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Die Gartenlaube (1860)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Mary Kreuzer.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius.[1]

Vor einem der zahlreichen Emigranten-Kosthäuser, mit welchen Greenwich-Street in New-York im Jahre 1849 noch besetzt war, hielt an einem Juni-Morgen ein einspänniger, ärmlicher Leichenwagen. Das Haus, obgleich kleiner, als viele der übrigen, zeichnete sich vor diesen durch eine gewisse Respectabilität der Erscheinung aus, die indessen mehr in der äußeren Reinlichkeit und Ordnung, als in andern Unterschieden, ihren Grund fand.

Der Leichenfuhrmann schwang sich eben auf den Bock, um den einsamen Todten, der in dem ringsum pulsirenden Leben nirgends eine Lücke verursacht zu haben schien, der wie so Viele vor ihm und so viele Tausende nach ihm unbekannt in unbekannter Erde ruhen sollte, hinwegzuführen, als aus dem Innern des Hauses ein junges Mädchen in die offene Hausthüre stürzte und hier in die Kniee brach. Eine ältliche Frau, die ihr gefolgt war, fing sie auf und schien in gutmüthigem Eifer ihr zuzureden, bis mit verdrießlichem Gesichte, die Hausmütze auf den Hinterkopf schiebend, eine wohlbeleibte Wirthsfigur hinzutrat.

„Du kannst nicht mit, Mädchen,“ sagte der Mann, als streite sich Unmuth und eine Regung von Mitleid in ihm, „der Wagen fährt viel zu schnell, und Du könntest ohnedies den Weg nicht wieder hierherfinden. ’s ist traurig, aber doch nicht zu ändern.“

Der Wagen fuhr im Trabe davon, das Mädchen stieß einen Schrei und streckte die Arme dem schwarzen Gefährt nach, alle Bemühungen der Frau zu ihrer Beruhigung von sich weisend, bis der Mann mit einem: „Bring sie in’s Hinterzimmer!“ die Hausthür schließen wollte.

Der Vorfall hatte einige der Vorübergehenden veranlaßt stehen zu bleiben; die Scene aber endete rasch, als sich die Thüre schloß und bald Jeder wieder gleichgültig seinen Geschäften nachging. Nur auf der entgegengesetzten Seite der Straße stand noch ein Zuschauer, dessen reges Interesse an der Scene sich selbst dann noch unverhohlen in seinen Mienen aussprach, als sich das Haus bereits geschlossen hatte, eine hohe, viereckige Gestalt, deren ganze Erscheinung, von dem faltigen, wetterbraunen Gesichte unter dem breiten Hute bis zu den riesigen Händen und der groben Fußbekleidung herab, sogleich den Mann aus dem Hinterwalde verrieth.

Er schien einige Secunden lang mit einem Entschlusse nicht fertig werden zu können und besah nachdenklich das Zeichen über der Thür, das Kost und Logis verhieß, schritt dann aber fest über die Straße und trat in das Haus.

In dem offenen Gastzimmer stand der Wirth hinter dem Schenktische, eben beschäftigt, ein großes Glas mit Branntwein zu füllen.

„Das ist gut und stärkt ein trauriges Herz!“ sagte der Fremde, mit einem kurzen Blicke durch das leere Zimmer herantretend, „ich nehme aber auch so einen Tropfen, und Sie trinken mit mir!“

Der Wirth ließ schweigend einen musternden Blick über den Gast gleiten; als dieser aber aus einem ledernen Beutel eine Silbermünze zwischen einer Anzahl Goldstücken hervorsuchte und auf den Tisch warf, schob Jener Glas und Whiskeyflasche her, und schweigend ward mit einem Stampfen der Gläser gegenseitiger „Bescheid gethan.“

„Seid auch ein Deutschländer?“ fragte der Fremde, sich den Mund wischend.

„So ist es, Landsmann!“ nickte der Andere, die Flasche wegstellend.

