, unter welchem vornehmlich das der
Maurer und Zimmerer zu verstehen ist, von einer zu bestehenden
Prüfung abhängig gemacht.
Durch die Einführung dieser Prüfungen wurden die jungen Baugewerke genöthigt, insofern sie das Meisterrecht ausüben wollten, neben der Erlangung praktischer Fertigkeiten auch auf die wissenschaftliche und künstlerische Seite ihres Faches ihr Augenmerk zu lenken. Damit ihnen dies möglich werde, errichtete man, neben Industrie-, Gewerbe-, Handwerker-, Sonntags- und Feiertags- Schulen für das vorbereitende und allgemeine Bedürfnis; sogenannte Baugewerkenschulen.
Solcher Schulen giebt es in Deutschland viele und besonders in denjenigen Theilen unsers großen Vaterlandes, in welchen man vor der zunehmenden Volksbildung nicht erschrak, sondern sie als ausschließliche Bedingung des Volkswohlseins eifrig förderte. Diese Schulen sind größtentheils Regierungsanstalten und kosten dem Staate, da das Schulgeld gering gestellt werden muß, und Klostergüter etc. zur Dotirung dieser jungen Anstalten nicht mehr disponibel sind, nicht unbedeutendes Geld. Die Frequenz ist gewöhnlich nicht in die Augen fallend; sie erstreckt sich durchschnittlich auf 50 Schüler in den Wintermonaten.
Die Beschreibung einer solchen Schule würde kaum von allgemeinem Interesse sein. Wir wollen keine dieser gewöhnlichen Baugewerkschulen beschreiben, wie sie Baiern seit 30, Sachsen seit 20, die sächsischen Herzogthümer, Hannover etc. seit 15 und 10 Jahren aufzuweisen haben. Wir wollen auf eine außergewöhnliche derartige Anstalt aufmerksam machen, die jährlich von über fünfhundert Schülern besucht wird, die nicht durch die Absicht einer Regierung, sondern durch die Einsicht und Energie eines Mannes entstand und die, eine verhältnißmäßig geringe Staatsunterstützung abgerechnet, durch sich selbst besteht.
Es sind dies ziemlich viel Leute: fünfhundert junge rüstige Arbeiter, die den Sommer über, mitunter bei kargem Lohn und harter Arbeit, Hammer und Kelle, Axt, Säge und Hobel, Feile und Pinsel handhabten, die auf schwindelndem Gerüste, in Sonnenhitze und Regen Stein, Holz und Eisen zu Behausungen für Haus- und Landwirthschaft, für Industrie, Handel und Wissenschaft zusammenfügten und die Ende October jedes Jahres „nach Handwerks Gebrauch und Gewohnheit“ ihre Schritte nach der kleinen braunschweigischen Stadt Holzminden lenken, um da „des Zirkels Kunst und Gerechtigkeit“ kennen zu lernen.
Daß dieser Ort, den der freundliche Leser auf mancher Karte von Deutschland und in mancher Schulgeographie umsonst suchen dürfte, an einem Flusse und in einer holzreichen Gegend liegt, läßt sich aus dem Namen schließen. Dieser Schluß ist auch richtig. Holzminden, ein Städtchen von ungefähr 4000 Einwohnern, liegt an der Weser und zwar an der sogenannten Oberweser, deren Ufer mit ihren Bergen von Kalk und buntem Sandstein, den tief eingeschnittenen Thälern und dem entzückenden Laubschmucke mächtiger Buchen- und Eichenwaldungen dem Naturfreunde eine bisher viel zu wenig benutzte Fülle der lohnendsten Partien bietet.
Von der Stadt selbst läßt sich nicht viel sagen. Außer einigen Beamten und Kaufleuten, die im Gegensatze zum allgemeinen Plattdeutsch ein ziemlich schriftgemäßes Hochdeutsch sprechen und sich von der eigentlichen Masse der Bewohner in einer für den Süddeutschen auffälligen Weise fernhalten, giebt es einige Gewerbtreibende, die aber, wie der zahlreich vertretene Ackerbürger, in Feldbau und Viehzucht ihren Haupterwerbszweig erblicken. Das blaue Oberhemd und die Gamasche, der Schinken, die Schlackwurst und der „Schluck“, das kummtlose Geschirr der Pferde, die Einrichtung der Häuser mit ihrer „Dele“ – die Ein- und Durchfahrt, Hausflur, Dresch- und Futtertenne, Wagenschuppen, der Salon und Tummelplatz der Kinder und der kleineren Hausthiere zugleich ist – der fast stereotype Ausdruck in den Gesichtern, das starre Festhalten an dem Althergebrachten – Alles zeigt an, daß man bei Aufsuchung von Immermann’s westphälischem Dorfschulzen auf der rechten Spur ist.
Außer einem ziemlich lebhaften Betrieb von Sandsteinbrüchen besitzt Holzminden keine nennenswerthe Industrie. Dagegen hat es neben der „Baugewerkschule“ ein Gymnasium, dessen hohes Alter von einigem Interesse ist.
Nach diesem anspruchslosen Städtchen „walzen“ im Spätherbste Maurer-, Zimmer-, Tischler-, Schlosser-, Maschinen- und Mühlenbauer-, Dachdecker- und Stubenmaler-Gesellen vor Allem aus dem nördlichen Theile von Deutschland, als: Braunschweig, Preußen, Mecklenburg, Hannover, den Hansestädten, Schleswig und Holstein, dann aus Dänemark und Schweden, weiter aus den sächsischen Herzogthümern, Oesterreich, der Schweiz, ja selbst aus Amerika, Rußland und der Türkei.
Die Meisten verdienen sich mit ihrer Hände Arbeit erst das Geld, mit Hülfe dessen es ihnen möglich werden soll, sich geistig auszubilden. Ihre Hände tragen sehr oft beim Eintritte in die Schule noch die Schwielen, die Zeichen handkräftiger Thätigkeit, so daß ihnen das Halten und Regieren der Feder und des Stifts nicht eben leicht wird. Ungeachtet dessen und des ungewohnten Sitzens im engen Raume und bei Gaslicht während der langen Winterabende – ungewohnt für sie, die den Sommer über in der freien Luft und im Sonnenglanze sich bewegten – wird dann gearbeitet, nicht blos einige Stunden, sondern den ganzen Tag und die halbe, oft den größten Theil der Nacht. Der Unterricht beginnt früh 61/2 Uhr und dauert mit wenig Unterbrechung bis Abends 91/2 Uhr. Während dieser Zeit gilt es auch, fleißig zu sein, denn der mitgebrachten Kenntnisse sind oft wenige, die Zeit ist kurz und das zu bebauende Feld groß. Beispiele, daß dem übertriebenen Fleiße aus Gesundheitsrücksichten Einhalt gethan werden mußte, kommen oft vor.
