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Die Gartenlaube (1861)/Heft 31

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 31.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Holzgraf.

Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)

Zwischen den Felstrümmern auf dem Moosgrunde saß oder lehnte der Holzgraf. Seine Kleider trugen ungeachtet des Festtages die Spuren der Abnutzung an sich; die Weste war aufgeknöpft, das Halstuch hing halbgelöst um den magern, sehnigen Hals, und die langen Strähne des völlig gebleichten Haares umgaben unordentlich Stirne und Wangen. Er hatte, unbekümmert um das Passionsspiel und demselben zum Trotz, mit seinen Kameraden um so wilder geschwelgt, als er den Tag, an welchen ihm die Mittel dazu fehlen würden, bereits in nächster Nähe vor sich sah. In wüster, an völlige Trunkenheit grenzender Stimmung war er Abends nach Hause gewankt, nachdem die Straßen von der Völkerwanderung der Passionsbesucher leer geworden bis auf einige Nachzügler. Unterwegs hatte ihn die Macht der genossenen Getränke gezwungen, sich seitab von der Straße auszuruhen; er war in wüsten Schlaf gefallen, aus dem er sich eben noch halbtaumlig aufrichten wollte als der Pater vorüberging.

„Das ist kein Platz zum Ausruhen,“ redete dieser ihn an. „Steht auf, Durnerbauer, und geht nach Hause – bei dieser Jahreszeit könntet Ihr Euch leicht den Tod oder eine Krankheit holen, so unter freiem Himmel zu liegen!“

Der Holzgraf sah ihn mit einem durchdringenden Blick an, wendete sich dann ab und sagte finster: „Es wär’ Alles Eins, wenn’s geschähe – es wird sich Niemand darum kümmern, wenn ich im Straßengraben zu Grund’ geh’, und Sie, Hochwürden, haben auch keinen Dank davon, wenn Sie’s thun!“

„Ich thu’s auch nicht des Danken wegen,“ entgegnete der Pater, „ich thu’s, weil ich es für meine Schuldigkeit halte und für meine Christenpflicht … Ich meine, meine Theilnahme müßte bei einem Manne zweifach angenehm sein, der so allein ist, wie Ihr …“

„Ja,“ sagte Korby dumpf vor sich hin, „ich bin allein!“

„Und warum seid Ihr’s?“ fragte Pater Ottmar entgegen, indem er sich wie zufällig auf ein gegenüber liegendes Felsstück niederließ. „Wer die Menschen von sich stößt und nichts von ihnen wissen will, der muß sich’s gefallen lassen, wenn sie auch nichts wissen wollen von ihm …“

„Ich laß’ mir’s auch gefallen,“ sagte der Bauer, wie zuvor.

„– Und hat es Euch nie leid gethan, daß es so. ist? Habt Ihr es noch nie bereut, daß Ihr es bis dahin habt kommen lassen? …“

Der Bauer schüttelte höhnisch lachend den Kopf und schwieg.

„Ich glaub’ es Euch nicht!“ fuhr der Pater fort. „Ihr solltet nie denken, wie anders es mit Euch sein könnte? wie anders Ihr dastehen könntet? – Ihr habt Eure brave Tochter aus Starrsinn in die weite Welt. gejagt – habt einen braven Burschen, aus dem vielleicht was Tüchtiges geworden wäre, vertrieben und alle Beide unglücklich gemacht – und es sollte Euch nie einfallen, wie es sein könnte, wenn sie nun bei Euch wären und Ihr säßet mitten unter ihnen und ihren Kindern? Das sollte Euch nie einfallen, und die Leute wollen doch wissen, Ihr hättet die Vesi so lieb gehabt …“

Der Bauer halte die Hände vor’s Gesicht geschlagen und kämpfte sichtbar eine wild aufsteigende Bewegung nieder. „Ich hab’ meine rechte Hand auch lieb,“ stieß er dann hervor, „aber wenn sie brandig wird, hack’ ich sie mir selber vom Leib …“

„Und wie soll es mit Euch selber werden? Denkt Ihr, zu welchem Ende es mit Euch kommen muß? … Ihr habt Euer ganzes Vermögen verloren und verschleudert. Ihr habt nichts mehr als den Steinbruch und den alten Thurm, und wenn es wahr ist, was die Leute sagen, hat Euch der Eigenthümer des Durnerhofs schon so viel daraus geliehen, daß von Beiden kein Stein mehr Euer ist …“

„Das ist Alles wahr,“ murrte Korby und versuchte zu lachen, aber der Ton erstarb ihm in der Kehle.

„Und was soll nun aus Euch werden?“

„Nicht mehr und nicht weniger, als aus jedem Andern wird – Würmerfraß! Der Weg dazu ist überall leicht zu finden!“ Eine Handbewegung gegen die vorbeirauschende Ammer hin erklärte vollends den Sinn dieser Rede.

„Unglücklicher,“ rief der Pater entsetzt, „so weit könntet Ihr Euch vergessen? Ihr könntet es wagen, in dem Gemütszustände, in dem Ihr Euch befindet, vor dem schrecklichen ewigen Richter – vor Gott zu erscheinen, eh’ er Euch gerufen hat?“

Der Bauer ließ wieder das unheimliche Lachen hören, wie zuvor. „Ja, ja,“ rief er aus. „Sie sind ein geistlicher Herr! Sie müssen so reden! Aber ich weiß das besser, wie’s mit dem ewigen Richter ist! Wenn’s wirklich einen solchen giebt … um uns kümmert er sich nit …“

„Gottloser, Ihr zweifelt an Gottes Dasein und Weltregierung? Ihr seid wie Einer, der eigensinnig die Augen zudrückt und sagt: es giebt keine Sonne, denn ich sehe sie nicht!“

„Nein, nein, Hochwürden – ich hab’ die Augen nit zugedrückt, sondern aufgerissen – sperrangelweit aufgerissen in Verzweiflung und Noth … aber ich hab’ die Sonn’ nit gesehen …“

Er hielt einen Augenblick inne, dann richtete er sich halb [482] empor und fuhr fort: „Es ist schon fast dunkel – aber weil Sie sich doch nach mir umgesehen haben in meiner Verlassenheit, will ich es Ihnen erzählen … ich werd’ Sie nit gar zu lang’ aufhalten mit der Geschicht’ …“

Der Pater erklärte sich bereit, und Korby begann:

„Ich bin nit alleweil so verstockt gewesen und so versteint, wie jetzt – wie ich ein junger Bursch gewesen bin, hab’ ich auch ein lustiges, lebfrisches Gemüth gehabt wie ein anderer – mein Herz ist weich gewesen wie Wachs, und ich hätt’ keinem Menschen eine Bitt’ abschlagen oder was Leid’s anthun können … nur der jache Zorn, die fliegende Hitz … die ist mein Fehler gewesen. die hab’ ich nit unterdrücken können, wenn’s mich auch hintennach gereut hat, so bitterlich als Einen nur etwas reuen kann! … Ich bin auch fromm gewesen dazumal, so recht inwendig fromm, und hab’ gern gebet’ und hab’ mich oft auslachen lassen von den andern Burschen, wenn ich kein Engelamt versäumt hab’ oder keine Vesper und kein’ Rosenkranz! – Daran war aber meine Ahn’l schuld, ein altes halbblindes Tagwerkerweib, die mich aufgezogen hat, denn meine Eltern hab’ ich nie gekennt … die sind gestorben, wie ich noch ganz klein war, alle zwei an einem Tag’, wie selbigesmal die hitzige Sucht grassirt hat in der ganzen Gegend. Die Ahn’l ist den ganzen Tag im Winkel hinter’m Ofen gsessen und hat g’sponnen, denn eine andere Arbeit hat sie nimmer thun können … den ganzen Tag haben die Händ’ nicht geruht, wie knochendürr sie auch gewesen sind und wie sie auch gezittert haben vor Schwäche und Alter – dazu hat sie gebet’t in einem fort und der zahnlose Mund ist kein Augenblick still gestanden – so wenig wie die Händ’, die den Faden gezogen haben, und der Fuß, der das Rädel gedreht hat. Alle Morgens, wenn ich fort bin zur Arbeit, hat sie mir’s wieder gesagt und nachgerufen, wenn ich schon in der Thür’ war: „Was der heutige Tag auch bringt … bet’, Korby, bet’ … das Beten hilft!“ – Es ist auch ihr letztes Wort gewesen, wie sie einmal Ruh’ gekriegt hat und das Spinnrädel mit ihr … und ich bin drauf fort und hab’ mich verdungen als Knecht, weit fort bis in’s Unterland, in die große Ebene um Straubing herum, ich hab’ eben auch gemeint, daß ich was seh’n müßt’ von der Welt …“

Der Erzählende hielt einen Augenblick inne, als ob er sich auf etwas Vergessenes besinnen wollte – dann mit der Hand über die Stirne wischend, fuhr er fort:

„Dort herum ist das Land ganz anders als bei uns – dort ist Alles eben, und man kann halbe Tage lang zwischen den Kornfeldern hingehen, die mannshoch über einem zusammenschlagen … man sieht oft stundenweit keinen Baum, und nur ganz in der Fern’ schauen die Berg’ vom bairischen Wald über die Donau herüber – Wer in den Bergen daheim und aufgewachsen ist, der kann hart eingewöhnen in der Ebne’t, und mir ist’s auch so ’gangen und ich hab’ in der ersten Zeit g’meint, ich halt’s keine Stund’ mehr aus und müßt’ mein Bündel nehmen und wieder heimlaufen in die Berg’ herein. … Ist aber bald und geschwind ganz anders ’worden – der Bauer, bei dem ich ’dient hab’, ist kinderlos gewesen und hat ein armes, weitschichtiges Bas’l in’s Haus genommen – und – seit die Meigl (Margareth) im Haus war, hab’ ich nimmer an die Berg’ und nimmer an’s Fortgehn gedenkt – es wär’ aber doch wohl g’scheidter gewesen, ich hätt’s gethan.

„Sie müssen mich nit auslachen, Hochwürden,“ unterbrach er sich selbst, „daß ich Ihnen so was erzähl’ – aber es gehört zu meiner Geschicht’, und ich hab’s ja schon gesagt, daß ich nit alleweil so verstockt gewesen bin, als wie jetzt …“

„Es fällt mir nicht ein, zu lachen,“ erwiderte der Pater, „ich wollte lieber, Ihr hättet den einzigen warmen und lebendigen Fleck an Eurem Herzen vor dem Versteinern erhalten …“

„Er hat mir wenig geholfen, der warme lebendige Fleck,“ fuhr Korby fort, „ich hab’ die Margareth gern gesehn und es ist mir bald so vorkommen, als wenn sie mir auch nit feind wär… sie ist nie ausblieben, wenn ich am Feierabend mich unter die Hausthür’ gesetzt und Cither gespielt hab’, wie’s Brauch ist bei uns daheim – sie hat mich freundlicher gegrüßt als die Andern, und wie’s zum Kornschneiden ging, hat sie’s immer zu machen gewußt, daß ich der Nächste bei ihr war. „Es arbeit’ mir keiner so flink in die Hand, wie der Korby,“ hat sie einmal g’sagt und hat ein paar blaue Kornblumen, die da gestanden sind mitten unter den Aechern (Aehren), abgerissen und mir hingehalten … Aber was hätt’s werden sollen bei All’ dem! Ich war blutarm, und sie hat den Prachthof von ihrem Vetter so gut wie im Sack g’habt, und der hätt’ seinen Nachfolger niemals anders geschätzt, als nach den Kronenthalern. Und dann war ich nit der Einzige, dem die Meigl in die Augen gestochen hat und der schöne Hof dazu. Da war gar Mancher, der am Sonntag nur ihretwegen an der Freithofthür’ g’standen ist, um sie vorbeigehn zu sehn, und wenn sie wo auf den Tanzboden kommen ist, haben sich die Bursche gerauft, einen Ring mit ihr herum zu machen. Da war besonders der Alburger Galli, der einzige Sohn von einem der reichsten Bauern in der ganzen Gegend, von denen ihrer Vier einen Tisch brauchen, wenn sie in’s Wirthshaus kommen – ein saubrer, ordentlicher und quanter Bursch – der ist ihr auf Schritt und Tritt nachgegangen und hat gemeint, er will’s zwingen, daß er die Meigl davon reißt! Einmal – es war im Auswärts, Sankt Andreas-Tag … und hat gerad’ angefangen, aber (schneefrei) zu werden auf den Feldern, da ist eine Hochzeit gewesen in der Nachbarschaft; die Meigl war mit unter den Kranzeljungfern, und ich war auch hingangen auf den Nachmittag. Der Alburger Galli war mit dem Bräutigam gefreund’t und hat auch nit gefehlt. Er ist immerfort herum gewesen um die Meigl, und hat mit ihr getanzt und wollt’s nit leiden, daß ihr ein Andrer in die Nähe kommen sollt’. Er mag’s wohl gemerkt haben, wie viel’s geschlagen hat mit mir, und wie er einmal wieder vorbei ist an mir, hat er mir wie unversehens einen Stoß versetzt, daß ich fast über und über gefallen bin, und haben die Burschen alle zu lachen angefangen, in der ganzen Runden herum. Da ist es mir völlig schwarz worden vor den Augen und in Einer Wuth bin ich, auf den Galli hin und hab’ ihn beim Hals gepackt und an die Wand gedrückt, daß er sich nit mehr rühren und schier nimmer hat schnaufen können. Die Leut’ sind hinzug’sprungen und haben uns auseinander reißen wollen, aber ich war zu stark und zu zornig und ich hätt’ ihn erwürgt, denn er ist schon blau geworden im Gesicht … auf einmal – so drängt sich die Meigl zu uns hin, faßt mich am Arm mit sagt: „Laß los, Korby … mir zu Lieb’ laß los …“ Da ist’s gewesen, als wenn meine Finger auf einmal alle Kraft verloren hätten – ich hab’ den Kerl losgelassen, und wie er weggetorkelt ist von mir, hab’ ich ihm nachg’rufen … „Geh nur – wir treffen doch schon noch zusammen, daß Du an mich denkst!“ Ich hab’ selbst nit recht gewußt, was ich sag’ – aber das Blut ist mir so siedig heiß in den Kopf gestiegen, daß ich hinaus bin in’s Freie und hab’ frische Luft schöpfen und mich abkühlen wollen unter denen Lindenbäum im Wirthsgarten, an denen just die ersten Blätteln auf'brochen sind … Und es ist nit lang ang’standen, so kommt die Meigl mit ein paar Cameradinnen auch herunter, als wie zufällig … stellt sich zu mir hin .. giebt mir die Hand … und dankt mir, daß ich ihr gefolgt und auf ihr Abbieten so viel ’geben hab’ … und – und … Aber was soll ich Ihnen all das dumme Zeug erzählen, das Einem in dem Alter im Herz’ und im Kopf’ umgeht und das man so wenig sollt’ aufkommen lassen, wie das Unkraut im Korn … Es ist eben zum Reden ’kommen unter uns, die Meigl hat mir g’standen, daß sie mich lieber hat als alle Andern, und wenn’s mir auch so wär’ – wollt’ sie mit dem Vetter reden, daß er ein Paar aus uns machen und uns den Hof übergeben sollt’ …“

Der Erzählende hielt inne; wider Willen schien er einen Augenblick an dem Jugendbilde zu hangen, das die Erinnerung vor ihm aufrollte. Dann schüttelte er heftig mit dem Kopfe, als wenn er sich von einem lästigen Einflüsse befreien wollte, und fuhr fort:

„Es war eine kurze Freud’ dazumal – aber mir ist’s doch gewesen, als wenn der ganze Himmel offen wär’ über mir. Ich bin in lauterer Glückseligkeit gar nit mehr zurück auf den Tanzboden, sondern bin heim und hab’ die einsamsten Weg’ gemacht, nur daß ich recht allein hab’ sein können mit meinen Gedanken. Die Leut’, die mir begegnet sind, die sind mir ordentlich zuwider gewesen – und ich bin ihnen ausgewichen, und wie ich einmal eine ganze Schaar bei einander gesehen hab’, die mir zug’rufen hat und zugewinkt, da bin ich davon gelaufen, in den nahen Wald hinein. Da ist mir dann leichter ’worden um’s Herz, und an einem alten Bildstöckl am Weg hab’ ich mich hingekniet und hab’ zu beten ang’fangen … die alte Ahn’l ist mir eingefallen mit ihrem „Bet’, Korby, bet“ - und so hab’ ich dem Herrgott gedankt, daß er’s so gut vorhat mit mir … Auf einmal springen von allen Seiten Burschen und Männer heraus aus dem Gebüsch und [483] auf mich zu und schrieen: „Da ist er! Wir haben ihn! Der hat’s gethan!“ Eh’ ich mich nur besinnen und fragen kann, bin ich auf den Boden gerissen worden und wie ein wildes Thier dagelegen mit gebundenen Händen und Füßen … der Alburger Galli ist erstochen gefunden worden hinter’m Wirthshaus … und ich sollt’s gethan haben …“

So viele Mühe sich der Redende gab, seine Bewegung zu verbergen, gelang es ihm doch nur unvollkommen. Der Pater erwiderte nichts; er wollte die Vorgänge in Korby’s Gemüth durch keine Bemerkung stören, die vielleicht abkühlend gewirkt hätte – aber sein Auge ruhte mit steigender Theilnahme auf dem Gesichte des Holzgrafen. Der Abend und die Dämmerung war eingebrochen, aber Beide beachteten es nicht.

