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Die Gartenlaube (1861)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[657]

No. 42.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Die drei Großmächte.

Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Nein, lächerlich ist Ihre Lage nicht gerade,“ unterbrach ihn Aglaë, die bei der sichern und gewandten Redeweise des mit gerötheten Wangen und aufgeregt leuchtenden Augen vor ihr stehenden jungen Grafen allmählich die kühle Sicherheit ihres Wesens verloren hatte und ihn nicht mehr so offen wie früher ansah, sondern die Augen niederschlug, „im Gegentheil, sie ist sehr ernst, denn mein Vater ist höchst erzürnt und durchaus nicht geneigt, das schwere Verbrechen, welches Sie begangen haben, in einem versöhnlicheren Lichte zu sehen. Ich gestehe Ihnen gern, daß ich vorhin eine Gelegenheit ergriff, mit meinem Vater allein darüber zu reden und …“

„Und das,“ fiel Albrecht beinahe mit einem flehentlichen Tone der Stimme ein, „das geschah gewiß nicht, um meine Lage zu verschlimmern!“

„Es geschah nicht dazu,“ antwortete sie, jetzt wieder offen und voll ihn ansehend, „es geschah, um ihn zur Milde geneigt zu machen; aber ich bin erschrocken, ihn so unnahbar und gereizt zu finden. Die ärgerliche Scene, welche zwischen meinem Vater und seinen Gebietsnachbarn Ihretwegen stattfand, hat eine Verstimmung in ihm erregt, welche nicht geeignet ist, Ihnen irgend eine Hoffnung auf eine andere Behandlung, als die allerstrengste, zu lassen. Ich gestehe Ihnen auch offen, daß ich erschrocken bin über den strengen und unbeugsamen Entschluß meines Vaters in dieser Sache, und daß ich deshalb die Jagd verließ, an der ich beunruhigt und besorgt keinen Theil mehr nehmen mochte.“

„O, ich danke Ihnen, Gräfin, ich danke Ihnen für diese Worte,“ fiel Albrecht hier feurig ein. „So schlimme Dinge Sie mir auch prophezeien, ich achte Alles dessen nicht, denn ich höre aus diesem Allen nur die Theilnahme heraus, womit Sie mich glücklich machen! …“

„Sie nehmen eben,“ erwiderte sie, abermals erröthend und die Blicke niederschlagend, „Ihre Lage mit demselben leichten Sinne hin, welcher Sie in diese Lage gebracht hat. Vielleicht halten Sie Ihren Namen, der allerdings der eines edlen und vorzüglichen Geschlechts ist, für den Zauber, welcher Ihre Fesseln sprengen wird. Aber täuschen Sie sich darin nicht – mein Vater selbst wird vielleicht das, was Sie gethan, als einen Pagenstreich ohne weitere bösere Absicht zu betrachten überredet werden können, wenn ihm nachgewiesen ist, daß Sie Graf Albrecht von Werdenfels sind. Allein er darf Sie deshalb doch nicht milder behandeln, weil den Gebietsnachbarn gegenüber seine Ehre verpfändet ist. Er hat diesen Leuten gegenüber die Verpflichtung, Sie so strenge zu behandeln, daß deren verletzte landesherrliche Würde und Autorität sich für befriedigt erklärt. Die regierenden Herren der Reichsstadt Großlingen werden sich in dieser Beziehung sehr wenig um die Ansprüche auf glimpfliche Behandlung kümmern, welche Ihnen Ihre Geburt in den Augen meines Vaters geben könnte!“

„Sie finden ein grausames Vergnügen daran, mir meine Hoffnungen zu zerstören, Comtesse,“ sagte Albrecht mit einem Tone des Vorwurfs, „… was hat ein armer Gefangener denn anders als seine Hoffnungen? Weshalb mir mein letztes Gut rauben?“

„Ich will Ihnen nicht Ihre Hoffnungen rauben,“ sagte sie eifrig, „ich wollte Ihnen nur Ihre Lage in einem Lichte darstellen, das Sie veranlassen sollte, mit dem Ernste, den die ganze Angelegenheit fordert, mir Alles das zu sagen, was Sie zur Erklärung Ihres unbegreiflichen Verfahrens, zur Entschuldigung, wenn Sie wollen, anführen können.“

„Das verlangen Sie nur, Comtesse … und wollen Sie, wenn ich es gethan, meine Fürsprecherin bei dem Grafen für mich werden – darf ich das hoffen?“

„Ich will es,“ erwiderte sie halblaut, „wenn Sie etwas anführen, was mich dazu in den Stand setzt.“

Albrecht machte eine leichte Verbeugung, wie um ihr seinen Dank auszusprechen, und begann dann zu erzählen, wie er überhaupt in diese Gegend gekommen, wie die Bilder in der kleinen Schankwirthsbude seine und seines Begleiters Lachlust gereizt, weil sie gar so lächerliche Physiognomien gezeigt … Albrecht war klug genug, sofort die plausibelste Entschuldigung zu finden, er stellte die Sache dar als hervorgegangen aus einem lebhaften artistischen Gefühle, das durch die abscheuliche Malerei verletzt worden sei, und wenn man ihn reden hörte, war man alsbald überzeugt, daß die beiden jungen Leute die Bilder nur an den Galgen gehängt hatten, weil sie diese Stelle als die passendste für die Werke eines so polizeiwidrigen Sudlers gehalten, wie der Maler dieser Portraits war.

Aglaë wenigstens glaubte an diese Auslegung sogleich, ohne noch das mindeste Bedenken zu hegen. Die beiden jungen Leute waren ja völlig fremd hier – wie konnte ihnen in den Sinn gekommen sein, die drei würdigen Urbilder der Portraits zu beleidigen ?

Sie hätte nun zu gleicher Zeit ohne Zweifel auch ihre Theilnahme an Albrechts Schicksale noch lebhafter an den Tag gelegt, als sie es bereits gethan, wäre nicht in der Erzählung des jungen Grafen etwas gewesen, was ihren Gedanken eine ganz eigenthümliche Richtung gab. Sie hörte offenbar mit großer Spannung dem [658] zu, was Albrecht von seinem Gefährten berichtete, und als er, sie scharf fixirend, fallen ließ, daß Fano’s Briefe mit einem C und zwei X unterzeichnet seien, veränderte sie offenbar die Farbe, während sie das Gesicht abwandte und, wie es schien, einen sprechenden Blick zu ihrer Dueña im Hintergründe hinüber warf.

Es schien auch. als ob sie von diesem Augenblicke an nicht mehr in der Gemüthsverfassung sei, das Gespräch mit Albrecht fortzusetzen. Der kühle Gleichmuth, den sie mit mehr oder weniger Erfolg während der Unterredung behauptet hatte, war offenbar gründlich erschüttert – sie mußte sich zusammennehmen, um Albrecht zu sagen, daß sie hoffe, ihren Vater von der Harmlosigkeit dessen, was vorgefallen, zu überzeugen, und um ihn dann mit einer unendlich freundlicheren Verbeugung, als womit sie ihn empfangen, zu entlassen.

Albrecht begab sich mit der besten Zuversicht, ja, mit einer gewissen Befriedigung über ein Abenteuer, welches ihn in diese Berührung mit einer so reizenden jungen Dame wie Gräfin Aglaë gebracht hatte, in die Hände des seiner harrenden Feldwebels zurück.




4.

Als der Abend herannahte, füllte sich der Schloßhof von Hohenklingen mit dem Troß des heimkehrenden Jagdzuges an. Der Reichsgraf erschien endlich selbst, ertheilte noch einige Befehle, die nicht darauf deuteten, daß er mit einer gnädigeren Stimmung, als worin ihn am Morgen Albrecht zu sehen Gelegenheit gehabt, zurückgekehrt sei, und begab sich dann mit seinen Beamten in das Innere des Schlosses, um das große Jagdmahl, zu dem die Ehrengäste fehlten, jetzt allein zu verzehren. Albrecht hatte eine leise Hoffnung, daß noch an diesem Abende seine Lage eine Veränderung erfahren und er nicht die Nacht in seiner Gefangenschaft zubringen werde. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Er mußte den Schlaf auf einer nicht eben sauberen Strohmatratze suchen und sich in die anderen Unbequemlichkeiten einer Haft finden, welche, je länger sie dauerten, desto unbehaglicher wurden. Auch am andern Morgen verging eine Stunde nach der andern, bis endlich ein Mensch in einer grünen Jagdlivree über den Hof gestürzt kam und dem Feldwebel, der die Schlosswache perennirend zu befehligen und nie abgelöst zu werden schien, den Auftrag brachte, seinen Schutzbefohlenen sofort zum Grafen heraufzusenden.

Es war ein anderer Theil des Gebäudes, als der von der Gräfin bewohnte, in welchen Albrecht geführt wurde; es war der Hauptbau, der dem Mittelpunkt des Ganzen, einen großen ovalen Speisesaal oder Ahnensaal, wenn man will, umschloß – denn beides war hier in dem einen großen, mit zwei ungeheueren Kachelöfen an den beiden Enden versehenen Gemache vereinigt; wahrscheinlich hatte man die Gestalten der tapfern Ahnen gerade hierhin in den Banketsaal gebracht, um sie Zeugen werden zu lassen, daß ihre Enkel an Großartigkeit heroischer Leistungen ihnen nicht nachgaben und ihrer nicht unwürdig geworden.

Reichsgraf Cosimus schritt in diesem Saale, dessen Fenster geöffnet waren und die Aussicht in einen nach französischem Geschmacke angelegten Garten gewährten, auf und ab. Er stieß dabei dicke Rauchwolken aus, welche er aus einem großen ungarischen Meerschaumkopf hervorqualmte.

Als Albrecht eintrat, blieb er stehen und den Gefangenen, der ihm eine höfliche Verbeugung machte, vorn Scheitel bis zur Sohle mit einem majestätischen Blicke messend, sagte er:

„Komm Er näher!“

Diese Worte wurden mit einer Stimme, die wie ein aus der tiefsten Brust aufsteigendes Donnergrollen lautete, gesprochen. Albrecht fand für gut, weder darauf zu antworten, noch dem Befehl zu folgen.

„Man nennt sich einen Grafen von Werdenfels?“

Der Graf von Werdenfels bejahte diese Frage durch ein stolzen Kopfnicken.

„Haben Sie etwas, was diese Angabe zu beweisen im Stande ist?“

„Ich habe einen Brief an den Reichsvicekanzler Graf Schönborn bei mir.“

„Ich bitte darum,“ antwortete der Graf, der aus der Scala der Höflichkeit immer mildere Töne anschlug.

Albrecht zog seine Brieftasche hervor und überreichte ein großes, mit den Werdenfels’schen rothen Fahnen gesiegeltes Schreiben dem Grafen. Dieser betrachtete es lange, und nachdem er sich von der Richtigkeit des Wappens überzeugt hatte, gab er es Albrecht zurück. „Wenn es Ihnen erforderlich erscheinen sollte, mögen Euer Erlaucht es öffnen.“

„Ich danke Ihnen,“ versetzte die Erlaucht, „es bedarf dessen nicht, Ihre ganze Erscheinung läßt mich nicht daran zweifeln, daß Sie die Wahrheit sprechen, obwohl es befremdlich ist, daß ein Graf von Werdenfels in einem so gründlichen Incognito reist. Aber das ist Ihre und noch mehr Ihres Herrn Vaters Sache. Ich bitte, Herr Graf, nehmen Sie Platz.“

Cosimus wies mit einer leichten Handbewegung auf ein Tabouret, welches in einer der Fensternischen stand, und setzte sich auf ein anderes, Albrecht dicht gegenüber.

„Sie haben mit der Gräfin, meiner Tochter, gesprochen,“ sagte er, „und bei dieser sich wegen des tollen Streichs verantwortet, mit dem Sie sich hier bei uns eingeführt haben. Ich will diese Entschuldigung gnädigst gelten lassen, zumalen es wahr sein mag, daß die Conterfeis, welche unsere Unterthanen in schuldiger Devotion sich von ihren gnädigst regierenden Landesherrn anfertigen lassen, mitunter den Herren Kunstverständigen zum Aergerniß gereichen können. Ich werde ein Edict dawider ausgehen lassen, auf daß hinfüro alle derartigen Maler-Elaborate, wenn sie mich betreffen, hierorts an eine censirende Hofstelle abgeliefert werden, welche sie mit einem Placet zu versehen hat; dann wird ein solcher Casus sich nicht wieder ereignen können!“

Albrecht nickte diesem Beschluß Serenissimi mit lächelndem Schweigen seinen Beifall, froh, daß er seine Schutzrede nicht noch einmal vorzubringen habe.

„Und so wollen wir denn,“ fuhr der Reichsgraf fort, „über diese Sache hinweggehen und gnädigst die bis jetzt erlittene Haft als ein genügsames, kleines Memento für den jungen Herrn gelten lassen … was hat es aber für eine Bewandtniß mit dem Begleiter des Herrn Grafen, dem jungen Italiener, der anitzt, wie anhero berichtet ist, als der Hauptschuldige im Stift Triefalten in Gewahrsam genommen ist?“

„Er ist ebenfalls verhaftet worden?“ rief Albrecht aus.

„So ist es. Von den Stiftischen!“

„Dann retten Sie ihn aus dieser Lage, Erlaucht,“ fuhr Albrecht lebhaft fort, „denn wenn mich nicht Alles trügt, bestehen Beziehungen zwischen Ihnen und dem armen Fano, welche ganz der Art sind, um Sie dazu aufzufordern.“

„Was wissen Sie darüber?“ fiel die dicke Erlaucht ein, indem sie eine furchtbare Wolke Rauchs ausqualmte.

„Fano Solari hat mir gesagt, daß seine Mutter, eine Venetianerin von gutem Hause, Teresa Solari geheißen, daß sie von ihrem Geliebten Briefe erhalten, welche die Unterschrift C. XX. getragen, daß er ein deutscher Cavalier aus Schwaben gewesen sein müsse …“

Graf Cosimus war bei diesen Mittheilungen offenbar in eine äußerst heftige innere Bewegung gerathen, welche er umsonst dadurch zu verbergen strebte, daß er bald rechts zum Fenster hinaus, bald links in die Tiefe des Saales blickte, bald hierhin, bald dorthin spuckte und eine schreckliche Rauchwolke um sich dampfte.

„Hat Derselbige solcherlei Briefe bei sich und kann sich damit ausweisen?“ fragte er endlich.

„Er hat dieselben mir zur Durchsicht anvertraut, und sie stehen zur Disposition, wenn es Euer Erlaucht gefallen sollte, zu gestatten, daß sie in meinem Besitz bleiben, denn ich bin meinem Freunde dafür verantwortlich!“

Die Erlaucht nickte einwilligend, und Albrecht zog noch einmal seine Brieftasche hervor und übergab ein kleines Convolut alter, vergilbter Papiere daraus dem Reichsgrafen.

Cosimus entfaltete mit bewegter Hand die Blätter und starrte sie mit einer Miene an, deren Ausdruck sehr schwer zu beschreiben war. Es stritten sich ein gewisses verschämtes Betroffensein und eine tiefere Rührung darin; er heftete bald seine Augen auf die Handschrift, welche ihn so lebendig in eine längst verschwundene Jugendzeit zurückversetzte, bald wandte er die Blicke mit einem gleichsam verächtlichen Kopfschütteln davon ab, spuckte zum Fenster hinaus und machte ein äußerst martialisches Gesicht, während seine derbe, gebräunte Faust die Papiere in ziemlich zerknittertem Zustande auf das breitgerundete Knie gedrückt hielt. Dann murmelte er allerlei Worte zwischen den Zähnen, die Albrecht nicht verstand, und schielte dabei zuweilen wie mit einer gewissen Aengstlichkeit auf [659] die Briefe hin, als ob er sie fürchte, und als ob daraus etwa eine kleine Schlange oder irgend ein anderes unangenehmes Ding hervorschlüpfen und ihm in’s Gesicht springen könne.

Mit einer plötzlichen Bewegung, welche offenbar zeigte, daß ihm die Sache Ueberwindung koste, gab er endlich Albrecht die Briefe zurück, und während dieser dieselben wieder an sich nahm, sagte er:

„Ich werde diesen jungen Menschen selber sprechen – ich werde hinüber reiten nach Triefalten … unterdeß bleiben Sie hier und lassen Sie es sich bei mir gefallen, Graf Werdenfels – betrachten Sie sich als meinen Gast – ich werde Ihnen Zimmer anweisen lassen.“

Er stand auf und rührte eine Glocke, die aus einem Spiegeltische stand. Als der Jäger, welcher vorhin Albrecht zu dem Grafen hinüber geführt hatte, erschien, sagte er:

„Weis’ Er dem Herrn die Fremdenzimmer an. Er bedient ihn und bleibt zu seiner Aufwartung bei dem Herrn Grafen. Jacob und Andree sollen satteln – für mich den Honigschimmel ich will ausreiten – sogleich!“

Der Jäger eilte hinaus und nach einer stummen Pause, während welcher Reichsgraf Cosimus schweigend seinen Meerschaumkopf ausgedampft hatte, kehrte er zurück, um Albrecht in die ihm bestimmten Gemächer zu führen. Die Erlaucht entließ den jungen Mann mit einem stummen Kopfnicken.

Albrecht fand in den ihm angewiesenen zwei kleinen Thurmzimmern mancherlei Toilettenbedürfnisse vor, so daß er im Stande war, seinen Anzug ein wenig zu ordnen. Doch fehlten ihm seine Sachen, und als er dem ihm zur Disposition gestellten Bedienten seine Noth darum klagte, versprach dieser einen der Reitknechte, welche die Erlaucht nach dem Stift begleiten würden, zu beauftragen, das leichte Gepäck mit herauszubringen. Der Jäger machte dann Anstalten, dem jungen Herrn ein treffliches Frühstück zu serviren, das dem eben aus seiner Gefangenschaft Erlösten sehr willkommen war. Endlich entfernte er sich, und Albrecht, der für’s Erste seine Zeit nicht anders herumzubringen wußte, verließ nach einer Weile ebenfalls sein freundliches Quartier, um durch die Schloßgebäude eine kleine Streiferei vorzunehmen und die eigenthümliche und jedenfalls höchst pittoreske Welt, in welche er gerathen war, näher zu betrachten.