„Seid dann aber auch maulfaul genug, und ich möchte mich doch über eine Sache befragen!“

„Ich spreche gerade so viel als nothwendig ist, was manchmal auch für andere Leute gut wäre, die zum ersten Male nach New-York kommen,“ erwiderte der Wirth, seinen Gast mit einem Ausdrucke von halbem Humor betrachtend. „Wenn Ihr etwas zu fragen habt, so kommt nur heraus damit!“

„So – na denn geradezu! Ich möchte wissen, wie es mit dem Mädchen ist, das eben so ganz desperat that, ob sie zu Euch in’s Haus gehört, oder ob sie sonst Jemanden hat –“

Der Wirth sah dem Frager einen Augenblick scharf in’s Gesicht, schien aber schnell einen aufgestiegenen Verdacht zu beseitigen. „Wollt Ihr mir wohl sagen, Landsmann, woher Ihr seid und was Ihr in New-York thut?“ fragte er dann.

„Das kann Jeder wissen,“ erwiderte der Fremde, gutmüthig nickend, „ich habe eine Farm in Iowa, heiße Michel Kreuzer, über den jedes Kind in unserm County Bescheid geben kann, und habe in New-York mit den Advocaten wegen einer Erbschaft zu verhandeln. Und wenn Ihr wissen wollt, weshalb ich gefragt habe, so ist es das: Es ist mir gewesen, als habe das Kind seine einzige Hoffnung in dem schwarzen Wagen fortfahren sehen, und wenn es so ist, könnte ich vielleicht etwas für sie thun!“

Der Wirth rückte an seiner Hausmütze und kam langsam hinter dem Schenktische vor. „Wir wollen uns einmal setzen!“ sagte er, nach einem der von Stühlen umgebenen Tische deutend.

Der Wirth erzählte nun Folgendes: „Es mögen jetzt drei [626] Wochen her sein, da kam mit einem der Emigrantenschiffe ein Mann mit seiner Tochter und quartierte sich bei mir ein. Es war etwas Feines an ihm, wie an dem Mädchen, was wir selbst bei den besseren Einwanderern[WS 1] nicht gewohnt waren, und von Andern, die mit ihm auf dem Schiffe gewesen, aber sich billigeres Logis und ein Bett voll Wanzen in der Nachbarschaft gesucht, vernahm ich nachher, daß er Regierungsbeamter oder so etwas gewesen sein soll. Ich habe ihn selber nie darum gefragt, denn er war fast niemals hier im Bar-Room, und ich hörte nur so viel von ihm, daß er schnell nach dem Westen wolle. Am vierten Tage wurde der Mann krank und mußte sich legen; er bezahlte prompt und gut, und wir thaten für ihn, was wir konnten – in der letzten Woche hat meine Frau selbst abwechselnd mit dem Mädchen bei ihm gewacht. Aber die Doctoren und alle Pflege konnten ihm nicht helfen; gestern am frühen Morgen starb er und heute ist er begraben worden. Das Mädchen war von Anstrengung und Gram so herunter, daß sie bei der Leiche selbst wie todt eingeschlafen war; wir legten sie auf’s Bett und dachten, sie solle nichts von dem Begräbniß merken, wenn wir’s rasch machten; aber sie war aufgewacht und schrie, sie müsse wissen, wo ihres Vaters Grab sei – und das Uebrige habt Ihr ja wohl mit angesehen. Nun ist die Sache so: Ob der Mann etwas Vermögen mitgebracht hatte, weiß ich nicht; viel kann es aber nicht sein, denn er klagte schon den dritten Tag über die Kosten, die ihm der unvermeidliche New-Yorker Aufenthalt verursache. Jetzt muß das Kind also irgendwo untergebracht werden. Sie ist zu eigentlicher Arbeit noch zu schwach, so herzhaft und flink sie auch sonst sein mag, und wir selbst können sie nicht behalten. Finden wird sich wohl etwas für sie, aber sie muß es nehmen, wie es kommt, und darf bei dem mancherlei Elende unter der Masse von Einwanderern, die Hülfe beansprucht, nicht wählen.“

Der Farmer hatte ernsthaft zugehört und nur durch einzelnes halbes Nicken seine Theilnahme geäußert.