„Am Anfang,“ begann Korby nach kurzem Schweigen wieder, „war ich wild wie ein scheugewordener Stier – dann aber, wie’s mir so recht eingefallen ist, daß ich ja so unschuldig war wie ein neugeboren’s Kind, da hab’ ich mich getrost’ und hab’ angefangen zu lachen. Es ist mich freilich hart an’kommen, wie sie mich in Ketten wie den ärgsten Verbrecher hineing’schleppt haben auf’s Landgericht; im Grund aber bin ich doch froh gewesen, denn wenn ich dem Assessor Alles sagen werd’ wie die Sach’ steht, da hab’ ich gemeint, es kann nit fehlen, daß er mir mehr glaubt, als die wüthigen Bauern, und mich wieder losläßt augenblicklich … ’s ist aber ganz anders ’kommen; der Assessor hat mir’s haarklein vorgerechnet, daß kein anderer Mensch den Galli erstochen haben könnt’ als wie ich, und daß ich ein erzverstockter Böswicht bin, weil ich’s nicht eingestehn wollt. „Alle Leut’ wissen,“ hat er mir gesagt, „was Du für ein unbändiger Mensch bist in Deinem Zorn. Du hast den Galli schon am Nachmittag bei einem Haar erwürgt und hast ihm gedroht, daß Du mit ihn, zusammenkommen willst, daß er an Dich denken soll! Gleich darauf bist Du fort aus dem Wirthshaus, und hinter demselben wird der Galli im Verscheiden gefunden … Du bist auf einmal ohne alle Ursache fort, bist auf einem ganz andern und abgelegenen Weg heimgegangen.

Wie Dich die Leute angerufen haben, bist Du davon gelaufen, und zuletzt hat Dich das Gewissen geschlagen und Du hast in Deiner Angst zu beten angefangen an dem alten Bildstock im Wald … was kannst Du gegen das Alles sagen? Trifft nicht Alles so klar zusammen, daß man so grundschlecht sein muß, wie Du, um es zu leugnen?“ – Es ist wahr gewesen – ich hab’ nit viel sagen können dagegen, und der Assessor hat sein Handwerk gar gut verstanden und hat mich herumgehetzt mit lauter Fragen und Fragen, daß es mir völlig schwindlig geworden ist im Kopfe und daß ich oft gar nit mehr gewußt hab’, was er mich fragt und was ich antwort’… Bei all’ dem, aber bin ich doch im Ganzen immer wieder ruhig gewesen – denn ich hab’ auf unsern Herrgott vertraut … und manchen Tag und manche Stund’ in der Nacht bin ich in meiner Keuchen auf den Knie’n gelegen und hab’ geweint und gebet’t, daß meine Unschuld an den Tag kommen sollt’… es hätt’ sich ein Stein darüber erbarmt … und wenn die Angst hat über mich kommen wollen und die Verzweiflung, da ist’s mir immer gewesen, als wenn die alte blinde Ahn’l vor mir stünd und das Spinnrad schnurrt, und die Alte wispert: „Bet’, Korby, bet’, – das Beten hilft!“ – Aber es ist ein Monat um’s andere vergangen und ich hab’ die Hülf’ nit herunter beten können vom Himmel, und einmal haben sie mich vorführen lassen in’s Verhörzimmer und haben mir das Urtel vorgelesen. Ich sei nit überwiesen, hat’s gelaut’t, aber im höchsten Grad verdächtig – deswegen und weil ich ein höchst gefährlicher Mensch sei, sollt’ ich aufgehoben werden … auf drei Jahr … im Arbeitshaus …“

Der Bauer schwieg vor Erschöpfung; der Pater vermochte einen Seufzer des Mitgefühls nicht zu unterdrücken.

„Mir ist gewesen – wie einem, der träumt und der nicht recht zu sich selbst kommen kann vom Schlaf, oder der einen Schlag vor’s Hirn gekriegt hat – dann hab’ ich gebrüllt und getobt wie ein Unsinniger und hab’ mit den Händen an der Mauer in meinem Gefängniß gekratzt und bin mit dem Schädel dawider gerennt … dann hab’ ich mich wieder auf das Ziegelpflaster hingeworfen und hab’ gebet’t … so lang die Welt steht, hat noch kein Mensch so inbrünstig gebet’t wie ich … Es war doch Alles umsonst … einmal sind die Schergen gekommen und haben mich auf einen Wagen gesetzt und hingefahren vor die Zuchthausthür. ... Ich hab’ mich gesperrt und an den Wagen angespreizt und hab’ Himmel und Erde angerufen um Hülf’ … es hat nichts genutzt – sie haben mich zu Boden geworfen, haben mir die Haar’ abgescheert und das Züchtlingsg’wand angezogen …“

Schluchzen unterbrach den Redenden; er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und fortzufahren. „Ich bin drüben in eine hitzige Krankheit verfallen und weiß nit, wie lang ich so dagelegen bin zwischen Leben und Sterben … wie ich aber wieder zu mir selber 'kommen, da bin ich ein ganz anderer Mensch gewesen …

Alles in mir ist kalt und ausgebrennt gewesen, und ist nichts übrig g’blieben, als die harte steinerne Schlacken wie von den Kohlen im Schmiedfeuer. Ich hab’ nimmer gewüth’, aber mit dem Beten ist’s auch vorbei gewesen, und ich hab’ Woll’ kardätscht und gesponnen, als wenn’s so sein müßte – bis die drei Jahr’ herumgewesen sind. Da haben sie mich laufen lassen, und ich hab’ mir gedacht, ich wollt’ nun geh’n, wo die Welt am weitesten ist – aber ich bin nit weit gekommen, denn vor’m Zuchthaus ist – die Meigl g’standen; die hat’s erfragt gehabt, daß meine Strafzeit aus ist, und hat auf mich gewart’ und hat mir gesagt, sie hat’s immer geglaubt, daß ich unschuldig sei, und sie wollt’ mir’s beweisen und nit von mir lassen – der Vetter sei todt, der Hof gehöre ihr … und ich sollt’ mit ihr geh’n und ihr Mann werden …“

„Braves Mädel,“ sagte der Pater, „und hat Euch so viel Liebe nicht gerührt? Habt Ihr nicht den Finger der Vorsehung darin erkannt, die Euch Trost und Ersatz schickte für die unschuldig ausgestandenen Leiden?“

Korby schüttelte den Kopf. „Ich hab’s nit mehr gekonnt,“ sagte er, „es hat sich nichts mehr gerührt in mir – ich hab’ keinen andern Gedanken mehr gehabt, als daß meine alte Ahn’l nicht Recht gehabt hat mit ihrem „Bet, Korby, bet’ – das Beten hilft“ – daß für uns keine Hand herunter greift vom Himmel … der Mensch, der’s zu was bringen will, muß sich auf Niemand verlassen, als auf sich selbst, und sich um Niemand kümmern, als um sich selbst! – So hab’ ich’s gemacht und gehalten seitdem … ich hab’ die Meigl geheirath’, aber den Hof haben wir zuvor verkauft und haben uns da herinn’ in meiner Heimath angesiedelt, wo kein Mensch was gewußt hat von meiner Schand’ …“

„Und ist Eure Unschuld später nicht an den Tag gekommen?“

„Was hat’s genutzt? – So ein zwölf Jahr’ darnach ist der Bursch’, der den Galli erstochen hat, zum Sterben ’kommen und hat’s einbestanden vor seinem End’ … Dadurch ist’s nicht ungescheh’n gemacht worden, was ich ausgestanden hab’ … und daß es so hat geh’n können, das hat mir’s wieder gezeigt, daß der ewige Richter, von dem Sie reden, Hochwürden, sich um das nit kümmert, was auf der Welt geschieht – und daß er Recht und Unrecht geschehn läßt, wie’s Tag und Nacht wird und wie in dem einen Jahrgang die Frucht gerath’ und in einem andern der Hagel Alles hinein schlägt in Grund und Boden. – Das ist so versteint und verbeint in mir, wie die Felswand da über uns. … Ein einziges Mal – ja, da ist mir gewesen, als wenn’s noch einmal warm werden wollt’ in meinem Herzen. ... Das war, wie meine Toch… wie die Vesi auf die Welt kommen ist – aber es war gleich wieder vorbei, und – sie hat’s auch bewiesen, daß es doch umsonst gewesen wär’. – Jetzt wissen Sie, Hochwürden, warum ich so bin, wie ich bin – und wenn sie mich aus der Ammer herauszieh’n und mich einscharren in dem Eck’ an der Kirchhofmauer – dann erzählen Sie’s den Leuten, damit sie wissen, wie der Holzgraf dahin gefahren ist. …“

Bei den letzten Worten war Korby aufgesprungen, stand mit einem Satze auf der Straße und eilte durch die Dunkelheit dahin. Vergebens rief der Pater ihm nach und schritt dann, als sein Ruf unbeachtet an dem Felsen verhallte, dem Dorfe zu, in frommer Sammlung des Unglücklichen im Gebete gedenkend.

Dieser hatte bald sein ehemaliges Besitzthum, den Durnerhof, erreicht und wollte unbemerkt von dem neuen Eigenthümer seine Thurmwohnung erreichen. Das laute Anschlagen des Hofhundes verrieth den Ankömmling, und der Bauer, der ihn erwartet haben mochte, trat ihm unter den finsteren Bäumen des Hausgartens entgegen. „Nun,“ rief er ihm zu, „wie ist’s, Holzgraf? Kommst wieder heim bei eitler Nacht? Hast Dir’s wohl überlegt, was ich Dir gesagt hab’ heut früh, und bringst das Geld mit?“ „Geld?“ lachte Korby höhnisch entgegen. „Geld werd’ ich, nimmer viel brauchen!“

„Aber ich desto mehr.“ war die Antwort, „und kurz und gut, ich hab’ Dir’s schon heut Morgens gesagt … ich hab’ Dir schon mehr geliehen auf den Thurm und den Steinbruch, als der Bettel [484] zwei Mal werth ist! Wenn Du das Geld nit zahlst, kannst Du heut’ noch zum letzten Mal da schlafen – aber morgen ist Alles mein, und Du kannst Dir um ein anderes Quartier umschau’n …“

„Ich will zum letzten Mal da schlafen,“ brachte Korby mit hörbarer Anstrengung hervor und wollte fort.

„Oder – ich will Dir einen andern Vorschlag machen,“ begann der Andere wieder, „damit Du siehst, das; ich’s gut mit Dir mein’ und einen alten Speci wie Dich nit drücken will … Du bist noch ganz rüstig und kräftig, ich könnt’ einen tüchtigen Arbeiter brauchen – wie wär’s, wenn Du als Knecht eintreten wolltest bei mir?“

„Hund von einem Kerl,“ schrie Korby aufflammend, indem er auf den Bauer mit geballter Faust lossprang. „Zu Deinem Knecht willst Du mich machen?“

„So geh’ zum Teufel, wenn Du willst,“ rief der Bauer, welcher sich schnell in die Thüre geflüchtet hatte und diese zuschlug, „aber morgen kannst Du marschiren!“

Wenige Secunden später war Korby in dem Thurmgemach allein und zündete ein Restchen Kerze an, das letzte, das er besaß, und das nur noch ein kurzes Stündchen zu dauern verhieß. Bei dem unsichern, schwachen Schein sah das Gemach noch unheimlicher und unwirthlicher aus, als bei Tage. Die einstige Pracht und Zierlichkeit war der Abnutzung und dem Verfall gewichen und bildete in ihren Ueberresten einen wirksamen Gegensatz zu den Spuren armseliger Verkommenheit, die darin hauste. Der Eingetretene schien das auch zu fühlen; indem er den Kerzenstumpf auf das zerbrochene Ofensims stellte, warf er einen flüchtigen Blick um sich und sagte halblaut: „Es ist die höchste Zeit, wie mir scheint – wir geh’n zu Ende – alle zwei!“

Ermüdet warf er sich dann auf das dürftige Lager hin und versuchte zu schlafen – aber er vermochte es nicht. Heißer und immer heißer drängte ihm das Blut nach Stirn und Augen – rascher und immer rascher zogen Gestalten und Bilder vor seinem Geiste vorüber; er hatte die lange zurückgedrängten und vergessenen durch seine Erzählung auch für sich heraufbeschworen, und einmal befreit, wollten die Geister nicht so schnell wieder zurückkehren in ihre Gräber. In steigender Unruhe wälzte er sich auf dem Lager hin und her, eine verwirrende Angst überkam seine Sinne, er wußte zuletzt selbst nicht mehr, ob ihn wache Träume umgaben oder fieberhafte Phantasieen. Bald war er im Unterlande, bei der Hochzeit am St. Andreastage, im Handgemeng mit dem Alburger Galli, aber dieser hatte die Oberhand über ihn und würgte ihn tödtlich an der Wand – dann sah er sich wieder verzweifelnd im Gefängnisse oder hinter dem Wollrade im Zuchthause; bald befand er sich mitten unter den Cameraden seiner Schwelgereien und wollte sich durch Trinken und Lärmen übertäuben, aber es ging nicht, denn durch Alles hindurch schnurrte ihm das Spinnrad und das Gemurmel der alten Ahn’l in die Ohren – dann tauchten wieder der drei starre todtenblasse Gesichter an seinem Lager auf und drängten sich näher und beugten sich über ihn, daß er ihre kalte Berührung zu spüren glaubte; es waren Margareth, seine Tochter Vesi und Domini, der Bildschnitzer, die sich zu freuen schienen, daß er so verlassen war, und ihm die eiskalten Hände auf das Herz legten, um zu prüfen, ob es noch schlage …“

Es litt ihn nicht länger – aufschreiend und mit einer Gebehrde, als wollte er die Phantome von sich abwehren, sprang er auf, aber er machte dadurch das Uebel nur ärger. Die Kerze war herunter gebrannt, und der qualmende Docht verbreitete nur noch in der nächsten Nähe des Ofens seinen röthlichen Schein – um so unheimlicher starrte die Finsterniß des ganzen Gemachs in die weit aufgerissenen Augen des Entsetzten. Das Dunkel begann sich zu bewegen und gespensterhaft durcheinander zu wogen und zu flimmern, daß er wieder die Augen schloß und die Hände fest vor’s Gesicht schlug … „Wenn ich nur nit so allein wär’ ...“ murmelte er, „… so ganz allein … es ist schrecklich, wenn man so mutterseelenallein sein muß …“ Er brach ab, denn im Augenblick stand es vor ihm, wie es so ganz anders sein könnte – er sah sich von seinen Angehörigen umgeben und liebend und sorgend umringt, und etwas wie Reue wollte ihn anwandeln, etwas wie ein Gewissensvorwurf, als sei es seine Schuld, daß es so gekommen, aber er sträubte und stemmte sich dagegen mit dem ganzen Trotz seines Gemüthes. „Ich bin nit schuld daran,“ sagte er halblaut vor sich hin, „… sie hätten auch nachgeben können. …

Warum soll’s gerade ich sein, der überall Andern den Willen thut? … Ich bin nit schuld, daß das Herz in mir so kalt ’worden ist … und so steinhart. …“

Er ballte und preßte die Hände an der Brust zusammen, denn es schraubte ihn inwendig schmerzlich und krampfhaft, als wenn etwas, das lange gefangen oder begraben gewesen wäre, auf einmal lebendig würde oder seine Kette zerbrechen wollte. Es war vollständig finster im Gemach – nur die Nachthelle ließ das grauliche Fenster erkennen, dessen Schein allerlei befremdliche unsichere Gestalten auf den Boden warf. Plötzlich kam es dem Einsamen vor, als wenn in der Ecke daneben eine dunkle Gestalt säße und dann auf ihn heran käme … er täuschte sich nicht, sie saß wirklich da, die alte Ahn’l mit dem nicht ruhenden zahnlosen Munde und den knochendürren Händen! Diese hatte sie starr gegen ihn ausgespreizt und sah ihn mit den weit offenen blinden Augen unbeweglich an und murmelte: „Bet, Korby, bet’ – das Beten hilft“ – Immer näher kam das Gespenst gegen ihn heran … wild schlug er sich vor die Brust und fuhr sich schreckensvoll in das weiße Haar. … „Bleib’ mir vom Leibe,“ rief er außer sich … „es ist nit wahr … erlogen ist’s, daß das Beten hilft … ich kann nit beten … ich hab’ die Kraft nit mehr dazu im Gemüth, und die Wort wollen nit mehr heraus auf die Zung’ … und ich will auch nit beten … will nit schwachherzig werden zu guter Letzt …“

Mit diesen Worten, immer lauter schreiend, schleppte er sich vom Lager weg gegen die Mitte der Stube zu … er flüchtete vor der Gestalt der alten Ahn’l, die ihn mit den ausgespreizten Fingern und den starren, lichtlosen Augen fortwährend murmelnd verfolgte und immer näher kam. Jetzt war sie hart an ihm, jetzt berührten ihn die gespenstischen Finger … da stürzte er mit einem lauten Aufschrei des Entsetzens bewußtlos zusammen.

Wiederholtes, erst leises, dann stärker werdendes Pochen an der Thüre rief ihn nach einiger Zeit aus der Betäubung zurück – allein eh’ er etwas zu erwidern oder sich vollständig aufzurichten vermochte, ging die Thüre auf, und voller klarer Lichtschimmer fiel herein. Korby wußte nicht recht, ob er vollkommen wachend und bei sich war, oder ob die Bilder und Gesichter seiner Einsamkeit noch fortdauerten – denn in der erhellten Thüre, lebendig, schön und jugendfrisch, wie sie von ihm gegangen, die gefalteten Hände wie bittend weit gegen ihn vorgestreckt, stand – Vesi.