Nachdem er auf langen, oft sehr dunklen Corridoren, wo Treppen und Treppchen bald hinauf und bald hinab führten, mehrere Theile und Flügel des weitläufigen Baues durchirrt hatte, gelangte er – es mußte in dem Theile des Schlosses sein, den Comtesse Aglaë bewohnte – am Ende eines Ganges an eine offene Flügelthüre, die auf einen hohen Treppenabsatz hinausführte, von welchem in zwei halbrundgeschweiften Fluchten steinerne Stiegen in den Garten hinabliefen. Er folgte ihnen und kam in den großen, eine in leiser Senkung sich abdachende Bergseite bedeckenden Garten des Schlosses. Hier umgab ihn eine seltsame und leider sehr vernachlässigte und ungepflegte Welt von verschnörkelten Beeten, welche die mannigfachsten Figuren, halbe Monde, Sterne, Buchstaben und Räder bildeten; von Taxushecken, die zu Thürmen, Obelisken, Truthähnen und Elephanten zugeschnitten waren; von kleinen Wasserwerken und Fontainen, die nicht mehr sprangen, und von ähnlichen Dingen, mit denen man im vorigen Jahrhundert die Natur zu verzieren und zu schmücken liebte, gleich als ob sie eine verblaßte Ballschönheit sei, welche man durch einen großen Aufwand von Ornamentik erst präsentabel machen müsse. Albrecht von Werdenfels, dem eine solche Art von Gartenkunst etwas ziemlich Neues war, vertiefte sich immer weiter in diese ihm fremde Welt, verirrte sich darin, ohne es zu bemerken, und stand endlich vor einem eisernen Gitterthor, das, halb geöffnet, ihn in eine Waldallee blicken ließ. Am Ende dieser Allee warf die Sonne, die das Laubgewölbe der dichten Wipfel nicht zu durchdringen vermochte, in eine Lichtung ihren vollen Strahlenguß und beleuchtete so ein höchst effectreiches Waldbild, welches noch interessanter und für Albrecht insbesondere anziehender durch die Staffage wurde, die er darin erblickte. Auf dem Hintergründe jener goldenen Strahlenhelle nämlich sah er zwei weibliche Gestalten sich bewegen, und ohne seine scharfen Augen viel dabei anstrengen zu müssen, erkannte er darin die Gräfin Aglaë nebst ihrem alten Gesellschaftsfräulein. Er gerieth in eine eigenthümliche Bewegung bei diesem Anblick, in Etwas, was einem großen Erschrecken sehr ähnlich war, und sein erster Impuls war, sich unsichtbar zu machen, sein zweiter Gedanke jedoch der, ihr kühn entgegen zu gehen und sich als freier Mann ihr vorzustellen, als der Gast ihres Vaters, der jetzt Alles aufbieten durfte, um bei ihr den Eindruck zu verwischen, den er ihr in seiner halb lächerlichen, halb bemitleidenswerthen Lage von gestern gemacht haben mußte.

Albrecht nahm sich also ein Herz und schritt – er bemerkte zu seiner Verwunderung, daß sein Schritt eine eigenthümliche Unsicherheit habe – aufrechten Hauptes – er bemerkte ebenfalls zu seiner Verwunderung, daß es ihm merkwürdig schwer wurde, das Haupt ruhig und stolz aufrecht zu tragen den herankommenden Damen entgegen. Es war übrigens seltsam, daß Gräfin Aglaë an sich selber etwas von ähnlichen Bemerkungen machen mußte – denn sie nahm plötzlich den Arm ihrer Begleiterin, und es schien Albrecht, als ob ihr Schritt sich in dem Maße verlangsame, wie der seine unter dem Einfluß einer bedeutenden Beklemmung schwankender wurde. Die beiden jungen Leute standen sich endlich gegenüber, und es mußte für sie etwas da sein, was diesem Augenblick eine Bedeutung gab, die er ganz offenbar für das alte Gesellschaftsfräulein nicht hatte. Denn das Gesellschaftsfräulein sah so gelb und verwittert aus, so würdevoll und so namenlos gefaßt auf alle Vorkommnisse des irdischen Lebens, wie sie zu allen Stunden des Tages oder der Nacht aufsah. Die beiden jungen Leute aber, welche sich jetzt anblickten und dann beide ein wenig zur Seite blickten, wechselten zwei bis drei Mal die Farbe, bis auf Aglaë’s holdem runden Gesichte ein etwas höheres Incarnat als das gewöhnliche, und auf Albrechts Zügen ein etwas blässerer Teint als der, welcher sonst darauf lag, endlich die Oberhand gewannen und sich der Herrschaft bemächtigten.

„Sie sehen, Comtesse,“ sagte Albrecht, während er sich rief verbeugte und das dreieckige Hütlein mit der schmalen Goldborte schwenkte. „Sie sehen, daß es nicht so schlimm mit mir steht, wie Ihre Erlaucht mir vorherzusagen beliebten. Dieselben machten sich ein äußerst grausames Vergnügen daraus, mir mindestens Galgen und Rad in Aussicht zu stellen, und ich glaube, Sie hatten die Jagd, an welcher Sie theilzunehmen begonnen, blos und lediglich in der Absicht verlassen, um sich das Vergnügen, Ihren armen Gefangenen so in Schreck und Angst zu versetzen, desto früher machen zu können!“ .

„Der Herr Graf von Werdenfels,“ versetzte Aglaë verlegen, „schieben mir sehr böse Absichten unter – aber es freut mich aufrichtig, dieselben in einer Lage zu sehen, worin Ihnen Ihre alte Scherzhaftigkeit und Lust am Spott so bald und so völlig zurückgekehrt ist!“

„O, ich verstehe den kleinen Hieb. den die gnädige Comtesse mir zu versetzen belieben,“ fiel lächelnd Albrecht ein; „aber ich nehme ihn demüthig hin, da ich ja weiß, daß ich Ihrer Fürsprache die günstige Veränderung meiner Lage verdanke, die mir erlaubt, als Gast Seiner Erlaucht diese Gärten in Augenschein zu nehmen und dabei eines so überaus angenehmen Rencontres mich zu erfreuen.“

„Mir verdanken Sie dabei gar nichts, mein Herr Graf, sondern Alles der Güte meines Vaters!“

„So sehr ich diese zu verehren weiß.“ versetzte Albrecht, „so habe ich doch selber wahrgenommen, daß die Erlaucht, schon bevor ich mich vor ihr verantworten durfte, zu meinen Gunsten gestimmt und entschlossen war, mich einer Gefangenschaft zu entledigen, deren ich freilich begann, sehr überdrüssig zu werden. Obwohl,“ setzte Albrecht mit einer etwas bewegten Stimme und höherem Erröthen hinzu – „obwohl es mir vom Schicksal beschieden scheint, daß mein Herz in der Gefangenschaft für ewiglich hier verbleiben und auch allen Gedanken an seine frühere Freiheit fröhlich entsagen soll!“

Eine solche Versicherung, wie Albrecht sie hiermit aussprach, ging in jenen galanten Zeiten nicht über die Grenzen einer gewöhnlichen Courtoisie zwischen jungen Leuten hinaus. In dem Ton jedoch, mit welchem Albrecht sie vorbrachte, mußte etwas liegen, was ihr eine tiefere Bedeutung in den Augen der jungen Gräfin gab; denn diese, statt daraus mit einer andern galanten Phrase, wie sie ihr gewiß zu Gebote gestanden hätte, zu antworten, verstummte und bemerkte nur, da die Lustwandelnden jetzt das Gartenthor erreicht hatten, zu ihrer Begleiterin gewendet:

„Wir wollen noch einmal umkehren, es ist so schön unter diesen schattigen Bäumen!“

Die kleine Gesellschaft wandle sich deshalb und schritt wieder in die Waldallee hinein, aus der sie gekommen. Albrecht setzte in [660] dem begonnenen Tone die Conversation fort und erzählte allerlei aus seiner Heimath und über seine kleinen Reise-Erlebnisse, wobei Aglaë immer kürzere Antworten gab und, wie es Albrecht schien, immer gespannter und selbstvergessener lauschte.

Als sie so am andern Ende der langen Allee angekommen waren, wurde dieser angenehme Zeitvertreib für die jungen Leute und ihre bewegten Herzen durch die Erscheinung einiger Männer unterbrochen, die von links her aus dem Gebüsche traten, aus dem ein breiter Fußsteg in die Allee einlenkte.

Es waren zwei sehr stattlich in rothe gallonirte Röcke gekleidete Herrn, der Eine groß und stark, der Andere klein und rundlich; zwei bewaffnete und in einer ganz eigenthümlich altfränkisch aussehenden Livree steckende Diener folgten ihnen. Alle trugen stark gepuderte Perrücken, mit dem Unterschiede nur, daß die der beiden Herren in einer Wolke von Locken bestanden, während die Diener sich mit bescheideneren steif aufpomadisirten „Taubenflügeln“ begnügten.

Als sie unsere Gesellschaft erreicht hallen, blieben sie stehen, zogen sehr höflich ihre großen Dreispitze ab, und der erste der Herren wandte sich an die junge Gräfin mit den Worten:

„Es gewähret uns eine insonders günstige Vorbedeutung, daß wir auf dem Wege zu dem Herrn Reichsgrafen der Ehre und des Glückes theilhaftig werden, vorab Ew. Erlaucht unser dienstwilligst gehorsames Compliment machen zu können. Wir hoffen die gnädigste Comtesse wohlauf und bei guter Gesundheit zu treffen.“

„Ich danke Ihnen für Ihr Compliment. Herr Bürgermeister Erchenrodt, und Ihre gewogentliche Nachfrage nach meinem Befinden,“ versetzte Aglaë „was jedoch meinen Vater, den Herrn Reichsgrafen, betrifft, so bedaure ich, daß Ew. Magnificenz denselben nicht daheim antreffen. Er ist vor ein paar Stunden nach Triefalten geritten. Ich bitte, sich bedecken zu wollen!“

„Dies ist allerdings für uns eine schwer zu beklagende Nachricht,“ entgegnete der Amtsbürgermeister der freien Reichsstadt Großlingen. „Jedoch,“ fuhr er fort, „da wir in einer absonderlich bedeutsamen und wichtigen Angelegenheit kommen, so warten wir mit Hochdero günstigem Verlaub im Schlosse auf die Heimkehr …“

„Herr Bürgermeister,“ unterbrach hier der andere Herr. der unterdeß Albrecht von Werdenfels scharf in’s Auge gefaßt hatte, den Redenden, „ich meine, salvo meliore, wir könnten unsere Angelegenheit selber hier auf eine überaus einfache Weise zur Erledigung bringen. Das unserer Justiz durch einseitiges und nicht zu rechtfertigendes Vorgehen des Herrn Reichsgrafen entzogene Individuum stehet auf freien Füßen hier vor uns, und es wäre sehr thöricht, wenn wir nicht die Gelegenheit ergriffen und nun sofort ebenfalls via facti vorschritten. So ist meines bescheidentlichen Bedünkens mit einem Male die Sache geordnet und die bedrohliche Gährung unserer Bürgerschaft beruhigt und gestillt.“

„Ja, meint Er in der That, Syndicus?“ fiel der Amtsbürgermeister von Großlingen ein … „allerdings … aber wenn es uns in Präjudicia und Nachtheile brächte …“

„Der Besitz hat immer seinen Vortheil, Herr Bürgermeister setzen wir uns in Besitz,“ rief der Andere, der unseren jungen Freund mit einem so heißbegehrenden Blicke, wie ein Geiziger einen Schatz, anstarrte, ihm dicht an die Seite trat und nun ohne Weiteres rasch seinen Arm mit den Worten ergriff: „Er ist verhaftet und arrestiret, junger Mann, im Namen von Senat und Gemeinde der freien kaiserlichen und des Reichs Stadt Großlingen!“

Albrecht wollte mit stolzem Zürnen den unternehmenden Syndicus wenigstens drei Schritte weit von sich fortschleudern, aber leider klammerte der kleine stämmige Reichsbürger sich mit Händen, die wie eiserne Haken waren, an ihn fest, und die zwei bewaffneten Diener der Stadt waren nicht träge gewesen, ihrer Obrigkeit beizustellen.

Albrecht sah sich abermals gefangen. Gefangen – wenn nicht etwa Gräfin Aglaë ihn befreite. Denn Gräfin Aglaë wurde bei dem Anblick dessen, was vor ihren Augen vorgenommen ward, so empört, sie gerieth so ganz vollständig außer sich, daß es schien, sie werde in der Aufregung, in welcher sie war, ein ganzes Heer in die Flucht schlagen.

„Mein Herr Bürgermeister,“ rief sie mit zitternder Lippe aus – „was unterstehen Sie sich zu thun? – hier auf dem Grund und Boden unseres Gebiets wollen Sie einen Herrn von vornehmem Hause, einen Gast meines Vaters aufheben und gefangen nehmen? Wissen Sie, daß mein Vater einen solchen Schimpf, den Sie ihm noch dazu in meiner Gegenwart, unter meinen Augen anthun, nicht hinnehmen wird, ohne Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um diese That zu rächen!“

„Meine gnädigste Comtesse,“ nahm hier der Bürgermeister das Wort, „dies von Euer Erlaucht wider unser Verfahren fürgebrachte Argumentum kann uns wenig beirren, zumal der Herr Reichsgraf am gestrigen Tage sich dieselbe Thathandlung auf Großlingenschem Grund und Boten mit Verletzung unseres Territorii erlaubt haben! Wir üben nur …“

„Das Jus retorsionis!“ rief hier der triumphirende Syndikus dazwischen, „ja wohl, meine Gnädigste, Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn. Erlaucht halten zu Gnaden, aber wir würden unseren geschworenen Eiden untreu werden, wenn wir nicht also gemeiner Bürgerschaft von Großlingen Rechte und unantastbare Hoheit wahrnähmen; unsere Vater würden sich im Grabe umdrehen, wenn wir durch Mangel an Eifer und Wachsamkeit Großlingen um den Ruhm brächten, einen solchen des Hochverraths angeklagten Delinquenten justificirt zu haben. Was steht und zögert Ihr noch, Ihr Lungerer?“ rief der kleine Rathsherr den Dienern zu, „macht fort mit ihm – macht Euch auf den Heimweg, Ihr haftet mit Euren Köpfen für ihn!“

Albrecht blickte schweigend während dieses ganzen Vorganges erst seine Dränger und dann die Züge der jungen Gräfin an. Er sah sehr wohl ein, daß ihm bei jenen ein Protest nicht helfen werke, da sie so wenig Gewicht auf den Protest der Gräfin legten; und zudem bot ihm die offenbar von einem ganz ungewöhnlichen Aufgeregt- und Empörtsein zeugende Miene der Gräfin ein weit fesselnderes Schauspiel dar; so stand er denn das Auge wie Hülfe suchend auf sie gewendet, und es war, als ob der Blick dieses Auges Aglaë zu noch größerer Leidenschaft der Vertheidigung hinrisse. Sie drohte dem kecken Bürgerthume mit der ganzen Macht ihres Vaters, mit seinem wohlgerüsteten Heere, was aber durchaus keinen Eindruck hervorzubringen schien; sie drohte mit dem Reichskammergericht und mit der Reichsacht und Aberacht … aber mit noch viel weniger Erfolg. Während Albrecht also gute Miene zum bösen Spiele machen und alle seine Selbstbeherrschung zusammennehmen mußte, um unter den Augen der Gräfin sich mit möglichst viel männlichem Anstand und ungebeugter Würde in die Rolle eines von zwei Stadtknechten abgeführten Gefangenen zu finden – während deß vertheidigten die beiden regierenden Herren von Großlingen ihre Maßregeln mit allerlei süßsauren und stachlichten Redensarten, worin die zürnende junge Gräfin eben so viele grenzenlose Unverschämtheiten erblickte, welche sie endlich bewogen, diesen entsetzlichen alten Perrücken den Rücken zuzukehren und mit eiligen Schritten den Weg zum Schlosse einzuschlagen.

Die beiden Herren aber stülpten augenblicklich ihre großen Dreimaster auf ihre gerötheten und triumphirend blickenden Gesichter, und eilten ihrem Gefangenen nach, um dessen Abführung so zu beschleunigen, daß sie vom Schlosse aus auf reichsgräflich Glimmbach-Hohenklingenschem Gebiet nicht mehr erreicht und eingeholt werden könnten.

(Fortsetzung folgt.)




Das Manöver der Schweizermiliz am St. Gotthard

vom 14. bis 25. August 1861.

Daß die Führer des Schweizerheers kein eitles Spiel des Waffenglanzes treiben, sondern bei allen größeren Feldübungen den Ernst der Lage der Eidgenossenschaft vor Augen haben, das zeigten sie in der Wahl des Terrains für ihre Manöver. Stets wählten sie solche Punkte, welche durch die Kriegsgeschichte oder für die Landesvertheidigung besondere Wichtigkeit haben.

Ein solcher Punkt ist auch der Alpenknoten des St. Gotthard. Ueber ihn führte schon in den ältesten Zeiten ein Saumweg,

[661]

Die Rast der Walliser Truppen auf der Furca. (7790 Fuß.)
Nach der Natur gezeichnet von H. Jenny.
a. Furcahörner. b. Muttli und Muttli-Gletscher. (8950 Fuß.) c. Furcasignal. dd. Berner Alpen. e. Finsteraarhorn. f. Meienwand. g. Rhonegletscher. (5130 Fuß.) h. Furca-Paß.