Was bewegt aber diese große Anzahl Jünglinge, ihre Groschen, Grote und Schillinge im Sommer und den verführerischen Genüssen der Seestädte gegenüber zu sparen, im Herbste die Aussicht auf weiteren Verdienst, ihre Bekannten und alle gewohnten Verhältnisse zu verlassen, sich in Holzminden fünf Monate lang unter Zeichnungen und Büchern zu vergraben und sich dabei anzustrengen, mehr als bei Aufhebung eines mächtigen Steinblocks oder eines Stammes Holz? –
Sie wollen vorwärts auf der Bahn geistiger Ausbildung; sie haben mit richtigem Gefühle die Nothwendigkeit herausgefunden, daß man die Zeit nicht mehr befriedigen könne durch Wiederkäuung althergebrachter Formen, und daß es nicht mehr blos darauf ankomme, daß, sondern wie man arbeite, und daß endlich immer noch die Capitale, welche die Motten und der Rost nicht fressen, die am besten zinsentragenden sind. Mag auch bei Vielen die stricte Nothwendigkeit, die Berechtigung zu einer besseren Lebensstellung, zum Meisterwerden, auf diese Weise zu erwerben, dem Streben hauptsächlich zu Grunde liegen – immer erscheint die Baugewerkschule zu Holzminden in ihrer außerordentlichen Ausdehnung und in dem sich durchgehends äußernden Streben ihrer Schüler als ein interessantes Moment der Zeit, das den Zeitgenossen vorgeführt zu werden verdient.
Wie entstand diese Schule, die so, wie sie jetzt ist, einzig in Deutschland dasteht? –
Nach Einführung der Gilden-Ordnung vom 13. November 1821 im Herzogthume Braunschweig war die Ausübung des Meisterrechts bei den Bauhandwerkern von einer unter Zuziehung des Districts-Baumeisters zu bestehenden Prüfung abhängig gemacht. Um den Gesellen die Erlangung der hierbei beanspruchten Bildung zu ermöglichen, ertheilte der damalige Kammer-Bauconducteur, jetzige Kreisbaumeister Friedrich Ludwig Haarmann in Holzminden, einzelnen Gesellen unentgeltlichen Privatunterricht im Zeichnen und in den Anfangsgründen der Mathematik. Dieser Unterricht dehnte sich bald so aus, daß im Winter 1830 sieben Schüler [716] unter Zuziehung anderweiter Lehrkraft unterrichtet und im Winter 1831 ein besonderes Local für fünfzehn Schüler gemiethet, im nächsten Winter aber bereits Abtheilung der Schüler in Classen nothwendig wurde. Die braunschweigische Regierung gewährte der jungen Anstalt Schutz, Aufmunterung und einige Unterstützung, und „so“ – schreibt der verstorbene braunschweigische Oberbaurath Liebau – „entstand, durch offenkundiges Bedürfniß hervorgerufen und darum auf der festesten Grundlage beruhend, die Baugewerkschule zu Holzminden.“
Die Anstalt blühte rasch empor. Im Jahre 1840 zählte sie bereits 151, 1850 224, 1855 393, 1857, bei ihrem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum, 480, 1860 531 Schüler. Die Lehrkräfte stiegen von 5 auf 33 Personen. Bei der angegebenen Schülerzahl darf nicht unerwähnt bleiben, daß besondern in den letzten Jahren wegen mangelnder Localitäten Hunderte von Angemeldeten abgewiesen werden mußten.
Die Anstalt zerfällt in drei Classen, denen seit einigen Jahren eine sogenannte Meister- (Repetenten-)Classe und eine Parallelabtheilung für Maschinen- und Mühlenbauer beigeordnet ist. Die Classen selbst sind bei der bedeutenden Schülerzahl ebenfalls in parallele Abtheilungen gesondert. Eine Prüfung in Betreff der Aufnahme findet nicht statt, und es läßt sich bei der sehr verschiedenen Kenntnißstufe der Eintretenden ein fruchtbarer Unterricht in vielen Zweigen nur dadurch erreichen, daß weniger durch allgemeine Vorträge, als auf jedes Individuum einzeln gewirkt wird. Dieses Princip ist bisher, freilich nur mit einer verhältnißmäßig großen Lehrerzahl, im Allgemeinen von erfreulichen Erfolgen begleitet gewesen.
Gelehrt werden neben den gewöhnlichen Elementarkenntnissen und Fertigkeiten niedere Mathematik, die Grundsätze der Mechanik und Physik, darstellende Geometrie, Bauconstructionen, Entwerfen und Veranschlagen von Gebäuden, freies Handzeichnen (dieses sehr und, wie wir glauben, mit Recht betont), die gewöhnlichen ästhetischen Formen der Baukunst, Modelliren von Constructionen in Holz und Gyps, sowie Bossiren von Ornamenten in Thon. Die Schule gewährt – und das ist das Eigenthümliche an ihr, was alle Beachtung des Pädagogen und Volkswirths gerade in Bezug auf derartige Hochschulen verdienen möchte – außer dem eigentlichen Unterrichte freie Wohnung, Heizung und Licht, Mittag- und Abendtisch, Wäsche, Schreib- und Zeichenmaterialien, ärztliche Pflege etc. Der Preis dafür belauft sich derzeit auf 60 Thaler für die fünf Wintermonate.
Im Sommer ist die Schule geschlossen. Mit den im Frühjahre aus Süden kommenden Zugvögeln wandert der Schüler in die Fremde, um bei lustigen Hammer- und Axtschlägen wieder zu erholen von dem langen angestrengten Sitzen, zugleich aber auch um den Seckel wieder zu füllen, der den Winter über trotz aller Sparsamkeit ziemlich leer geworden. Hierbei giebt es noch der Anklänge viele an die so vielfach und mit ebensoviel Unrecht als Recht verschrieenen Handwerks-Brüderschaften, die bei allem leeren Formenkrame und vielfachen Mißbräuchen immer noch den erwärmenden Geist erkennen lasten, der viele Jahrhunderte früher die Genossen der freien königlichen Kunst vereinte.
Der Gründer der Anstalt, Friedrich Ludwig Haarmann, steht derselben noch jetzt mit regem Eifer und in unermüdlicher Thätigkeit vor. Er wird sich diesem Berufe, nachdem er den Mittheilungen des letzten braunschweigischen Landtags zufolge ausschließlich mit der Direction der Anstalt betraut werden wird, ungetheilt hingeben können.
Dem erfreulichen Stande der Schule sieht man es nicht an, daß auch sie ihre Kämpfe nicht blos hatte, sondern noch hat, und daß es der Sorgfalt eines Vaters bedurfte, der das Leben seiner Kinder hütet, um die Stürme abzulenken, welche die Anstalt in ihrer Entwickelung bedrohten. Wir glauben hierbei beispielsweise erwähnen zu müssen, daß der Vorsteher die Ausgaben für eine so unbedingt nöthige Gasanstalt, die er nach wiederholt abgeschlagenen Bitten aus eigenen Mitteln bestritt, erst nach Jahren von der Regierung zurückerstattet bekam; ferner daß zu Anfang der vierziger Jahre die von Freunden der Anstalt beim Landtage gestellten Bitten um reichlichere Unterstützung aus Staatsmitteln, die durch das Blühen der Anstalt und durch die bedeutenden Unterstützungen andrer Schulen hinlänglich motivirt waren, an dem vorgeschützten Umstände scheiterten, daß weder der Director Theolog sei, noch die Anstalt unter Aufsicht des Consistoriums stehe.