Einen Augenblick starrte er die Erscheinung zweifelnd und unentschieden an; im nächsten lag ihm die Tochter zu Füßen und umklammerte sie, indem sie vor Schluchzen und Weinen kaum die Worte hervorzustoßen vermochte: „Verzeihung, Vater … Verzeihung …!“

Dem Manne stieg es wie siedend und wallend nach Herz und Kopf; er bebte und zuckte am ganzen Körper und rief abgebrochen und stammelnd: „Laß meine Füß’ los – was willst Du von mir? Ich hab’ nichts zu verschenken und zu geben …!“

„O Vater,“ rief Vesi wieder, „ich will ja nichts von Dir! Ich will nichts, als daß Du mich lieb haben und wieder bei Dir aufnehmen sollst und daß ich bei Dir bleiben darf all’ meiner Lebtag …“

„So?“ entgegnete er hart, aber durch die Härte des Tones zitterte eine innere Erweichung, wie der Schnee mürbe wird, noch eh’ der Thauwind wirklich weht, der ihn schmelzen soll. „Ist es um die Zeit’ ? Ist es Dir gegangen, wie ich’s voraus gewußt hab’ und gesagt? Ist Noth und Elend über Dich ’kommen, mit Deinem Burschen, um den Du Deinen Vater aufgeben hast und Deine Heimath? Kommst zurück in Noth und Schand’ und meinst, Dein Vater wär’ noch der reiche Holzgraf, wie dazumal? Hast Dich verrechnet, Schatz – geh’ nur wieder fort und geh’ betteln in der weiten Welt – ich bin auch ein Bettler wie Du!“

„Vater, sei nit so hart mit mir! Es ist ja nit die Noth und das Elend, was mich zu Dir treibt! Ich bin so glücklich mit meinem Mann, so glücklich, wie ich mir’s gar nie hab’ hoffen können! Der Vetter Steinbacher in St. Petersburg hat den Domini aufgenommen, wie er den eignen Sohn nit besser hätt’ aufnehmen können – wir haben Arbeit gehabt und Verdienst und Freude vollauf …“

„Und warum bist Du dann doch fort von ihm und hast den weiten Weg gemacht bis aus Rußland heraus?“

„Es hat mir keine Ruh’ mehr gelassen – Vater, um Deinetwegen! Der Gedanken, daß ich Dich so verlassen hab’, daß Du vielleicht krank sein könnt’st und Niemand hast, der Dich wart’ [485]

Die Enthüllung des Lutherdenkmals zu Möhra.


Das Lutherdenkmal zu Möhra.





und pflegt, hat mir alle Freud’ verdorben! Dein Willen, Vater, Dein Segen hat mir dabei gefehlt … d’rum hab’ ich nit geruht, bis wir unsere Sachen zusammenpackt haben und sind heraus zu Dir …“

„Vesi,“ rief der Holzgraf, der seine Bewegung immer vergeblicher zu bemeistern strebte, „Vesi – sag’ mir die Wahrheit … Das hättet Ihr … das hätt’st Du gethan? Aber warum denn? – Hilf mir d’rauf, damit ich’s begreif’ … warum solltest Du das Alles gethan haben?“

„O Vater,“ schluchzte Vesi, „wie kannst Du so fragen? – Warum sonst, als weil ich Deine Tochter sein und bleiben will – weil ich Dich gern hab’ von Herzensgrund und so wenig von Dir lassen kann, als von mein’ guten Domin. …“

Der Holzgraf richtete sich hoch auf und hob die Arme zum Himmel – „Sie hat mich gern!“ rief er erschüttert. „Es giebt doch noch Jemand auf der Welt, der mich gern hat …“ Damit brach ihm die Stimme und unter stürzenden Thränen hob er Vesi empor, drückte sie an die Brust und verbarg das Gesicht an Ihrer Schulter.

Während der Umarmung trat Domini hinzu, der inzwischen, des Ausgangs gewärtig, vor der Thüre gestanden hatte. Er trug einen schlafenden, etwa vierjährigen Knaben auf dem Arm. „Grüß Gott, Schwiegervater,“ sagte er, indem er dem erstaunt empor Blickenden die Hand hinstreckte, „der kleine Korby da auf meinem Arm, Euer Enkel, kann Euch jetzt nicht Grüßgott sagen, er ist eingeschlafen vor Müdigkeit!“

„Wie ist mir denn?“ rief Korby. „Es ist mir ja auf einmal ganz leicht und warm um’s Herz! Ich glaube gar, ich hab’ das Weinen wieder gelernt …“

Er fuhr sich mit beiden Händen an die strömenden Augen.

„Ja,“ rief er, indem er ans Vesi’s Umarmung in die Kniee zusammensank … „ja – ich Hab’ das Weinen wieder gelernt … und das Beten auch … o Du gnädiger Herrgott im Himmel droben … ich dank’ Dir!“

- – – Am andern Tage verließ die wiedervereinigte Familie das Thurmgemach und den Durnerhof. In Oberammergau wurde eine kleine hübsche Wohnung gemiethet, denn Domini hatte ein schönes Stück Geld verdient und konnte sich bequem und behaglich einrichten, um als Bildschnitzer wieder fortzuarbeiten, wie vorher. Mit neuer Rührigkeit ging er daran, Vesi begann als Hausfrau zu schalten und zu walten im Hause; der Holzgraf wollte dem gegenüber nicht müßig erscheinen und hatte sich in der Nachbarschaft als Knecht verdungen. So konnte es nicht fehlen, daß in dem kleinen Hause mit den neuen Bewohnern auch die Freude einzog und die Zufriedenheit. Abends fehlte fast nie Pater Ottmar, der sowohl wegen seines Zöglings kam, als wegen des Holzgrafen, der ihm durch das bewiesene Vertrauen und die eingetretene Sinnesänderung werth geworden war. Seelenvergnügt schlug Korby in die Hand des Paters ein, wenn dieser sie ihm zu Gruße entgegen strecke und ihm vertraulich und halb heimlich zuflüsterte: „So ist’s recht, Korby, jetzt seid Ihr auf dem rechten Wege! Arbeit ist das einzige Mittel, welches das Gleichgewicht herstellt zwischen Leib und Seele, und mit dem Gebet der einzige Balsam, der sie kräftig und geschmeidig erhält alle Beide!“ – Dann wandte er sich wohl auch an Domini und wollte wissen, ob er seine frühern Träume, als Bildhauer Ehre und Ruhm erwerben zu wollen, wirklich so ganz aufgegeben haben. Dieser lachte dann und sagte: „Ich habe sie aufgegeben und bin froh, daß es so gekommen

[486] ist – den beschränkten, aber glücklichen Kreis, der mich jetzt umgiebt, vermag ich vollständig auszufüllen – in dem größern des Künstlers wäre ich wohl ein unglücklicher Stümper geblieben … denn ich glaube, Sie haben damals doch Recht gehabt mit dem Haifisch!“

Im Dorfe war natürlich das Aufsehen über die neuen Ereignisse groß und andauernd, aber größer noch war die Freude, als man die günstige Wendung sah. Alles gönnte Vesi und ihrem Manne das verdiente stille Glück, und wer früher, wenn der Holzgraf durch die Straßen ging, ihm bedenklich nachgesehen und die Achseln gezuckt hatte, der sah ihn jetzt mit einer Art von Respect an, wenn er rüstig an der Arbeit stand oder mit den Werkzeugen über die Schulter Feierabends zu seinen Kindern nach Hause eilte.

– An einem schönen Sonntagsmorgen im Juni zog die Ammergauer Dorfmusik in frühester Stunde durch die Straßen, denn es sollte wieder „der Passion“ gespielt und die Bewohner und die Gäste lustig gemahnt werden, sich bald aus den Federn zu machen, damit sie noch dem Hochamte beiwohnen könnten, das wegen des Beginns des Schauspiels zu ungewöhnlich früher Stunde begann. Die auf dem Kirchhofe und an den Straßen Stehenden bemerkten unter den Kirchgehern auch den Holzgrafen, der zwischen Vesi und Domini, den Enkel an der Hand, der Kirchthüre zuschritt. An der Thüre traf er mit andern Männern zusammen, darunter Luipold, der invalide Wachtmeister, welcher den Andern eifrig erzählte und ihm mit freudestrahlendem Gesichte zurief: „Freut Euch auch mit, Holzgraf! Heut Nacht ist die Nachricht gekommen – die Alliirten haben vor drei Tagen in einer ungeheuren Schlacht … bei Waterloo, glaub’ ich, war es … den Kaiser Napoleon vollständig geschlagen und vernichtet! Jetzt endlich ist es Friede und wird Friede bleiben – jetzt kann ein ehrlicher Deutscher den Kopf hinlegen und in Ruhe dahin fahren!“

Das wiedergekehrte Glück im Hause des Holzgrafen hatte Bestand – bis an jene Grenze, an welcher der Bestand alles Irdischen endet.

Sollte aber vielleicht ein Leser, der Ammergau gesehen, sich nach Haus, Namen und Ort genauer erkundigen wollen, so lasse er die unnütze Mühe. Namen und Orte sind verändert und verschoben, um sie unkenntlich zu machen. Zwar ist Pater Ottmar schon längst zur Ewigkeit heimgegangen; der Wachtmeister liegt schon lange unter der selbst gedichteten Grabschrift: Vesi und Domini, wie der Holzgraf selbst, haben ihre Gruben auf dem Friedhöfe gefüllt – aber ihre Enkel leben noch, ein tüchtiges, rüstiges, wackeren Geschlecht, dem aber die eignen Erinnerungen fast verloren gingen. Nur hier und da denkt noch ein älterer Mann der damaligen Ereignisse und berichtet in vertraulicher Stunde, wie es dem Erzähler von seinem gastlichen Wirthe begegnete, von den sonderbaren Erlebnissen des – Holzgrafen.






Die Enthüllung des Lutherdenkmals zu Möhra.

(Mit Abbildung.)


„Trübe Morgen, heitere Tage!“ jubelte der Kutscher, als sich auf unserem Wege nach Möhra unterhalb der prächtigen Felsenterrasse von Altenstein die feuchten Nebel im Werragrund zertheilten, und weiter ging’s dem berühmten Stammort des großen Reformators zu, denn heute zum 25. Juni, dem Gedächtnißtag der Uebergabe der Augsburgischen Confession, sollte sein Denkmal dort, dessen Gründung seit 1846 begann, feierlich enthüllt werden. Als wir durch das Dorf Gumpelstadt, den vorletzten Ort vor Möhra, fuhren, harrten schon zwölf berittene Möhraer Burschen in kurzen blauen Kitteln, mit fliegenden, bunten Bändern an den Hüten zu beiden Seiten der Straße der Ankunft des Erbprinzen von Meiningen, um ihm und seinem Gefolge zum Einzug vorzureiten. Auf allen Wegen, die dem Dorfe zuführen, wogten schon ganze Haufen zu Fuß und zu Wagen; von Meiningen kam auf der Werrabahn ein Extrazug, der nicht weit vom Ort, ohne eine besondere Station abzuwarten, Halt machte, so daß es uns zweifelhaft schien, wie das kleine Dorf von kaum 500 Einwohnern eine solche Menge beherbergen könne. Dennoch gelang es uns bei unserer Ankunft, die Pferde in einem Bauerhause unterzubringen.

Den eigentlichen Festplatz bildete der kleine Raum, der – wie unser Bild zeigt – von Luther’s Stammhaus, in welchem die Eltern des berühmten Reformators wohnten, ehe sie nach Eisleben übersiedelten, dann der bergaufwärts über demselben gelegenen Schule und Kirche und den jenem links und rechts gegenüber liegenden Häusern gebildet wird. Die Dächer der letzteren waren zum Theil mit Menschen bedeckt, und auch mir gelang es unter den Freuden und Leiden eines Correspondenten eines illustrirten Blattes, das Stück einer Dachsparre zum Sitz zu bekommen. Rechts von der jungen Linde, welche an die Stelle der alten gesetzt wurde, unter welcher Luther auf seiner Rückkehr von Worms am 4. Mai 1521 predigte, stand das verhüllte Denkmal und in einiger Entfernung hinter demselben das durch eine kleine Gedenktafel bezeichnete Stammhaus des großen Mannes, der als Eisenacher Schüler verschiedene Male nach dort zurückkehrte und dessen directe Nachkommen noch jetzt in Möhra leben.

Endlich ertönten halb 11 Uhr die Glocken zum Zeichen, daß sich in der Schenke der Gemeindevorstand des Orts, die eingeladenen officiellen Personen, die Künstler, die Geistlichen und Lehrer der Diöcese Salzungen, der Sängerchor von daher mit der Meininger Militairmusik, sowie die Mitglieder des Festcomité’s zu versammeln hatten. Beim zweiten Glockengeläute begab sich in dieser Reihenfolge der Festzug nach dem Platze des Standbildes, vor dem auf einer um eine Stufe erhöhten Estrade der genannte Erbprinz mit seinem Hof Platz genommen hatte. Als zum dritten Mal die Glocken ertönt halten, begann der hinter dem Denkmal nach der Schule zu aufgestellte Sängerchor den ersten Vers von Luther’s Lied: „Es wolle Gott uns gnädig sein,“ in ergreifender, kaum näher zu schildernder Weise. Alsdann intonirte der Superintendent von Salzungen mit den Worten: „Ehre sei Gott in der Höhe,“ worauf der Sängerchor die in eine treffliche Composition eingekleideten Worte: „und Frieden auf Erden etc.“ respondirte und daran eine ausgezeichnete Motette von Hauptmann knüpfte. Diese Gesänge wurden so meisterhaft ausgeführt, daß wir, so wie viele Andere, die keine Ahnung davon hatten, daß ein Städtchen wie Salzungen einen solchen Sangverein aufzuweisen habe, glaubten, die Tenor- und Baßsänger wären Mitglieder der Meininger Oper und die Knaben, welche Sopran und Alt sangen, eine besonders geschulte Currende der Residenz. Um so erstaunter waren wir zu hören, daß sie zusammen den Sängerkranz aus Salzungen bildeten, der uns einen so herrlichen Genuß bereitete, daß seine Vorträge allein als ein Concert zu betrachten waren, und wir können es nicht unterlassen, in diesem Blatte, das auch der Kunst seine Spalten gern öffnet, jenem Verein die vollste Anerkennung für die vorzügliche Ausführung der schwierigen Partieen auszusprechen, da man gewohnt ist, nur von Sängerchören aus größeren Städten solche Leistungen zu hören.

Beim letzten Vers des luther’schen Kraftliedes: „Eine feste Burg,“ das unter Begleitung der Meininger Militairmusik die ganze Festversammlung in heiliger Begeisterung sang, fiel die Hülle vom Denkmal, und hoch und hehr stand in Erz der Mann, der vor länger als 300 Jahren an derselben Stelle mit seinem Feuergeist die Herzen seiner Möhraer erwärmt und erleuchtet hatte.

Nach der vom Oberhofprediger Ackermann aus Meiningen vor dem Standbilde gehaltenen Festrede mit vielen Reminiscenzen aus Luther’s Leben und nach Beendigung der Schlußgesänge überwies der Vorsitzende des Comité’s das Denkmal der Gemeinde von Möhra und empfahl es deren Schutz, worauf der herzogliche Verwaltungsbeamte zu Salzungen im Namen der Gemeinde die Übernahme dieser Verpflichtung erklärte.

Der Ort hatte einen seinen Kräften angemessenen Festschmuck angelegt. Er ist ein sehr einfaches Dorf, das, wie viele im Werragrunde, seinem Aeußeren nach nicht auf der Culturstufe der meisten Thüringer Dörfer steht. Wir sahen ältere Bauern der Gegend, die trotz der 32 Grad Hitze noch wie ihre Urväter den Pelzbartel auf dem Haupte trugen; auch sah man noch häufig den Dreimaster vertreten. Das Stammhaus der Luther, mit einer kleinen braunen Tafel mit der Aufschrift „Dr.Martin Luther’s Stammhaus“ in Goldschrift gekennzeichnet, ist mit röthlichem Lehm zwischen den Balken ausgefacht ohne allen Anstrich, was sein altehrwürdiges Aussehen allerdings erhöht und ihm den Charakter eines [487] Bauernhauses aus früheren Jahrhunderten läßt. Es wird noch ein anderes Gebäude als Lutherhaus bezeichnet, allein genaue Forschungen haben ergeben, daß das unterhalb der Schule liegende, vor dem das Standbild errichtet ist, als das eigentliche Stammhaus Luthers betrachtet werden muß, das von seinem Vater Hans bewohnt und im Jahre 1656 von Georg Luther an Johannes Uehling vertauscht wurde.

Das Denkmal, für dessen Gründung der verstorbene Dichter Ludwig Bechstein zu Meiningen seit 1846 durch Aufmunterung zu Beiträgen sehr viel gewirkt hat, ist ein Kunstwerk des Bildhauers Müller in der genannten Stadt und des berühmten Erzgießers Burgschmiet in Nürnberg, der leider den Tag der Vollendung und Enthüllung nicht erlebt hat. Figur und Piedestal sind zusammen 18 Fuß hoch, letzteres enthält auf der Vorderseite die Worte: „Unserm Luther in seinem Stammort 1846“; auf der rechten Seite in Relief ist die Anschlagung der Thesen an die Kirche zu Wittenberg, auf der hinteren die Gefangennehmung Luther’s unweit Altenstein, auf der linken der Reformator in seiner Stube auf der Wartburg mit der Bibelübersetzung beschäftigt. Auf den vier Ecken des Piedestals stehen die vier Evangelisten. Luther selbst steht mit dem linken Fuß etwas vorschreitend, mit der linken Hand die ausgeschlagene Bibel an der linken Seite seiner Brust stützend, die Rechte, wie in der Rede begriffen, etwas vorgestreckt.

In seinem Antlitz ist neben der Würde viel Milde, mit der er die versammelte Menge anzusprechen scheint, ausgedrückt. Die Zeichnung der einzelnen Stücke des Ganzen ist trefflich, nur finden wir gerade an diesem Standbild die gewöhnliche monumentale Größe deshalb nicht passend, weil sie dem Raum und den umgebenden kleinen unscheinbaren Gebäuden, dem beschränkten Standort mit einem Wort, nicht entspricht und auf die Umgebung, anstatt erhebend, so zu sagen erdrückend wirkt.