[662] welcher Deutschland mit Italien verband. Die ersten Heeresmassen, welche ihn im Lichte der Geschichte betreten, sind unsere unstäten Vorfahren, die Cimbern und Teutonen gewesen. Später mehrmals die deutschen Kaiser auf ihren Römerzügen. Aus der neueren Zeit ist am denkwürdigsten Suwarow’s Kriegszug am St. Gotthard in den Jahren 1798 und 1799. Der Schauplatz dieses Kampfs erstreckte sich über einen großen Theil des St. Gotthard-Gebiets: die Teufelsbrücke, das Reußthal, die Surenen, die Furca, der Grimsel und der Vierwaldstättersee wurden Zeugen blutiger Gefechte. Damals konnte man noch nicht auf breiter Straße über die Bergrücken fahren, es galt damals noch Haller’s Ausspruch: „Ueber die Alpen geht kein Rad.“ Auf schmalen Saumpfaden mußten die Heere, Mann hinter Mann, vorwärts dringen, die Abgründe unter, die Lawinen über sich. So war Suwarow mit seinen 30,000 Russen in das Thal der Reuß gelangt, aber hier von der französischen Uebermacht eingeschlossen worden. Nur ein Rettungsweg stand ihm offen, ein steiler Hirtenpfad, der aus dem Schächenthal über den Kinzig-Kulm nach Schwyz hinüberführt, und auf diesem entkam er, aber wie! Die Kanonen mußten in ihre einzelnen Theile zerlegt und getragen, die Pferde nicht selten an den Schwänzen festgehalten werden, und doch stürzten über fünfhundert Menschen, viele Pferde und manches Packstück in die Schlünde; Niemand kümmerte sich um sie, man eilte vorwärts, und der kühnste aller Alpenübergänge ward glücklich für die Hauptmasse der Armee vollbracht. Auch in dem Sonderbundskrieg von 1847 spielte der St. Gotthard eine sehr bedeutende Rolle.

Die Alpengruppe des St. Gotthard vereinigt demnach beide oben genannten Interessen; zu ihrer kriegsgerichtlichen Wichtigkeit kommt noch die ihrer Lage, denn als ein Grenzgebirg ist sie einer der wichtigsten Punkte der Schweiz für die Landesvertheidigung. Daß gerate letztere Bedeutung die diesjährige Wahl des Manövrirterrains leitete, ergiebt sich aus der Disposition zum Manöver selbst, das sich dadurch ganz klar als eine Demonstration gegen die italienischen und französischen Annexationsgelüste offenbart. Der betreffende Divisionsbefehl (vom 12. August) stellt den Truppen des Manövers folgende Aufgabe: „Die ganze Südgrenze unseres Vaterlandes ist bedroht, feindliche Colonnen haben dieselbe angegriffen, bevor wir gerüstet ihnen entgegentreten konnten. In Graubünden kämpft der Gegner an dem südlichen Ausgange der Engadinerpässe und des Splügens, im Centrum ist es ihm gelungen, sich des St. Gotthards zu bemächtigen; die Spitzen seiner Colonnen sind bis an den Vierwaldstättersee vorgedrungen, in Wallis halten wir St. Moritz noch und das südliche Debouché des Simplon; die schweizerische Armee sammelt sich in aller Eile an dem nördlichen Abhänge der Alpen; eine Avantgarde, welche in Luzern und im Berner Oberlande steht, erhält den Befehl, sich mit aller Anstrengung des Reußthals zu bemächtigen und den St. Gotthard zu erstürmen. Dies die Aufgabe der zum Truppenzusammenzug beorderten Truppen.“

Die theilnehmenden Truppen bestanden aus einer Sappeurcompagnie (von Aargau), zwei Gebirgsbatterien (von Wallis), einer Guidencompagnie (von Genf), vier Schützencompagnien (von Nidwalden, St. Gallen, Wallis und Tessin), vier Bataillonen Infanterie (von Waadt, Graubünden, Wallis und Bern), vier Ambulancesectionen und den Parkabtheilungen. Commandirender war Oberst Aubert, und als Generalstabschef functionirte Oberst Wieland.

Am Morgen des 14. Augusts begann um 6 Uhr die Einschiffung der Truppen in Luzern, und gleich nach 8 Uhr gab ein Kanonenschuß das Zeichen zur Abfahrt. Die kleine Flotille bestand aus drei Dampfern und mehrern Schleppschiffen. Bei Brunnen stieß eine Abtheilung eines Bündner Bataillons in vier Schleppschiffen zu der Flotille, die im Angesichte von Flüelen und Seedorf ankerte. Sie wurde jedoch vom Feinde (einer St. Galler Schützencompagnie unter Major Krauß) sogleich mit einem donnernden Willkommen begrüßt, welchen man sofort erwiderte. Die Landung ging glücklich vor sich. Der Feind, auf der linken Flanke auch von den eidgenössischen Hülfstruppen angegriffen, die glücklich die Schonegg (6380 Fuß) überstiegen hatten und vom Isenthal her am rechten Ufer des Urnersees vordrangen, zog sich auf Altdorf zurück. Unterdessen rückten bei Attinghausen auch die Truppen in’s Treffen, die den Surenenpaß (7170 Fuß) überstiegen hatten, während ein fünftes Detachement, das über den Klausenpaß (6130 Fuß) gezogen war, bei Bürglen aus dem Schächenthal hervorbrach. Im Sturme ging es nun vorwärts gegen den Feind, und dieser von allen Seiten bedrängt und angegriffen, zog sich auf der einzig noch möglichen Rückzugslinie, der Straße nach Amsteg, bis an die Klus zurück. Gegen 2 Uhr endigte das Gefecht, und die verschiedenen Truppen bezogen ihre Bivouaks. Das ganze combinirte Manöver konnte insofern als gelungen betrachtet werden, als die verschiedenen Truppenabtheilungen genau zur festgesetzten Zeit eingetroffen waren und so die einzelnen Operationen richtig in einander eingreifen konnten. Wer aber die wilden Bergübergänge über den Klausen, die Surenen und Schonegg kennt, wo die Truppen stundenweit Schneefelder, Steingerölle, unwegsame Saumwege, schmale Felsgräthe, die an gähnenden Abgründen vorbeiführen, passiren mußten, der wird der Pünktlichkeit und Ordnung, mit der diese Märsche ausgeführt wurden, alle Anerkennung zollen.

Am 15. August gegen 6 Uhr des Morgens brachen die in und um Altdorf gelagerten Truppen auf, um den am gestrigen Tage bis nach Amsteg zurückgeworfenen Feind weiter zu verfolgen.

Bei Erstfeld ging eine Abtheilung über die Reuß und zog sich ebenfalls thalaufwärts. Mitten aus dem grünen Thalkessel von Amsteg erhebt sich trotzig der Felshügel Flühli mit den Trümmern einer alten Burg, nach der Sage das von Geßler erbaute Zwing-Uri. Diese Anhöhe hielt Major Krauß mit seinen Schützen besetzt, und vertheidigte sich gegen Artillerie und Infanterie, bis die eidgenössischen Schützen die steilen Abhänge des scheinbar unzugänglichen Frauschenberges erkletterten und von der Höhe herunter auf den rechten Flügel des Feindes ein wohlgezieltes Feuer eröffneten, während in der Fronte die Infanterie im Sturme vorrückte und die Truppen, die am linken Reußufer vorgedrungen, auch die linke Flanke der feindlichen Position bedrohten. So von drei Seiten angegriffen, zog sich der Feind hinter die Kerstelenbrücke bei Amsteg zurück. Hier beginnt die Gotthardsstraße und öffnet sich das liebliche Maderanerthal. Major Krauß hatte bei der Kerstelenbrücke Barrikaden aufgeworfen, und hinter dem Bergbache und der nahen Reußbrücke stellte er seine Truppen in vorzüglicher Stellung auf; allein von Amsteg aus wurden sie von einem furchtbaren Feuer überschüttet, und ihre Stellung wurde durch die Tessiner Schützen, die durch die enge Schlucht des Kerstelenbaches vorgedrungen waren, umgangen. Major Krauß ließ daher zum Rückzüge blasen und zog sich über die Reußbrücke nach dem eine halbe Stunde entfernten Intschi zurück. Damit schloß gegen 1 Uhr das Manöver dieses Tags, das ebenfalls als ganz gelungen bezeichnet werden konnte.

Auch der 16. August begünstigte das Feldspiel mit vortrefflicher Witterung. Die Truppen drangen auf beiden Seiten der Reuß thalaufwärts; der Feind zog sich unter lebhaftem Feuer nur Schritt für Schritt zurück bis zur Meidschligenbrücke, die sich in kühnen Bogen über die Reuß schwingt. Hier war die eidgenössische Vorhut etwas zu unvorsichtig vorgerückt; rasch brach Major Krauß mit seinen Schützen aus einem Hinterhalte hervor, warf im Sturmschritt die überraschten Gegner über die Brücke zurück, verbarrikadirte dieselbe und nahm sogar in einem Hohlweg die eidgenössische Artillerie. Aber die erlittene Schlappe wurde rasch wieder ausgewetzt. Mit der größten Leichtigkeit und Gewandtheit kletterten die eidgenössischen Jäger links und rechts an den steilen Bergabhängen, die die Brücke dominiren, empor, um den Feind von oben herab, hinter Gebüsch und Felsen verborgen, sicher aufs Korn zu nehmen, während die Infanterie in geschlossenen Reihen gegen die Barrikade vordrang. Die Brücke wurde unter Hurrahrufen erstürmt und der Feind bis zum Pfaffensprung[1] zurückgeworfen, der dritten großen Brücke an der St. Gotthardsstraße. Nachdem der Feind seine Hauptmacht auf das linke Reußufer zurückgezogen, sprengte er die Brücke und zog sich rasch gegen Wasen zurück, da zahlreiche gegnerische Corps auf fast unwegsamen Fußsteigen seine Stellung umgangen hatten und ihm nun den Rückzug abzuschneiden drohten.

Doch horch! auch trüben aus den Schlünden des Maienthales ertönt der dumpfe Donner der Geschütze. Das Walliser eidgenössische Hülfscorps unter Major Gingins zog von den Höhen des Sustenpasses (6980 Fuß) herunter und erstürmte am Ausgange des Maienthales die vom Feinde nur schwach vertheidigte Maienschanze. Unterdessen war das Gros der eidgenössischen Armee in Folge der supponirten Zerstörung der Reußbrücke am weitern Vordringen aufgehalten worden; rasch ward aber über den [663] Fluß eine Nothbrücke geschlagen und der Uebergang glücklich vollzogen. Die Rückzugsarmee hatte in Wasen bei der malerisch auf einer Anhöhe gelegenen Kirche und auf dem Gottesacker eine günstige Stellung gefaßt. Aubert, mit dem sich auch die Walliser vereinigt, gab den Befahl zum allgemeinen Angriff. Auf der Gotthardsstraße rückten die Sturmcolonnen vorwärts, an den Bergabhängen zogen sich im Zickzack die eidgenössischen Jägerketten hin, und von den Höhen herunter ließen die Gebirgshaubitzen ihre mächtigen Stimmen erschallen. Wasen schien in ein Rauch- und Flammenmeer gehüllt zu sein. Der Anblick dieser Scene war imposant. Dazu stürzte während dieses Kampfes eine Lawine in die Reuß herab und verbreitete einen augenblicklichen Schrecken. Um 1 Uhr war Wasen genommen, und der Feind floh unaufhaltsam bis nach Andermatt. Damit endete der dritte Tag.

Am folgenden Morgen, 17. August, geschah ein Hauptangriff, die Erstürmung der Schöllenen und der Angriff auf die Teufelsbrücke. Hier in der wilden Felsschlucht, wo die schroffen, nackten Bergwände sich zu schwindelnder Höhe erheben, wo die nah an einander gerückten dunkeln Granitmassen kaum der brausend und schäumend dahin eilenden Reuß einen engen Durchpaß gestatten, und wo die Straße im Zickzack und zwischen Gallerien hindurch an den hohen Felsen hin sich windet, da war allerdings für größere taktische Evolutionen kein Raum. Es wurde daher statt eines Gefechtes eine Schießprobe im Großen abgehalten, wobei die feindliche Front auf den terrassenförmig ansteigenden Höhen durch 20 Scheiben, die in verschiedener Entfernung aufgestellt waren, bezeichnet war – letzteres, um auf die verschiedenen Feuerwaffen, Gebirgsartillerie, Jägerwehr und Stutzen, Rücksicht nehmen zu können.

Unterdessen hatte sich auch der Himmel zum Sturme gerüstet und schwere Gewitterwolken in’s Vordertreffen geführt; es wurde daher zum Aufbruch ccmmandirt. Bon einem scharfen, schneidenden Westwinde umheult und in Wolken eines lästigen Staubes gehüllt, stiegen die Kolonnen die Gotthardsstraße hinauf, über die berühmte 95 Fuß hohe Teufelsbrücke und durch das unheimliche Urnerloch in das freundliche Urserenthal, wo auf den lieblichen Alpentriften das Lager aufgeschlagen und dieser vierte Tag beendet wurde.

Am 18. August, nach einer etwas feuchten und kalten Nacht, wurde Feldgottesdienst, Rasttag und Inspektion gehalten. Dazu war Tags vorher ein neues eidgenössisches Hülfscorps eingerückt, Detachement Nr. 1 unter Oberstlieutenant Meyer (1 Walliser Bataillon, eine halbe Schützencompagnie, 1 Gebirgsbatterie), welcher vom Oberwallis her die Furca (7790 Fuß) überschritten (der Gegenstand unsres Bildes) und sich im Urserenthale mit dem Gros der eidgenössischen Vorhut glücklich vereinigt hatte.

Am 19. August wurde der Gotthard überschritten von der eidgenössischen Brigade Wälti, – ein herrlicher, die Mannschaft belebender Marsch, ohne Gefecht. Fesselnd war das Bild des Haltplatzes beim Hospiz: das Bataillon Berner hatte in eine Linie im Vordertreffen seine Waffen zusammengestellt, die Walliser in geschlossener Colonne dahinter. Auf den Felsenplatten und Blöcken ringsum lagen, saßen, standen, aßen, tranken, sprachen, schliefen die Leute oder staunten in die neue „welsche Welt“. –

Jenseits des Hospizes fällt der Paß sehr steil nach Tessin hinunter. Der kühne Bau der Straße mit seiner großartigen Felseneinrahmung war jetzt durch eine überaus interessante Staffage belebt: die Brigade schlängelte sich die zahllosen Windungen hinab, und in schnellem Marsche ging es gegen Airolo, wo die Brigade um Mittag anlangte und Rast hielt.

Am 20. August wirbelten die Trommeln früh noch durch die dunkle Nacht. Dazu streiften trübe Regenwolken an den Bergen hin, und hinten im Bedretothale stürmte und donnerte es gewaltig, als es um 2 Uhr hinaus in die rabenschwarze Nacht ging, das Thal aufwärts gegen die Nuffenen (7260 Fuß). Auf schmalem Fußwege am Tessin entlang zogen die Truppen festen Schrittes, aber still dahin. Da tauchte der Mond plötzlich aus der dunkeln Wolkenhülle hervor und warf seinen magischen Schein auf die stummen Gestalten. Der Morgen brach an, der Himmel sendete gewaltige Regenschauer, die fast 2 Stunden lang andauerten. Um 9 Uhr holte man die Vorhut bei den obersten Sennhütten des Thales ein.

Es wurde Halt gemacht und das Morgenbrod verzehrt. Hier wird die Gegend sehr wild, die freundlichen grünen Alpentriften mit den schimmernden Alpenrosen gehen nach und nach über in nackten Fels oder weite Schutt- und Trümmerfelder, bedeckt mit ungeheuren Felsblöcken. Auch der Fußweg verschwindet – und Alles ist schauerliche Einöde. Nach kurzem Halte zog man in vielen Schlangenwindungen die steilen Anhöhen hinauf gegen den Paßsattel, eine harte Aufgabe für die Gebirgsartillerie, die Saumthiere und die Gepäckcolonnen; allein die Paßhöhe wurde endlich ohne bedeutende Unfälle glücklich erreicht, und über mehrere Schneefelder marschirten die Truppen dann 1 Stunde lang steil abwärts am Griesgletscher vorbei in das Eginenthal, wo sie nach 13–14 stündigem Marsche bei St. Ulrichen ihre Bivouaks bezogen.

An demselben Morgen war auch die 1. Brigade, welche Tags vorher vom Hospital nach Realp vorrückte, unter Oberstlieutenant E. Meier über die Furca gegangen und marschierte nach einem Force-Marsch, der nicht weniger Schwierigkeiten, als der über die Nuffenen geboten hatte, gleichzeitig mit den Truppen der zweiten Brigade in St. Ulrichen ein und bezogen unter strömendem Regen in dem nahen Münster ihr Lager.

Am 21. August führte die ganze Division einen neuen Force-Marsch nach dem 8–9 Stunden entfernten Brieg aus, wo sie am folgenden Tage Rasttag hielten. Die Inspektion der ganzen Division an diesem Nachmittag ergab das erfreuliche Resultat, daß die Truppen gesund und frisch, voll heitern Humors waren und daß die ärztlichen Berichte über Erwarten günstig lauteten.

Am 23. August vor Tagesanbruch begann der Abmarsch der Truppen auf der Straße nach Sitten – ein trauriger Weg, denn in Folge der Schneeschmelze und der letzten Regengüsse war die Rhone über ihre Ufer getreten, hatte die schützenden Wuhren zerstört und die weite Niederung überschwemmt. Von den wilden Fluthen war die Straße an vielen Stellen weggerissen, und die Umgebung von Raron glich einem ungeheueren Sumpf. Noch vor Mittag trafen die Truppen in der Gegend von Leuk ein und bezogen bei Susten ihre Lager.