Und doch ließe sich mit einigen Tausenden von Thalern zum noch größern Aufschwung der Anstalt unendlich viel thun. Wird aber die braunschweigische Regierung, bei einem Besuche der Schule von nur 30 Landeskindern, diese Summe auf dem Altare des größeren Vaterlandes niederlegen? Oder ist zu erwarten, daß die Staaten, denen nachweislich das größere [717] Contingent der Schüler angehört, sich mit der braunschweigischen Regierung zur Verbesserung der äußeren Einrichtungen der Schule einigen werden? Und wenn dieser gute Wille vorhanden, wann dürften die darüber zu pflegenden Verhandlungen zum Abschluss und wann endlich zur Ausführung kommen? –
Euch Allen aber im großen deutschen Vaterlande mag das Vorgeführte als Beleg dienen, daß Einigkeit und Einheit nicht blos den Franzosen, Russen und zur Abwechselung einmal den Japanesen gegenüber noth thut, sondern daß es auch im Lande der kleinen Angelegenheiten genug giebt, die der Abhülfe warten. Ist doch das Einschlagen eines Nagels im Hause mitunter nothwendiger, als das Abputzen der Außenwände und das Auflegen eines neuen Daches!
Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Nach unsäglichen Quälereien kam endlich der Proceß gegen Herrn von Döring zum Abschluß, d. h. Wilhelmine erkaufte sich ihre Freiheit für eine namhafte Summe, die sie theils durch ein kleines Capital, das sie noch bei Verwandten ausstehen hatte, theils durch den Beistand treuer Freunde zusammenbrachte. Die Lösung dieser Ehe war eben dem ganzen Verlauf derselben angemessen.
Inzwischen war Wilhelmine auf einige Zeit nach Dresden zurückgekehrt und hier empfing sie einen Beweis von Theilnahme, von dem sie oft mit der innigsten Dankbarkeit erzählte. Ein Unbekannter – dem höhern Bürgerstande angehörend – schickte ihr aus Berlin eine Summe Geldes; er schrieb dabei in einfach herzlicher Weise, daß er von den bedrängten Verhältnissen der Künstlerin gehört hätte, und bat sie, den kleinen Tribut seiner Verehrung nicht zu verschmähen. Wilhelmine antwortete ihm:
„Geehrtester Herr! Vergebens würde ich mich bemühen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, welche mir der gestrige Empfang Ihres Schreibens bereitete. Nehmen Sie den tief gefühltesten Dank und die Versicherung, daß ich den ganzen vollen Werth Ihrer Hingebung aus tiefster Seele anerkenne! Sie sind der einzige Mensch, der in unserem großen deutschen Vaterlande daran gedacht hat, daß eine deutsche Künstlerin in Noth sein könnte, und sicher machen Sie hier eine große Ausnahme, denn noch habe ich es nicht erlebt, daß der Deutsche es zur Nationalsache gemacht hätte, seine heimischen Künstler nicht untergehen zu lassen, ein Beispiel, welches uns alle andern Nationen so oft gegeben, was aber in Deutschland noch keine Nachahmung gefunden. – Mich hat schweres Unglück getroffen, doch bin ich davon mehr moralisch als materiell niedergebeugt; ich weiß mich einzuschränken und habe das Glück, die Entbehrung aller überflüssigen Bedürfnisse nicht zu fühlen. Wären meine Seelenleiden nicht so tief, so hätte ich mich vielleicht schon längst wieder aufgerafft und durch die Ausübung meiner Kunst meine äußere Lage verbessert. Indessen davon hält mich für den Augenblick mehr als ein Grund ab, und wahrscheinlich werde ich das bescheidene Loos, welches mir gefallen, dem Rücktritt in die Kunstwelt vorziehen. Nehmen Sie Ihre Freundesgabe zurück – ich bedarf ihrer in diesem Augenblicke nicht, gestatten Sie mir aber, mich im Fall der Noth offen und vertrauensvoll an Sie zu wenden, was ich mit voller Unbefangenheit thun werde, denn Sie sind mir seit gestern kein Fremder mehr! Mitte Januar bin ich in Berlin und werde den Winter dort zubringen. Ich werde keine Fehlbitte thun, die dahin geht, daß mein erster Gang zu Ihnen sein darf.
Da ich nicht die Freude habe persönlich von Ihnen gekannt zu sein, so kann sich nur die Künstlerin Ihr Wohlwollen erworben haben, und das macht mich stolz! Ich habe ein aufrichtig redlich Herz, und mit diesem Herzen dankt Ihnen und grüßt
Die Künstlerin hat dann auch die Bekanntschaft des wackern Mannes gemacht und hat ihm bis an ihr Ende die freundschaftlichste Zuneigung bewahrt.
Anfang März 1849 ging Wilhelmine nach Paris. Das Verlangen nach künstlerischer Thätigkeit war endlich erwacht, und sie hoffte dort am leichtesten Anknüpfungspunkte zu finden. Aber die Zeitverhältnisse waren ihren Plänen nicht günstig, die politischen Kämpfe verschlangen jedes andere Interesse; überdies bedurfte sie einer längeren Ruhe für ihre durch Anstrengung und Leiden sehr erschöpfte Stimme – sie kam unverrichteter Sache nach Deutschland zurück. Im Mai führten ihre Geschäfte sie nach Dresden, und hier erlebte sie den Ausbruch der Mairevolution, die auch auf ihr Leben einen unberechenbaren Einfluß gewinnen sollte.
Es war am Nachmittag des 4. Mai, als am Zeughause die ersten Opfer fielen. Wilhelmine befand sich in der ersten Etage eines Hauses am Altmarkt, als plötzlich der ganze Platz von wüthendem Geschrei erdröhnte. Sie stürzte an’s Fenster – ein paar blutende Leichen wurden vorbei gefahren, und die wilden Ausrufungen des Volkes, das die Karren umdrängte, machten ihr den ganzen Vorgang klar. Mit einem Schrei des Entsetzens antwortete sie auf das Toben der Menge. Aber schon im nächsten Augenblick wurde sie vom Fenster zurück gezogen – und ihre vielbesprochene Betheiligung am Maiaufstande, die ihr später unzählige bittere Stunden bereiten sollte, war zu Ende!
Wie die meisten Frauen wurde auch Wilhelmine in ihrer politischen Richtung nur durch das Gefühl bestimmt. Zu allen Zeiten hatten sich ihre Sympathien dem Volke zugewandt, – wie viel mehr mußte das in jenen Tagen der Fall sein, als ein frisches Leben in die Massen drang und Jeder bereit war, Gut und Blut im Kampfe für seine Ueberzeugung hinzugeben. – Sie hätte nicht sie selbst sein müssen, wenn sie beim Anblick dieser noch blutenden Wunden, dieser eben gebrochenen Augen im Stande gewesen wäre, den Jammerschrei ihres Herzens zu unterdrücken.