Auf einem freieren Platz, von großen Gebäuden umschlossen, würde das Verhältniß richtig sein, hier aber die natürliche Größe Luther’s deshalb angemessen erscheinen, weil hierdurch ein Ebenmaß zwischen ihm und den Gebäuden herbeigeführt worden wäre, das uns weit lebendiger in die Scene versetzen müßte, wo Luther einst an derselben Stelle vor einer so großen Menge der Bewohner Möhra’s und der Umgegend predigte, daß sie die damals sehr kleine Kirche nicht fassen konnte. Während man sich ihn in Mitten seiner Verwandten als den gelehrten Patriarchen denkt, erscheint er hier als Riese in der übernatürlichen Größe.

In den Herzen Aller, die dieses Fest besuchten, um das sich der kunstsinnige Erbprinz von Meiningen so verdient gemacht hat, wird die Erinnerung an dasselbe gewiß noch lange wach bleiben.

Dr. Polack.




Eberhard im Bart.
Ein deutscher Fürst wie er sein soll.
Von Dr. W. Zimmermann.
(Schluß.)

Im Sinne dieser Gleichheit der Stände sagte Eberhard auch in der Stiftungsurkunde für sein Stift Sanct Peter im Einsiedel im Jahre 1492: „Es sei ihm durch innere Erleuchtung eingefallen, da er in seiner Herrschaft und Regierung dreierlei Stände habe, Geistliche, Adel, Städte und gemein Volk, aus diesen dreien Ständen einen Convent zu errichten. Darin sollen zwölf Canonici, Priester und Kleriker, unter einem Propst oder Vater, sodann vierundzwanzig Laienbrüder unter einem Meister, davon zwölf vom Adel und zwölf aus den Bürgern, zusammen in Gemeinschaft leben. Ihr Name soll sein „St. Petersbrüder“. Alle Brüder, Geistliche und Laien, sollen mit einander freundlich wandeln, als wahre Brüder und Kinder eines himmlischen Vaters, keiner sich über den andern erheben, sondern gedenken, daß sie Alle gleich von einem ersten Vater Adam kommen und in gleicher Weise geboren worden, auch durch eine Pforte des Todes vor das strenge Gericht und Urtheil Gottes kommen müssen, da kein Unterschied sein wird zwischen Edeln und Unedeln, zwischen Pfaffen und Laien, Reichen und Armen.“

Die Regeln, unter welche er dieses Stift St. Peter stellte, war die verbesserte Regel der „Brüder des gemeinschaftlichen Lebens“. Das Gelübde ging dahin, auf weltliche, gelehrte und kirchliche Ehren zu verzichten, das Leben zwischen fromme Uebungen und Studien zu theilen, auf christlich-wissenschaftliche Jugendbildung, auf das Lesen der Schrift in der Volkssprache zu wirken, und den Frieden des eigenen Herzens zu suchen. Die Bibel in deutscher Sprache zu lesen, war eine Hauptvorschrift der Brüder des gemeinschaftlichen Lebens. Er suchte nach dieser Regel sämmtliche Chorherrenstifter seines Landes zu reformiren. Auch die Klöster reformirte er; besonders ist darunter das Augustinerkloster zu Tübingen zu nennen.

Diese Reform des „Augustinerklosters“ ist von doppelter Bedeutung für Deutschland und für die Welt geworden. Durch Eberhard’s Reform reiheten sich auch manche Mönche unter die Studirenden der Universität. Unter diesen Mönchen war Johann Staupitz. Summenhard’s bester Schüler war er bald geworden, darauf Prior des Augustinerklosters zu Tübingen. Das war der Mann, welcher nachher Generalvicar des Augustinerordens, Professor der Theologie an der hauptsächlich unter seinem Rath und seiner Leitung neugegründeten Universität Wittenberg, vertrautester Freund des Kurfürsten von Sachsen, Friedrichs des Weisen, sein Gesandter in wichtigsten Angelegenheiten geworden ist und zugleich der Lehrer des Reformators Luther, derjenige seiner Freunde, dessen sittlicher und geistiger Einfluß auf denselben größer war, als der irgend eines andern. Staupitz war es auch, durch welchen Melanchthon nach Wittenberg berufen wurde. So hat Staupitz auf Eberhard’s neuer Universität sich gebildet, von Eberhard frühe ausgezeichnet und auch oft beigezogen zu dem Gelehrtenkreise, welchen Eberhard, so oft er in Tübingen war, um sich zu versammeln pflegte, traulich darin weilend, nicht als Fürst, sondern als Freund unter Freunden, als einer Ihresgleichen. Alle Etikette war da verbannt, wenn er im Hause seines Kanzlers Naucler beim einfachen Mahle mit diesen seinen Männern der Wissenschaft beisammen saß. Aber auch Melanchthon erhielt seine Hauptbildung zu Tübingen. Denn auch dieser war vom Jahre 1512 an daselbst, zuerst als Student, dann als Lehrer, und von da kam er nach Wittenberg. Eberhard war zwar nicht mehr irdisch, als Melanchthon nach Tübingen kam, aber er ging aus von Eberhard’s Anstalt, und seitdem Viele, deren Licht geleuchtet hat in der Welt. Das Augustinerkloster zu Tübingen, welches Eberhard reformirte, und in welchem Staupitz zuerst Mönch, dann Student, darauf Prior war, ist dasselbe Haus, welches nachher unter dem Namen des Tübinger Stifts weltbekannt geworden ist durch die großen Männer, die daraus hervorgingen, und deren Ruf weit über die Grenzen Deutschlands hinaus drang. Nicht blos Theologen, sondern Männer auf jedem Gebiete des Wissens, Staatsmänner und Diplomaten, Minister an deutschen und ausländischen Höfen, viele Professoren deutscher Hochschulen, Dichter und Künstler und die beiden größten deutschen Philosophen sind aus diesem „Stift“ hervorgegangen.

So war Graf Eberhard einer der Hauptvorbereiter der Reformation. Aber dieser Mann der friedlichen Künste, von welchem sein Volk nach seinem Tode sang:

„Was Eberhard fing an,
Blieb wie Ceder lang bestahn,“

trug eben so gut, wie das Friedenskleid, auch das eiserne Wamms und führte gewaltige Schwertschläge. Der eiserne Fürst und der Ritter war auch sehr nöthig in der Zeit, wo das Recht der Faust so zügellos wieder überhand genommen. Während dieses auf so vielen Punkten Deutschlands hart lastete, zog der Kaufmann nirgends so sicher seine Straße, als im Württemberger Lande und nachher sogar im ganzen Lande Schwaben, als Eberhard oberster Hauptmann des schwäbischen Bundes war. Wie von den leichtfertigen Nonnen und Mönchen, eben so war „der Mann im Bart“ von dem räuberischen Adel Schwabens gefürchtet, und vom Adel der angrenzenden Lande. Er hatte Exempel statuirt; so mild er war, so schrecklich war er in seiner Gerechtigkeit gegen Landfriedensbrecher [488] und Räuber ohne Ansehen der Person. Noch leben in der Erinnerung und Sage des Volkes und in volksthümlichen Dichtungen diese seine Thaten. An mancher Mallstatt am steinernen Tisch saß „der Mann im Bart“, unerwartet erschienen, zum Schrecken der Vorgeladenen, die einen anderen Vorsitzer erwartet hatten, und oft ließ er improvisirte Gerichtsschranken ziehen; überwiesene Landfriedensbrecher kamen niemals mehr weit von dieser Stätte; er sorgte dafür, daß sie dem Lande und Volke nicht mehr schadeten. Keine Fürbitte ihrer vornehmen Angehörigen vermochte jemals in solchem Fall das Herz dieses sonst so milden Menschen zu rühren. Andere Richter und Fürsten fürchteten den Haß und die Rache der Verwandten und Verbündeten solcher Landfriedensbrecher, und die Gerechtigkeit drückte oft ein Auge zu; der Graf im Bart kannte keine Furcht und keine Rücksicht, als die auf Gott, das Gesetz und das Volk, dessen Schirm zu sein, sein Amt war. Oft suchte er mit einer auserlesenen Schaar seiner Tapfersten die adeligen Wegelagerer auf und überfiel sie in ihren Schlupfwinkeln; oft zog er ganz allein durchs Land und trat plötzlich im Wald unter gelagerte Haufen solcher schädlichen Leute, ohne daß einer ihn antastete. Es war die niederwerfende Macht seiner Persönlichkeit und seines Charakters, jene Macht, welche so geheimnißvoll und unwiderstehlich auf die Masse der Menschen wirkt.

In jener Zeit, in welcher die Vaterlandsliebe unter den Deutschen, unter Groß und Klein, so sehr krankte, der Gemeingeist schwand, und besonders die Fürsten, aber auch die Städte des Reichs nur für sich selbst sein wollten und nur das Ihre suchten, da leuchtete der Graf im Bart als ein Vorbild eines echten Fürsten des Reiches, und der Kaiser hatte an ihm in allen großen Vaterlandsfragen einen Halt und Sprecher auf den Reichsversammlungen und auf den Fürsten- und Städtetagen. „Ein deutscher Fürst,“ pflegte Eberhard zu sagen, „hat zwei Pflichten, die erste, daß er sich an seinen Kaiser und die Reichsstände halte, und mit ihnen den gemeinen Nutzen des Vaterlandes befördern helfe; die zweite, daß er für seiner Unterthanen Wohlfahrt sorgfältig sei.“

Die Berichte aller deutschen Zeitgenossen rühmen einstimmig seine Einwirkungen in die allgemeinen deutschen Angelegenheiten. Er war berufen und that das Seine, das verwirrte Reich zum Frieden, zu einer festeren Verfassung bringen zu helfen, er war die Seele der Einigungen und Bündnisse der Zeit. Nie blieb er aus, wenn der Kaiser zur Heeresfolge rief, und erhielt mehr als einmal des Kaisers besonderen Dank für seine Bereitheit zur Reichshülfe, gegen den Burgunder, nach Italien, gegen die Ungarn und Türken. Er war einer der ersten Fürsten, der in den schwäbischen Bund trat und mit Nachdruck für denselben thätig war, jenen Bund, der so viel that für Frieden und Ordnung im Reiche. Des Grafen Beitrittsurkunde wurde zum Grunde gelegt bei den andern Fürsten, welche noch hinzu kamen. Er war der Erste, der dem Könige Maximilian eine treffliche Zahl Hülfsvölker in die Niederlande führte und die oberdeutschen Städte nach sich zog; er berieth mit ihnen zu Ulm diese Sache. Er hatte das gleiche Vertrauen des Königs, des Erzkanzlers und der Reichsstände. Er bewirkte die Verlängerung des schwäbischen Bundes. Er war der gewählte oberste Feldhauptmann desselben. Wie viel er darin that, dafür zeugte am lautesten, daß die Bundessachen stockten, als sein persönlicher Einfluß aufhörte durch seinen frühen Tod. Kaiser Maximilian sandte ihm das goldene Vließ und den Antrag, ihn zum Herzog zu machen, ihn und seine Nachfolger.

Da nahm der Graf erst nach längerem Bedenken und Unterhandeln die Herzogswürde an, unter der ausdrücklichen, vom Kaiser zugestandenen Bedingung, „daß seinem Land und dessen drei Ständen ihre verfassungsmäßigen Rechte auf’s Neue und für alle künftigen Zeiten gewährleistet und gesichert werden.“ So sollte nach dieses Fürsten Willen sein geliebtes Württemberg im Falle des Aussterbens des Mannsstammes, der damals nur auf wenigen Augen ruhte, als Freistaat, vom Geiste der Verfassung, die er feststellte, belebt, ein ungehemmtes und unbelastetes Dasein haben, unmittelbar unter dem Kaiser.

So ausgezeichnet und fruchtbar Eberhard’s Thätigkeit für die Verbesserung und Befestigung des deutschen Reiches war, und so schön seine Liebe zum gemeinsamen deutschen Vaterland hervorleuchtete: so thätig und so voll Liebe war er für sein Heimathland Württemberg. Die Lust seines Lebens war Thätigkeit für das Wohl des Volkes, und wie von den größten Fürsten mächtigster Reiche das so oft mit Uebertreibung gerühmt wird, war er in seinem Lande Tag und Nacht in Arbeit, ohne daß das eine Uebertreibung des Lobes wäre. Bis zu dem Geringsten im Haushalt seines Landes und seinen Hofes umfaßte seine unermüdete Thätigkeit Alles von den wichtigsten Regierungssachen an. Einfachst war er in seiner Lebensweise, manchem verwöhnten Adeligen und Bürgerlichen oft ärgerlich sparsam; er war es, um viel thun und geben zu können für das Beste von Land und Volk, für seine neuen Anstalten und Einrichtungen, ohne dadurch Land und Volk zu belasten. So viel er Neues schuf im Lande, so zahlte doch das Volk unter ihm weniger als unter seinen Vorfahren und Nachfolgern. Das unter ihm zu einem Ganzen vereinigte Württemberg hatte weniger zu steuern, als vor ihm jeder einzelne Theil des in zwei Hälften getheilten Landes. Die Mittel dazu waren die höchste Einfachheit in seinem eigenen Haushalt und die durch ihn erst hervorgerufene Entwickelung mancher zuvor unbenutzter innerer Hülfsquellen des Landes, aber auch der Ruhm seiner Persönlichkeit im Reiche.

Es ist bös in der Geschichtschreibung, daß man gewöhnlich Alles, was zur Zeit der Regierung eines Fürsten, aber durch Andere Gutes geschieht, auf den Fürsten selbst zurückführt und nur seinen Namen dafür nennt, als hätte er es gethan, ja gar allein gethan, und daß man das Böse nur seinen Räthen zuschreibt und diese dafür nennt. Der Graf im Bart ist einer der Wenigen, von welchen erweislich ist, daß das Gute, welches unter ihm geschah, entweder zuerst und allein von ihm ausging, oder durch ihn geschah, wenn der Gedanke von einem seiner Räthe kam, wenigstens so durch ihn geschah, daß er thätig dabei mitwirkte, und daß er gerade diese Räthe sich aussuchte, und ihren Rath nicht bloß verlangte, sondern auch unverlangt, selbst dann und da, wo es ihm unbequem oder unangenehm war, ihn hörte, sich ihm fügte, sich unter ihn beugte. Das geschah urkundlich mehr als einmal. Der edle Mensch und die Liebe zu Volk und Vaterland waren größer in diesem Fürsten als sein Selbstgefühl, als die Vorstellung von seiner Fürstenwürde; größer die Ehrfurcht vor der Wahrheit, vor der Freimüthigkeit einsichtsvoller, erfahrener Männer, als der Glaube an seine eigene Einsicht und Ansicht. Niemand war weiter entfernt als er, an eine Art besonderer Erleuchtung der Geburt und des Thrones zu glauben.

Während die Fürsten um ihn her nach Unumschränktheit trachteten und dafür arbeiteten, arbeitete der Graf im Bart an der Freiheit seines Volkes und an der Beschränkung der Fürstenmacht. Sein eigenes Beispiel in der Jugend, und was er täglich an seinen zwei Vettern vor Augen sah, machte es ihm zur unerschütterlichen Ueberzeugung, daß Unumschränktheit heillos sei für Fürst und Volk, und brachte ihn zu dem Entschluß, „der Willkür feste Riegel vorzuschieben“, und sein Volk „dagegen und gegen die Verschwendung seiner Nachfolger zu schützen.“

Seine zwei Kinder waren ihm frühe gestorben. Als seine Nachfolger waren seine zwei Vettern in Aussicht, Graf Eberhard der jüngere und dessen Bruder Heinrich. Dem Letztern hatte er die überrheinischen Herrschaften des Württembergischen Hauses in Verwaltung gegeben. Der hauste in der Grafschaft Mömpelgard so, daß der Graf im Bart ihm erklärte, er habe nicht zur Regierung eines Dorfes, geschweige eines Landes sich tüchtig gezeigt.

Als seine Frevel und tollen Streiche sich mehrten, seine früher nur zeitweise Geistesabwesenheit in völlige Geisteszerrüttung zum Verderben von Land und Leuten überging: da, um den Namen und das Wohl Württembergs zu wahren, rief der Graf im Bart ihn nach Stuttgart und ließ ihn, als er ihn so sah, wie er war, in einen Ring geschlossen, auf die Feste Hohenurach gefangen führen. Eigenhändig, mit Hammer und Beißzange, zerschlug der Graf im Bart in Gegenwart der Ehefrau und seiner zwei Kinder, worunter der nachmalige Herzog Ulrich, das silberne Siegel des Geisteszerrütteten, damit derselbe nichts mehr rechtskräftig verfügen, dem Volke nicht mehr schaden könne.

Dieses Unglücklichen älterer Bruder war von der Narrheit der Verschwendung besessen und in einem wüsten Leben an Leib und Seele verkommen. Und der sollte der Nachfolger des Grafen im Bart werden. Gegen den, gegen seine und seiner Gesellen Willkür, hatte der Graf im Bart frühzeitig eine Schutzmauer aufgerichtet. Durch Vertrag, den der Kaiser bestätigte, hatte er eine Regimentsordnung gemacht, wie es nach seinem Tode gehalten sein solle. Dieser leichtfertige Vetter sollte nur unter der Bedingung zur Regierung kommen, daß er einen Landhofmeister und einen Ausschuß von Zwölfen aus den drei Ständen, aus Adel, Prälaten [489] und Bürgerschaft, als Mitregenten zur Seite habe, Männer, von dem Grafen im Bart persönlich und namentlich als die Würdigsten bezeichnet. Das Volk und des Volkes Wohl ist es, worauf es ankommt, nicht der Fürst, sagte der Graf im Bart damit. In dem gleichen Geiste hatte er schon früher die Mündigkeit des Landesfürsten auf achtzehn, später sogar auf zwanzig Jahre hinaufgerückt. Er wußte, was durch Jahre Unmündige einem Lande schaden konnten; aber er wußte auch, daß es lebenslang Unmündige gebe. Er hatte ja seine Vettern vor Augen. Darum setzte er dem jüngern Eberhard für den Fall, daß er zur Regierung käme, den Regimentsrath als Vormundschaft. Sollte auch dieser, der so untauglich zur Regierung sich zeigte, dennoch zur Regierung kommen, so sollte er sein Lebenlang nicht eigentlich regieren, sondern in Wahrheit und Wirklichkeit der Regimentsrath, die edelsten und erfahrensten Männer des Landes, auf Grund der von Eberhard im Bart gemachten Regimentsordnung und in Uebereinstimmung mit der Landschaft zusammengesetzt aus den Ständen des Landes.