Am 24. August fand endlich das Schlußmanöver statt. Die Aufgabe des Tages war für die eidgenössische Armee die, den Feind, der vom rechten Ufer der Rhone her angegriffen und die Brücke am Eingänge zum Pfyner Wald erstürmt hat, wieder über die Brücke zurückzuwerfen, dann von Position zu Position zu verfolgen und zuletzt mit der Erstürmung des Dorfes Siders die Entscheidung herbeizuführen. Auch dieser Theil des Manövers, dessen Beschreibung ins Einzelne wir unterlassen müssen, gelang vortrefflich. Schon um 11 1/2 Uhr war Siders in den Händen der siegreichen eidgenössischen Armee. Nach beendigtem Gefechte zogen die Truppen durch das mit zahlreichen cantonalen und eidgenössischen Fahnen geschmückte Siders nach einer freundlich decorirten Matte außerhalb des Dorfes, wo die ganze Division von den gastfreundlichen Wallisern auf generöse Weise bewirthet wurden, und wo beim frohen Schalle vaterländischer Weisen der feurige Gletscherwein von Siders in Strömen floß. Am Nachmittage zogen die Truppen in glühender Hitze hinunter gegen Sitten und rückten unter dem Hurrahrufen der Menge mit fliegenden Fahnen und schmetternder Musik in die festlich decorirte Hauptstadt des Wallis ein.

Am 25. August war die letzte Inspection der Division durch den Chef des eidgenössischen Militär Departements, Oberst Aubert, der hier seine Truppen mit einem „Abschiede“ entließ, in welchem er die militärische Tüchtigkeit derselben freudig pries und mit den Worten schloß: „Wenn wir einst die Waffen ergreifen müssen, um die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes und seine Grenzen zu vertheidigen, so kann die Schweiz in ihre Armee ihr volles Vertrauen setzen. Ihr habt es in diesen wenigen Tagen bewiesen!“ – Dies ist eine Anerkennung, welche jeden Mann, der ein warmes Herz für eines kleinen freien Volkes Recht und Ehre in der Brust trägt, für dieses „Volk in Waffen“ mit Hochachtung erfüllen muß.

Unser Bild stellt uns auf den Sattel, den durch ein sogenanntes Furcasignal (Stange) angezeigten höchsten Uebergangspunkt der Furca, auf welchem sich uns ein Blick auf die Alpenwelt im Südosten öffnet. Zwischen den beiden Furcahörnern, welche den Hintergrund zu beiden Seiten abschließen und, weil sie wie die zwei Zinken einer Gabel (furca) emporragen, dem Berge den Namen geben, sehen wir zur Linken den Muttli mit seinem Gletscher, ganz zur Rechten deuten die heraufsteigenden Truppen eine Tiefe an, den Furcapaß, jenseits des Felsenspalts über ihm blicken wir in das Ober-Rhonethal und sehen den durch seine Pracht berühmten Rhonegletscher, der sich vom Galenstock [664] allmählich zum Rhonethal hinabsenkt; neben ihm ragt die Meienwand auf und über dies Alles erheben sich die wildgerissenen Eisstacheln und krystallenen Dornenkronen der Berner Alpen bis zu ihrem äußersten Flügelmann, dem Finsteraarhorn, das uns sein 13,250 Fuß hohes, oben abgeflachtes Zackenhaupt gleich neben dem rechten Horn der Furca zeigt.




Vom verlassenen Bruderstamme.

Eine Fahrt nach Angeln – Die Bauern in Angeln – Deutsch und dänisch – Schwarze Gensd’armen – Unterdrückung der deutschen Sprache – Die deutschen Pastoren – Eine dänische Kirche – Dänische Schullehrer – Im Postwagen – Oberpolizist Hagemann – Pastor Hansen und sein Religionsunterricht.

Das Land, das im Volksmunde Angeln heißt, ist einer der interessantesten Districte Schleswig-Holsteins. Angeln wird im Norden von der Flensburger Föhrde, im Osten von den Wellen der Ostsee, im Süden von der Schlei, im Westen von der Eisenbahnlinie begrenzt, welche Schleswig mit Flensburg verbindet, und hat einen Flächeninhalt von ungefähr 15 Quadratmeilen. Der Boden ist außerordentlich reich und ergiebig. In Angeln sieht man die stolzesten Bauernhöfe, die stattlichsten Dörfer, die wohlhabendsten und schönsten Kirchspiele des Landes. „Wir sind so wohlhabend, und der Boden ist so ergiebig, daß man uns gar nicht ruiniren kann, sonst hätten uns die Dänen längst ruinirt,“ sagten mir häufig die Bauern in Sörup, Geltingen und Satrup, wenn ich mit ihnen über das Land und über die dänische Wirthschaft sprach.

Aber noch weit interessanter als das Land sind seine Bewohner. Welch’ ein Kern im deutschen Bauernstande liegt, und welcher Entwickelung dieser Bauernstand fähig ist, das kann man in Angeln sehen! Die Angeler oder die Angeliter, wie sie sich selbst nennen, sind melancholischen Temperamentes. Sie sprechen mit besonderer Vorliebe von religiösen Gegenständen und denken oft und viel an den Tod; Mancher läßt sich seinen Sarg bei Lebzeiten bauen und in die Stube stellen, und Frauen und Mädchen in blühender Jugend nähen sich manchmal das Sterbehemd. Wie auf den windumrauschten Orkney-Inseln und auf den braunen Haiden Schottlands, sieht das innere Auge des melancholischen Anglers häufig das Zukünftige, was der schaffende Weltgeist sonst dem Auge des Erdenbewohners zu seinem Glücke verborgen hat. Auf diesem idyllischen Hügelland mit seinen dunkellaubigen Erlen und spitzblättrigen Eschen, überall von hohen Knicks durchzogen, welche wie dunkle Laubgewinde auf dem sonnigen, grünen Wiesenteppich liegen, zwischen diesen reichen, gelben Getreidefeldern, diesen dunkeln Buchenwäldchen, diesen reichen Gehöften und alterthümlichen Kirchen waltet das zweite Gesicht; hier erscheint Manchem die „Fata Morgana“ der Seelen und enthüllt die Zukunft in Feuerflammen, welche aus einem Dache emporschlagen, in Leichenzügen, in denen er die Gestalten seiner Nachbarn und Freunde erkennt, und in Schlachtbildern, welche ihm die Befreiung seines Landes verkünden. Der Angeler ist ferner ein Mann von schnellen Begriffen, er faßt leicht auf und orientirt sich schnell, hat ein großes Talent zur Selbstverwaltung seiner eigenen Gemeindeangelegenheiten, liest viel und unterrichtet sich gern. Die Schulen waren in Angeln immer besser im Stande, als überall in Schleswig; fleißig werden Zeitungen und Journale gelesen; die Wohlhabenden schaffen sich alle kleine Privatbibliotheken an, und man begegnet einer Kenntniß der politischen Verhältnisse, welche oft in Erstaunen setzt. Mit diesen hervorstechenden Eigenschaften des Verstandes vermischt sich eine übergroße Vorsicht, welche oft in Mißtrauen ausartet, aber sofort in das vollkommenste Vertrauen umschlägt, sobald dies einmal gewonnen ist, und eine große Hartnäckigkeit, welche ihnen in ihrem jetzigen Widerstand gegen das Dänenthum übrigens besonders zu statten kommt. Der frühere Hochmuth der Hufner, der Hofbesitzer, gegenüber dem Käthner ist ganz verschwunden; wenigstens habe ich keine Spur davon entdecken können; aber er ist in Stolz und Hochmuth den Dänen gegenüber umgeschlagen.

In Angeln erschienen mir die Bauern wie die Sieger, die Dänen wie die Besiegten. Sie betrachten die dänischen Beamten, Pfarrer und Schullehrer, welche ihnen von den Inseln in’s Land geschickt sind, um sie zu regieren und zu brüchten, wie elendes, armes Gesindel, welches lediglich gekommen ist, um sich zu mästen und sich in seiner Armuth satt zu essen, und sprechen von ihnen nur mit grenzenloser Verachtung. Leider haben die braven Angler in dieser Anschauung vollkommen Recht. Der Angler ist ferner sparsam, er ist ordentlich; aber er ist kein Filz. Die Gastfreundschaft in Angeln ist unbegrenzt. Für die Vertheidigung ihrer Rechte ist diesen herrlichen Bauern kein Opfer zu groß. Den Armen wird überall geholfen. Dabei sieht man und liebt man den Luxus in schönen, geräumigen Bauten, in prächtigen Möbeln und Kleidern, in stattlichen Pferden, in reichbesuchten Hochzeiten, Kindtaufen und Fahrten auf Besuch. Mahagony-Möbel, Uhren, bequeme Sessel, Sophas und Schaukelstühle, Pianinos und elegante Schreibtische fand ich in den meisten dieser Bauernhöfe, welche in gefälligen Formen gebaut und durchweg zierlich und reinlich gehalten sind.

Ich weiß nicht, ob es in Deutschland bekannt ist, daß in den Jahren 1850 und 1851, trotz der im Jahre 1852 zu Stande gekommenen Verhandlung Dänemarks mit Preußen und Oesterreich, als Mandataren des deutschen Bundes, in denen ausdrücklich die Selbständigkeit Schleswigs und die vollständige Gleichberechtigung der deutschen und der dänischen Nationalität in Schleswig versprochen wurde, durch eine Reihe von Verfügungen Seitens der dänischen Regierung in 5 Städten und 48 ländlichen Kirchspielen in Schleswig an Stelle des deutschen Schulunterrichts der dänische Schulunterricht und an Stelle des deutschen Gottesdienstes der dänische Gottesdienst in der Art eingeführt wurde, daß in den Städten an allen Sonntagen sowohl deutsch wie dänisch gepredigt werden, in den Landkirchspielen aber der Gottesdienst abwechselnd einen Sonntag deutsch, einen andern Sonntag dänisch sein sollte. Für die Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit dieser Verfügung konnten selbst Seitens der dänischen Behörden gar keine Gründe angegeben werden. Die Abgrenzung der sogenannten gemischten Districte, in denen dänische Schulsprache und dänischer Gottesdienst eingeführt wurde, wurde in der willkürlichsten Weise nach alten statistischen Tabellen aus den Jahren um 1810 vorgenommen und oft so, daß in diesen gemischten Districten auch nicht ein einziger Mensch zu finden war, welcher dänisch sprach oder dänisch verstand. Angeln, welches der größte und wichtigste unter diesen gemischten Distrikten war, kam dabei besonders schlecht weg. Von 52 Sonntagen wurden ihm 26 abgenommen und der „dänischen Lehre“ geweiht, wie der Volksmund den dänischen Gottesdienst und die dänische Schulsprache nennt. Die Bauern, welche an der deutschen Bibel und dem deutschen Gesangbuch hielten, wie an dem besten Erbe ihrer Väter, wurden gezwungen, für ihre Kinder eine dänische Bibel und ein dänisches Gesangbuch anzuschaffen. In den meisten Kirchspielen werden die Prediger geradezu gehaßt. Die Bezeichnung „der schwarze Gensd’arme“ zeigt genügend, mit welchen Augen man sie betrachtet. Das Band zwischen der Schule und der häuslichen Erziehung ist zerrissen. Die Eltern schicken zwar, so weit sie nicht Mittel haben, ihre Kinder auswärts unterzubringen, die Kinder zur Schule, weil sie sonst hart gestraft werden, aber damit hört auch ihre Theilnahme auf. Sie erklären, sie verständen nichts von der dänischen Schulsprache und würden nie etwas davon wissen wollen. Und die Kinder, sie werfen, sobald sie confirmirt sind, die dänischen Bücher in’s Wasser, sprechen nie ein Wort dänisch wieder und geben sich ordentlich Mühe, das zu vergessen, was sie gelernt haben. [2]

Ich hatte die Herzogthümer, mit den umfassendsten und besten Empfehlungen versehen, nach allen Richtungen bereist, um die gegenwärtigen Zustände des Landes aus eigenen Anschauungen an Ort und Stelle kennen zu lernen. Was ich gefunden habe, war Erbitterung, Schmerz und Haß überall, die rechtloseste Willkür in Schleswig Seitens der Administrativ- und Polizei-Beamten –

[665] wozu der berüchtigte § 8 der Schleswig-Holstein octroyirten Verfassung sie vollkommen autorisirte, indem er den dänischen Unterthanen in den Herzogthümern jeden Rechtsweg abschnitt – eine Knechtschaft der Geister und Sprache, Schule, Kirche und Presse, wie Oesterreich sie so niemals in Venetien versucht hat, die kleinlichsten Verfolgungen, ein über das ganze Land ausgebreitetes Netz von Spionage und Denunciation, allmähliches Sinken des Real-Credits, täglich zunehmende Armuth in den Städten bei den Handwerkern und kleinen Bürgern, beide Herzogthümer baar aller politischen Rechte, die Presse überall in den Händen der dänischen Polizei, das Petitionsrecht bis auf die Lächerlichkeit einer Unterschrift herabgesunken, kein Vereins- und Versammlungsrecht, die Communalverwaltung überall auf dem Wege, den Dänen oder ihren Kreaturen in die Hände zu gerathen, oder bereits in ihren Händen, vollkommene Unsicherheit der Person und des Eigenthums vor den unaufhörlichen Angriffen und Versuchen der dänischen Beamten – aber alledem gegenüber der zäheste und trotzigste Widerstand der deutschen Bevölkerung in beiden Herzogthümern, nicht zu wanken und zu weichen und fest zu einander zu halten, zur Ehre Deutschlands, und um den eigenen Widerstand desto kräftiger zu machen. Holstein ist um Vieles glücklicher als Schleswig, die Verbindung mit dem deutschen Bunde macht dort die Dänisirungs-Versuche und dänischen Beamten, Pastoren und Schullehrer unmöglich. Aber was waren das für Beamte, welche Schleswig dänisiren? Der Ausschuß der Juristen, Theologen und Schullehrer, welche die dänischen Inseln besitzen. „Alle unsere Beamten, die noch einen Begriff von Ehre haben, gehen nur mit dem größten Widerwillen und gezwungen nach Schleswig!“ sagte man mir in Kopenhagen. Und ich überzeugte mich von der Wahrheit dieser Worte auf dem Festlande. Ich habe in ganz Schleswig wenig dänische Beamten gefunden, von denen man nicht mit grenzenlosester Verachtung sprach und Dinge erzählte, welche diese Verachtung vollkommen rechtfertigten. Ich übertreibe nicht; was ich sage, ist in Schleswig in Aller Munde, und ein ganzes Volk lügt nicht.

Nur Angeln hatte ich noch nicht gesehen. Ich hatte die Reise durch Angeln aus verschiedenen Gründen bis zum Schluß meiner Untersuchungen der Zustände in Schleswig-Holstein mir vorbehalten.

An einem der letzten Augusttage saß ich bei einem meiner neuen Freunde in dem Staatszimmer oder in dem Salon – wenn man so will – seines im südlichen Angeln gelegenen Hofes. Ich nenne seinen Namen absichtlich nicht, denn ich würde ihn sofort einer Menge Tracasserien Seitens seines Hardesvogtes aussetzen. Wir sprachen über die politischen Verhältnisse in den Herzogthümern und besonders über Angeln. Er theilte mir Manches von dem mit, was ich oben über die Bewohner des Landes erzählt habe. Dann gab er mir die Charakteristiken dänischer Pastoren und Schullehrer in Angeln. Hätte er mir das, was er mir heute Abend erzählte, vor sechs Wochen erzählt, ich hätte es nicht geglaubt, obschon mein Freund einen der ehrenwerthesten Namen in Schleswig trägt und durch seine Wahrheitsliebe, seinen Muth im Widerstande und seine Vertheidigung der Rechte des Landes hochgeehrt ist. Aber ich hatte so viel Unglaubliches gesehen und gehört, ich erstaunte über nichts mehr.