Am nächsten Morgen verließ Wilhelmine die von allen Schrecken des Bürgerkrieges bedrohte Stadt. „Der Frühling hatte sich in voller Schönheit über die Erde ausgebreitet,“ schreibt sie, „und nie werde ich den erschütternden Eindruck vergessen, den es auf mich machte, als ich durch die üppig blühenden Fluren fuhr, über welche der Himmel seinen hellsten Glanz ergoß, während aus der im Thale liegenden Stadt die Sturmglocken des Aufruhrs herüber schallten. Tief habe ich da Schiller’s Worte empfunden:
„Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“
Wilhelmine wendete sich zunächst nach Gotha und von dort nach Heidelberg. Aber schon nach wenigen Wochen wurde sie durch die wachsenden Unruhen aus Baden vertrieben und ging nun in die Schweiz, die sie nur zum kleinsten Theile kannte. Sie wohnte längere Zeit am Brienzer See. In der Frische und Stille, in der Pracht der Natur, die sie hier umgab, fand sie Genesung für Leib und Seele. Als der Winter sie abermals nach Paris führte, war sie wieder heiter, lebensmuthig, hoffnungsreich. Im Laufe dieses Winters verlobte sie sich mit Herrn von Bock aus Livland, den sie seit Jahren kannte, und in dem sie das volle Verständniß, die treue Liebe fand, deren sie so sehr bedurfte. Am 14. März 1850 wurden sie in Gotha getraut. Wilhelminens Künstlerlaufbahn war damit abgeschlossen.
Nur zu bald sollte Wilhelmine erfahren, daß auch die innigste Herzensbefriedigung nicht vor Kämpfen und Schmerzen schützt. Sie begleitete ihren Mann nach Livland, wo derselbe Ritterschaftsgüter in Pacht hatte und das Gut Trikaten bewohnte. Sie trat damit in Verhältnisse ein, die ihrem Wesen, ihrer Eigenthümlichkeit nach keiner Seite angemessen waren. Die Gleichförmigkeit des Landlebens hätte schon an und für sich genügt sie unglücklich zu machen. Sie bedurfte eines immerwährenden wechselvollen Verkehrs mit der Außenwelt, weniger um Anregungen zu empfangen, als um den Reichthum des eignen Wesens auszuströmen. War ihr das versagt, so wurde ihr das rastlose Treiben und Fluthen ihres Geisteslebens [718] zur unerträglichen Pein. Sich selbst hat sie das niemals klar gemacht und hat immer nur in äußern Zufälligkeiten die Ursache des Leidens gesucht, das tief in ihrer Natur begründet war.
Es fehlte freilich auch nicht an äußerer Veranlassung zum Unbehagen. Klima, Lebensweise, häusliche Einrichtungen, Alles war anders als in Deutschland, und Wilhelmine war nicht mehr jung genug, um sich in das fremde Wesen einzuleben.
Sie suchte ihre Umgebung den eignen Wünschen und Gewohnheiten nachzuformen, aber der Versuch mißlang, mußte mißlingen, da die Menschen, auf die sie wirken wollte, nicht einmal ihre Sprache verstanden. „Mit der ganzen Energie meiner Seele warf ich mich auf die Thätigkeit in meinem Hausstande,“ schreibt sie; „ich hoffte dadurch die Lücke auszufüllen, die durch das Aufgeben meines künstlerischen Berufes in mein Leben gekommen war. Ich wollte reformiren, wollte die Menschen aus ihrer Verthierung herausziehen, wollte sie lehren und unterweisen – aber alle Mühe war vergebens! Umsonst habe ich ein volles Jahr mit Trägheit, Rohheit, Sclavensinn, mit Dummheit, Böswilligkeit und Unsauberkeit gekämpft, bis meine Kraft zusammenbrach und meine ganz zerrüttete Gesundheit die Rückkehr nach Deutschland nothwendig machte.“
Ein Brief Wilhelminens an ihren langjährigen Freund, den Geheimrath C. G. Carus in Dresden, giebt ein treues Bild ihrer Stimmung und Lebensweise. Sie schreibt:
„Mein hochverehrter Freund! Sie hätten längst meinen Dank für Ihr liebes, liebes Schreiben empfangen, wäre ich nicht zum größten Theil durch Krankheit und dann durch Besuche abgehalten worden, die man hier zu Lande gleich auf mehrere Tage im Hause hat. Vor allen Dingen möchte ich Ihnen noch danken, daß Sie das Zeichen meiner Anhänglichkeit und Verehrung so freundlich aufgenommen und im Herzen gefühlt haben, daß ich Sie nie und nimmermehr vergessen kann. Es ist mir immer schwer geworden, für Gefühle, in welche meine ganze Seele getaucht war, Worte zu finden, und so können Sie es eigentlich bis zu dieser Stunde noch nicht wissen, was ich Ihnen in meinem Herzen eingeräumt habe. Nur so viel weiß ich, daß ich die Tage, an denen Sie zu mir gesprochen, in einer erhöhten Stimmung zubrachte, welche ich nicht selten in meine Darstellungen, meine Lieder übertrug. Sah ich Sie in der Loge, im Saale sitzen, mir aufmerksam zuschauend und horchend, da habe ich oft ganz allein nur für Sie gesungen und hätte es Ihnen gerne so recht zu Danke gemacht. Ihre freundlichen Worte haben mich dann über manches Mißlungene getröstet und beruhigt und mich angefeuert, es das nächste Mal besser zu machen. Wußt’ ich doch, daß Sie unter so viel Larven nicht allein die einzige fühlende Brust, sondern auch die ruhige Klarheit des besonnenen Urtheils mitbrachten. Lob und Tadel war mir aus Ihrem Munde gleich erfreulich. Habe ich nun zwar lange nicht erreicht, was ich gewollt, bin ich auch weit hinter dem zurückgeblieben, was ich eigentlich empfunden, so muß ich mich, muß ich Euch, die Ihr wohl manchmal mit Recht mehr von mir fordern konntet, mit dem alten Sprüchwort trösten: ein Schelm’ macht’s besser als er kann – ich habe gethan, was ich konnte. Jetzt blicke ich manchmal nicht ohne Wehmuth auf mein künstlerisches Wirken zurück, denn war ich auch noch weit vom Ziel entfernt, so war ich doch immer den Andern ein großes Stück voraus. Doch das ist von der Mehrzahl längst vergessen, und das Mittelmäßige, was jetzt in meiner Kunst geleistet wird, genügt vollkommen. Ich spreche das eben Gesagte nicht ohne Schmerz aus, denn ich hatte gehofft, für länger als einen flüchtigen Augenblick gestrebt zu haben. Doch das ist das traurige Loos des Mimen, daß, einmal aus dem Kreis des Wirkens herausgetreten, seine Spur nur allzuschnell verweht wird! und doch weiß ich, daß ich in manchen Herzen fortlebe, die mir tausend andere aufwiegen, und in dieser Gewißheit liegt für mich ein großer Trost, eine freundliche Genugthuung.
Sie wollen von meinem Leben wissen, theurer Freund! Es ist still und einfach und mitunter wohl etwas zu monoton, was hauptsächlich in den hiesigen Ortsverhältnissen liegt; man lebt einsam auf seinem Gute, kommt mit den nächstwohnenden Nachbarn höchst selten zusammen und muß seine Zeit, so gut es bei dem gänzlichen Mangel an äußerer Anregung gehen will, aus sich selbst heraus auszufüllen suchen. Ich habe viel gelesen und mich an ältern Sachen erhoben und erbaut, zumal an Goethe, der uns überall mit so viel Würde, Klarheit und antiker Ruhe entgegen tritt, daß seine Nähe uns immer in eine „behagliche“ Stimmung versetzt. „Wahrheit und Dichtung“ habe ich wieder mit unendlicher Befriedigung gelesen, nur ist dadurch meine Sehnsucht nach Italien wieder hoch in mir aufgeflammt! Nun, wer weiß, vielleicht sehe ich das Wunderland früher als ich denke. Ihnen, mein theurer Freund, haben wir auch schöne und feierliche Stunden zu danken.