Begabt, wie wenige Fürsten, zur Selbstherrschaft in unumschränkter Form, hat Eberhard im Bart selbst die ständische Vertretung belebt und gefördert. Kein Kaiser, kein Fürstencongreß, kein zuvor in der Noth gegebenes Fürstenwort, das er einzulösen gehabt hätte, hat ihn dazu bestimmt; auch nicht das gereifte Bewußtsein, das Verlangen oder Drängen seines Volkes, wie das anderswo der Fall war, in späterer Zeit und an anderem Ort. Geliebt und geehrt im Reiche, genoß der Graf im Bart eine unbegrenzte Liebe seines eigenen Volkes. „Wenn Gott nicht Herrgott wäre, so müßte unser Eberhard Herrgott sein!“ sagten die Württemberger.

Das, um was neuerdings so oft Minister im falsch verstandenen Interesse ihrer Fürsten mit den Ständen sich streiten, und was so oft als etwas, das der Fürstenwürde entgegen sei, dargestellt werden will, das hat ein württembergischer Fürst, der Graf im Bart, ohne irgend einen Anlaß von seinem Volk aus, aus eigenen freien Stücken, aus Tag und Nacht für sein Volk sinnender und thätiger Liebe, seinem Lande gegeben, und zwar nicht blos als ein Recht, sondern als eine heilige Pflicht des Volkes. Das ist das Recht der Steuerverwilligung durch die ständische Vertretung; nicht im metternich’schen Sinne einer die alten Verfassungen fälschenden Politik, sondern im wahren Sinne des Worts. Als Recht wie als Pflicht war es ausdrücklich ausgesprochen, dem das Testament des Grafen im Bart, seine Regimentsordnung und Verfassung, nicht einhaltenden Nachfolger – die Steuern zu verweigern. Das hat der Graf im Bart als heiliges Vermächtniß seinem Volke, und den deutschen Fürsten und Völkern zur Nachahmung hinterlassen. Das ist das sogenannte „Eberhardinische Testament“, die Grundlage der heutigen württembergischen Verfassung.

Sein ganzes Dichten und Trachten ging dahin, das Volk gegen jede Willkür, gegen jeden Gewaltmißbrauch des Regierenden zu sichern. Das ständische Recht der Selbstbesteuerung ist zwar ein altes gewesen in den vorderösterreichischen und württembergischen Landen, und kommt urkundlich als solches schon auf dem Landtage von 1464 vor. Aber es schlief wieder ein, und der Graf im Bart erst stellte es nicht nur wieder her, sondern durch einen geschriebenen Verfassungsartikel für alle Zeiten fest. So saßen von da an Ritterschaft, Prälaten und Landschaft, d. h. aus jeder Stadt einer vom Gericht und einer von der Gemeinde, auf den Landtagen zusammen, „um in den Sachen zu rathen und zu thun, als sich gebühren würde.“ Er gab Württemberg die erste vertragsmäßige Grundverfassung, und selbst in den Regimentsrath setzte er vier Bürger neben vier Ritterschaftliche und vier Geistliche. In allen diesen Anordnungen spricht sich, wie die Liebe zum Bürgerstand, so die Einsicht aus, daß der Bürgerstand jetzt in den Vordergrund zu treten habe, und die Theilnahme des Volkes an den öffentlichen Angelegenheiten das Zeitgemäße sei; drei Jahrhunderte voraus begriff der Graf im Bart die Bedeutung des „dritten Standes“, und zog ihn selbst in die Berathung und in die Beschlußnahme über die Staatsverwaltung.

So war der Reichstag von Worms gekommen im Jahre 1495, auf welchem der Kaiser ihm zum Danke erklärte, daß er Willens sei, ihm die herzogliche Würde zu verleihen. Der Kaiser willigte in alle Bedingungen Eberhard’s, wodurch er dem Volke Württembergs seine eigenen Gesetze, seine eigenen Rechte und Freiheiten gegen jede Willkür, gegen jeden Wechsel zu wahren suchte.

Ob Eberhard auf der Grafen- oder der Herzogsbank saß, sein Geist, seine Beredsamkeit, seine Rechtlichkeit hatten unter allen Fürsten des Reichs ein Uebergewicht; und als auf eben diesem Reichstage zu Worms, statt um die Sache, um die Herstellung des inneren Rechtszustands im Reiche, sie vielmehr um Sitz, Titel und Rang sich stritten, da erklärte Eberhard geradezu: „ihm sei es nicht um die Ehre des Sitzes, sondern nur um den Nutzen der Berathungen zu thun, und er wolle gerne hinter dem Ofen sitzen, wenn nur die Sache, über die man sitze, zu Stande komme.

Auf diesen Reichstage war es auch, wo jenes Wort Eberhards fiel, das von Dichtern besungen ist und im Munde des Volkes lebt. An einem Abende luden die Herzoge von Sachsen dem neuen Herzoge zu Ehren, wie der Kaiser es ihm zuvor gethan, die Fürsten des Reiches zu einem Mahle. Die Vorzüge der verschiedenen deutschen Länder kamen zur Sprache. Die von Sachsen rühmten ihre reichen Silberbergwerke, der Pfalzgraf am Rhein seine köstlichen Weine und Früchte, die von Baiern ihre schönen Städte. Eberhard im Bart, der neue Herzog, hörte ihnen zu und schwieg. „Nun,“ sprach Herzog Albert von Sachsen, „warum lassen wir den Herzog von Württemberg nicht auch von seinem Lande reden?“ – Es mochten die Fürsten sich wohl etwas fühlen, daß sie Herzoge von großen und reichen Landen waren, dem Mann im Barte gegenüber, der trotz seines kleinen Landes soeben Herzog wie sie geworden war und mehr als sie galt beim Kaiser und im Reiche. – „Ich kann,“ antwortete der Herzog im Bart bescheiden, „mein Land nicht groß herfürziehen, denn ich habe ein geringer Land als Euer Liebden alle; aber Eines gleichwohl, dünkt mich, mag ich rühmen: wohin ich komme in meiner Herrschaft, wenn ich mich etwa verritten hätte, im Feld oder im dicksten Wald, ganz allein, und wäre müde, so dürfte ich ganz ohne alle Furcht und Sorge einem Jeglichen meiner Unterthanen, möcht’ ich treffen, wen ich wollte, das Haupt in den Schooß legen und sicher schlafen.“ Alle Fürsten umher gestanden, daß er bessere Schätze und Güter habe als sie. „Herzog im Bart, Ihr seid der Reichste!“ hat der Dichter einem der Fürsten in den Mund gelegt.

Fünf Monate dauerte der Reichstag zu Worms, sieben Monate Eberhard’s Herzogswürde. Heimgekehrt zur Freude seines Volkes, fing er an zu kränkeln. Er erkannte das Ziel seines Wirkens. In den letzten Tagen des Februars 1496 versammelte er seine vornehmsten Räthe im Schlosse zu Tübingen um sich und legte ihnen in feierlicher Rede ihre Pflichten gegen das Vaterland an’s Herz. Die Herzogin tröstete er mit liebreichen Worten. In tiefer Rührung standen die Räthe umher. Kurz zuvor noch hatte er die wohlthätigsten Anordnungen für die Armen im Lande eingeführt. Drei Tage lang lag er in schwerem Kampf, er vermochte nicht zu reden. Auf einmal erhob er sich, saß ganz aufrecht im Bette zu Aller Verwunderung und sprach deutlich, daß es Alle hören konnten: „Gott, Schöpfer Himmels und der Erden, ich bitte Dich, Du wollest mir zu erkennen geben, wenn ich einmal einem meiner Unterthanen wider Recht gethan habe und überlästig gewesen bin, damit solches ihm von meinem Hab und Gut wiederum erstattet werde; oder wenn solches auch nicht genug ist, so hast hier meinen Leib, barmherziger Gott, züchtige ihn immerfort und schone dort der Seele!“

Laut seines letzten Willens wurde von allen Kanzeln des Landes verkündet, daß, falls er Jemand durch unziemliche Reden an der Ehre gekränkt oder erzürnt oder an Leib und Gut beschädigt hätte, diese Personen ihm um Gotteswillen verzeihen wollen, und daß er es seinen Erben auf das Gewissen gebunden habe, jeden Schaden zu ersetzen. Ebenso nach seinem letzten Willen wurde er still und einfach, ohne allen Prunk, begraben in der Kirche zu St. Peter im Einsiedel, seinem Lieblingsort; eingekleidet in die blaue Kutte der Brüder des gemeinsamen Lebens, in der Mitte des Laienbrüderchors. Da ruhte er vierzig Jahre, bis das Stift abbrannte, wo dann sein Sarg nach Tübingen in den Chor der dasigen Stiftskirche gebracht wurde. Ein einfacher Stein bezeichnete in St. Peter sein Grab, nichts darauf, als sein Name, sein Geburts- und Todestag. Die Besten im deutschen Reiche trauerten um ihn.

Nach drei Jahren wallete Kaiser Max zu seinem Grabe in St. Peter im Schönbuch. Als er auf dem einfachen Stein stand, sprach er zu den Umstehenden: „Hier liegt ein Fürst, weise und tugendhaft wie keiner im Reich. Sein Rath hat mir oft genützt.“

Der Kaiser kam herüber von Rottenburg am Neckar und von [490] Reutlingen, des Reiches Stadt. Hier hatte er den Nachfolger Eberhard’s im Bart, Eberhard den Jüngern, durch Kaiserspruch für immer des Landes Württemberg entsetzt und Alles bestätigt, was die württembergischen Stände gethan hatten. Diese hatten nach zwei Jahren schon ihrem zweiten Herzog, auf Grund des Eberhardinischen Testaments, den Gehorsam aufgekündigt, weil er den Vertrag gröblich und vielfach gebrochen hatte, unter welchem ihm allein gehuldigt worden war, und welchen der erste Herzog, Eberhard im Bart, aufgerichtet hatte als Schutzmauer für die Freiheit und das Wohl seines Volkes gegen Willkür und Tyrannei.

Im Schloßhof zu Stuttgart steht seit einem Jahre das eherne Standbild Eberhard’s, von König Wilhelm gesetzt.




Pariser Bilder und Geschichten.

Von Sigmund Kolisch.
Plaudereien aus den Salons.
Die Macht der Pariser Salons – Scene vor dem Staatsstreich – Frömmigkeit in den Salons – Louis Veuillot und Graf Montalembert – Die Feder eines Bischofs – Lamartine – Die Generäle Türr und Bixio – Aus den Erzählungen Türr’s – Bixio ein zweiter Scävola – Unglaubliche Anmaßung.

Man weiß überall, daß der Salon in Paris eine große Rolle spielt, aber man kann sich im Auslande nur schwer eine Vorstellung davon machen, welchen mächtigen Einfluß derselbe auf alle Verhältnisse des Lebens ausübt. Der Pariser Salon ist ein Markt, wo man verkauft, kauft und eintauscht, wo man gewinnt und verliert; dann ist er ein Capitol, wo man Kränze des Ruhmes verleiht. Bald ist er ein Forum, wo man über Staatsangelegenheiten entscheidet, bald eine Arena, wo Wettkämpfe abgehalten werden, wo Schönheit mit Schönheit, Fähigkeit mit Fähigkeit, Reichthum mit Reichthum ringen. Selten ist er blos Schauplatz des Vergnügens und des geselligen Verkehrs, noch seltener der Zufluchtsort eines freundschaftlich innigen Zusammenlebens, eines unbefangenen, heitern Gedankenaustausches.

Der Sohn des Philipp Egalité wäre schwerlich im Jahre 1830 auf den Thron von Frankreich gelangt, wenn er in seinem Salon nicht die Herren Casimir Perier, Laffitte und namentlich den alten Herrn von Lafayette empfangen hätte, der es nach den Julitagen wagen durfte, der Menge vom Stadthause die denkwürdige Albernheit zuzurufen: „Der Herzog von Orleans ist die beste Republik!“ Durch eine gefällige Conversation und einige glückliche Bons-mots hat der schlaue Herzog eine Krone gewonnen. Wörtlich genommen hat der Herzog von Aumale Recht, wenn er in seinem Schreiben an den Prinzen Napoleon erklärt, daß sein Vater nicht conspirirt hat. Derselbe hielt allerdings keine geheimen Zusammenkünfte, wie etwa Ludwig Napoleon mit Parteiführern, er zettelte keine Aufstände an, er verführte keine Soldaten, er unternahm keine tollen Streiche, wie die von Straßburg und Boulogne, er hat sich überhaupt nie und zu Niemand bestimmt ausgesprochen, dazu war der kluge Mann zu ängstlich und zu vorsichtig; allein er lächelte in seinem Salon diesem Banquier oder jenem General zu und durch dieses Lächeln ließ er errathen, wozu er gegebenen Falles zu bewegen wäre; Blicke und Mienen, aber niemals Worte, sprachen seine Wünsche und Hoffnungen aus. Er wurde von seinen Freunden verstanden, die aus dem Salon des Palais Royal die stillen Eingebungen mitnahmen, nach denen sie handelten, als der Julisturm losbrach.

Als der Staatsstreich vorbereitet und das Nöthige zur Gründung der napoleonischen Herrschaft eingeleitet wurde, fand eine Berathung im Elysée statt; es handelte sich darum, die Listen derjenigen Personen zu fertigen, die aus dem Lande entfernt werden müßten, um den Sieg der Gewalt über Recht und Gesetz zu sichern. Die Vertrauten und Helfershelfer, denen bei dem bevorstehenden Drama wichtige Rollen zugetheilt wurden, waren gegenwärtig, die Generale St. Arnaud und Canrobert, Oberst Espinasse, der Polizeipräfect Maupas, Herr v. Morny und Andere. Die Namen aller derjenigen, welche irgend einen Einfluß, sei es nun auf die Truppen, sei es auf die Arbeiter, üben konnten, wurden vorgeschlagen und ohne Widerrede behufs der Verhaftung aufgezeichnet. Als aber der Name Thiers ausgesprochen wurde, zeigte sich der Präsident der französischen Republik erstaunt.

„Thiers?“ rief er erstaunt aus.

„Es ist nothwendig,“ versicherte mit Nachdruck der Polizeipräfect.

„Er schreibt die Geschichte des ersten Kaiserreichs und schwärmt für meinen Onkel!“ bemerkte der Präsident.

„Er ist deshalb nicht minder dem zweiten Kaiserreich entgegen und Ihr entschiedener Widersacher, Prinz,“ entgegnete unerschüttert der Präfect.

„Was kann der Mann uns schaden, den die Soldaten höchstens dem Namen nach kennen und der unter den Arbeitern unpopulär ist?“

„Aber in den Salons ist Herr Thiers bekannt und populär. Wenn er da erzählt, hört alle Welt zu, und wenn er einen Witz macht, lacht alle Welt. Erzählung und Witz gehen dann weiter von Haus zu Haus, sodaß ganz Paris über ein Wort von Herrn Thiers lacht. Meine Leute, welche in die Salons Zutritt haben, wo Herr Thiers sein Wesen treibt, berichten einstimmig, mit welcher Rücksichtslosigkeit er sich über Sie, über uns Alle ausläßt.“

Der Präsident schwieg.

„Wenn sein Bleiben nicht schadet, so schadet sein Gehen noch weniger,“ meinte der General St. Arnaud.

„Lassen Sie ihn reisen, Prinz,“ sagte Herr v. Morny.

Und der Name des Herrn Thiers wurde auf die Liste gesetzt.

Die Salons des Faubourg St. Germain bieten seit Kurzem Scenen von tragikomischer Wirkung dar, in welchen sich ein Stück Zeitgeschichte abspiegelt, die man ergötzlich nennen könnte, wenn sie nicht gar so trostlos wäre. Die Abkömmlinge der unzüchtigen Marquis und Marquisinnen des vorigen Jahrhunderts haben sich aus Verzweiflung nicht dem Trunk, sondern der Frömmigkeit ergeben, nachdem die Julibewegung sie gezwungen hat, Rechte und Pflichten mit anderen Erdenkindern zu theilen und vor denselben nichts voraus zu haben, als einen Titel, der nichts mehr gilt. Zu stolz und dumm, um sich mit dem Nothwendigen abzufinden, unbrauchbar für die neue Welt und das neue Leben, bleibt ihnen viel Zeit sich mit ihrem Seelenheil zu befassen. Die irdischen Dinge gingen für sie so schlecht, daß sie sich dem Himmel zuwandten, nach Art herabgekommener Wüstlinge und verblühter Frauen, die ein stürmisches Leben hinter sich haben. Der italienische Krieg steigerte die Frömmigkeit der um ihre verlorenen Vorrechte Trauernden zum Fanatismus. Krampfhaft klammern sie sich an das Papstthum, nicht etwa um ihm zu dienen, sondern um sich durch diesen Anker im Sturme vom gänzlichen Schiffbruch zu retten.