„Sehen Sie,“ sagte er, „wir hatten vortreffliche Prediger im Lande, würdige, gelehrte Männer, hochgeachtet und geliebt von der ganzen Bevölkerung. Die dänische Regierung hat sie sämmtlich fortgejagt, weil sie nicht in dänischer Sprache predigen und nicht das Kirchengebet in der neuen Lesart sprechen wollten. Zwei nur haben wir behalten, es ist der Pastor Juhl in Töstrup und Pastor Röhs in Caleby. Auf die inständigste Bitte der Bauern ihres Kirchspieles, zu bleiben und sich dem Lande zu erhalten, ließen sie sich bewegen, das Kirchengebet in der neuen Lesart zu sprechen, und beten jetzt „für unsern König“. Und nun schickte man uns fast ohne Ausnahme das nichtsnutzigste Gesindel aus Kopenhagen, Säufer, Spieler, Trunkenbolde, liederliche Subjecte, welche nur ein Lebensprincip haben, sich mit ihren fetten Pfarreien zu mästen und ein reiches Wohlleben zu führen, Menschen ohne Gottesfurcht, ohne Bildung und ohne Kenntnisse, ohne Kenntniß unserer Sprache. Sie wissen ja ohnedem, es ist mit dem Studium der Theologie in Kopenhagen nicht weit her. Bloßes Auswendiglernen und Einpaukerei!“

„Ich weiß darum; sprechen Sie weiter!“

„Nun geht kein Mensch mehr zur Kirche. Die Bauern wollen die Prediger, welche sie ihres Wandels und ihrer Unwissenheit wegen so verachten, auch nicht mehr in der deutschen Predigt hören. In manchen Kirchspielen Angelns weiß man Sonntags nicht mehr, ob dänischer oder deutscher Sonntag ist. Wenn unser Volk nicht einen so bedeutend sittlich-religiösen Kern in sich trüge, so wäre es lange moralisch zu Grunde gegangen. Oft predigen die Pfarrer nur vor dem Küster und den Schulkindern, welche in der wörtlichen Bedeutung des Wortes in die Kirche getrieben werden. Zuweilen muß er aber auch von der Kanzel heruntersteigen, und der Küster schließt dann die Kirche, weil auch die Kinder nicht in die Kirche zu bringen sind. Es versteht ja auch Niemand Etwas von der dänischen Predigt. So ist es dem Pastor Hartnack in Norderbrarup häufig ergangen. Er versteht gar kein Deutsch und ist vollkommen unfähig. Neulich kam er in die Schenke und wollte einen Häring essen. Er war nicht im Stande sich in deutscher Sprache auszudrücken, ob er ihn geräuchert oder gepökelt wolle. Endlich brachte man ihm Beide. Kennen Sie seine berüchtigte Leichenrede? Er sprach: „Da liegt er in sein schwarzes Kiste, Ihr habt ihm gekennt, aber ich habe ihm nicht gekennt! Amen.“ So war es wörtlich; Sie können aus diesen Worten die Bildungsstufe ermessen, worauf der Mann steht. Da war ein Pastor Hansen in Kappeln, der Vorgänger des jetzigen Pastor Thieß. Er war ein Säufer und Betr–. Endlich hat sich die Regierung denn doch genöthigt gesehen, ihn wegen seiner Unthaten zu entfernen. Erkundigen Sie sich in Kappeln im Hähn’schen Wirthshaus. Dort sind mit ihm Scenen von Völlerei vorgekommen, welche so ekelhaft sind, daß ich sie nicht erzählen mag.“

„Und die Schullehrer in Angeln?“

„Es ist in Dänemark, wie Sie wahrscheinlich wissen, kein Ueberfluß an Schulmeistern, wie an Candidaten des Predigtamtes. Es kommt der dänischen Regierung aber auch nur auf Verbreitung der dänischen Sprache in Angeln an, nicht auf Verbreitung der Bildung. So hat man uns die unwissendsten Kerle geschickt, welche bei unseren Knechten in die Schule gehen könnten, Menschen, welche früher zuweilen Matrosen oder Soldaten waren, welche sich in Angeln nur damit beschäftigen, den Kindern Gesangbuchsverse nach der Melodie des „tappern Landsoldaten“ einzuüben, zu fluchen, zu saufen und zu spielen. Da ist ein Lehrer Petersen in Moor-Kirchholz – erkundigen Sie sich in Kappeln – er spielt und trinkt Morgens mit den Schweinetreibern im Wirthshaus, er dient der Polizei als Spion, er sperrt die Kinder bei Wasser und Brod ein, und prügelt sie, daß es entsetzlich ist. Alle Versuche der Bauern der Gemeinde Boel, bei der Visitation eine Untersuchung gegen den Menschen zu veranlassen und ihn aus dem Amte zu entfernen, sind bis jetzt vergeblich gewesen. Da ist ein zweites ähnliches Subject in Maaßholm, den seine Gemeinde der größten Unsittlichkeit beschuldigt. Es ist nicht möglich, ihn zu entfernen.“ [3]

Am andern Morgen standen wir vor dem nahe bei dem Hofe gelegenen Posthause. Ich wollte nach Kappeln fahren. Der Postwagen kam. er war besetzt. Drei Angeler Landleute saßen darin und ein hübsches, junges Mädchen in städtischer Kleidung. Die Pferde wurden gewechselt. Die Landleute traten so lange in die Stube. Ich fragte sie, ob sie mich als überzähligen Passagier bis zur nächsten Station mitnehmen wollten, wo die Postverwaltung verpflichtet sei, mir Wagen und Pferde zu stellen.

Sie sahen mich mißtrauisch an und verwiesen mich an den Postillon.

Auch der Postillon machte ein mißtrauisches Gesicht und nahm meinen Freund in eine Ecke.

„Wer is de Hähr?“ hörte ich fragen. „De is wohl uht Berlin?“

Mein Freund nickte.

„Geht nich!“ rief der Postillon. „Ick tho et nich!“

Damit war die Verhandlung zu Ende.

„Sie sehen, Sie sind hier Persona ingrata im Lande. Der Postillon vermuthet, daß Sie umherreisen, um das Land zu besuchen, und das will die dänische Regierung absolut nicht. Warten Sie! In zehn Minuten wird mein Wagen vor der Thüre stehen. Mit meinen Pferden überholen Sie die langsamen Postgäule bis zur nächsten Station um eine halbe Stunde.“

Die drei Landleute stiegen in den Wagen, nicht ohne nochmals einen mißtrauischen Blick auf mich zu werfen. Der Wagen [666] rollte fort. Aber in zehn Minuten stand einer jener hochräderigen holsteinischen Wagen mit zwei vortrefflichen Pferden vor der Thüre.

In gestrecktem Trabe fuhr ich hinterher und kam eine halbe Stunde früher auf der nächsten Poststation an. Ich bestellte mir einen Platz und nahm nun im Postwagen den Platz des jungen Mädchens ein, welches auf der Station blieb, aus Schleswig kam und Verwandte besuchte.

Der Wagen fuhr weiter. Die mir gegenüber sitzenden Landleute sahen mich mit mißtrauischen Blicken an. Ich konnte an ihrer Gesinnung gegen mich gar nicht zweifeln. Vergebens versuche ich, sie zu einem Gespräche über die Zustände im Lande zu veranlassen. Sie brachen den Faden der Unterhaltung immer kurz ab. Endlich fragte mich der Eine: „Sagen Sie mal, wen wollen Sie denn in Angeln besuchen?“ [4] Ich nannte die Namen von zwei der achtungswerthesten Hofbesitzer und nahm zwei Empfehlungsbriefe aus meiner Brieftasche. Sie lasen auf den Couverts die Jedermann bekannten Namen.

Plötzlich veränderte sich der Ausdruck auf den Gesichtern. Die Blicke wurden zutraulich und wohlwollend. Nur der Eine, der neben mir saß, sah mich pfiffig an und sagte: „Also den Herrn Hagemann wollen Sie nicht besuchen?“

Glücklicherweise wußte ich, wer Hagemann war.

„Hagemann auf Ohrfeld?“ fragte ich entrüstet, „Hagemann ist ja Euer heimlicher Oberpolizeiminister in Angeln! Er hat ja noch im vorigen Mai Euren braven Pastor in Gelting, Valentiner, der jetzt Pastor in Leipzig ist, als er den Pachter Geiger in Gelting zu seiner silbernen Hochzeit besuchen wollte, durch die Polizei aus dem Lande bringen lassen wollen!“

Jetzt sah auch der Dritte mich mit Blicken des vollsten Vertrauens an.

„Ja,“ sagte er, „der Pastor in Gelting war ein braver, würdiger Mann. Aber sie trieben ihn aus dem Lande, die Dänen, weil er nicht dänisch predigen wollte. Dem Baron haben sie wider alles Recht das Patronat genommen und haben einen Dänen, den Hansen, an seine Stelle gebracht. Dreimal hat der Hansen neulich die Kirche Sonntags zuschließen müssen, weil Niemand in der Kirche war. Wir haben den Hagemann gefragt, ob er uns den Pastor Valentiner, wenn er aus Leipzig auf Besuch zu uns käme, durch Gensd’armen aus dem Lande bringen lassen wolle. Er hat’s aber abgeleugnet.“

Ich nahm ein Papier aus der Brieftasche und hielt es ihnen hin. „Leset das da vor!“

Er las: „Wenn es der unterzeichneten Behörde gerüchtsweise zur Kunde gekommen ist, daß der Dr. phil. F. W. Valentiner, Prediger in Leipzig, vormals Prediger in Gelting, in Veranlassung einer am 27. Mai 1861 stattfindenden Feier der silbernen Hochzeit des Pachters Geiger auf Gelting als Gast erwartet werde, so veranlassen obwaltende Umstände mich, die Obrigkeit des adeligen Gutes Gelting davon in Kenntniß zu setzen, daß zufolge mir ertheilter Instruction von Seiten des königlichen Ministeriums, insofern gedachter Valentiner den geschlossenen Theil des ersten Angler adeligen Güterdistricts betreten sollte, Schritte von mir wider denselben einzuleiten sind, welche unzweifelhaft seine augenblickliche Entfernung zur Folge haben werden.

Königl. Oberpolizeiverwaltung Ohrfeld, den 25. Mai 1861.
M. Hagemann.“

Nun ergingen sie sich in Verwünschungen und erbitterten Ausbrüchen gegen ihren „geheimen Oberpolizisten“, wie sie ihn nannten, und in wirklich rührenden Bemerkungen über den Pastor Valentiner und den Baron Hobe von Gelting, „diese braven, herrlichen Männer,“ wie sie sie nannten.

„Im Kirchspiel Gelting wird doch auch dänisch gepredigt und dänisch in den Schulen unterrichtet,“ sagte ich; „kann denn Jemand von Euch mir angeben, wie viel Menschen im Distrikt Gelting dänisch sprechen oder dänisch verstehen?“

„Ich kenne jedes Haus im Kirchspiel,“ erwiderte der mir gegenübersitzende Landmann, ein großer, kräftiger Mann mit melancholischem Gesichtsausdruck, „im Kirchspiel Gelting versteht und spricht Niemand dänisch. Die ganze Bevölkerung ist deutsch. Es ist nur ein alter Mann da, welcher in jungen Jahren Matrose auf der dänischen Flotte war. Der versteht das Plattdänische wohl noch etwas, er kann es aber nicht mehr sprechen. Das Schriftdänische, in dem der Hansen predigt, versteht er gar nicht.“

„Aber Rundhof ist doch auch gemischter Distrikt! Kennt Einer von Euch Rundhof?“

„Rundhof,“ erwiderte mein Nachbar, der mich mit so pfiffigem Blick nach dem Oberpolizeiverwalter gefragt hatte, „ist halb deutsch, halb gemischter District. In dem gemischten District wird in keinem Hause dänisch gesprochen. Es sollen dort einige alte Männer noch dänisch verstehen, welche auf der dänischen Flotte dienten.“

„Und dort wird dänisch unterrichtet und dänisch gepredigt?’ rief ich entrüstet.

„Ja,“ sagte mein Nachbar und Thränen traten ihm in die ehrlichen, blauen Augen, „das ist recht traurig! Denken Sie, die armen Kinder! Außer vier Stunden die Woche ist der ganze Unterricht dänisch. Die Kinder lernen nichts. Alle Bildung im Lande geht dabei zu Grunde. Und was das für Schullehrer und Pfarrer sind, die sie uns nun seit zehn Jahren in’s Land geschickt haben! Der Hansen, den sie uns an die Stelle des braven Valentinen geschickt haben, entließ neulich die Knaben etwas früher aus dem Confirmationsunterricht und behielt die Mädchen zurück. Ein Bauer fragte seine Tochter, warum der Pastor sie soviel länger bei sich behalten hätte. Sie wurde roth und sagte, das könne sie doch nur der Mutter sagen. So kam es denn heraus, daß der Pastor ihnen gesagt habe, um sie vor dem Laster zu warnen, sie sollten sich vor den Mannsleuten in Acht nehmen, denn wenn diese ihnen zu nahe kämen, würden sie leicht schwanger, es entstände dann ein Kind in ihrem Leibe, und um dieses zu entfernen, müsse man ihnen ein großes Loch in die Seite schneiden. Sie können hieraus sehen, was das für ein Mensch ist, dieser Pastor. Nein, es sind gar keine Menschen, viel weniger Pastoren!“

G. Rasch. 




Das Schwimmende Land in Wakhusen.

Von J. G. Kohl.

Der Römer Plinius erzählt von neuen Wundern aus den Wäldern Germaniens[5], indem er beschreibt, wie kleine mit Bäumen bewachsene Inseln der römischen Flotte, als sie an den Küsten Nordwestdeutschlands segelte, aus den Mündungen der Elbe und Weser mehrfach entgegen geschwommen seien. Wahrscheinlich sind dies solche Moorlandstücke gewesen, wie sie noch heutzutage zuweilen von den Wasserfluthen an den Nebenflüssen der Weser und Elbe losgerissen und zum Schwimmen und Forttreiben gebracht werden.

Im kleinen kommt dieses Phänomen überall in unseren torfreichen und morastigen Gegenden vor. Nirgends aber erscheint es großartiger, complicirter und mehr mit dem Ackerbau und der ganzen Existenz der Bewohner verwachsen, als in der Feldmark des hannoverschen Dorfes Wakhusen im sogenannten „St. Jürgener Lande“ an den Ufern des Flusses Hamme, der aus den Mooren des Herzogthums Bremen herab der untern Weser zufließt. Ich hatte schon Manches über das schwimmende Wunder von Wakhusen gehört und gelesen, ohne daß ich mir über die Ursache, den Umfang und die näheren Umstände desselben ganz klar werden konnte. Ich beschloß daher, an Ort und Stelle selber nachzusehen, und so zog ich denn eines schönen Tages mit Hülfe eines Landeskindes mein kleines, roh gestaltetes „Schedel-Schip“, eine Art von Canoe – es ist das einzige Vehikel, dessen man sich zur Bereisung dieser wässrigen Landschaften bedienen kann – über eine Stelle des Dammes oder Deiches hinüber, der das ganze besagte „St. Jürgener Land“ umzingelt.

Als wir diese nicht sehr mühsame Operation bewerkstelligt und unser Schiffchen im jenseitigen Wasser wieder flott gemacht [667] hatten, lag eine weit hingestreckte, fast ununterbrochene Wiese von circa 40,000 Morgen Grasland vor uns. Es war das besagte St. Jürgener-Land, das ein großes, ganz flaches Dreieck zwischen den Flüssen Hamme und Wumme bildet und von einem Labyrinthe von Wasserarmen, künstlichen Gräben und Canälen oder „Fleeten“ und kleinen natürlichen Tümpeln und Seeen durchfurcht ist.

Schon die Entstehungsweise dieser „Tümpel und Seen“ steht mit dem schwimmenden Erdreich von Wakhusen in einiger Verbindung und erklärt dieselbe wenigstens zum Theil. Im Winter nämlich, wenn das ganze Land überschwemmt ist und bei starker Kälte mit einer dicken Eiskruste bedeckt wird, verbindet sich stellenweise diese Kruste mit dem untenliegenden Boden und Geschilfe, und gefriert mit ihm in eine Masse zusammen. Wenn nun im Frühlinge der Eismantel sich löst und zerspringt, bleiben zuweilen mehr oder minder große Stücke gefrornen Landes an den Schollen hängen, und werden mit ihnen fortgeführt. Die Landeskinder nennen sie „Dobben“ oder „Eisdobben“. Zuweilen werden auf diese Weise ganze Tagewerke (ein „Tagewerk“ zu zwei Morgen) auf einmal losgerissen und versetzt, und die Dicke der gelösten Erdschicht beträgt wohl drei bis fünf Fuß.

Die Eisschollen bleiben mit ihrer schweren Last an irgend einer kleinen Bodenschwelle hängen und setzen sie daselbst ab, indem sie schmelzen. Da, wo sie die Erde losrissen, entsteht ein Loch, das sich mit Wasser füllt, und das die Leute daher wohl eine „blanke Stelle“ zu nennen pflegen. Wenn in einer Gegend das Eis sich häufig solche „Dobben“ herausholte, so vergrößert sich wohl der kleine Wassertümpel zu einem See von etwas bedeutenderem Umfange.

Der größte See des St. Jürgener Landes, der auf diese Weise entstanden ist, heißt „die Blänken“. Er steht unter diesem Namen auf unsern Landkarten und hat auf ihnen wohl anderthalb Stunden im Umfange. Unser Weg führte uns mitten durch diesen „See“ hindurch. Er bot jetzt im Hochsommer, wo überall hohes Schilf aus dem Wasser emporragte, den Anblick einer grünen Wiese dar. Nur im Winter, wo das Schilf abstirbt, ist er in seinem ganzen Umfange „blank.“ – Diese durch das Eis in der Oberfläche des Landes ausgearbeiteten „Blänken“ wären dem guten Plinius, wenn er sie gekannt hätte, wohl wieder als ein „Miraculum Germaniae“ erschienen. Aber wohl mit noch größerem Interesse hätte dieser aufmerksame Naturbeobachter die Berichte der Landeskinder über ein anderes Winter-Phänomen dieser Gegenden, die sogenannten „Spanjen“ angehört, wenn er so, wie ich es jetzt that, mit den Nachkommen seiner Chauci Majores oder Minores im Lande hätte herumschiffen und sie in ihrer niedersächsischen Sprache hätte examiniren können.

„Spanjen“ – wahrscheinlich von „spannen“ abzuleiten – nennen sie in diesen Gegenden die Risse, welche zuweilen bei heftigem Froste und starker Anspannung des Eises in der Eiskruste entstehen und sehr sonderbare Effecte zu Wege bringen. Diese Risse oder „Spanjen“ gehen mit einem heftigen Knalle und Krachen los und durchsetzen die Eisdecke zuweilen mit Blitzesschnelle zwei bis drei Wegestunden weit und weiter. Aehnliches geschieht freilich auch anderswo, wo sich breite zusammenhängende Eisdecken bilden. Das Eigenthümliche aber, das dies Phänomen hier darbietet, kommt durch die sumpfige Beschaffenheit des Landes zu Wege. Da, wie gesagt, in sehr kalten Wintern nicht nur das Wasser bis auf den Boden gefriert, sondern auch dieser erstarrt und sich mit dem Eise zu einer Masse verbindet, so theilt sich der in dem Eise beginnende Riß auch dem festen Boden mit. Auch dieser wird geklüftet und thut sich wie das Eis auf, und beide, Eisschollen und Erdreich, werden dabei zuweilen 5 bis 6 Fuß hoch und mehr zu beiden Seiten des Risses in die Höhe getrieben und aufgehäuft. Die Rille, die sich in der Tiefe alsbald mit Wasser füllt, wird mitunter so breit, daß man darin wie in einem natürlichen Canale zwischen Eis- und Schlammmauern durchhin schiffen kann.