„Ich möchte einmal mit dem Dinge reden,“ sagte er, als der Wirth geendet, „und wenn sie nicht gar zu schlimm traurig ist, könnet Ihr sie wohl einmal holen!“

„Will sehen,“ erwiderte der Wirth, sich zögernd erhebend, und ging.

Es mochten zehn Minuten vergangen sein, als sich eine Seitenthür öffnete und das junge Mädchen mit einem Ausdrucke scheuer Zurückhaltung, die durch das leidende, verweinte Gesicht eine noch erhöhte Wirkung erhielt, in’s Zimmer trat. Sie konnte kaum über fünfzehn Jahre sein; demohngeachtet lag etwas in ihrer Erscheinung und der Weise, wie sie ihren schlanken Körper trug, das auf früh errungene Selbstständigkeit deutete, und der alte Kreuzer setzte sich bei ihrem Anblicke wie unwillkürlich aus seiner nachlässigen Stellung aufrecht.

„Das ist der Gentleman!“ sagte der Wirth, welcher ihr gefolgt war, und der Farmer hustete einige Male, als wisse er nicht recht, wie seine Worte einzuleiten.

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Miß, weil Sie einen rauhen Bären hier sitzen sehen,“ begann er endlich, „bei uns auf dem Lande tragen sie keine feinen Handschuhe, sie meinen’s aber darum vielleicht desto aufrichtiger!“

„Ich fürchte mich nicht!“ erwiderte sie leise, während ihr großes, trauriges Auge in den treuherzigen Zügen des Fremden hängen blieb.

„Well, so denke ich, Sie kommen einmal zu mir her und hören, was ich Ihnen sagen möchte,“ fuhr der Letztere fort, den möglichsten Grad von Freundlichkeit in sein verwittertes Gesicht legend; „wissen Sie: hören soll der Mensch Alles, heißt’s in Amerika, das Thun steht nachher Jedem frei!“

Sie näherte sich, ohne eine Miene zu verändern, während der Alte rasch einen der Stühle am Tische zurückschob. „So, jetzt setzen Sie sich hierher,“ sagte er, „und nun,“ fuhr er fort, als das Mädchen ungezwungen seiner Aufforderung folgte, „nun geben Sie mir einmal Ihre Hand – Sie geben sie einem rechtschaffenen Manne und brauchen sich nicht zu scheuen!“

Es war ein eigenthümlicher Anblick, dieses jugendliche Gesicht, das regungslos kaum etwas von den Bewegungen des übrigen Körpers zu wissen schien. So legte das Mädchen, fast wie mechanisch, kalt und still ihre Hand in die des Farmers, und dieser sah eine Weile in ihr ausdrucksloses Auge, schloß dann warm seine Finger um die ihren und schüttelte endlich den Kopf.

„Wissen Sie, Miß, es ist ein schlimmes Land, das Amerika,“ begann er wieder, „es ist noch Keiner herübergekommen, der nicht irgend etwas, woran sein Herz gehangen, hat fahren lassen müssen – ich weiß ja wohl, Sie haben einen schweren Verlust gehabt; aber das Grämen thut’s hier nicht, und der Mensch muß immer vorwärts und nicht zurücksehen – hab’ es auch erst lernen müssen, so alt ich bin. Hier ist Jeder selber sein bester Freund, und wenn er nicht auf sich sehen will und sich an Verlorenes hängt, geht er selber mit verloren. Sie sehen so verständig aus, so jung Sie auch sein mögen, daß ich Ihnen das wohl sagen kann. Jetzt möcht’ ich aber doch einmal wissen, ob Sie wirklich das sind, was ich mir gedacht habe, eine starke, junge Lady, die einsieht, um was es sich handelt, oder ob Sie mit sich ungefragt thun lassen, was eben kommt. Haben Sie denn schon einen Gedanken wegen Ihrer Zukunft gehabt, Miß?“