Mit einem Male sah man einen Plebejer der ungeschliffensten Art in den ausschließlichsten Salons von Paris nicht nur aufgenommen, sondern gefeiert. Der journalistische Klopffechter Louis Veuillot, der die Gegner der von ihm vertretenen Ansicht beschimpft, statt sie zu widerlegen, der Unrath als Waffe gebraucht, dem eben so die Anmuth des Umgangs, wie die Aufrichtigkeit der Ueberzeugung, dem eben so die Würde im Leben, wie in seinem literarischen Wirken fehlt, wurde von zarten Frauen, die ihre Ahnen bis zu den Kreuzzügen hinan und weiter verfolgten können, in den lichten Räumen, die sonst kein „Ungeborener“ durch seine Gegenwart entweihen durfte, mit Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten überhäuft. Sie nannten ihn einen „großen Mann“ und citirten Stellen aus seinen Artikeln im Univers, durch die er den Raub des Knaben Mortara und die Inquisition und andere ähnliche Vortrefflichkeiten vertheidigte und die von Ungebührlichkeiten aller Art wimmeln.

Nach Louis Veuillot kam der Graf Montalembert an die Reihe, mit dem der Faubourg jenseits der Seine früher geschmollt hat, weil er zuerst liberale und dann bonapartistische Anwandlungen zeigte. Er erhielt förmlich Absolution, und von schönen Augen und süßen Stimmen wurde ihm für die „Rückkehr zu den Seinen“, für die Bekehrung zum alten Glauben an die Allmacht des Papstthums gedankt. „Ein großer Geist giebt seinen [491] Irrthum auf und wird dadurch nur größer,“ sagte die Herzogin L… dem ehemaligen Genossen des Abbé Lamennais. Der Graf erröthete, und Einer der Umstehenden, der die Taktlosigkeit der Anspielung fühlte, lenkte das Gespräch mit der Gewandtheit eines Weltmannes auf einen anderen Gegenstand. Die ganze Gesellschaft war bemüht, durch das zuvorkommendste Benehmen den Fehler der schönen Herzogin gut zu machen.

Was werden die Hirtenbriefe der Prälaten gegen Napoleon und Cavour, gegen Victor Emanuel und Garibaldi in den Salons des Faubourg St. Germain gelesen, ausgelegt und bewundert! Der Eine zeigt die gelungene Photographie des Bischofs von Orleans und der von Cambray over Tours, welche von Hand zu Hand geht. Der Andere zeigt die Antwort, welche er von einem dieser eifrigen Vertreter der Kirche auf seine glückwünschende Zuschrift erhalten hat. Die wohlgeschulte Gesellschaft bemeistert kaum die Ungeduld, mit der Jeder des geehrten Blattes habhaft zu werden sucht.

In dem Salon des Grafen M… zeigt die Hausfrau ihren Gästen eine Feder. Man fragt, was es mit dem Ding für eine Bedeutung habe, und die Gräfin erklärt, daß sie sich in einem Briefe an den ehrwürdigen Bischof von Poitiers gewendet habe, um sich von ihm die Feder zu erbitten, mit welcher er den denkwürdigen Hirtenbrief geschrieben, der den Kaiser Napoleon mit Pontius Pilatus verglich, der sich die Hände wusch, nachdem Christus gekreuzigt worden war. Mit dem lebhaftesten Beifall empfing die Versammlung die Erklärung der Gräfin, man lobte ihren glücklichen Einfall, sich in den Besitz eines so kostbaren Gegenstandes zu bringen. Jeder will die Feder in der Nähe besehen, und die Fanatischesten küssen sie wie eine heilige Reliquie.

Die Werbungen und Sammlungen für die Armee und den Schatz des heiligen Vaters beschäftigten auf’s lebhafteste die gedachten Pariser Salons. Die jungen Leute aus den vornehmsten Familien wurden zu dem neuen Kreuzzuge gegen die Ungläubigen angefeuert, und die frommen Rekruten, welche sich in Paris befanden, wurden im voraus für künftige Thaten durch die wärmste Anerkennung und durch Auszeichnungen aller Art belohnt; man verkündete sie als Helden, bevor sie noch einen Feind gesehen, bevor sie einen Schuß gehört.

Nach der Niederlage der Päpstlichen bei Castelfidardo, nach der Einnahme von Ancona herrschte tiefe Trauer in den Salons des Faubourg St. Germain, und doch fuhr man fort im Interesse der Partei zu wirken, und da es keine Siege zu besingen gab, besang man Niederlagen. Die Frauen sammelten zum Ankauf eines Ehrendegens für Lamoricière, und die zurückkehrenden Freiwilligen, gleichviel ob sie Stand gehalten hatten oder davon gelaufen waren, wurden mit offenen Armen und als ruhmreiche Märtyrer begrüßt und behandelt. Der ehemalige Kriegsminister der französischen Republik wurde für die Schmähungen, die er von Freunden und Feinden erfuhr, für das Gelächter, welches er im Lande erregte, für das Unglück, das ihn betroffen hatte, durch unbegrenzte Huldigungen in den Salons schadlos gehalten. Ob sich der General durch diese Huldigungen für die Verluste, die er erlitten hat, getröstet fühlt, weiß er allein.

Vor ungefähr drei Monaten war in dem Salon des Marquis C. eine so zahlreiche und glänzende Gesellschaft beisammen, wie man sie nur bei den außerordentlichsten Gelegenheiten findet, und wie sich selbst, als der General Lamoricière von seinen italienischen Niederlagen zurückkehrend empfangen wurde, nicht darstellte. Und in den hell erleuchteten Räumen, wo sich sonst Alles gemessen innerhalb vorgezeichneter Formen bewegt, machte sich eine gewisse Aufregung fühlbar; dort und da fielen die Bemerkungen: „Er wird wohl spät kommen.“ „Es ist elf Uhr vorüber, wenn er nur nicht verhindert wird.“ „Er hat dem Marquis auf’s Bestimmteste zugesagt.“ „Er ist seit zwei Tagen in Paris und begreiflicher Weise von Personen und Geschäften vielfach in Anspruch genommen.“ Der Hausherr wurde fortwährend mit Fragen bestürmt, die sich ebenfalls auf den mit Ungeduld Erwarteten bezogen. Endlich meldete ein Diener: „Herr v. Lamartine“, und ein Geräusch der Befriedigung ließ sich im ganzen Saale vernehmen. Der Mann, den das Schicksal mit den großen Gütern des Lebens, mit Ruhm und Reichthum bedacht und der beide verzettelt hat, trat in den Saal, ein Greis mit grauen Haaren vor der Zeit, durch selbstverschuldeten Kummer, durch selbstverschuldeten Jammer gebeugt, mit einem verloschenen Blick, mit zahllosen Runzeln auf Stirn und Wangen. Viele von den anwesenden Frauen, die den Dichter in seiner Jugend gekannt, da sein blaues Auge von Begeisterung glühte, da die edle, hohe Gestalt die Blicke anzog und fesselte, „da blond sein Haar und frisch sein Sinn noch war“, mochten sich tief erschüttert fühlen von dieser schauerlichen Umwandlung, die ihnen an dem Dichter der Méditations entgegentrat.

Alle Welt, Jung und Alt drängte sich an Herrn Lamartine, um ihn zu begrüßen, um ihm die schmeichelhaftesten Dinge zu sagen, um ihn glauben zu machen, daß die Kränze, welche sein jugendliches Haupt geschmückt haben, noch grün und nicht längst verwelkt und zerrissen seien. Wenn er sprach, wurde mit Andacht zugehört, und was er sagte, wie die tiefste Weisheit hingenommen; zu jeder oberflächlichen Bemerkung nickten die Häupter zustimmend, als ob der Poet etwas Unerforschliches erklärt hätte. Der Abend war für ihn ein Triumph, aber freilich in einem äußerst beschränkten Kreise, der nichts, gar nichts mehr zu bieten hat, als diese vorübergehende unfruchtbare Genugthuung. Die Welt, in der hier plötzlich Herr von Lamartine erschien, ist eine Art Schattenwelt, wie sie die Alten schildern, wo man, vom Leben abgeschieden, ein zweckloses Dasein fortschleppt. Herrn von Lamartine haben sich die Thüren der adeligen Salons verschlossen, als er die „Girondisten“ veröffentlichte, in welchen er Robespierre begnadigt hat, Grundsätze aussprach und vertrat, die ihn zum Mitglied der provisorischen Regierung im Jahre 1848 erhoben, als Frankreich eine Republik wurde. Selbst durch die Erklärung, daß sein Herz legitimistisch, sein Kopf aber republikanisch sei, konnte er den grollenden Faubourg nicht versöhnen, der für seine verlorene Sache nicht nur die Gefühle, sondern auch die Gedanken seiner Anhänger in Anspruch nimmt. Die Verzeihung der Sünden früherer Jahre aber hat das ehemalige Mitglied der provisorischen Regierung mit dem republikanischen Kopfe dadurch erwirkt, daß er in seinen Cours littéraires der italienischen Unabhängigkeit entgegen trat und sich mit dem Vatican und der Wiener Hofburg verband. Durch diese Abtrünnigkeit hat er sich der Aufnahme in die Welt der Abgeschiedenen würdig gemacht und es verdient, daß er von Monseigneur Dupanloup in der Schrift gegen Victor Emanuel, Cavour und Garibaldi citirt wurde. Armer Lamartine! Wer hätte gedacht, daß der Mann, welcher so vielverheißend aufgetreten ist, so schlimm enden würde!

Von einem besonderen Interesse war es mir, zwei Männer im Salon zu sehen, die durch kriegerische Großthaten einen europäischen Ruf erlangt haben, und deren Namen mit der Befreiung Italiens und mit den Heldenunternehmungen Garibaldi’s auf’s Engste verflochten sind. Diese Männer sind die Generäle Türr und Bixio. Ich sah sie beide, obgleich zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen, im Salon des Herrn Szarvady, wo künstlerische Elemente die vorherrschenden sind, wo classische Musik die Hauptrolle spielt und eine eben so gewählte als für Kunst empfängliche Gesellschaft anzieht. Frau Szarvady ist in Deutschland zu bekannt, als daß diese einer weiteren Erklärung bedürfte. Den General Türr sah ich in einem engeren Kreise, was man in Paris en petit comité nennt; nur die dem Hause näher stehen, waren zugegen. Nichts an dem Aeußeren Türr’s läßt auf die außerordentliche Entschiedenheit und Tapferkeit des Mannes schließen, der sich dem großen Italiener anschloß und mit ihm das Unerhörte vollzog, Schwierigkeiten und Gefahren gleich verachtend, der auf allen Schlachtfeldern focht, wo seit dem Jahre 1848 für die Freiheit, für ein höheres europäisches Interesse gekämpft wurde. Er ist von schwächlichem Körperbau, groß und schlank gewachsen, sein Gesicht ist so blaß, daß es einem die Worte in den Sinn bringt, die Shakespeare dem Julius Cäsar über Cassius in den Mund legt. Das blaue Auge blickt sanft und nimmt ein, ohne zu beherrschen. Das einzig Martialische an dieser Persönlichkeit ist der gewaltige Schnurr- und Knebelbart. Wie in der Regel Leute von echtem anerkanntem Verdienst, ist Türr bescheiden und anspruchslos, schlicht und ungekünstelt in Sprache und Benehmen. Ein hervortretender Zug an ihm wie an Bixio ist eine eben so innige, als aufrichtige Verehrung für Garibaldi, in die sich kein Hintergedanke mischt und die sich in absichtsloser Weise bei jeder Gelegenheit kund giebt. Wenn man an den Streit Agamemnon’s mit Achilles vor Troja, an die Eifersüchteleien zwischen dem ersten Napoleon und seinen Feldhauptleuten, zwischen den hochgestellten Kriegern aller Zeiten denkt, die mit einander zu wirken hatten, so kann man nicht leugnen, daß sich in diesem ungetrübten Verhältniß der Freiheitskämpfer zu ihrem Oberhaupt eine ideale Höhe der Gesinnung seinerseits wie ihrerseits ausspricht.

[492] Türr ist sehr mittheilsam und ob er gleich mit ungarischem Accent und etwas mühsam Deutsch und höchst unvollkommen Französisch spricht, erzählt er doch in diesen Sprachen mit Anmuth und in anziehender Weise. Alles, was er sagt, zeigt eben nicht von einer besondern Tiefe der Anschauung, aber von Geradsinnigkeit und klarem Verstande. Er erzählte, durch Fragen und Bemerkungen der Gesellschaft veranlaßt, die kriegerischen Begebenheiten im südlichen Italien von der Abfahrt der „Tausend“ nach Sicilien bis zum Einzug Garibaldi’s in Neapel und entzückte die Zuhörer durch die einfache, ungekünstelte Darstellung, in welcher Garibaldi immer und immer den Vordergrund einnahm. „Von Allem, was ich gewirkt habe,“ erklärte Türr, „schlage ich nichts als meine Theilnahme an dem Zuge nach Sicilien hoch an,“ und er sprach den Vorsatz aus, diese verwegenste aller Unternehmungen, von denen die Geschichte und selbst die Sage meldet, ausführlich für die Mit- und Nachwelt zu beschreiben. Die Landung zu Marsala stellt Türr als das Ergebniß eines Gedankens dar, der plötzlich in dem Kopfe Garibaldi’s entstand, als er mit seinen Genossen in Altamo anhielt, um das kleine Heer mit dem Nothdürftigsten, an dem es auf den beiden Schiffen fehlte, zu versehen. Die neapolitanischen Kreuzer, versicherte Türr, kamen zu spät, um die Landung zu verhindern, ohne jedes Einverständniß ihrer Anführer mit den Patrioten. Mit einem angenehmen Humor schilderte Türr den Zustand und namentlich die Bewaffnung des heldenmüthigen Häufleins, das seinem Führer in den sichern Tod folgte.

„Wir thaten bis Palermo keinen Schuß,“ erzählte er, „aus dem guten Grunde, weil wir nicht schießen konnten. Von den Gewehren, über welche wir verfügten, wollte keines losgehen. An dem einen fehlte der Hahn, das zweite war verrostet, an dem dritten war der Lauf verstopft, kurz wir mußten uns auf Bajonnetangriffe verlegen und haben bei Calatasimi zweitausend fünfhundert Mann regelmäßiger Truppen, die gute Gewehre und Artillerie hatten, zum Weichen gebracht.“ Wenn Garibaldi anführt, und die neuangeworbenen jungen Leute, vom feindlichen Feuer erschreckt, ein wenig stutzen, ruft ihnen Garibaldi, der immer vorangeht, seinen Hut schwenkend, mit einer Art Gutmüthigkeit die Worte zu: „Vorwärts, vorwärts, Jungen, das ist kein Feuer,“ (avanti, avanti, ragazzi, questo non e fuoco) und es war die Wirkung unbegreiflich, unglaublich, welche diese einfache Ansprache aus dem Munde Garibaldi’s hervorbrachte. Türr war es, dem Garibaldi in der Nacht, wo er Bosco bei Palermo umging, einen Stern zeigte und zu ihm sprach: „Dieser Stern hat mir in Amerika geleuchtet, morgen sind wir in Palermo.“ Als sich Garibaldi anschickte, sich allein ohne ein Heer nach Neapel zu begeben, stellten ihm seine Kampfgenossen und unter diesen Türr die Gefährlichkeit dieses Schrittes vor, da St. Elmo und mehrere Punkte in der Stadt selbst von Soldaten Franz II. besetzt waren. „Das Volk von Neapel ruft mich, und ich komme,“ gab Garibaldi auf die Vorstellungen seiner Freunde zur Antwort; und diese wußten, daß jeder weitere Versuch, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, unnütz wäre, und sie folgten ihm, um mit ihm die Gefahr zu theilen, vor welcher sie ihn gewarnt hatten. Kaum angelangt in Neapel, erhielt Garibaldi einen Besuch des Befehlshabers der Festung von St. Elmo, der ihm anzeigte, daß die Soldaten in der Festung dem Bourbon ergeben sind und, von der Ankunft des Freischaarenführers unterrichtet, die Stadt beschießen wollen.

„Sagen Sie ihnen, daß wir hinauf schießen werden, wenn sie herunter schießen,“ versetzte Garibaldi zum Erstaunen seiner Freunde, die wohl wußten, daß es mit dem Hinaufschießen einige Schwierigkeiten haben würde, zumal weder Soldaten noch Gewehre oder gar Kanonen bei der Hand waren. All dieses nun und noch Anderes erzählte Türr so einfach, wie es sich zugetragen, und man sah es der kleinen Gesellschaft an, mit welchem lebhaften Interesse sie zuhörte. Dem Schreiber dieser Zeilen bleibt der angenehme Abend, den er in Gesellschaft Türr’s zugebracht hat, unvergeßlich.

Ganz anders als Türr stellte sich der General Bixio dar. Es ist ein ernster, schweigsamer Mann; die soldatische Entschiedenheit spricht aus jedem Zoll seiner kräftigen gedrungenen Gestalt, aus den fest gezeichneten Umrissen seines sonnverbrannten Angesichts. Er ist scheu, fast schüchtern in größerer Gesellschaft, und man sieht es ihm an, daß er sich besser im Gebraus der Schlachten, als innerhalb der Formen des Salonverkehrs befindet. Seine Gedanken schienen von ganz anderen Dingen eingenommen, als von den trefflichen Musik- und Gesangstücken, welche von den hervorragendsten Künstlern in diesem Fache vorgetragen wurden. Das ist ganz und gar der Mann, von dessen Ungestüm im Kampfe die geschlagenen neapolitanischen Truppen viel zu erzählen wissen und auf den der Vers des unsterblichen Lenau paßt:

„Die Feinde zählt kein tapfrer Mann.“

Das ist ganz und gar der Mann, unter dessen Leitung die calabresischen Freiwilligen, welche sich anfangs ein wenig zaghaft erwiesen, zu Helden sich herausgebildet haben, der in eine Kirche hineinritt, wo seine Schaar lagerte, um sie zu wecken, da sie zur festgesetzten Stunde nicht wach und zum Marsch bereit war. Schon als Knabe zeigte sich Nino Bixio von einem eben so unerschütterlichen als heftigen Charakter. In einem Alter von sechs Jahren zog er seine Schuhe von den Füßen und warf sie einer Magd in seiner Eltern Hause an den Kopf, die es gewagt hatte, ein verletzendes Wort über seine Familie auszusprechen. Es kam vor, daß er, ebenfalls noch in einem zarten Alter, Obst stahl und sein Vater, der dahinter gekommen war, ihn mit der Frage anließ:

„Weißt Du, was dem geschieht, der gestohlen hat?“

„Es werden ihm die Hände verbrannt,“ antwortete der Junge, und ohne sich weiter zu bedenken, legte er die Hände ins Feuer, dem der Vater zum Schaden der Truppen Franz II. sie entriß. Italien wurde in dem kleinen Scävola einer der wackersten Freiheitsmänner erhalten.