Wenn eine solche „Spanje“ unterwegs auf einen anderen Gegenstand, z. B. auf ein im Eise eingefrorenes Schiff trifft, so vermag sie auch dieses entzwei zu reißen. Sie geht vom Eise und Schlamm auch auf das daraus hervorragende Festland über, zerreißt Erdhaufen oder Inseln, die ihr im Wege liegen, und setzt mitten durch die hohen Deiche des Landes, wenn sie mit dem Ganzen zusammengefroren sind. Ja, sie fährt sogar wie ein Blitz in die auf diesen Deichen und Inseln stehenden Häuser, wühlt unter ihnen den Boden auf, zerspaltet die Mauern und zerreißt die Balken, „gleichsam, als wenn eine Kanonenkugel durch das Haus gefahren wäre.“

„Ich habe es selbst in meinem eigenen Hause einmal erlebt,“ erzählte uns unser Schiffer. „Ich saß ganz ruhig bei meinem Feuer, als es plötzlich mit großem Spectakel dicht bei meinen Knieen vorüberfuhr und quer durch’s Haus schoß. Der Boden neben mir wurde wie von einem Erdbeben aufgewühlt, die Balken, auf denen mein Haus stand, zerrissen und die Mauern gespalten. Je fester die Erde ist, sagen die Leute, desto bester kann die Spanje laufen. Kommt sie in weichen Boden, da hat sie keine Macht mehr und da läuft sie im Sumpfe aus. Und bei Thauwetter laufen gar keine Spanjen im Lande. Auch kommen die großen und zerstörenden Spanjen nicht alle Winter, sondern nur, wenn die Kälte sehr stark war und lange dauerte.“

Jetzt in dieser schönen Sommerzeit halte ich nicht Gelegenheit, weder über diese „Spanjen“, noch über jene „Eis-Dobben“ selbst einige Beobachtungen zu machen. Ich konnte nur den Erzählungen meiner Leute darüber lauschen. Unsere nassen Wege standen jetzt im schönsten Schmucke des Frühlings. Ueberall schifften wir durch zahlreiche Plantagen der weißen Seerose (Nymphaca aquatica), welche eben jetzt in der herrlichsten Blüthe stand, und mit ihren schneeweißen großen Kelchbechern alle Tümpel und kleinen Wasserverstecke schmückte. Die Hiesigen nennen ihre breiten schwimmenden Blauer „Lotken Bläder“. Es ist ein Name, der vielleicht etwas mit dem griechischen Lotos zu thun hat. Für die schönen Blüthen der Pflanze selbst haben sie einen andern Namen: sie nennen dieselben „Poppeln“; und ihre armsdicken, am Grunde des Wassers liegenden Wurzeln haben hier wiedereine besondere Benennung: sie nennen sie „Ausballen“. So besitzt sonderbarer Weise jeder der Haupttheile derselben Pflanze einen eigenthümlichen und verschiedenen Namen. Auch für alle anderen hübschen Gewächse, die in üppiger Fülle zu den Seiten unserer Schifffahrt standen, hatten meine Leute ihren eigenen Namen. So nannten sie das mit rothem Samen bedeckte Kraut den „rothen Heinrich“. Eine Päonie, bei der häufig eine einzelne Blüthe breit aufgeht, während die anderen noch in der kleinen Knospe zusammengerollt, heißt bei ihnen „Gluckhenne und Küken“, eine andere lange, rothblühende Blume „der Katzenschwanz“, eine dritte „der Fuchsstümmel“. Die blaue Iris betiteln sie mit „Ebers-Brod“ (Storchen-Brod). Alle diese und andere Blumen und Gräser, aus denen der Grasteppich dieses Landes componirt war, standen jetzt wie das ganze Land in fußtiefem Wasser. Aber die St. Jürgener verstehen sich darauf, sie „über dem Wasser“ abzumähen. Ueberall fanden wir Leute knietief im Sumpfe watend und mit dieser nicht leichten Operation beschäftigt. Das Gras blieb dabei eine Zeitlang auf dem Wasser schwimmen. Hatten sie einen Strich herunter gemäht, so harkten sie das Gras in einen freien Canal, schoben es in einen großen auf dem Wasser schwimmenden Haufen zusammen und flößten dann diesen Haufen mit einem Brete, das an einem langen Stiele befestigt war, über den Canal hin bis zu der Stelle, wo ihr Heuschiff lag, das mit der auf diese Weise dem Wasser entzogenen und noch triefenden Grasernte beladen wurde. Diese muß dann stundenweit zu einem Deiche oder sonst einer etwas höhern Landstelle weggefahren werden, um da an der Sonne Heu daraus zu machen.

Die Canäle, Gräben und „Fleeten“, welche die Communicationswege des Landes sind, müssen alle Jahre, damit sie sich nicht verstopfen und „zulanden“, fleißig geputzt werden. Dagegen giebt es andere unregelmäßige Gewässer im Lande, z. B. ehemalige Flußbetten oder Flußarme, die man in dieser Beziehung vernachlässigt, und bei solchen Gewässern zeigt sich dann wieder Etwas, was mit dem Phänomen des „schwimmenden Landes“ zusammenhängt. Die Oberfläche solcher stehenden und stockenden Gewässer überzieht sich nämlich bald mit einer Decke von Wasserpflanzen, und wenn diese verwesen, kommt Erdreich hinzu, auf dem sich dann wieder andere Pflanzen einnisten. Im Laufe der Jahre bildet sich so eine dichte und dicke Decke von verfilztem schlammigen Wurzelwerke, das zuletzt im Stande ist, allerlei sehr schöne und nützliche Gräser und Kräuter zu erzeugen und zu tragen. Auch diese schwimmenden Kräuterdecken nennen die Leute hier „Dobben“.

Da diese schwimmenden Dobben beständig mit dem Wasser gehoben werden, und also Alles, was auf ihnen keimt, nie wie das auf festem Boden wurzelnde Gras im Wasser ertränkt wird. so geben sie besonders schönes Viehfutter, und die Gräser stehen auf [668] ihnen vorzugsweise dicht und üppig. Ueberall, sowohl im St. Jürgener Lande, als auch in dem ganzen Thale der Hamme hin, erkannte ich die gewundenen Streifen ehemaliger Flußarme an den höheren Stauden und Blumen und dem frischeren Grün, womit sie gegen die übrigen festen, ertränkten und grauer aussehenden Wiesen abstachen.

Wenn wir in diese überwachsenen Arme hineinfuhren, so sank der Rand des schwimmenden Blumenteppichs unter dem Kiele unseres Schiffs in’s Wasser. Wenn wir mit unseren Rudern hinstießen, konnten wir das Ganze in schaukelnde Bewegung setzen und am Ende mit einiger Mühe durchstoßen, und so auf das Wasser darunter gelangen, das oft noch 6 oder 7 Fuß tief war. In der Mitte der heißen Jahreszeit trocknen zuweilen, wie die ganze Landesbewässerung, so auch diese Flußarme aus, und dann liegt der Blumenteppich auf dem Grunde und kann abgemäht werden. Oder das Wasser nimmt unter ihnen doch so weit ab, daß die Mäher darüber wegschreiten können, ohne beim Durchbrechen Gefährliches befürchten zu dürfen. – Manche Dobben sind auch schon von Haus aus so dick und dicht, daß sie einen Arbeiter wohl tragen.

Die zierlichen Kibitze und die munteren Meerschwalben hatten jetzt noch ihre Jungen im Neste, und überall, wo wir in den Winkeln des Landes stöberten, umflogen uns diese hübschen, um ihre Brut so mütterlich besorgten Thiere in Schaaren. Sie verfolgten unser Schiffchen weit hinaus mit ängstlichem Geschrei, schwebten uns zu Köpfen und indem sie sich herabschwenkten, schweiften sie mit großer Kühnheit dicht über unsern Mühen weg. Sie schrieen dabei aus vollem Halse, und daß es ihnen einige Ueberwindung kostete, Muth zu fassen, konnte man wohl bemerken. Denn ehe sie den Schuß gegen den ihnen so gefährlich erscheinenden Gegenstand wagten, sammelten sie sich ein wenig, hielten in der Luft einen Augenblick an, nahmen einen Anlauf und kamen dann wie Pfeile gegen uns herab, als wollten sie uns fortscheuchen.

Unter solchen Beschäftigungen und Beobachtungen, und indem wir bei mehreren hübschen Bauernhöfen, die auf ihren Warfen mitten im Wasser lagen, vorüberfuhren, kam endlich der Hauptort des St. Jürgener Landes, die kleine Insel, auf welcher die Kirche und die Gräber dieser Wasserleute lagen, in Sicht. Es war ein ganz eigenthümliches Stückchen Land, das über der allgemeinen Ueberschwemmung und über dem Grasmeere etwa 15 Fuß hoch hervorragte und auf dem neben der Kirche noch für die Wohnung des Pastors und die seines Küsters Platz war. Ich habe selten eine absonderlichere kleinere Ansiedlung besucht. Für einen Maler wäre sie ein sehr dankbares Thema gewesen.

Auch jetzt noch in der Höhe der Sommerhitze war dieser sonderbare kleine Ort nur zu Schiff zu erreichen. Die Kirchleute und die Schulkinder kamen selbst jetzt herangerudert. Im Winter steckt das kleine kirchliche Etablissement rings umher im Eise. Dann kommen die Frommen und Lernbegierigen auf Schlittschuhen und Schlitten heran.

Aber zuweilen, wenn die Stürme brausen und der Eisgang wüthet, ist das Kirchlein völlig unzugänglich, und der Pastor von seiner Heerde gänzlich abgeschnitten. Dann trifft es sich wohl, daß drei Wochen hinter einander kein Gottesdienst gehalten werden kann, aus Mangel an Besuchern. Dann ruft das Glöcklein vergebens in die Wasseröde hinaus. Die Frommen hören’s, aber sie vermögen nicht durchzudringen. Der Küster steht auf der Wacht, späht in die Wüste hinaus und berichtet dem Pastor, ob er Schiffe entdecke oder nicht. Zuweilen haben sie schon das heilige Osterfest selbst mit Stillschweigen überhüpfen müssen. Man erzählte mir solche Dinge sonst wohl von Island und Grönland.

Der Rand dieser sonderbaren St. Georgs-Insel, an dem wir aus dem Schiffe hinaufstiegen, ist steil abgearbeitet und mit einem rohen Palissadenwerk aus unbehauenen Eichenästen verbarricadirt. Diese Aeste sind unten am Fuße der Insel in den Boden gerammt, mit ihren oberen Enden, die in allen Richtungen und Krümmungen auseinander gehen, ragen sie über die Oberfläche der Insel hervor, so daß man sich mitten drin stehend von einem sehr wunderlichen Zaunwerk umgeben sieht. Mit ähnlichen Befestigungen, Pfahlwerken und Weidengeflechten, wie sie eben Jeder zu Stande bringen kann, umgiebt sich hier zu Lande jedes Haus und Warf, um sich gegen die Angriffe des Eises zu schützen. Dazu werden denn auch wohl noch einige große Steinblöcke von den benachbarten Haiden herübergeschafft, um das Pfahlwerk damit noch ferner zu beschweren und zu befestigen. Sie nennen eine solche Umschanzung hier „die Fessel-Roden“ (Fessel-Ruthen).

Außerdem wurzelten auch auf dem Rande unserer Insel rings umher mächtige und sehr malerische Eichen, unter deren Schatten das Kirchlein, das Küster- und Pastorenhaus ruhten. Daneben auch die zahlreichen bemoosten Monumente des Friedhofs der Gemeinde. Nichtsdestoweniger ist schon oft das Eis durch „Fesselroden“ und Bäume und Gräben dahin gestürmt und hat die Häuser selbst und die Insel beschädigt. Einige der alten Eichen trugen in ihren dürren Aesten und hohlen Stämmen die Spuren von solchen Erschütterungen zur Schau.

Nur das alte, kleine, dickmaurige Kirchlein hatte aller dieser Unbill getrotzt und lag noch so da, wie man es in katholischen Zeiten, als hier ein großer und berühmter Wallfahrtsort war, gebaut hatte. Die alte Glocke des Kirchthurms hatte auf ihrem Kranze noch „Mönchsschrift“. So nennen die jetzigen Protestanten hier die Schriftzüge aus den katholischen Jahrhunderten.

Sanft, still, geräuschlos und dabei doch stetig und ohne Schaukelungen glitt unsere kleine Barke von der Wallfahrtsinsel des heiligen Georg noch durch manches curiose Wasserdorf in dem Labyrinthe der Wasserwege dieses wunderlichen Landes fort, bis wir endlich unser Ziel, die hohen Bäume von Wakhusen, in Sicht bekamen.

Es ist selbst für einen Kundigen nicht ganz leicht, sich in diesem Labyrinthe zurecht zu finden. Wegweiser und Meilenzeiger giebt es natürlich nicht. Da man immer niedrig zwischen Wasserrosen, schönen Nymphäen, „rothen Heinrichs“, „Katzenschwänzen“ und „Hennen und Küken“ steckt, so kann man auch nicht weit spähen. Ein Wasserweg sieht aus wie der andere, und da die Schiffe keine Spuren hinterlassen, so kann man auch nicht, wie bei den Irrwegen in den Haiden, erkennen, ob der Weg. auf dem man sich eben befindet, eine viel befahrene Hauptstraße ist, oder nicht.

Manche Canäle sind gar keine Fahrstraßen oder „Fleeten“, sondern blos sogenannte „Scheden“ (Scheiden), d. h. Grenzgräben zwischen zwei Dorfschaften oder Grundbesitzern; und doch sind diese „Scheden“ oft eben so breit, tief und gemächlich wie die Fleeten. Zuweilen war ein Canal ehemals eine freie Fahrstraße, wurde aber später aus irgend einem Grunde als solche aufgegeben und führt nun in die Irre, in Sumpf, Geschilf und verwachsenes Land hinaus. Mitunter ist das Ende einer solchen Straße durch „Dobben“ und Verschiebungen in den, schwimmenden Erdreiche verstopft und zugelandet.

Wir nahmen irrthümlich einen Canal der letzten Art auf, der anfänglich ganz breit und schifffahrtsmäßig aussah und auch direct auf die Bäume von Wakhusen hinführte. Nach einer Stunde Fahrt aber wurde er schmäler, verwachsener, zweigte sich aus und führte uns in dichtes Geschilf und Dobben, und zuletzt strandete unser Schiffchen auf dem „hohen Lande“ der überschwemmten Wiesen. Wir schoben, zogen und stießen es hinüber, kamen noch einmal wieder in ein Stückchen Schifffahrt, das aber auch nicht weiter führte, und auf dem wir nun gefangen saßen, wie Enten im Eise. Rings um uns her war ein Chaos von Wasser und Land, in den, man weder schiffen noch wandeln konnte. Der Boden, wenn wir ihn berührten, bebte, und mit unsern Ruderstangen konnten wir unter die vorstehenden Ränder des Canalufers seitwärts weit im Wasser, auf dem die Dobben schwammen, hinunterfühlen. Wir steckten schon mitten in dem verführerischen, zerrissenen und durchlöcherten schwimmenden Lande von Wakhusen. Guter Rath war theuer.

Glücklicherweise fanden wir ein Stück von einen, Balkengerüste, das, ich weiß nicht wozu, gedient haben mochte, in der Nähe unseres Canals stehen. Dies bestieg unser Schiffer, um das Terrain zu sondiren, und er entdeckte in nicht großer Ferne „hohes Land“, eine Art Landzunge, die auch ganz bis nach Wakhusen hinzuführen schien. Diese Wasserleute haben einen merkwürdigen Blick für die Abschätzung des Niveaus des Terrains. Von „Hochland“ sprechen sie eben so viel wie die Gebirgsbewohner. Aber auch da schon wenden sie diesen Ausdruck an, wo ein Stück ein paar Zoll über dem Nachbarlande hervorragt. „Dies ist Hochland!“ sagen sie mit Nachdruck und großen Augen, als wenn es ganz was Kostbares wäre, von einem Strich, auf dem Du noch einen Fuß Wasser findest. Aber freilich haben sie ganz Recht. Denn für das Tiefland daneben, das zwei Fuß niedriger liegt, ist die Hoffnung, daß es noch im Laufe des Sommers aus dem Wasser gerettet werden könne, um 100 Procent schwächer.

[669] Mit Mühe und Noth, indem wir unser Schiff theils über halb überschwemmte Erdhaufen schoben, theils durch tiefere Wasserlöcher ruderten, erreichten wir unsere Landzunge und wanderten dann zu Fuß über dies „Hochland“ hin, das vielleicht davon seinen Namen haben mochte, weil es nur mit hohen Wasserstiefeln passirbar war. – Mit Hülfe dieser letzteren kamen wir denn so nun richtig in dem merkwürdigen Orte Wakhusen an.

(Schluß folgt.)




Der Luthersaal in Worms.

Das alte und ehrwürdige „Wormez an dem Ryne“ hat seinen majestätischen Strom, von Dichtern besungen, von Wanderern gefeiert, es hat seine einzige „Liebfrauenmilch,“ es hat seine blühenden Nibelungenssagen vom Siegfried und der Chriemhilde mit dem gepriesenen „Rosengarten“; – – aber es hat auch seinen Reichstag, der dieser Stätte durch Luthers kräftiges Auftreten ein bleibendes Gedächtnis; erworben.

Der alte Luthersaal in Worms.

Wir setzen bei unsern Lesern die Kenntnis; der Reformationsgeschichte voraus.