Mein Mann hat mir Ihre „Psyche“ vorgelesen und was mir in diesem hohen und edlen Werke unzugänglich war, wußte er mir mit Verstand und Klarheit näher zu bringen. Die würdige Richtung, die mein Mann auch in der Musik hat, läßt auch in diesem Fache nichts von der neuen Seichtheit zu, und so sind Beethoven, Mozart, Schumann und Schubert immer unsere Auserwählten. Ich habe für Sie manches Lied aus dem reichen Schatze, den uns Schubert hinterlassen, hervorgesucht, die will ich Ihnen vorsingen und das vielleicht bald. Was mich sonst in meiner nächsten Nähe umgiebt, ist häßlich und grauenhaft; die Menschen sind kaum Menschen zu nennen, und was sie thun, treiben und hervorbringen, zeugt von der niedern Culturstufe, auf welcher diese Unglücklichen noch stehen. Was ließe sich über hiesige Zustände nicht Alles sagen – sie sind entsetzlich. – Mein Mann ist ein edler, begabter Mensch, voll zarter Liebe und Sorgfalt für mich, ach! und darum kein „Scheinbild“! Sie werden ihn hoffentlich bald kennen lernen, denn wir wollen einmal wieder freiere Luft athmen und uns Gesundheit holen, die uns leider Beiden fehlt. Ich bin sehr elend; zu meinen alten Leiden haben sich, durch Klima und eine meiner ganzen Natur heterogene Lebensweise hervorgerufen, neue gesellt, und besonders ist es die Leber, die mir viel zu schaffen macht. Da muß Carus helfen! und da der Haß in der Leber sitzt, müssen wir die vor allen Dingen vornehmen, denn weil so viel Liebe in meinem Herzen lebt, will ich nun auch den Haß vollends abschütteln, den ich doch noch gegen manches Menschenkind im Busen trage.
Sie erinnern mich an meine Memoiren – noch habe ich mich nicht entschließen können ans Werk zu gehen; ich muß da so manche Wunde aufreißen, die kaum geheilt, manch strenges, unerbitlliches Urtheil fällen über Solche, die noch leben und die ich gerne schonen möchte. Einen Schritt habe ich für diese Arbeit gethan, ich habe meine Papier geordnet, und kommt einmal die gehörige Stimmung über mich, so liegt Manches schon bereit.“
Wilhelmine ging nach Ems (1851); im Herbst traf sie mit ihrem Gatten, der das Seebad von Ostende gebraucht hatte, wieder zusammen und machte mit ihm eine Reise nach Dresden. Kaum waren sie hier angelangt, als Wilhelmine wegen ihrer angeblichen Betheiligung am Maiaufstande zur Untersuchung gezogen wurde. Herr von Bock stellte Caution, und Wilhelmine, die Zeit ihres Lebens nichts so sehr gescheut hatte, als Conflicte mit den Behörden, ging sofort nach Berlin, um von dort aus die nöthigen Schritte zu thun. Hier traf sie ein neuer Schlag – auf Grund der Dresdner Anklage wurde sie aus Rußland ausgewiesen.
Ihre Verzweiflung kannte keine Grenzen, besonders als Herr von Bock im Frühjahr nach Livland zurückkehren mußte. Alles, was ihr peinlich, beinah unerträglich gewesen war, trat zurück vor dem Verlangen mit ihrem Manne vereinigt zu sein, aber während schon zu Ende 1851 die Untersuchung in Dresden niedergeschlagen wurde, mußte Wilhelmine bis zum Winter 1853 warten, ehe die ersehnte Erlaubniß zur Rückkehr nach Rußland erfolgte. Welchen verdüsternden Einfluß diese Verwicklungen auf sie ausübten, geht am deutlichsten aus einem Briefe an Carus hervor, dem sie am 2. Januar 1852 von Berlin aus schreibt:
„Hochverehrter Freund! Sie haben mir so manches Jahr gestattet, mich an dem Tage Ihres Wiegenfestes in den Kreis derer mischen zu dürfen, die sich um Sie drängen, um ihre Glückwünsche zu bringen – sei es mir, der Ausgestoßenen, auch dies Jahr vergönnt, die Wünsche wiederholen zu dürfen, die ich Ihnen in den vergangenen Jahren aus vollem, treuem, wahrhaftem Herzen gebracht hatte. Mögen Sie denn ihnen Allen, denen Sie Freund, Rather und Tröster sein können, noch lange, recht lange erhalten bleiben! Gern hätte ich Ihnen diesmal, da mich der Zufall so in Ihrer Nähe hält, diese Wünsche selbst überbracht, aber mein Fuß wird jene Stadt, die mich mit dankbarem Jubel, statt mit polizeilichen Maßregeln hätte empfangen sollen, in diesem Leben nicht mehr betreten. Es beschleicht mich überhaupt bei dem Schreiben dieser Zeilen ein Gefühl der Wehmuth, denn mir ist, als müsse ich Ihnen ein ewiges Lebewohl sagen. Durch das ruchlose Verfahren gegen mich in Dresden bin ich – Dank sei es den Machinationen meiner dortigen Freunde – heimathlos geworden, und [719] wer weiß, wo mich der Strom des Lebens hinführen wird. Zudem fühle ich durch die letzte Katastrophe meines Lebens mein Herz so angefüllt mit Bitterkeit und Groll, daß es am besten ist, ich scheide auch von den letzten wenigen Freunden, die mir leider zu fern stehen, als daß sie diese herben Empfindungen in meiner Brust mildern könnten. Wie klein diese Zahl wahrer, aufrichtiger Freunde war, die ich mir mit aller Treue und Offenheit von meiner Seite im Leben erworben hatte, das hat mich die letzte Zeit gelehrt. Doch fahret hin! –“
Den Sommer 1852 verlebte Wilhelmine von ihrem Gatten getrennt theils in Coburg, theils in Ems und Schlangenbad. Im Herbst kam Herr von Bock, sie nach Paris abzuholen. Mit ihm vereinigt, in Umgebungen, die ihr behagten, inmitten eines regen geselligen Verkehrs, fand sie die verlorne Frische und Freudigkeit wieder. Aber trotz ihrer entschiedenen Vorliebe für die Franzosen und für französisches Wesen fühlte sich Wilhelmine doch eigentlich nur heimisch und behaglich, wo das deutsche Element vorherrschte, und so waren es denn auch vorzugsweise deutsche Künstlerkreise, mit denen sie verkehrte. Unter diesen behaupteten eine hervorragende Stelle – auch in der Vorliebe Wilhelminens – die Abende bei Ferdinand Hiller, der damals in Paris lebte und mit dem sie seit Jahren in den freundlichsten Beziehungen stand. Dort war man sicher, den ausgezeichnetsten Persönlichkeiten aus der französischen und deutschen Künstlerwelt zu begegnen, und es fehlte, unter den Auspicien des Meisters, nicht an den auserlesensten musikalischen Leistungen.