Das Auge des Mädchen ruhte ernst und forschend in des Fragers Gesicht. „Mein Vater ist eben erst begraben worden, und ich weiß noch nicht einmal, wo!“ erwiderte sie mit einer leisen, tiefen Stimme, während es in ihrem Gesichte zuckte, als strebe sie mit Macht ihre Thränen zurückzudrängen.

Der Alte nickte einige Male rasch hinter einander. „’s ist so, und es könnte fast über die Kräfte eines alten Menschen gehen; aber es ist ein böser Lehrmeister, das neue Land, und das schärfste Mittel gegen nutzlose Trübsal sind neue Sorgen. Hier im Kosthause können Sie doch nicht bleiben; in Dienst zu gehen sind Sie auch noch zu schwach – und werden ohnedies nicht dazu passen, wenn auch Mancher in einen noch sauerern Apfel hat beißen müssen. Haben Sie denn Jemand in Deutschland, auf den Sie sich verlassen können?“

In dem Auge des Mädchens begann es sich zu regen, als ob neue Gedanken in ihrer Seele aufschössen. „Ich weiß Niemand in Deutschland, der sich groß um mich kümmerte,“ sagte sie nach einer Weile; „Mutter starb vor zwei Jahren und Vater ging fort, weil er es mit der Revolution gehalten hatte.“

Der Alte nickte wieder, als sie schwieg. „Und so müssen Sie jetzt doch allein an sich denken, trotz allen Kummers!“ versetzte er. „Hören Sie einmal ein Wort, das mir vom Herzen kommt. Ich weiß nicht, wer Sie sind, noch was Sie haben, aber ich wollte, Sie könnten so viel Zutrauen zu mir fassen, als ich Gefallen an Ihnen finde. Ich wohne, was sie hier „im Westen“ nennen und wo die meisten Einwanderer hingehen –“

„Vater wollte auch nach dem Westen!“ unterbrach sie ihn mit aufleuchtenden Augen.

„’s ist schon recht!“ nickte Kreuzer. „Da habe ich eine Farm – oder ein Bauerngut, wenn Sie das besser verstehen; eine schöne Gegend rings herum, und auch Gesellschaft genug von Deutschen und Amerikanern; habe eine brave Frau, aber blos zwei Jungen – es hat einmal kein Mädchen geben sollen, so sehr sich auch meine Alte danach gesehnt hat. Nun weiß ich, daß ich keine größere Freude anrichten könnte, als wenn ich eine Tochter in’s Haus brächte – die Sache fuhr mir gleich durch den Kopf, als ich Sie so im Jammer an der Hausthür sah – da haben Sie Alles! Und nun,“ fuhr er, ihre Hand drückend, fort, „denken Sie sich die Sache selber durch; ich kann Red’ und Antwort geben über meine Verhältnisse; – wenn Sie eine neue Heimath haben wollen, so sollen Sie eine haben, gedrängt sollen Sie aber nicht dazu werden! Morgen früh komme ich wieder, bis dahin sind Sie ja wohl mit sich einig geworden!“

Er erhob sich langsam, den Blick auf ihr ruhen lassend, als wolle er ihr Gesicht recht seinem Gedächtniß einprägen, und drehte sich dann nach dem Wirthe. „So, und nun sprecht ein vernünftiges Wort zu dem Kinde, damit sie weiß, wie es hier steht; und wollt Ihr selber klaren Bescheid über mich haben, so fragt bei Mr. Schmidt, dem Consul, nach; ich heiße Michel Kreuzer aus Iowa!“ Er nickte noch einmal dem „Kinde“ zu und wandte sich dann nach der Thür. – –

Zwei Tage nach dem soeben Erzählten saß Kreuzer mit dem jungen Mädchen in einem Wagen der New-Yorker Central-Eisenbahn und rollte dem Mississippi entgegen.