Obgleich gewarnt und auf Hussens Schicksal hingewiesen, folgte Luther doch freudig dem kaiserlichen Ruf, der ihn 1521 zur Verantwortung nach Worms berief. Ihn begleiteten Justus Jonas, Nikolaus v. Amsdorf, der Rechtsgelehrte Hieronymns Schlurff und ein dänischer Edelmann, Namens Petrus v. Schwaven. Da wenige Tage vor seiner Ankunft in Worms seine Bücher öffentlich verurtheilt worden waren, so eilten ihm viele Freunde nach Oppenheim entgegen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen; aber muthig gab er die bekannte Antwort: „Wohlan, weil ich erfodert und beruffen bin, so habe ich bey mir gewiß beschloßen, hineinzuziehen im Namen des Herrn Jesu Christi, wenn ich gleich wüste, daß so viel Teuffel darinnen weren, als Ziegel auff allen Dächern sind.“

Dinstag den 16. April traf er in Worms ein und nahm seine Wohnung im Deutschen Hof, wo er von Grafen, Rittern, weltlichen und geistlichen Herren besucht wurde. Andern Tags „früe vor Essens“ erschien Ulrich von Pappenheim, des Reichs Erbmarschall, um Luther zu eröffnen, daß er Nachmittags 4 Uhr vor dem Reichstag zu erscheinen habe. „Und alsbald es vier geschlagen hatte, desselben Tages, kamen genanter von Pappenheim das Geleite durch den Deutschen Hoff, biß in das Pfaltzgrafen Herberge, und ward also durch heimliche Gänge auff das Rathhauß geführt, damit ihm vom Volck, welchs viel auffm Wege, so gleich zu Kayserl. Majest. Herberge geht, sich versamlet hatte, nichts wiederführe, wiewohl es viel innen worden, die dazu lieffen, und und Caspar Sturm der Ehrnhold, welcher D. Martin von Wittenberg aus, biß gen Worms geleitet hatte, erfoderten und gaben ihm mit hinein dringen wolten, aber die Trabanten trieben sie mit Gewalt abe, viel stiegen auff die Dächer und Häuser Doct. Martinum zu sehen.“ [6]

Nachdem Pappenheim ihm bemerkt, daß er nichts reden solle, als wenn er gefragt würde, erhob sich „der Kayserliche Orator, D. Johan Eck, gemeiner Official des Bischoffs zu Trier“, indem er sich an Luther wandte und ihm in lateinischer und dann in deutscher Sprache den Zweck dieser Citation vorlegte, nämlich: „Erstlich, ob du bekennest, daß diese Bücher dein seyn, und ob du dieselben für deine erkennest oder nicht? Zum andern, ob du dieselben und was darinnen ist, widerruffen, oder auff denselben verharren und bestehen wilt?“ – Auf Begehren des Rechtsgelehrten Schurff wurden die Titel der fraglichen Bücher vorgelesen, worauf Luther zuerst lateinisch, dann deutsch antwortete, daß er die genannten Schriften allerdings als von ihm verfaßt anerkenne, daß er aber, um sich zur Vertheidigung vorzubereiten, Bedenkzeit ausbitten müsse, welche ihm auch gestattet wurde, aber nur bis zum andern Tag.

[670] „DEs folgenden Tags, auff den Donnerstag, umb vier Uhren Nachmittage, kam der Ehrnhold, führete Doctor Martin ins Kaysers Hoff, da er von wegen der Fürsten Geschäffte, biß zu sechs Uhren bliebe, und wartete unter einem grossen Hauffen Volcks, das sich selbst für Menge druckte und drengete.“ Dr. Eck redete den Mönch zuvörderst an und schloß mit den Worten: „wiltu deine erkante Bücher allzumahl vertheidigen, oder aber etwas widerruffen?“

Auf diese Frage gab Luther eine sehr ausgedehnte Antwort, die er zuerst lateinisch sprach und dann deutsch wiederholte, „wiewohl auffs aller unterthänigste und demüthigste, schrey nicht sehr noch hefftig, sondern redet fein sittig, züchtig und bescheiden, doch mit grosser Christlicher Freudigkeit und Beständigkeit.“ In dieser Antwort bittet er zuvörderst um Entschuldigung, wenn er den höchsten und hohen Herren nicht den gebührenden Titel gebe, da er „nicht zu Hofe gewest, sondern im Kloster gesteckt“; dann erklärt er wiederholt, daß die vorliegenden Schriften von ihm verfaßt seien. Er bemerkt ferner, daß er seine Bücher in drei Classen theilen müsse. „Etliche sind, in welchen ich von Christlichem Glauben und guten Wercken so schlecht, einfältig und Christlich gelehret habe.“ – „die andere Art meiner Bücher ist, darinnen das Babstthum und der Papisten Lehre angegriffen und angetastet wird, als die, so mit ihrer falschen Lehre, bösem Leben und ärgerlichen Exempeln, die Christenheit an Leib und Seel verwüstet haben“, – dieselben könne er unter keiner Bedingung widerrufen. Was die dritte Art seiner Bücher betreffe, „so ich wider etliche privat und einzelne Personen geschrieben habe, nemlich die sich unterstanden haben, Römische Tyranney zu schützen und zu verteidigen, und die gottselige Lehre, die von mir gelehret ist, zu fälschen und zu dämpffen“, so gestehe er wohl offen, daß er „etwas hefftiger und schärffer gewest, denn es nach Gelegenheit der Religion und Profession sich geburet“, sei aber nicht im Stande, dieselben zu widerrufen. Schließlich bittet er, man möge ihn „mit Prophetischen und Apostolischen Schriften überweisen“, daß er geirrt habe, dann wolle er bereitwillig den erkannten Irrthum widerrufen und der Erste sein, der seine Bücher ins Feuer werfe.

Mit dieser Erklärung nicht zufrieden, verlangt der kaiserliche Orator von Luther: „er wolle eine einfältige, runte und richtige Antwort drauff geben, ob er revociren und widerruffen wolte, oder nicht?“ Worauf Luther die bündige, ewig denkwürdige Antwort gab:

„Weil denn E. K. Maj. Chur: und F. G. eine schlechte, einfältige, richtige Antwort begehren, so wil ich die geben, so weder Hörner oder Zäne haben sol, nemlich also: Es sey denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrifft, oder mit öffentlichen klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden und überweiset werde, (denn ich glaube weder dem Babst, noch den Concilien alleine nicht, weil es am tage und offenbar ist, daß sie offt geirret haben, und ihnen selbst widerwertig gewest seyn) und ich also mit den Sprüchen, die von mir angezogen und eingeführet find, überzeuget, und mein Gewissen in Gottes Wort gefangen sey, so kan und wil ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch gerahten ist etwas wider das Gewissen zu thun. Hie stehe ich, ich kan nicht anders, Gott helffe mir, Amen.“

Es war früher ziemlich allgemein die Ansicht verbreitet, daß dieser berühmte Reichstag von 1521 im Saale des alten Rathhauses, an der Stätte, wo heute die Dreifaltigkeitskirche steht, abgehalten worden sei; allein es unterliegt wohl keinem Zweifel und wird nun allgemein angenommen, daß Friedrich Zorn, der Chronikenschreiber von Worms (lebte von 1538 bis 1610), Recht hat, wenn er jenen Reichstag nicht in den Bürgerhof, sondern in den „Bischofshof“ versetzt. Dieser vom Marktplatz und dem Bürgerhof abgelegene, ganz in der Nähe des Doms befindliche befindliche Palast wurde 1504 erbaut, ward aber 1689 mit der übrigen Stadt ein Raub der Flammen. Hier war es, wo Luther vor Kaiser und Reich sein muthiges Bekenntniß ablegte, und verstehendes Bild, das nach einem jetzt selten gewordenen Kupferstiche gefertigt, veranschaulicht vollkommen getreu jenen berühmten Saal.




Diätetisches Recept gegen Heiserkeit.

Die „Heiserkeit“, mag sie mit oder ohne Husten und Auswurf einhergehen, kommt stets in Folge einer krankhaften Affection des Stimmorgans (d. i. der Kehlkopf; s. Gartenl. Jahrg. 1855. Nr. 43.) zu Stande und rührt nicht etwa, wie ängstliche Huster gleich zu fürchten pflegen, stets von Kehlkopfsschwindsucht her oder artet in eine solche aus. Denn diese Schwindsucht kommt für sich unendlich selten vor und hat, wenn sie wirklich bei andern Leiden auftritt, für Arzt und Kranken keine besondere Wichtigkeit.

Um nun einen heisern Kehlkopf bei seinem Kranksein richtig behandeln zu können, muß man bedenken, daß dieses Organ nicht blos das Sprechen und Singen vermittelt, sondern daß es auch der Pförtner und Wächter des Athmungsprocesses ist, indem es seine Lage hinter und unter der Mund- und Nasenhöhle am obersten Ende der Luftröhre so einnimmt, daß alle Luft, welche in die Lungen hineintritt und aus denselben herauskommt, durch dasselbe hindurch strömen muß. Außerdem ist es aber hinter und unter der Zunge auch so gelegen, daß Alles, was wir verschlucken, ebenso über den die Eingangsöffnung der Kehlkopfshöhle schließenden und so vor dem Eintritte fremder Stoffe schützenden Deckel (d. i. der Kehldeckel, die Epiglottis) hinweg, sowie an der Hintern Kehlkopfswand hinab rutschen muß. Da nun ganz dieselbe Haut, welche die Mundhöhle auskleidet, sich ununterbrochen auch in die Kehlkopfshöhle hineinzieht, so pflanzen sich sehr leicht und sehr gern Krankheits- und Reizungszustände von dem Schling- auf das Singorgan fort.

Es würde sonach bei Krankheiten des Kehlkopfs ebenso auf die Thätigkeit desselben, wie auf die Luft, welche wir einathmen, und auf das, was wir an Speise und Trank genießen, Rücksicht genommen werden müssen. Die Mode aber, bei Kehlkopfsleiden außen am Halse alle nur möglichen Arten von Torturen (in Gestalt von Pockensalbe, Senfteig, spanischer Fliege, Seidelbast, Haarfeil etc.) anzulegen, gehört zum Curirschlendrian, der noch niemals etwas genützt hat (s. Gartenl. Jahrg. 1861. Nr. 17.). Ebenso ist das ängstliche Warmhalten des Halses ganz unnütz, und auch von den Prießnitzschen Kaltwasserumschlägen läßt sich nicht viel Vortheilhaftes sagen.

Bei Kindern (zumal bei Knaben), und zwar vorzugsweise im Alter von 2 bis 8 Jahren, ist die Heiserkeit, besonders wenn sie sich mit Schmerzhaftigkeit der Kehle und Schlingbeschwerden verbindet, deshalb sofort zu beachten, weil sie ein Vorläufer des äußerst gefährlichen Croup (der Halsbräune; s. Gartenl. Jahrg. 1859. Nr. 3.) sein könnte. Darum muß auch bei einem heisern hüstelnden Kinde vom Arzte ohne Verzug das Innere des Halses untersucht und, sollte sich hier Croupmasse vorfinden, in richtige Behandlung genommen werden.

Bei Heiserkeit, wenn diese nämlich nicht dem Croupe eines Kindes angehört, sind hiernach die folgenden diätetischen Regeln zu beobachten.

Rec.Größte Ruhe des Stimmorgans 1);

warme und reine Luft 2) zum Athmen und zwar bei Tag und bei Nacht;
milde, warme oder laue Nahrung 3).

S. Nicht nur so zeitig als möglich, sondern auch bis zum völligen Verschwinden der Heiserkeit anzuwenden.

Ad 1) Die größte Ruhe verlangt das afficirte Stimmorgan, wenn es gesunden soll, ebenso wie jeder andere Theil, wenn er krankt. Denn Schonung des leidenden Organs ist bei jedweder Art von Behandlung das Allernöthigste und sehr oft das allein schon Helfende. Deshalb muß der Heisere so wenig als nur möglich und ja nicht etwa mit Anstrengung, sondern ganz leise sprechen. Singen beim Heisersein kann recht leicht die Stimme für immer ruiniren, und lautes Sprechen oder Streiten beim kalten Biere in rauchigem Locale hat schon Manchen mit leichter Heiserkeit eine lebenslange Rauhheit der Sprache zugezogen. Ja sogar das heftige Räuspern und Husten muß der Heisere soviel er nur immer kann zu bekämpfen suchen, weil beim Husten die Luft mit großer Gewalt durch die verengerte Stimmritze getrieben wird und so eine starke Reibung an den afficirten Stimmbändern stattfindet.

Ad 2) Gleichmäßig warme und reine Luft zum Athmen [671] aber ebenso bei Nacht wie bei Tage, ist ebenfalls ein Haupterforderniß zur Heilung der Heiserkeit. Kalte, rauhe und trockene Luft, zumal im Winter bei Ost- und Nordwind oder wenn der Heisere gar vorher warme Luft eingeathmet hatte, ist die größte Schädlichkeit für einen kranken Kehlkopf. Deshalb muß der Heisere im Winter im geheizten Zimmer schlafen und, müßte er durchaus in’s kalte Freie hinaus, dann jedenfalls einen Respirator (s. Gartenl. 1855. Nr. 8.) tragen. – Rein, d. h. frei von Staub jeder Art, Tabaksrauch, scharfen Dämpfen, reizenden Gasarten, muß die Luft, in welcher ein Heiserer athmet, stets sein, da jede unreine durch die Kehlkopfshöhle hindurchströmende Luft das Kehlkopfsleiden nicht nur unterhält, sondern fast immer noch steigert. – Bisweilen thut feuchtwarme (mit Wasserdämpfen geschwängerte) Luft bei Heiserkeit sehr gute Dienste.

Ad 3) Reizlose Speisen und Getränke sind deshalb vom Heiserkeitskranken zu genießen, weil diese bei ihrem Uebergange über den Kehlkopf auf dessen Leiden nicht störend einwirken, während dies reizende Stoffe (wie scharfe Gewürze, Spirituosen) zu thun vermögen. Zu diesen reizenden Stoffen, welche vermieden werden müssen, gehört aber auch die Kälte, und darum darf das Getränk immer nur verschlagen (abgeschreckt) genossen werden; am besten dient freilich warmer (nicht etwa heißer), schleimiger Trank; auch hat das Anfeuchten des Kehlkopfes mit rohem Ei oder Gummischleim sein Gutes. Selbst harte und trockene Nahrungsstoffe dürfen eigentlich beim kranken Kehlkopfe nicht vorbeipassiren, sondern müssen stets in der Mundhöhle ordentlich zerkaut und eingespeichelt werden, so daß man sie dann als weichen Brei verschluckt.

Wer sein Stimmorgan zum Sprechen oder Singen sehr nöthig hat, sollte die angegebenen diätetischen Regeln nicht blos bei krankhaftem Zustande seines Kehlkopfs gehörig befolgen, sondern zum Theil auch zur Vermeidung von Kehlkopfleiden beachten. Der Respirator ist für Solche ganz unentbehrlich; ihnen kann vorzüglich der Uebergang aus warmer in kalte Luft, und zwar besonders dann, wenn der Kehlkopf durch Singen oder angestrengtes Sprechen erhitzt ist, sehr gefährlich werden; ebenso hat auch das Trinken kalter Flüssigkeit nach Kehlkopfsanstrengung seine Gefahren. Daß Staub und Rauch die Stimme belegt, ist bekannt. Auch geben nicht selten Erkältungen der äußern Haut, namentlich der Füße, des Halses und Nackens, Veranlassung zur Heiserkeit (in Folge des Kehlkopfkatarrhes). Eine vorsichtige und allmähliche Gewöhnung des Halses, und überhaupt der äußern Haut, an kalte Luft und kaltes Wasser ist Jedem anzurathen, jedoch muß diese Gewöhnung ja recht vorsichtig und allmählich geschehen, wenn sie nicht anstatt Heil Unheil anrichten soll. – Der Abergläubische trägt Amulete von echt indigoblauer Seide, Bernsteinketten, Acajounüsse und andern Hokuspokus als Schutzmittel gegen Kehlkopfsleiden um den Hals. – Der homöopathisch gesinnte Kranke soll (nach Müller) wenn er bei seiner Heiserkeit eine verdrießliche und stille Gemüthsstimmung hat, Feldchamille einnehmen, Brechnuß aber dann, wenn seine Stimmung eine mürrische und zänkische ist.

Schließlich soll hier noch auf eine ab und zu auftretende Heiserkeit aufmerksam gemacht werden, bei welcher die Stimme schwach, klanglos und ungleich, weniger metallisch, vorübergehend rauh, bald hoch und überschlagend, bald tief und monoton erscheint. Lautes und längeres Sprechen und Singen erzeugt Schmerzen und Trockenheitsgefühl in der Kehle, bisweilen auch Nöthe und Hitze des Ohres. Diese besonders bei Kanzelrednern und Schullehrern beobachtete Stimmverstimmung rührt von zu starker Anstrengung des Stimmorgans her und bedarf zu ihrer Heilung der allergrößten Ruhe des Kehlkopfes.

Bock.




Blätter und Blüthen.


Fingerzeig für künftige Nationalfeste. Voraussichtlich und hoffentlich sind die drei großen deutschen Nationalfeste des vergangenen Sommers: das Schützenfest zu Gotha, das Nürnberger Gesangsfest und das Turnfest zu Berlin, nur der glänzende Anfang einer größern Reihe ähnlicher erhebender Feierlichkeiten gewesen, und die Zukunft wird für eine würdige Nachfolge dieser Feste sorgen. Die Erfahrungen, welche auf den drei genannten Festen gemacht wurden, kommen den künftigen zu Gute, und wir möchten in dieser Hinsicht nach dem übereinstimmenden Urtheile so Vieler ganz besonders Nürnberg und die dort getroffenen Einrichtungen in wohl jeglicher Hinsicht als Muster empfehlen. Eine würdevolle Ausstattung eines solchen Festes ist von großem Einflusse auf alle Theilnehmer. Malerei und Dichtkunst müssen Hand in Hand gehen, um derartigen Festen die höhere Weihe zu geben, wie dies in letztgenannter Stadt der Fall war. Nürnberg benutzte diese Gelegenheit, um seinem gerechten Stolze auf eine große Vergangenheit Ausdruck durch Wort und Bild zu geben, und die Art und Weise, in welcher dies geschah, hat sicher alle Besucher mit Achtung und Ehrfurcht erfüllt. Es liegt hierin ein Fingerzeig, den andere Städte, welche künftig derartige große Feste veranstalten, nicht unbenützt vorübergehen lassen dürfen, und ganz besonders aus diesem Grunde kommen wir noch einmal auf denselben Gegenstand zurück. Zwar ist in diesen Blättern schon eine ausführliche Beschreibung des Nürnberger Gesangsfestes erschienen, dabei aber der Bilder und Festsprüche nur oberflächlich gedacht worden. Es war jedoch so Vorzügliches in Reim und Bild geboten, daß eine nachträgliche Erwähnung derselben gewiß nicht ungerechtfertigt erscheint, indem sie gleichzeitig ein Sporn zu würdiger Nacheiferung sein soll.