Ueberhaupt gab sich Wilhelmine den künstlerischen Genüssen, die Paris in so reichem Maße bietet, mit voller Seele hin. Der Besuch von Museen – besonders der Antiken im Louvre – entzückte sie immer aufs Neue. Wie hoch sie die Leistungen der Doche, der Rachel schätzte, ist bereits gesagt. War sie mit der musikalischen Richtung im Allgemeinen nicht einverstanden, so litt sie doch nicht so dabei, als wenn ihr dergleichen „Verirrungen“ in Deutschland begegneten – wie wir ja nie von Fremden so viel verlangen, wie von unsern Freunden – und daß auch die Musik, die sie als die rechte, echte erkannte, ihren Einfluß, ihr Publicum nicht verloren hatte, sah sie mit großer Freude.
Ihr selbst war im Laufe dieses Winters noch einmal beschieden, die deutsche Kunst aufs Würdigste zu vertreten. Sie sang zum Besten des deutschen Hülfsvereins und am folgenden Morgen erhielt sie von dem bekannten Kritiker Gathy folgende Zeilen:
„Verehrte Frau! Wozu es mich gestern unwiderstehlich drängte in meiner Freude, das muß ich heute geistig wiederholen: Ihnen die Hand drücken, so recht aus der Fülle des bewegten Herzens.
Das war ein Triumph deutscher Kunst in Paris! Welche Bewegung beim Erscheinen der großen Sängerin, deren Name auch hier in der Fremde am Kunsthimmel in ungetrübter Glorie prangt! Bei ihrem Auftreten welche Spannung der Gemüther, welche Gefühle bei ihrem Gesang, wie schwebten über uns Allen die Töne so übermächtig, daß unter ihrer hinreißenden Gewalt Alle in eine einzige Seele zusammenflössen, in eine und dieselbe Empfindung! Von dem Ausdruck der Begeisterung, von dem nimmer rastenden Ergusse will ich schweigen. Und wie Viele waren, denen der Zauber der Worte, dieses zum vollen Verständniß und Genuß des Kunstwerks so wesentlichen Theils, gänzlich unzugänglich blieb! Ein Sieg der reinen Gemüthskraft also, in der Vollendung des künstlerischen Ausdrucks.
Und war es nicht charakteristisch und wahrlich rührend zugleich, daß flüsternd von Mund zu Mund auf französischen Zungen durch den ganzen Saal das begeisterte Wort „Fidelio“ flog und Erinnerungen belebte, die, wie in ganz Deutschland, auch hier unverlöschlich bleiben, hier in Paris, dem Orte des Leichtsinns und des Unbestandes, des Wechsels und der Vergeßlichkeit aller Dinge, der höchsten und wichtigsten Angelegenheiten? Wie muß sich nicht glücklich fühlen bei solchem Erlebnis; der Hochbegabte, im stolzen Bewußtsein seiner so mächtig einwirkenden Persönlichkeit!
Ja, es ist noch immer dieselbe geniale Frau, die wir früher gekannt; und mit dem Namen Fidelio auf immer verschmolzen und unsterblich in den Annalen der Geschichte, bleibt als Ausdruck des höchsten Kunstgenusses, als Gegenstand der unbedingten Bewunderung den Herzen der Zeitgenossen theuer der Name Schröder Devrient.
Die Gamskrickel. Auf meiner Wanderschaft, erzählte jüngst ein guter
Leipziger, verließ ich an einem Herbstmorgen des Jahres 1846 den berühmten
Wallfahrtsort Mariazell in Obersteiermark, um nach Gratz über das Gebirge zu
gehen. Der Weg führt in einem ziemlich breiten Thal zwischen den hohen Bergen
nach einem großen k. k. Eisengußwerk, das dabei liegende Dörfchen durchschneidend,
bis zu dem hohen Seeberge, an dessen Fuße die Bergwerke sich befinden,
wo der Eisenstein gegraben wird, und dessen Spitze der Brandhof,
Wohn- und Jagdhaus des Erzherzog Johann, krönt. Während des mühsamen
Steigens fiel mir erst ein, daß ich ja eigentlich auf dem Wege in die Heimath
sei und daß ich ein kleines Andenken an das schöne Bergland mitnehmen
könnte, nur war ich noch nicht recht mit mir im Klaren, was es
sein sollte. Da hörte ich plötzlich hoch oben am Felsen Hundegebell und
Büchsenknall und erkannte dort eingerammte Holzpfähle, an denen Leinen
gezogen und in deren Mitte rothe Lappen befestigt waren, welche im Winde
flatterten. Das Alles deutete auf eine Treibjagd, und nun wußte ich auf
einmal, was ich mitnehmen könnte: ein Paar Gamshörner! das giebt schöne
Stockgriffe oder Tabakspfeifenkrönchen, so dachte ich und stieg auch schon
rechts in die Höhe, um wo möglich mit einem Jäger sprechen zu können.
Nach ziemlich mühevollem Steigen oben angelangt, sah ich einige hundert Schritt vor mir 12 bis 15 Jäger auf Steinen und um Eßkörbe hergelagert, und auch die Treiber am andern Ende des großen eingelappten Bergplateaus saßen beim Frühstück, aber Alle blickten vor Erstaunen über das Erscheinen eines wildfremden Menschen von ihrer Mahlzeit auf. Ich konnte ihnen das um so weniger verdenken, als jedenfalls meine Repräsentation der Art war, daß auch andere Leute, als diese einfachen, nur in ihren einsamen Bergen lebenden Alpenjäger, sich verwundert hätten, wenn ich so plötzlich ohne Einladung mit zerrissenem Rock und Hosen, abgerissener Reisetasche, voller Erde und Schmutz und dabei so roth wie ein Zinshahn vor Hitze im Gesicht vor ihnen gestanden hätte; denn bei meinem Eifer hinauf zu kommen war ich mehrere Male gestürzt, Strecken zurück gerutscht, hängen geblieben an Steinen und verkrüppelten Bäumen und endlich auf allen Vieren kriechend oben angelangt. Da stand ich nun und sah die Leute an, und diese mich, denn unter der gezogenen Leine getraute ich mich nicht wegzukriechen, da ich nicht wußte, ob es erlaubt sei, und dabei muß ich noch ein ganz besonders dummes Gesicht gemacht haben, denn Alle fingen an zu lachen, bis endlich Einer von ihnen, ein großer, starker Mann, aufstand, mir einige Schritte entgegenkam und mir winkte. Da schritt ich denn tapfer darauf los. Meinen unterthänigen Gruß erwiderten Alle freundlich und luden mich zum Sitzen ein, woraus mein großer Erretter fragte, wo ich herkomme, wer und was ich sei und was ich denn eigentlich wollte. Ich erzählte nun ausführlich, daß ich von Zell käme, nach Hause wolle und da ich die Jagd gehört, heraufgekommen sei, um für Geld und gute Worte einige Gemshörner einzuhandeln, wenn sie solche hätten.