An Stoicismus wird Bixio von Niemandem überboten, und er gestattet der von ihm angeführten Mannschaft eben nicht allzugroße Bequemlichkeiten. Er hatte die Einschiffung der kühnen Gesellen zu besorgen, die Garibaldi nach Sicilien folgten; und es fand sich, daß die beiden Schiffe so stark beladen wurden, daß die mit dem Seewesen wenig vertrauten Truppen das Untersinken befürchteten. Eines der Fahrzeuge hatte bereits so viel Leute und Dinge aufgenommen, daß ihm die Fluth bis nahe an den Saum drang, und noch kamen nach der von Bixio gemachten Anordnung Personen auf das Verdeck.

Ein ungarischer Freiwilliger, von der auf dem Schiffe herrschenden Unruhe ergriffen, nahm sich’s heraus, einen Mann zurückzustoßen, der an Bord steigen wollte; da griff Bixio, damals Capitain, durch das vermessene, undisciplinirte Thun des Freiwilligen in Zorn versetzt, nach einer Muskete und schlug den Mann vor den Kopf, daß derselbe zurücktaumelte und sich’s weiter nicht beikommen ließ, die Einschiffung zu stören.

Der General erzählte diesen Vorgang seinem Bruder, dem ehemaligen Minister, der diese Aufwallung als gefährlich bezeichnete, „da so ein Ungar, um die Mißhandlung zu rächen, gelegentlich einen Schuß auf den Beleidiger thun könnte.“

„Nicht doch,“ entgegnete der General, „die ungarischen Freiwilligen sind wackere Leute und haben mir immer viel Sympathie gezeigt. Sie haben nur den Fehler, daß sie gar zu große Ansprüche machen; wenn man auf ihre Forderungen achten wollte, gäbe man ihnen jeden Tag frisches Stroh zum Lager.“

„Unglaubliche Anmaßung, die man nicht genug zurückweisen kann!“ versetzte lächelnd der ältere Bruder. Was soll aber General Bixio, ein Mann mit solcher Anschauung, im Salon?




Die Königin und der Wald.

„O Wald, mein Wald, wie lieb’ ich Dein Grün!
Weit mehr als den Königssaal!
Ich liebe nichts so sehr, als ihn
Und Dich, mein Eh’gemahl.

5
O, legt mir nun der Tod auf’s Herz

Die Hand so knöchern und kalt,
Schließt mich nicht ein in Stein und Erz,
Begrabt mich im grünen Wald.

Wenn die Mönche singen, die Glocken geh’n,

10
Das macht mir den Schlaf so bang.

Laßt über mein Grab die Zweige wehn,
Waldvöglein fliegen mit Sang!“




Doch als sie schlief zum Sterben ein,
Da hielten sie ihr nicht Wort,

15
Sie legten in einen ehernen Schrein,

In steinerne Gruft sie dort.

[493]

Waldtreue.


Sie mauerten über ihr auf vom Grund
Einen düstern Capellenbau,
Die Fenster blinken vom Glase bunt,

20
Wohl dunkelroth und blau.


Und ein Jahr und Jahrhundert um’s and’re kam,
Vergessen die süße Frau,
Vergessen des Königs Reich und Nam’!
Verlassen das Kirchlein grau.

25
Da hat es genommen der tiefe Wald

In seinen gründunklen Schooß:
Kein Priester mehr singt, keine Glocke schallt,
Die Schwellen versinken in Moos.

O sprich, hat Liebe denn solche Gewalt,

30
Zu wünschen Lieb’ herbei?

Nun schläft sie umfangen vom grünen Wald,
Der Wald, der Wald ist treu!

Durch’s Fenster drängen die Zweige sich traut
Mit Waldesrauschen und Duft.

35
Waldvöglein haben ihr Nest gebaut

Und singen über der Gruft.

Hugo v. Blomberg.




[494]

Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Eine glänzende Tafel empfing in dem gegenüberliegenden Zimmer die Eintretenden. Formlos und unter lauter Scherzreden erfolgte das Niedersitzen; als aber Reichardt von dem ihm zugefallenen Platze aufsah, traf sein Auge auf Johnson, der, sein Gegenüber bildend, mit zusammengezogenen Brauen des Deutschen ganze Erscheinung zu mustern schien, sich aber dann dem ihm vorgesetzten Teller zuwandte. Bald klang ringsumher nichts als das Klappern der Messer und Gabeln, und Reichardt dankte im Augenblick dem amerikanischen Gebrauche, schweigsam die Haupttheile einer Mahlzeit einzunehmen; er erhielt wenigstens Zeit, sich zu sammeln. Margaret saß an seiner Seite, nicht von ihrem Teller aufblickend; dachte er aber daran, mit ihr ein Gespräch von leichter Färbung beginnen zu müssen, so marterte er sich wieder vergebens ab, einen Anknüpfungspunkt dafür zu finden. Alles, was die Uebrigen vereinte, geselliges Leben und Tagesgeschichte, war noch eine fast unbekannte Welt für ihn, und den einzigen Vereinigungspunkt, den sie auch wohl nur berührt hatte, um mit ihm auf gleich bekanntem Boden zu stehen, Harriet Burton, mochte er ihr gegenüber am wenigsten zum Gegenstande eines Gesprächs machen.

„Haben die Ladies schon von der merkwürdigen Fête gehört, mit welcher Dr. Hostell’s neues Haus eingeweiht werden soll?“ begann Johnson, seinen Teller zurückschiebend und unter die als Dessert aufgestellten Mandeln und Rosinen greifend.

Dr. Hostell, der Patentmedicin-Mann?“ lachte eine Stimme.

„Derselbe,“ fuhr der Sprecher fort, „er wird mit einem noch nicht dagewesenen Glanze Bresche in unsere aristokratischen Kreise schießen und sich den Eintritt in die gute Gesellschaft erzwingen; es wird so viel Erstaunliches von dem, was die Partie bieten soll, berichtet, daß die Neugierde schon unsere Ladies nicht ruhen lassen wird.“

Margaret hob den Kopf, als sei ihr die Gelegenheit willkommen, ihre bisherige Stellung aufzugeben, und ein Schein von Lächeln ging über ihr Gesicht.

„Bill macht Unsinn!“ rief John’s Stimme vom untern Ende der Tafel herauf, „Hostell hat Geld gemacht, bleibt aber immer der Patentmedicin-Mann und nichts weiter.“

„Warum, Sir?“ rief Johnson, „wir leben in einem Lande, in dem nichts unmöglich ist. Heute ist Einer Porter und hat morgen in der besten Gesellschaft Zutritt, heute schlägt Hostell seine letzte Sassaparilla-Kiste zu und empfängt morgen, vom Geschäfte zurückgezogen, die Leute aus der fünften Avenue!“

Ein einziger Blick des Sprechenden hatte Reichardt bei Erwähnung des „Porters“ gestreift, aber diesem das ganze Blut zum Herzen getrieben. „Und so wohl auch umgekehrt,“ begann er plötzlich, „junge Leute in guter Stellung voll Porter-Rohheit, fashionabler Dünkel mit der wunderlichsten Hohlheit gepaart – es sind allerdings die eigenthümlichsten Gegensätze, die besonders dem Fremden hier im Lande entgegentreten!“ Eine augenblickliche Stille folgte den Worten des Deutschen; es war, als ahne Jeder die verdeckte Bedeutung derselben, bis sich unter den einzelnen Paaren ein allgemeines Gespräch zu entwickeln begann. „Glauben Sie nun an die bösen Geister?“ wandte sich Reichardt halblaut an seine Nachbarin.

Sie schlug langsam das große Auge zu ihm auf. „Warum kümmern Sie sich so viel darum und bauen nicht auf den guten Geist in Ihnen selbst?“ fragte sie; aber es war ein Blick so still und ernst, der ihn traf, daß ihm plötzlich die Erwiderung, welche er sich hatte entreißen lassen, als das Thörichtste seines ganzen Lebens erscheinen wollte.

Für ein wirkliches Glück sah Reichardt es an, daß schon nach Kurzem der Wunsch nach einer Fortsetzung des Tanzes laut wurde; er hatte kaum mehr aufsehen mögen; als sich aber die Gesellschaft endlich erhoben hatte und die Mädchen, wie von einem Zwange erlöst, lachend nach dem andern Zimmer flatterten, zog er den jungen Frost bei Seite. „Ich fühle mich so unwohl, Sir,“ sagte er, „daß ich am besten thun werde, nach Hause zu gehen; wäre ich in gewöhnlicher Stimmung, so hätte ich auch nicht den faux pas in Bezug auf Johnson begangen; und ich weiß, Sie thun es mir zu Liebe, meine Entschuldigung gegen Mister und Miß Frost so zu übernehmen, daß kein falsches Licht auf mich fällt!“

John sah den jungen Mann einige Secunden schweigend an, während er dessen Seele ergründen zu wollen schien. „Sie sind der sonderbarste Mensch, Reichardt, der mir noch vor Augen gekommen,“ erwiderte er dann; „Johnson ist ein Esel, und ich hätte ihn vielleicht noch derber abgeputzt, als Sie es gethan – seinethalber gehen Sie aber doch sicherlich nicht –“

„Ich bin krank, Sir, nichts Anderes,“ unterbrach ihn der Deutsche, „und wenn Sie freundlich gegen mich sein wollen, so glauben Sie mir ohne weitere Worte und lassen mich ganz unbemerkt davon schlüpfen.“

Der Andere blickte mit neuem Forschen in die Augen des Sprechenden. „Es steckt Ihnen irgend etwas quer im Kopfe, Sir; das ist es!“ sagte er, „und ich wollte, Sie sprächen dreist heraus, was es ist. Aber,“ fuhr er fort, als Reichardt eine fast ängstliche Bewegung zur Entgegnung machte, „ich will Sie nicht zum Bleiben zwingen, so sehr mir auch Ihr Entschluß in mehrfacher Beziehung leid thut. Kommen Sie, wenn Sie durchaus nicht anders wollen!“

„Aber ich übergebe mich Ihrer Freundschaft, John, daß ich durch keine Mißdeutung lächerlich werde!“

„Werde Alles besorgen, Sir, wenn ich auch nichts weiter weiß, als daß der Teufel aus Ihnen klug werden mag!“

Beide waren nach einer Art Garderobe am Ende der Vorhalle gegangen, Reichardt hüllte sich in seinen Ueberrock und hatte in den nächsten Minuten unbemerkt das Haus verlassen. Er athmete freier auf, als er die kalte Luft der Straße fühlte, und verfolgte raschen Schritts, ohne einem Gedanken Macht über sich zu gestatten, den Weg nach seinem Boardinghause. Erst als er dort in seinem Zimmer Licht angezündet hatte, blieb er in der Mitte des kalten Raumes stehen und sah starr vor sich nieder. „Es ist recht so,“ sagte er nach einer Pause halblaut, „was habe ich mit diesen reichen, fashionablen Menschen zu thun, unter denen ich doch, nur immer der arme Clerk bleibe? Soll ich mir das Herz in Stücke brechen, wenn es fühlt und verlangt, wie Andere? Aber warum bin ich gegangen? habe ich doch vorausgewußt, was kommen mußte,“ fuhr er fort, den Kopf hebend und die Faust gegen die Stirn drückend, „habe mich selbst wahnwitzig in den Strudel gestürzt –!“ Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer und blieb dann von Neuem stehen. „O Margaret!“ rief er plötzlich wie im Ausbruche des bittersten Wehes und schlug beide Hände vor das Gesicht, auf den nächststehenden Stuhl sinkend.

Es war manche lange Stunde verflossen, ehe er das Bett suchte und die innere Ermattung ihm die Augen schloß, und als ihn am Morgen die Frühstücksglocke weckte, war es ihm, als sei jedes Glied an ihm halb zerschlagen.

Fast eine Stunde mochte er bereits seinen Arbeitsplatz in der Office eingenommen haben, und er begann sich soeben zu wundern, daß sich der pünktliche Cassirer noch nicht eingestellt hatte, als John aus dem vordern Raume in’s Cassenzimmer trat und die Thür hinter sich zuzog. „Nun, die Krankheit vorüber?“ rief er launig, an den arbeitenden Deutschen herantretend, warf aber den Kopf zurück, als er in das Gesicht des Aufblickenden sah. „By George, Sie sehen schlecht aus, Mann,“ sagte er, „was ist denn los mit Ihnen? ich denke doch nicht, daß Sie im Geschäft Streiche wie gestern Abend machen werden?“

„Hat keine Gefahr, Sir,“ erwiderte Reichardt mit einem halben Lächeln. „Ich bin völlig wieder wohl, und denke mich auch so zu halten!“

„Well, Sir, das ist gut – aber wegen gestern Abend,“ versetzte der Andere, noch immer das bleiche Gesicht des Deutschen betrachtend, „es hat mir etwas Mühe gekostet, die Gesellschaft über Ihr Davonlaufen zu beruhigen; die Mädchen schienen sich sämmtlich für Sie interessirt zu haben, und die alte Miß Henderson war ganz unglücklich!“ Reichardt fühlte seine Brust enger werden; er glaubte jeden nächsten Augenblick hören zu müssen, wie sich Margaret geäußert, und kaum wußte er, sollte er es wünschen oder [495] fürchten, – John aber brach mit einem: „Doch die Hauptsache, weshalb ich kam!“ ab und zog die Stirn in Geschäftsfalten. „Mr. Bell wird für zwei oder drei Tage abwesend sein,“ fuhr er fort, „ob er krank ist, ob er Hochzeit mit seiner Wirthin machen will, oder was sonst los ist, weiß ich nicht. Vater hat seine Zustimmung gegeben, und es fragt sich jetzt nur, ob Sie glauben, während der Zeit allein fertig werden zu können.“

Reichardt sah überrascht auf, und seine Backen singen an, sich wieder leicht zu röthen. „Ich denke, in voller Kenntniß über das Nothwendige zu sein,“ erwiderte er, „wenn mir so viel Vertrauen geschenkt werden soll –“

„Und so weiter!“ unterbrach ihn John; „um das Vertrauen handelt es sich jetzt nicht, das haben Sie, ohne Umstände gesprochen, vom ersten Tage an in noch größerem Maße besessen, als ich selbst vielleicht, wenn ich auch heute noch nicht weiß, wo der Haken steckt. Die Frage drehte sich um die Fähigkeit und die Arbeit. Sie erklären sich der Stellvertretung für gewachsen, also übergebe ich Ihnen in aller Feierlichkeit die Cassenschlüssel. Vater empfiehlt Ihnen nur noch an, Bell’s Bücher unberührt zu lassen und nichts als ein Memorandum bis zu dessen Rückkehr zu führen, und so ist mein Geschäft abgethan, Sir!“

Reichardt hatte mit einem Gefühle, das sein ganzes Innere hob und allen Schmerz der letzten Nacht in den Hintergrund drängte, die beiden Schlüssel ergriffen und verließ sein Pult. „Ich hoffe, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, Sir,“ sagte er, „und ich bitte Sie nur um die Freundlichkeit, hier zu bleiben, bis ich den Cassenbestand mit dem letzten Tagesabschluß verglichen habe.“

Nach einer Stunde saß Reichardt wieder allein und blickte wie in tiefen Gedanken über seine Bücher weg. „Ich werde sein Vertrauen rechtfertigen, weiß ich auch nicht, woher es kommt,“ sagte er leise vor sich hin, „ich werde es rechtfertigen, selbst da, wo es am bittersten und schwersten ist. Das ist der gute Geist, der die bösen von mir halten soll!“


Drei Wochen nach dem soeben Erzählten waren vergangen, Wochen, von denen Reichardt meinte, daß sie ihn fünf Jahre älter gemacht, und doch hatten sie kaum etwas von besonderer Bedeutung gebracht. Bell hatte nach seiner Rückkunft mit deutlich ausgedrücktem Befremden Reichardt’s bisherige selbstständige Verwaltung seines Amtes bemerkt, hatte eine lange Prüfung des von diesem geführten Memorandums vorgenommen und dem alten Frost, als dieser beim Durchgehen des Zimmers lächelnd gefragt, ob Alles in Ordnung sei, kopfschüttelnd erwidert, er sehe bis jetzt noch nichts Unrechtes, indessen lasse sich das nicht im Augenblicke beurtheilen, und er liebe es nicht, Unverantwortliche mit Geschäften voller Verantwortlichkeit zu betrauen, worauf Jener mit einem leichten Kopfnicken bemerkt, daß alles Geschehene unter seiner eigenen Verantwortlichkeit erfolgt sei, was wohl genügen werde. Dem Cassirer schien es indessen nicht zu genügen, wenigstens sah Reichardt sein Memorandum, ohne in die Bücher übertragen zu werden, zur Seite gelegt, aber bei jedem darauf Bezug habenden Falle wie im regen Mißtrauen von Neuem geprüft, sah Bell’s eigenthümliche Schroffheit und Kälte gegen sich nur im Zunehmen, und ein Gefühl von Bitterkeit hatte sich in dem jungen Manne festzusetzen begonnen, das ihm alle frische Arbeitslust zu nehmen drohte.