Zwei deutsche Kaiser, Friedrich III. und sein Sohn und Nachfolger Maximilian I., waren es, die eine große Anhänglichkeit für Nürnberg an den Tag legten und wiederholt ihren Aufenthalt dort nahmen. Zwar besuchten sowohl frühere als spätere kaiserliche Machthaber Nürnberg ebenfalls, aber da gerade die herrlichste Blüthezeit der Stadt in die Regierungsperiode der beiden oben genannten Kaiser fiel, so ist deren Vorliebe für die herrliche deutsche Reichsstadt wohl erklärlich. Friedrich III. zu Ehren veranstaltete Nürnberg ein glänzendes Turnier auf dem Herrenmarkte, und die schöne bildliche Darstellung desselben nahm jetzt am Rieter’schen Hause einen gewaltigen Raum ein. Kaiser Maximilian’s war am Scheuerl’schen Hause gedacht, wo er wiederholt wohnte. Der ritterliche, galante Herr zog die Wohnung im Hause des angesehenen Bürgers dem Aufenthalte in der gewaltigen Burg droben immer vor. Auf dem großen Bilde erscheint Maximilian als Hochzeitsgast im Scheuerl’schen Hause, wo der reiche Tucher sich mit des Hausherrn Schwägerin vermählt. Auch auf dieser Darstellung war der Glanz und Reichthum der Stadt zu jener Zeit gebührend hervorgehoben. Darunter standen die Verse:

Es ging hier, in der Scheuerl Bürgerhaus
Als Gast der Kaiser selber ein und aus,
Wollt’ er der Hofburg stolzes Prangen meiden.
Drum bleibet Nürnberg, das den Fürsten ehrt,
Doch auch was hält auf eignen Werth,
Sein Kaiserstüblein lieb für alle Zeiten.

Noch mehr als durch Pracht und Reichthum glänzte Nürnberg im Mittelalter durch seine Künstler und Gelehrten, und dieser herrlichen Männer durch Bild und Reim zu gedenken, war bei dem Feste das edle Bestreben des neuen Nürnberg gewesen.

Albrecht Dürer’s Geburtshaus und auch das Haus, wo der edle Künstler später wohnte, waren durch tiefempfundene Bilder geziert. Jenes zeigte den Genius der Kunst, wie er dem Neugeborenen den Weihefuß auf die Stirn drückt, das letztere den frommen Künstler in seinem späteren Wirken mit dem Spruch darunter:

Von diesem schlichten Bürgerhaus
Ging einstens eine Leuchte aus,
Die spendete reinen göttlichen Schein
Weit über alle Lande hinein;
Das Licht strahlt hell und wird nimmer getrübt,
So lang eine Kunst, eine deutsche, es giebt.

Des unsterblichen Volksdichters Hans Sachs war an dessen Wohnhause nicht minder würdig gedacht. Das Bild zeigte ihn uns in seiner Werkstatt dichtend und von Thalia, der Muse, umschwebt, wahrend auf der andern Seite der Schalksnarr stand, dem Sachs in seinen spätern Jahren, durch dessen Schwänke und Erzählungen unwiderstehlich angezogen, lange Zeit folgte. Unter dem Bilde war zu lesen:

Die Ihr vor meinem Hause steht,
Laßt Euch, bevor Ihr fürbaß geht,
Noch sagen einen guten Spruch:
Singen ist fein, doch nicht genug.
Müßt treulich, was die Meister sagen,
Auch heim in Stadt und Häuser tragen,
Daß Fried’ und Einigkeit erwachs’
Durch’s deutsche Land: das wünscht Hans Sachs.

Die Häuser der altberühmten Künstler Adam Krafft, Peter Vischer und Veit Stoß waren ebenfalls in gleich würdiger Art verziert, und daß man bei dieser Gelegenheit auch des Ortes gedachte, wo vor alten Zeiten die Meistersänger Nürnbergs zusammenkamen, war vorauszusehen. Am Katharinensaale, dem ehemaligen Versammlungsorte der edlen Zunft, war das Bild eines Meistersängers angebracht mit der Inschrift:

Ihr Sänger einer neuen Zeit,
Wir grüßen Euch mit Freudigkeit.
Und weil Ihr auch zur Zunft gehört,
Seid doppelt drum von uns geehrt.
Wir kehren im Geiste bei Euch ein
Und wollen gute Merker sein.

Draußen in der Festhalle wurde freilich nicht nach Art der alten Meistersänger in der Rosmarin-Weis, in der geblümten Paradies-, Gelblöwen- haut-, scharf Meisterwurz-Weis und wie die Weisen alle heißen mögen, gesungen, dafür erklangen aber Lieder voll inniger Vaterlandsliebe und Kraft vom Gemerke[7] herab, so daß Ihr wohl leicht den Sängern der Neuzeit Euern ersten Preis, den König-David-Gewinn, zugesprochen hättet, wenn es Euch vergönnt gewesen wäre, die gewaltigen Tonmassen daherbrausen zu hören.

Dem edlen Pirkheimer und dem gelahrten Behaim war an deren einstigen [672] Wohnhäusern durch große, herrliche Bilder ein ehrendes Gedächtniß gestiftet. Der Spruch an Pirkheimer’s Hause war eine Mahnung an die durch Geburt bevorzugten Stände, und sie verdient beachtet zu werden:

Der Musen Schirmer in dem Rath,
Dem Kaiser treu in Wort und That,
Der Besten Freund durch’s ganze deutsche Land,
Pirkheimer war’s, ein Vorbild seinem Stand.
Daß Adel und Verdienst die Hand sich reichen:
Ihr Edlen, gehet hin und thut desgleichen!

Ein ganz vorzüglicher Volksdichter war der zu Anfang dieses Jahrhunderts gestorbene Flaschner- (Klemper-) Meister Grübel. und die Nürnberger haben vollkommen Recht, aus ihn stolz zu sein. Ein von Grübel verfaßtes und bald überall gesungenes Spottlied auf die Roßbacher Schlacht begründete zuerst seinen Ruf, und eine Menge reizender Gedichte, alle in Nürnberger Mundart, gingen von ihm aus. Grübel durfte bei dem großen Feste nicht vergessen werden, und das Bild an des Dichters Wohnhause war ein ganz vorzügliches. Es stellte Grübel dar, wie er in seiner Werkstatt einigen Freunden seine Gedichte vorliest. Der Reim darunter war in Grübel’s eigner Schreibweise in Nürnberger Mundart und lautete:

Will Aner wiss’n, wöis da Reichsstadtzeit hö g’wös’n,
Dörf er ner di Gedicht vo unsern Grübel lös’n,
Der haut sei Burger kennt, nix g’lauf’n as der Acht
Und haut a no derzu Nörnberger Tröichter g’macht. –

Wie wir hören, erscheinen die genannten prächtigen Bilder sämmtlich in photographischen Nachbildungen, und wir halten es für unsre Pflicht, das Publicum aus diese Kunstblätter aufmerksam zu machen.

Auch an anderen Häusern bemerkte man sehr treffende Inschriften. Nur einige davon wollen wir hier anführen. – In der Nachbarschaft des Grübel’schen Hauses wohnte ein Zirkelschmied, der an seine Behausung geschrieben hatte:

Ihr lieben Sänger, nehmt’s nicht übel.
Wenn ich’s nicht kann, wie dort der Grübel,
Doch liebe ich, was recht und grad,
Schön rund und immer accurat.
Drum grüßet Euch und Euer Lied
Mit Lust ein deutscher Zirkelschmied.

So mancher, der in Nürnberg gewesen, kennt wohl den „rothen Hahn“, das freundliche Gasthaus mit seinem gemüthlichen Wirthe. Dieser hatte über seiner Thür folgende Inschrift:

Ihr Freunde des rothen Hahns, kommt nur herein!
Ihr sollt hier Alle willkommen sein.
Ich bin ja der gallische raublustige nicht,
Ich habe ein ehrliches, gutes Gesicht.
Doch stürmt mir der Gallier einmal in’s Haus,
Dann hack’ ich die beiden Augen ihm aus.
Euch aber, ihr fröhlichen Sängergäste.
Euch will ich bewirthen auf’s Allerbeste.

Unvergleichlich anziehend ist ein Spaziergang um Nürnbergs Stadtmauern. Da steht noch Alles so stark und trotzig wie vor Jahrhunderten, und weder die Zeit, noch umgestaltende und zerstörende Menschenhände haben an diesen beredten Zeugen eines eisernen Zeitalters gerüttelt. Man erwartet jeden Augenblick, einen stahlgepanzerten Ritter auf den Zinnen der Stadtmauer erscheinen zu sehen, oder man schaut hinauf nach den alten riesigen Thürmen, ob nicht der Thorwart sich droben an einer der Luken zeige und nach unserm Begehr frage. Alle diese alten, ehrwürdigen Thorthürme trugen Inschriften und Festsprüche und waren zum Theil noch mit vortrefflichen allegorischen Darstellungen geziert. Einige dieser höchst charakteristischen Thorsprüche wollen wir hier anführen, doch vorher noch des Empfangsspruches am Bahnhofe gedenken. Derselbe hieß:

Mit des Dampfes raschen Schwingen
Durch die Welt der Sänger zieht.
Doch noch rascher in die Herzen
Dringt sein liebes deutsches Lied.

Das Königsthor, welches zunächst vom Bahnhof in die Stadt führt. war besonders reich geschmückt und führt den die Sänger bewillkommnenden Spruch:

Heil Euch! und Heil der guten neuen Zeit,
Die herbraust mit des Feuers Flügelrossen;
Es ändert sich der Stände wirrer Streit,
Gewerb’ und Kunst sich einen zu Genossen;
Der Forscher löst der Satzung starre Bande,
Und Lied und Wort frei schallen durch die Lande.

In der innigsten Verbindung durch Fleiß und Gewerbsthätigkeit steht Nürnberg mit Fürth. Das nach Fürth führende Spitlerthor zeigte in zwei allegorischen Figuren die beiden Nachbarstätte. Auf Seite der Nürnberg darstellenden Gestalt las man die an Fürth gerichteten Worte:

Du trägst mit uns der Jahre schwere Last,
O Schwesterstadt, voll Arbeit und voll Plage;
Durcheilest dieses Thor mit jäher Hast,
Mit flücht’gem Fuß bei jedem Stundenschlage.
Drum sei willkommen auch beim Freudenfeste,
O Nachbarin, wie alle deutschen Gäste!

Bei der Fürth darstellenden Figur las man gleichsam als Antwort auf jenen Willkommengruß:

Es nahet herzlich dir im Festgewand,
Nicht wie in Tagwerks mühevollem Jagen,
Die Schwester heut und reichet ihre Hand,
Zu rasten selbst an deinen Ehrentagen.
Sind wir in Fleiß und Sorge treuverbunden,
So laß uns theilen auch die guten Stunden!

Ueber der engen, alten Pforte, dem sogenannten Hallerthürlein, war die Klage zu lesen:

Wär’ wie die andern ich groß und weit!
Möchte mich dehnen und recken.
Muß in Scham und Schüchternheit
Leider mich tief verstecken.
Stürmen die deutschen Sänger herein,
Hallerthürlein ist viel zu klein.

Eine andere kleine Pforte in der Stadtmauer, das Casemattenthürlein, war weniger höflich. Wahrscheinlich war kein Nürnberger dort als Thürwart bestellt, denn der Spruch daselbst lautete:

Wer nicht bei Tage kommt, bleibt drauß!
Ich halte Ordnung hier im Haus,
Geh mit den Hühnern schon zur Ruh
Und sperr’ vor Nacht mein Thürlein zu.

Am Thiergartner-Thor war vor alten Zeilen unten im Wallgraben der Bärenzwinger. Mit Bezug hieraus hieß der Festspruch:

Fürcht Dich nicht, lieber Geselle mein!
Trittst zwar in einen Garten ein,
Wo wilde Thiere wohnen;
Doch singest Du ein Liedlein fein,
Gleich werden sie zahm und freundlich sein
Und sicher Dein verschonen.

Das unterhalb der Burg befindliche finstere Bestnerthor hatte für die Eintretenden den Spruch:

Ich bin das alte Bestnerthor;
komme Dir wohl gar trutzig vor;
Laß Dich nicht trügen durch den Schein,
Tritt unverzagt und lustig ein.
Ich weiß, gar bald bekennst Du gern:
Die rauhe Schal’ hat süßen Kern.

Am Wöhrder Thor war zu lesen:

Singst, Fremdling, Du auch Baß nicht, noch Tenor,
Hast nur ein treues Herz und offnes Ohr
Für deutschen Brudersanges vollen Chor,
Tritt ein durch’s gastlich offne Wöhrder Thor!

Beim Lauferthor strebt ein gewaltiger runder Thurm himmelan. Letzterer ist, wie noch zwei seiner ähnlich gestalteten Genossen, nach Dürer’s Plane errichtet. Durch das Lauferthor ging der Hauptzug der Sänger und Festtheilnehmer hinaus nach der Festhalle. Hier bedurfte es eines doppelten Spruches. Nach der Stadt zu an der innern Seite stand:

Du schmucke Schaar mit Bändern und mit Fahnen,
Dem Ziele nah umweht Dich aus dem Stein,
Dem altersgrauen, noch vom Geist der Ahnen
Aus großer Zeit ein heller Wiederschein.
Durch Eintracht, ruft er, wuchs auch dieser Thurm
Zum Himmel an und trotzet jedem Sturm.

An der äußern Seite desselben Thores las man einen herrlichen Mahnspruch:

Wie’s mächtig doch zusammen klingt.
Wenn Deutschland treu zusammen singt.
Von Einem Takte getragen!
Und haltet ihr aus in festem Muth,
So eins wie heute mit Gut und Blut,
Bald schweigen die alten Klagen.

Auch in der prächtigen Festhalle waren treffliche Sprüche in Menge zu finden. Nur einige davon wollen wir als Probe zum Schlusse noch geben.

Stehst Du fern im fremden Lande
Einsam und verlassen da:
Nur ein deutsches Lied gesungen,
Und die Heimath ist Dir nah

Das Lied ist aller Zwietracht Feind
Und stärker als ein Heer.
Das Lied ist’s, das uns einig macht
Zu Schutz und Trutz und Wehr.

Was Euer Herz Edles erstrebet und sucht:
Im Liede die Blüthe, in Thaten die Frucht.

Die deutschen Farben erklärte ein Spruch folgendermaßen:

Gold, die deutsche Redlichkeit,
Roth, das Tagen schöner Zeit,
Schwarz, der tiefe Ernst der That:
Das bedenke früh und spat!

Wir schließen hiermit die Proben aus den durch Poesie und Malerei so glänzend gehobenen Nürnberger Festtagen. Erfreulich wäre es, wenn Leipzig und Frankfurt a. M., wo voraussichtlich die nächsten großen Nationalfeste gefeiert werden dürften, dem kunstsinnigen Nürnberg auf würdige Weise nacheiferten. Durch solche Ausstattung erhält ein derartigen Fest einen unvergänglichen Glanz, und die Liebe zu unserm gemeinsamen, schönen Vaterlande wird dadurch mächtig gefördert.

Nicht unerwähnt darf es bei dieser Gelegenheit bleiben, daß viele der auswärtigen Gesangsvereine, die nach Nürnberg gezogen waren, poetische Festgrüße an die liebe Stadt und die deutschen Sangesgenossen dargebracht hatten. Manch zündender Gedanke voll Weihe und Kraft war darin enthalten und erweckte warme Begeisterung. Um auch hiervon unsern Lesern eine Probe zu geben, wollen wir nur noch den Schlußvers des von den Münchberger Sängern dargebrachten Festgrußes anführen:

O Brüder, deutsche Brüder,
Reicht alle Euch die Hand!
Stimmt an das Lied der Lieder,
Das Lied vom Vaterland!
Singt es gleich Sturmesbrausen,
Stimmt tausendfältig ein!
Singt es dem Feind zum Grausen:
Ein Deutschland soll es sein!!


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Man erzählt, ein Mönch habe ein Mädchen seinen Eltern geraubt und sich mit seiner Geliebten durch einen kühnen Sprung über die grausige Tiefe vor seinen Verfolgern hier gerettet.
  2. Um allen etwaigen böswilligen Angriffen Seitens der eiderdänisch nationalen Partei und wahrscheinlich auch conservativer deutscher Zeitungen, daß ich übertreibe, in Voraus zu begegnen, erkläre ich, obschon mir Vorstehendes aus meinen eigenen Untersuchungen in Angeln bekannt geworden ist, daß ich es dennoch aus der von Seiten der königlich preußischen Regierung im verflossenen Sommer den Cabineten der englischen, französischen und österreichischen Regierung überreichten ministeriellen officiellen Denkschrift wörtlich entnehme.
    Dr. jur. Gustav Rasch. 
  3. Hr. Moritz Busch, der im Jahre 1855 Angeln bereiste, fand dort ganz dieselben Zustände. S. Schleswig-Holstein’sche Briefe von M. Busch. Verlag von Gustav Mayer in Leipzig. S. ferner: Die Wahlen zur schleswig’schen Stände-Versammlung im Jahre 1860. Hamburg, 1861.
  4. Ich werde alle folgenden Unterhaltungen immer, des besseren Verständnisses wegen, in hochdeutscher Sprache wiedergeben, obschon sie meistens immer in plattdeutscher Sprache geführt wurden. G. R.
  5. Aliud e silvis miraculum.
  6. Wir entnehmen diese und die nachfolgenden bezeichneten Worte einer 1521 erschienenen, Luthers Aufenthalt in Worms und die Verhandlungen vor dem Reichstag schildernden Schrift.
  7. Gemerke hieß das Gerüste, worauf die Meistersänger standen, und Merker nannte man die Vorsteher der edlen Zunft.