Schon bei meinen ersten Worten merkte ich, daß die Leute meinen sächsischen Dialekt nicht verstanden, und als ich nun mit meinem Vortrag fertig war, erhob sich ein anderer von den Jägern, ein Mann von mittler Größe, mit dünnem, weißem Haar, denn er war schon alt, aber gekleidet wie die Andern, stellte sich vor mich und sagte: „Jesus, Maria! was plauscht der Talk daher? Sag’ mir a mal, was Du eigentlich begehrst.“ Ich wiederholte meine Bitte um einige Gemshörner und um derselben mehr Nachdruck zu geben, zeigte ich auf das Horn, welches oben an dem Bergstocke angebracht war, den er in der Hand hatte ; er lachte und sagte: „Ah so!“ fragte mich in seinem österreichischen Dialekt, woher des Lands ich sei, und da ich ihm Leipzig in Sachsen nannte, schwieg er erst einige Zeit und meinte dann, daß es bei uns freilich keine Gemsen gäbe, dann drehte er sich nach seinen Leuten um mit den Worten: „Wißst’s denn, was der Narr begehrt?“ und da Alles schwieg, sagte er lachend: „Er will halt a Paar Gamskrickel!“ – Nach dem allgemeinen lauten Gelächter fragte er: „Hast denn schon a Gams gesegen?“ und da ich dieses verneinte, rief er dem großen Jäger zu: „Du, Franzel, zeig’ sie ihm!“ woraus wir Alle um einen großen Felsblock, ganz in der Nähe gelegen, herumgingen.
Da lagen sie, die schönen Thiere, todt und voll Blut, mit den schwarzen, offenen Augen, fast noch warm und halb mit Tannenreisig zugedeckt, elf Stück, alle nebeneinander. Da ich wirklich noch niemals Gemsen in natura gesehen hatte, so war ich natürlich sehr erstaunt über ihre Größe und Stärke, ich hatte mir dieselben kleiner und zarter gedacht. Nachdem ich mich nun satt gesehen und dieselben auch angefühlt hatte, zeigte ich auf die schönsten und größten Hörner und fragte, ob ich dieselben erhalten könnte, worauf mir der alte Jäger erwiderte, daß das eigentlich kein Gebrauch sei, das Gehörn auf dem Jagdplatze auszubrechen und zu verkaufen, da er aber zufällig den von mir bezeichneten Bock selbst geschossen, so wolle er für diesmal eine Ausnahme machen und mir gegen Zahlung des Schußgeldes von 5 Groschen Schein oder 6 Kreuzer Conv.-Münze dasselbe überlassen. Er nickte dem großen Jäger Franzel zu und hielt mir dann die Hand hin, um das Geld einzustreichen.
Freudig holte ich meinen kleinen Beutel aus der Tasche und zählte ihm 5 große kupfere Groschen à 3 kr. Schein in die Hand, wobei er und die andern Alle heimlich vor sich hinlachten, dann steckte er das erhaltene [720] Geld in die schwarzen Lederhosen und übergab mir die mittlerweile ausgebrochenen Hörner, mit dem Zusatze, daß, wo Gamskrickel wären, auch ein Gamsbart sein müßte, und dabei in die Höbe greifend an seinen grünen Hut, nahm er den daselbst angesteckten, einfach in grünes Leder gefaßten, aber sehr großen und prächtigen Gamsbart herab und gab ihn mir, mit der Bemerkung, daß es nicht etwa der Kinnbart sei, wie bei den Geisböcken, sondern die langen Rückenhaare den Thieres, und ich sollte denselben auch zum Andeuten nach Sachsen mitnehmen, worauf er mir dann glückliche Reise wünschte und mich dann verließ, ohne meine Danksagungen abzuwarten. Glücklich über meinen gelungenen Handel, sagte ich den Jägern Adieu und stieg eben an der Seite wieder hinab nach der Straße, als mir der große Franzel nachkam und mich warten hieß. Bei mir angelangt, gab er mir die 5 Groschen wieder und sagte: „Es war halt bloß a G’spaß von dem Hannes, er thut’s nit anders,“ und auf meine Frage, wer denn der Hannes sei, nahm er seinen grünen Hut ab und sagte: „’s war halt unser Hannes, der Erzherzog. Schau aufi, daß Du nit fallst, und b’hüt di Gott!“ worauf er mich verließ und wieder aufwärts stieg.
Als ich Abends im Nachtquartiere zu Seewiese saß und mein Abenteuer erzählte, sagten wieder Alle: „Es ist halt unser Hannes und der thut’s einmal nit anders,“ und der Wirth meinte: „Wanns Du zu mir kommen wärst, hätt ich Dir gleich sag’n woll’n, daß es Gamskrickel heißt, denn den Deinigen Ausdruck versteht hier im Land’l ka Seel.“
Noch einige Thiergeschichten. Eine Familie, die seit Jahren in
Amerika angesiedelt war, machte einen Besuch bei ihren Verwandten in
Stuttgart. Die Reise ging über Paris, wo man mit den reichen mitgebrachten
Mitteln sich die nöthige Ausstattung anschaffte, um als würdiges
Glied der europäischen nobeln Gesellschaft auftreten zu können. In einer
neuen Equipage fuhr man der langersehnten Heimath zu, von amerikanischen
Begleitern war einzig ein Hund mitgekommen, der wegen seiner trefflichen
Eigenschaften auch unter den sonstigen Merkwürdigkeiten, die man
herübergebracht, sich sehen lassen durfte. Rechnete man ihn ja fast zur Familie;
so groß war seine Treue und Anhänglichkeit, so freundlich und liebenswürdig
seine Ausführung, so trefflich seine Geisteskräfte. In der ersten
württembergischen Grenzstadt ward übernachtet. Die Freude, in wenigen
Stunden die Ihrigen begrüßen zu dürfen, war den Reisenden einzig
durch die Nachricht getrübt, mit der sie am frühen Morgen überrascht wurden,
daß der Hund nirgends mehr zu finden sei. Die Vermuthung lag
nahe, daß ein Fuhrmann, der in demselben Gasthaus eingestellt und den
seltenen Schatz alsbald erkannt halte, den Hund in tiefer Nacht mit sich
genommen und wieder zurück über die Grenze gebracht habe. Man reiste
etwas verstimmt weiter, nachdem die nöthigen Weisungen gegeben waren,
den gestohlenen Hund wo möglich wieder beizuschaffen. Ein Fahndebrief
wurde dem Fuhrmann nachgeschickt und hätte wohl seinen Zweck erreicht,
wenn nicht der Hund selbst den Proceß noch schneller zu erledigen gewußt
hätte. Als man eben wieder zum ersten Male das frohe Wiedersehen am
heimathlichen Mittagstisch feierte und von den Fährlichkeiten und Abenteuern
der Reise sprach, wobei auch des ausgezeichneten Hundes und des leidigen
Unfalls mit denselben Erwähnung geschah: kratzte es an der Thüre, und
siehe da, der Vermißte springt herein und legt sich mit Schmutz bedeckt,
von Hunger und Durst völlig erschöpft, aber mit freundlichsten Blicken zu
den Füßen seines Herrn. Ein abgerissener Strick gab Kunde von dem,
was ihm widerfahren war. Der Fuhrmann hatte ihn an seinen Wagen
gebunden und mehrere Stunden mit fortgeführt, das Thier aber hatte den
Strick abgebissen, hatte in fremdem Lande auf unbekannter Straße ganz
allein einen Weg von beiläufig acht Stunden zurückgelegt, hatte die Richtung
der Reisenden, die Straße der Residenz, wo sie abgestiegen, Stockwerk
und Zimmer, wo sein Herr sich niedergelassen, sicher aufgefunden und
rechtfertigte auf’s Glänzendste den Ruf, der ihm bereits vorausgegangen
war. Will man eine begreifliche Vermittelung dieser jedenfalls außerordentlichen
Spürkraft annehmen, so läßt sich im vorliegenden Falle höchstens
sagen, der Geruch des Lederwerks der neuen Kutsche habe für das Thier
den leitenden Faden gebildet.