Der Farmer hatte den Ellbogen in das offene Fenster an seiner Seite gestützt, sah in den sonnigen Morgen hinaus und lächelte, wie in einer erfrischenden Erinnerung. Als er am Morgen nach dem von ihm gemachten Anerbieten wieder in das Kosthaus in Greenwich-Street getreten, war ihm das Mädchen in voller Fassung [627] entgegen gekommen, hatte ihm zuerst die kleine schmale Hand gereicht und gesagt, wenn er sie als Tochter annehmen und für eine kurze Zeit mit ihr Geduld haben wolle, bis sie sich in das amerikanische Leben gefunden, so wolle sie mit ihm gehen, und er möge glauben, daß sie Alles für seine und der künftigen Mutter Zufriedenheit thun werde. Kreuzer hatte ihr derb die Hand geschüttelt und erwidert, sie solle nur guten Muth haben, das Amerikanische lerne sich ganz geschwind, und wenn sie erst einmal vier Wochen bei ihnen auf dem Lande zugebracht, werde sie gar nirgends andermehr hin wollen; sei sie aber bereit, mit ihm zu gehen, so möge sie hier kurzen Abschied machen, er werde, was etwa noch für sie berichtigt werden müsse, mit dem Wirthe ordnen. Der Wirth aber schien nur auf so etwas gewartet zu haben, war jetzt herangetreten und hatte gemeint, das sei wohl das Beste, dann könne das ganze Gepäck des Verstorbenen gleich mit fortgenommen werden, es sei noch nichts davon angerührt – hatte dann hinter dem Schenktische ein großes Buch hervorgeholt und darin angefangen zu rechnen, bis er endlich mit einem halben Kopfwiegen gesagt, Alles zusammen möge etwas über dreißig Dollars betragen, er wolle aber mit dreißig zufrieden sein. Kreuzer war schon mit der Hand nach seinem Geldbeutel gefahren, als das Mädchen plötzlich seinen Arm gefaßt. „Das ist wohl nicht ganz recht so, Herr Schwarz,“ hatte sie begonnen, während ihr Gesicht sich zu beleben anfing. „Vater hat genau aufgeschrieben, was wir schuldig waren und was bezahlt worden ist, und als er es nicht mehr konnte, hab’ ich es gethan. – Noch den Tag, ehe Vater starb,“ hatte sie hinzugesetzt, während es in ihren Augen und um ihren Mund spielte, als zwinge sie die aufsteigende Weichheit hinab, „bezahlte ich die Rechnung des Doctors, weil er es so verlangte, wie die Arznei, und der Frau Schwarz gab ich ein Zehn-Dollar-Goldstück für andere Ausgaben – vorgestern aber habe ich Ihnen erst unser Kostgeld für die letzte Woche bezahlt, ich kann Ihnen das Buch holen –!“

„Wird ja wohl nicht nothwendig sein, und der Fehler sich hier schon finden!“ hatte Kreuzer genickt, indem ein sichtliches Vergnügen durch sein Gesicht zuckte, und der Gedanke, welcher ihn im Eisenbahnwagen bei der Erinnerung an diese Scene lächeln machte: „Die läßt sich in Amerika einmal nicht die Butter vom Brode nehmen,“ war damals durch seine Seele geschossen, „’s ist ein bischen viel, Alter, dreißig Dollars für das Begräbniß, was ich mit angesehen habe, wenn das nicht etwa schon mit ein oder zwei Zehn-Dollar-Goldstücken bezahlt ist – wollt Ihr nicht lieber noch einmal nachrechnen?“ Er hatte gleichzeitig zwei Goldstücke auf den Schenktisch gelegt, der Wirth, der erst auffahren wollte, hatte sie brummend in den Geldkasten geworfen und dann mit ärgerlichem Gesichte das Zimmer verlassen.