Reichardt war am Ende der Woche nach langem, unangenehmem Rathpflegen mit sich selbst eben zu dem Entschlusse gelangt, sich um keine Miene des Cassirers mehr zu kümmern, und wenn auch ohne Freude, so doch ohne steten Aerger seiner Pflicht nachzuleben, als sich ihm John beim Verlassen der Office anschloß. „Meine Schwester möchte Sie sehen, Reichardt,“ sagte er, „sie hat Sie schon im Verlauf der Woche einmal erwartet, ich habe Sie aber entschuldigt und ihr eine so herzzerreißende Schilderung von Ihrem leidenden Aussehen gemacht, daß sie seitdem Ihrer mit keinem Worte mehr erwähnt hat – kommen Sie aber doch einmal Abends!“

Reichardt hatte nur zwei kurze Blicke in das Gesicht des Sprechenden geworfen; als er sich aber jetzt von diesem trennte, mußte er sich die eigenthümliche Miene wieder vor das Auge stellen, mit welcher Jener zu ihm getreten war. Ahnte er etwas von dem, was in Reichardt’s Innern vorging, und ließ im Stillen seinen Humor spielen? Es war ein unangenehmer Abend, welchen der Deutsche verbrachte. Er konnte Margaret’s Bild, von allem Reize umkleidet, wie er sie sich im Hause waltend dachte, nicht aus der Seele bringen. Daneben aber stand John, wie der lebendige Mephisto, ihr Reichardt’s „leidendes Aussehen“ schildernd und sich über den Aerger des Mädchens oder auch wohl ihre wegwerfenden Worte belustigend. Und doch stieg auch dazwischen wieder das große, seltsam forschende Auge, mit welchem sie ihn betrachtet, vor ihm auf, daß er sich hätte hinein versenken und alles Uebrige vergessen mögen.

Die zweite Woche hatte ihren Anfang gleich der vergangenen genommen, nur daß Reichardt sich bestrebte, die möglichste Gleichgültigkeit dem Wesen des Cassirers entgegenzusetzen und diesen nur in Fällen, wo es sich nicht umgehen ließ, als überhaupt anwesend zu betrachten, und er fühlte schon nach den ersten zwei Wochen, daß sein Verfahren nicht ohne Wirkung blieb. Bell schien bei der angenommenen zwanglosen Weise, mit welcher der junge Mann sich von seinem Platze erhob und das Zimmer durchschritt, die Papiere auf des Cassirers Pult niederlegte oder wortlos beim Schluß der Arbeitszeit die Office verließ, sich unbehaglich zu fühlen. Er griff oft rasch Reichardt’s vollendete Arbeit auf und richtete, als wolle er nur eben etwas sagen, verschiedene Fragen darüber an den Deutschen, die von diesem nur leicht und kurz beantwortet wurden. Es kam schließlich zu Erklärungen und scharfen Worten, die zwar die Schranken der Höflichkeit nicht überschritten, das gegenseitige Verhältniß aber in scharfe Grenzen zogen.

Von diesem Augenblicke an schien sich Keiner der Beiden mehr um den Andern zu bekümmern. Reichardt’s bereits gesammelte Erfahrung ermöglichte es ihm, seine Arbeit ohne ein Wort der Frage zu verrichten, und Bell schien von des Andern Thätigkeit nur Notiz zu nehmen, wenn dessen Arbeiten auf seinem Pulte lagen.

An demselben Tage aber schien John den Deutschen erwartet zu haben, als dieser die Office verließ. „Well, Sir,“ sagte er leicht, „Sie sind der Einladung meiner Schwester nicht gefolgt – geht mich auch nichts an, und Sie mögen das mit ihr abmachen. Vater äußerte aber gestern Abend, daß er Sie gern einmal wieder spielen hörte, und wunderte sich über Ihr Ausbleiben.“

„Ich werde kommen, Sir, wenn es gewünscht wird,“ erwiderte Reichardt, „sagen Sie mir nur den Abend.“

Der junge Frost blieb, wie von dem Tone des Sprechenden betroffen, plötzlich stehen und sah diesem in’s Gesicht. „Jetzt, Reichardt,“ sagte er, des Andern Arm fassend, „kommen Sie mir einmal nicht weg, bis ich weiß, was mit Ihnen los ist. Hat Sie etwas in unserm Hause gebissen, daß Sie dort krank wurden und nicht wieder hin mögen?“

„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich nur die Angabe der Zeit erwarte?“ erwiderte Reichardt, während das Blut leicht in sein Gesicht stieg.

„Zeit! man kommt zu irgend einer Zeit, wo man gern hingeht, Sir!“ gab John mit einem halben Kopfschütteln zurück. „Ich will Ihnen nichts entlocken, was Sie für sich behalten wollen, aber Sie sind mir seit dem Danksagungstage eine ganz fremde Persönlichkeit geworden.“

„Lassen Sie nur, Sir, und bestimmen Sie mir einen Tag!“

„Gut, so kommen Sie heute und Sie treffen uns sämmtlich zu Hause.“

Reichardt schlug einige Stunden später, fast ohne Erregung, den Weg nach Frost’s Hause ein. Er war sich jetzt seiner Gefühle völlig bewußt, aber sie lagen bewältigt tief im Allerheiligen seines Herzens, und wenn er auch wußte, daß er einem fortgesetzten leichten Verkehr in Margaret’s Gesellschaft nicht gewachsen war, so glaubte er doch für die Dauer eines Abends eine volle Herrschaft über sich bewahren zu können.

Er traf nur den alten Frost in dem Zimmer, in welches er gewiesen ward. Dieser aber hieß ihn mit sichtlicher Befriedigung sich niederlassen, sprach erst über allgemeines New-Yorker Leben und äußerte sein Befremden, als er von Reichardt’s Zurückgezogenheit hörte. Als aber John geräuschvoll mit der Nachricht von dem bevorstehenden Fallissement eines Handelshauses eintrat, spann sich das Gespräch auf das geschäftliche Feld hinüber, und ehe Reichardt, der sich bei dem zwanglosen Tone fast heimisch zu fühlen begann, nur wußte, wie er dazu gekommen, sah er sich schon mitten in einer warmen Erörterung über europäische und amerikanische Geschäftsehre, kritisirte er New-Yorker Speculation im Vergleiche mit deutscher Solidität, und mit einem leisen Lächeln folgte der alte Geschäftsherr seinen Darlegungen.

[496] Das Gespräch ward durch Margaret’s Eintritt unterbrochen, welche rasch auf den Gast zutrat. Dieser hatte sich erhoben, hatte nur einen einzigen Blick in ihre Augen, die wie in einer stummen Frage auf ihm ruhten, geworfen und dann die ihm entgegengestreckte Hand an seinen Mund gezogen, ohne diesmal Widerstand zu finden; er wurde sich dessen aber erst später bewußt, denn mit des Mädchens Herantritt war ein Wiederschein der ganzen Befangenheit, wie sie sich während des letzten Zusammenseins mit ihr seiner bemächtigt, über ihn gekommen, und jeder Versuch, die Herrschaft über sich zu gewinnen, schuf nur einen Zwang in seiner äußerlichen Kundgebung, dessen er sich völlig bewußt war, ohne ihn von sich streifen zu können. Er folgte der Aufforderung zum Pianospiel; er spielte aus seiner Erinnerung, verwebte diese mit seinen eigenen Gedanken und gab Allem, was in ihm lebte, Ausdruck; aber es konnte nicht immer gespielt sein, und als er sich erhob, überhörte er fast des alten Frost anerkennende Worte vor Margaret’s wunderbar tiefem Blicke, der an ihm hing, aber zu Boden floh, als er sein Auge traf. Und eine sonderbare Unterhaltung war es, welche jetzt folgte. John hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen, schien zu beobachten und ließ nur hie und da ein Witzwort hören; Reichardt hatte eine Bemerkung des alten Frost aufgegriffen und bestrebte sich etwas zu sagen, ohne doch zu einem freien Gedanken gelangen zu können, und der alte Gentleman unterbrach ihn, um seiner Ansicht selbst den rechten Ausdruck zu geben; Margaret lauschte den gesprochenen Worten, bald aber stockten diese gänzlich, und John meinte endlich, es werde dieser Unterhaltung nicht viel schaden, wenn sich Reichardt noch einmal an das Piano setze, eine Aufforderung, welcher der junge Mann mit erleichtertem Herzen nachkam. Als er sich aber zuletzt wieder erhob, hielt er es für das Beste, nicht noch einmal den Versuch zu einem allgemeinen Gespräche abzuwarten und sich bei Zeiten zu verabschieden. Der alte Frost bedauerte, daß er schon so früh aufbreche, drückte ihm aber mit einer Herzlichkeit die Hand, welche dem Deutschen bis tief in die Seele wohlthat. John meinte, Reichardt sei der wunderlichste Heinrich, der ihm noch vorgekommen. Margaret erhob sich leicht, als er sich gegen sie verbeugte, ohne indessen das Auge vom Boden zu heben, und als Reichardt die Straße erreicht und sich zum Heimweg wandte, fühlte er eine Anwandelung sich selbst zu ohrfeigen. „Was können sie über mich denken, als mich für einen gesellschaftlichen Simpel zu halten?“ brummte er vor sich hin, „und wie mag sie urtheilen?“ klang es in ihm, er sprach es aber nicht aus, und erst nach einer geraumen Weile begann er wieder einen Halt in sich zu fühlen. „Mögen sie es doch,“ brummte er auf’s Neue, „so bin ich wenigstens vor ferneren Einladungen sicher, kann jedem neuen Kampfe aus dem Wege gehen und erhalte Ruhe –“ aber es war dennoch ein tiefer, halbunterdrückter Seufzer, welcher dieser Selbsttröstung folgte.

Von diesem Zeitpunkte an schien jeder lichte Punkt aus dem Einerlei seines täglichen Arbeitens und Lebens gewichen zu sein. Sein Verhältniß zu dem Cassirer blieb genau dasselbe, nur daß dieser ihm mit jedem Tage mehr Arbeiten zuschob und selbst oft mehrere Stunden die Office verließ. Der Deutsche fand dann beim Aufsehen stets einen Zettel auf dem Rande seines Pultes: „Mr. Reichardt wird mich bis zu meiner Rückkunft vertreten,“ und sah den Schlüssel zur Casse im Schlosse. Oft glaubte er aber, wenn er in das Gesicht des rückkehrenden Cassirers blickte, fast mehr Hohn als Vertrauen in der übergebenen Verantwortlichkeit zu finden, besonders da Bell meist Stunden zu seinen Ausgängen wählte, in denen er erfahrungsmäßig am wenigsten vermißt werden konnte. John aber schien den jungen Deutschen kaum mehr zu bemerken, und wenn sich ja einmal Beider Augen trafen, begegnete der letztere einem Blicke, den er sich nur in ein stillbedauerndes Kopfschütteln zu übersetzen vermochte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Aus dem nordamerikanischen Lagerleben. Das fünfte pennsylvanische Regiment, das auf den schönen Fluren Virginiens sein Feldlager, „Camp McDowell“, aufgeschlagen hat, weiß sich die Zeit der Unthätigkeit und des langweiligen Friedens mitten im Kriege dadurch zu verkürzen, daß es eine Zeitung herausgiebt, eine Zeitung, geschrieben, redigirt, gesetzt und gedruckt in den Kriegszelten. Das Blatt trägt den Namen des Regiments: „the Pennsylvania Fifth“; es stattet den genauesten Bericht über alle Ereignisse im Lager ab, giebt Aufschluß über den militairischen Stand der Dinge, ergeht sich in poetischen Ergüssen und wird von jedem einzelnen Soldaten an Eltern und Liebchen, an Geschwister und Freunde daheim anstatt der Briefe gesandt. Sein Inhalt ist abwechselnd geharnischt und zart idyllisch gehalten und sowohl in deutscher als englischer Sprache geschrieben. Seine erste Nummer flog mit einem Gedicht an bethaute Blumen in die Welt hinaus.

Bis dahin war es nicht Neues, daß die Pioniere, wenn sie in die Wildnisse des Westens zogen, das Inventar einer ganzen Druckerei mühsam mit sich fortschleppten und Kasten und Presse beim ersten Block ihrer Hütte aufschlugen, der Ansiedlung den Namen gaben und denselben mit dem ersten Morgenroth aus der freien Presse des Urwalds der übrigen lebenden Welt verkündend hervorgehen ließen. Eine Zeitung aus dem Kriegsgetümmel, geschaffen unter Trommelschlag und Musketengeknatter, von den Händen der kriegerischen Helden, war noch nicht dagewesen, und es gebührt der Ruhm dafür einem deutsch-amerikanischen Regiment Pennsylvaniens. Diesem praktischen Anfang werden noch viele folgen, und wir hoffen manch siegverkündendem Blatt aus dem freien Lagerleben von Columbia’s Fluren zu begegnen und es zu begrüßen mit einem: „Heil der freien Feldpresse!“


Der Matrose und die Schauspielerin. Die englische Herzogin von St. Albans war früher Schauspielerin. Sie ist eine sehr vernünftige Dame, die sich in ihrem Glanze ihres früheren Standes nicht schämt, sondern gern mancherlei Anekdoten aus jener Zeit erzählt. Eine derselben ist folgende. „Als ich,“ erzählt sie, „ein armes Mädchen war und für meine dreißig Schillinge hart arbeitete, ging ich während der Feiertage nach Liverpool, wo ich stets freundlich empfangen wurde. Ich sollte in einem neuen Stücke auftreten, etwas gleich den hübschen, kleinen, rührenden Dramas, die sie jetzt auf unsern geringen Theatern geben, und stellte in meiner Rolle ein armes, freundloses Waisenmädchen vor, welche zu dem allerelendesten Zustand der Armuth heruntergesunken ist. Ein hartherziger Handelsmann verfolgt die betrübte Heldin wegen einer bedeutenden Schuld und besteht darauf, sie in’s Gefängniß zu bringen, wenn nicht Jemand für sie Bürgschaft leiste. Das Mädchen antwortet: „Dann habe ich keine Hoffnung. Ich habe keinen Freund in der Welt.“ – „Was?“ fragt der finstere Gläubiger, „will Niemand für Sie bürgen, um Sie vor dem Gefängniß zu retten ?“ – „Ich habe es Ihnen ja gesagt, daß ich keinen Freund auf Erden habe,“ war meine Antwort. Gerade als ich diese Worte sagte, sah ich einen Matrosen von der obersten Gallerie über das Geländer klettern und sich von einer Logenreihe zur andern niederlassen; Orchester und Lampen wurden von ihm übersprungen, und im Augenblick stand er an meiner Seite. „Ja, Du sollst wenigstens einen Freund haben, mein armes, junges Weib,“ rief er mit dem größten Ausdruck in seinem ehrlichen, sonnverbrannten Gesichte. „Ich will für Dich zu jedem Betrag Bürge sein. Was Euch betrifft,“ sich zu dem erschrockenen Schauspieler wendend, „wenn Ihr Euch nicht drückt und Euern Ankergrund wechselt, Ihr Lümmel, so wird es Euch um so schlimmer ergehn, wenn ich in Euer Takelwerk gerathe.“ Jedermann im Hause stand auf: es war ein unbeschreiblicher Aufruhr, schallendes Gelächter, Aufschrei des Schreckens, Stimmen der Violinen vom Orchester, und mitten in all diesem allgemeinen Lärm da stand die unwissentliche Ursache von dem Allem mich beschützend, „das arme, trostlose Weib“, Hohn und Verderben athmend gegen meinen Theater-Verfolger. Er konnte nur überredet werden, die Sorge für mich aufzugeben, durch den Theaterdirector, der that, als ob er eben angekommen sei, mich vermittelst eines Ueberflusses von Theater-Banknoten zu erlösen.“


Eine komische, wahre Affengeschichte wurde mir vor nicht langer Zeit von einem aus Indien zurückgekehrten Deutschen erzählt, der Capellmeister bei einem indischen Regiment gewesen war. Einer der Sepoys von seinem Regiment hatte Urlaub erhalten, seine Verwandten zu besuchen, und trat zu Fuß die Wanderung in seine Heimath an. Erschöpft von der Hitze des Tages lagerte er sich an einer Quelle, die ein kleines sehr tiefes Wasserbecken bildete, welches von Bäumen überschattet wurde. Da er Hunger fühlte, so langte er Lebensmittel aus seinem Sack und fing an zu essen. Sehr bald gesellte sich einer der in jener Gegend heilig gehaltenen Affen zu ihm, die sehr dreist und unverschämt sind, da ihnen Niemand etwas zu Leide thut. Der Affe wollte mit dem Soldaten frühstücken und langte ohne Umstände zu. Der Indier hatte aber nur gerade genug für sich, und als der Affe zu zudringlich wurde, gab er ihm eine Ohrfeige. Der beleidigte, geheiligte Affe sprang plappernd und Gesichter schneidend davon und kletterte auf einen der Bäume. Der Soldat dachte nicht weiter an den Affen und schickte sich an, sein Mittagsschläfchen zu halten, wobei er seinen Turban abnahm und als Kissen benutzte. Er hatte nicht lange geschlafen, als er durch ein Geräusch im Wasser erweckt wurde, und zugleich erregten vergnügte Töne über seinem Kopfe seine Aufmerksamkeit. Da saß der ungastlich behandelte Affe, boshaft lachend, möchte man sagen, hielt in seiner Hand das Tuch mit der ganzen Baarschaft des Indiers, welchen er aus dessen Turban gestohlen hatte, und fand ein teuflischen Vergnügen darin, eine Rupie nach der andern von der Höhe herab in das tiefe Wasser zu werfen. Der Soldat war außer sich und gab sich alle mögliche Mühe, den Affen zum Mitleid zu bewegen; er machte die versöhnlichsten Zeichen und Gebehrden, hielt die verlockendsten Bissen hin, allein Alles umsonst, der rachsüchtige Affe blieb ungerührt, und als er endlich das Tuch der letzten Rupie nachgeworfen hatte, sprang er sehr zufrieden davon.