Vollends unbegreifbar erscheint aber ein ähnlicher Vorfall mit einem anderen Hunde. Ein Jägersmann, der in einem einsamen, zwischen Wäldern liegenden Forsthause wohnte, hatte einem Freunde in einem Nachbarorte, als dieser zufolge einer Anstellung in der etwa zwanzig Stunden entfernten Hauptstadt dorthin abzureisen hatte, zum Abschied einen kleinen Hund geschenkt. Der weite Weg wurde vom Herrn und Hund ganz im Wagen zurückgelegt, dieser kam in ganz neue, ihm völlig unbekannte Gegenden und Umgebungen, es lagen tiefe Flußthäler und beträchtliche Höhenzüge dazwischen; und doch lief der Hund fort und langte nach acht Tagen wieder bei seinem alten Herrn im abgelegenen Försterhause an.
Doch auch von einem andern Thier, das jedenfalls viel besser ist, als sein Ruf, weiß man etwas Ueberraschendes zu berichten. Zwar ist längst bekannt, daß die Gans keineswegs so dumm ist. als man ihr schnöder Weise nachsagt, und daß sie schon ganz rührende Beweise jahrelanger und treuester Anhänglichkeit an Einzelne, ja an ganze Corporationen geliefert hat. Aber weit überragt werden solche „Regimentsgänse“ durch eine ihrer Schwestern, die eine merkwürdige Probe nicht allein von kluger Berechnung, sondern von teilnehmendem Gemeinschaftsgefühl abgelegt bat. Ein Mühlbauer fuhr mit einem beladenen Fruchtwagen durch ein Dorf. Am Ende desselben bekam einer der Fruchtsäcke eine Oeffnung, sodaß ziemlich viel Korn auf die Landstraße verschüttet wurde. Der Fuhrmann faßte von der Frucht am Boden auf, was er konnte, mußte aber, da die Straße sehr schmutzig war, eine beträchtliche Menge Körner zurücklassen. Dies machte sich eine in der Nähe befindliche Gans weidlich zu Nutzen und fraß davon eine Weile recht nach Herzenslust. Plötzlich aber hält sie mit Fressen inne, steht stille, als ob sie sich auf Etwas zu besinnen hätte, lauft dann mit eiligen Schritten in’s Dorf hinein und kehrt nach wenigen Minuten vergnügt zurück, begleitet von ihrer Cameradschaft, die nun auch an dem Glücke sich betheiligte und das durch kameradschaftliche, neidlose Freundschaft bereitete Mahl sich trefflich schmecken ließ.
Hauschild’s vegetabilischer Haarbalsam. Ueber diesen neuerdings
in vielen, besonders sächsischen Blättern täglich ausgebotene Geheimmittel,
enthält die „Pharmaceutische Centralhalle“, herausgegeben von einem der
tüchtigsten Chemiker und Apotheker Deutschlands, Dr. Hermann Hager,
folgende Mittheilungen: „Das Geheimmittelwesen ist unbedingt eine scheußliche
Verirrung der menschlichen Culturzustände, das sich unreell in seinem
ganzen Verhalt zeigt, dessen Bekämpfung daher zu einer moralischen Aufgabe
wird. Die Bekämpfung ist sehr leicht, wenn Männer der Wissenschaft
beim Ankauf des Geheimmitteln die Natur desselben constatiren und seinen
Werth durch die Presse in das wahre Licht stellen. – Aus der angestellten
chemischen Untersuchung ergab sich evident, daß der Hauschild’sche Haarbalsam
nichts weiter ist, als eine mit etwas Weingeist versetzte und durchgeseihte
Abkochung der Klettenwurzel (Radix bardanae). Es sind 1 Theil
Klettenwurzel mit ungefähr 6 Theilen Wasser aufgekocht und der Colatur
(dem Durchgeseihten) 1 Theil Weingeist zugesetzt. Was den Werth des
Mittels betrifft, so kostet eine Flasche, wie sie für 10 Silbergroschen von
Julius Kratze Nachfolger verkauft wird, bei obiger Bereitung in der Apotheke
11/2 Silber- oder Neugroschen. Man sieht, das Geschäft ist gut. –
Eine so neue Art und Weise, ein Haarmittel in Gang zu bringen, versuchen
vielleicht Andere auch. Sie lassen sich eine Zeit lang den Kopf
wohl rasiren, gehen so als Kahlkopf herum und lassen dann das Haar
zum Erstaunen der Welt wachsen, finden Helfer, die darüber in die Zeitungen
berichten, und der frisch Behaarwuchste verkauft aus Menschenliebe
sein unschuldiges Hülfsmittel in Form eines Balsams, Oels oder einer Pomade
für den siebenfachen Preis des wirklichen Mittels an seine Mitmenschen.“
C. P. in Wlthsn. Besten Gruß. Erscheint nächstens. Heute ist es
ein Jahr, daß wir zusammen den Inselsberg erstiegen.
Pzw. in Bergedorf. Erinnern Sie sich der schönen Mondnachtsfahrt? Alle grüßen herzlich.
F. in Rgf. Bedauern sehr. Auch die Einholungsfeierlichkeiten müssen wir den größern illustrirten Zeitungen überlassen – die Gartenlaube hat für derartige Feste keinen Raum.
D. in L. Gerstäcker ist vor wenigen Tagen von seiner großen Reise nach Coburg zurückgekehrt. Daß er die Mutter seiner Kinder unter dem grünen Rasen des Friedhofs gebettet fand, wird Ihnen bekannt sein.
Die dritte, 10,000 Exemplare starke Auflage des schon bei seinem ersten Erscheinen mit allgemeinem Willkommen begrüßten Werkes:
Das Buch vom gesunden und kranken Menschen
von Dr. Carl Ernst Bock, Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig. Mit 38 feinen Abbildungen. ist vergriffen und die vierte, durchgehends verbesserte und vermehrte ist soeben in der ersten bis fünften Lieferung erschienen.
Die anerkannte Gemeinnützigkeit dieses Buches und die glänzende Aufnahme, welche es in seinen drei ersten Auflagen überall gefunden, wo deutsche Zungen reden, überhebt die unterzeichnete Verlagshandlung jeder Anpreisung desselben.
Die 4. Auslage des Buches vom gesunden und kranken Menschen erscheint wieder in sieben, in monatlichen Zwischenräumen auf einander folgenden Lieferungen. Der Subscriptionspreis jeder Lieferung von 5 - 6 Bogen ist nur 71/2 Ngr., wofür auch der weniger Bemittelte im Stande ist, sich diesen Helfer in der Noth nach und nach anzuschaffen.
Leipzig, im Mai 1861.
- ↑ Ueber das Precetto s. „Frei bis zur Adria“. Leidensgeschichte Italiens etc. von Gustav Rasch. Capitel: Venetien, Modena, Rom.