Zwei Stunden darauf war das Mädchen mit drei großen Kisten in dem Hotel des Farmers einquartiert, und dieser hatte sich auf den Weg gemacht, um das Grab des Verstorbenen zu erkunden. Die Tochter hatte den Wunsch, vor ihrer Abreise Abschied davon zu nehmen, so dringend ausgesprochen, daß der Alte kein Wort dagegen hatte sagen mögen.

Sie frug nicht, sie zweifelte nicht, als er, nach einer langen stillen Fahrt mit ihr angekommen, auf das Merkmal, welches er errichtet, deutete; sie ging langsam auf den niedern Hügel los, brach dort in die Kniee und fiel mit der Stirn in den aufgeworfenen Boden. So lag sie lange, und nur das krampfhafte Zucken ihres ganzen Körpers gab Zeugniß von dem Ausbruche ihres Schmerzes. Kreuzer hatte sich, von einem weichen Gefühle übermannt, weggedreht; als er sich aber wieder zurückwandte, kam sie ihm mit gefaßtem Gesichte entgegen und reichte ihm mit großen vertrauenden Augen, an deren Wimpern noch die Tropfen hingen, schweigend die Hand. –

Kreuzer’s Lächeln, mit welchem er im Eisenbahnwagen die einzelnen Scenen an sich hatte vorübergehen lassen, war schon längst gewichen; er drehte sich jetzt nach dem neben ihm sitzenden Mädchen herum und legte die breite, schwielige Hand auf die ihrige. „Bist Du jetzt zufrieden und ruhig, Mary?“ sagte er mit einem Tone, der fast an Zärtlichkeit streifte.

„Ja, Vater!“ erwiderte sie, den klaren Blick zu ihm aufschlagend.




Es war ein stiller, lauer Abend, als die Postkutsche nach einer halben Tagereise voll Rütteln und Stößen die Reisenden an einem riesigen Blockhause absetzte. Sie hatten am Vormittag das Ufer des obern Mississippi verlassen.

„Jetzt haben wir nur noch zwei kleine Meilen,“ sagte Kreuzer, „und sind in kaum einer Stunde zu Hause, machen uns bis dahin einen Spaziergang und lassen das Gepäck so lange hier!“

Er wandte sich nach dem Hause, in dessen Thür eben der Besitzer getreten war und ihm die Hand entgegenstreckte.

Das Gepäck, von welchem der alte Farmer gesprochen, war indessen von den drei Kisten, die Mary als Erbtheil ihres Vaters erhalten, bis zu einem der eigenthümlichen amerikanischen Koffer zusammengeschmolzen. Als Kreuzer die wohlgefügten und an allen Seiten mit Eisen beschlagenen Breter aufgebrochen, hatte sich neben einer großen Sammlung deutscher Bücher so viel deutscher, für Amerika kaum brauchbarer Kram vorgefunden, daß sich der Alte nach oberflächlicher Uebersicht nicht lange mit Betrachtung der einzelnen Gegenstände aufgehalten, die Bibliothek seinem Advocaten zum möglichst besten Verkauf übergeben und den Rest nach einem Auctionslocale gesandt hatte. Was in Mary’s Koffer jetzt geborgen war, bestand nur aus deren reichlichem Vorrathe an Wäsche und Bekleidungsstücken und ihres Vaters goldener Uhr. In des Farmers Taschenbuche aber ruhte ein auf „Mary Kreuzer“ ausgestellter Depositenschein einer New-Yorker Bank über verzinsliche 763 Dollars, den Betrag dessen, was mit dem Erlös der verkauften Gegenstände zusammengenommen der Verstorbene hinterlassen.

Das Mädchen sah mit sinnendem Auge auf die Gegend, die ihre Heimath werden sollte, und erst als der Wald sie längst wieder aufgenommen, als der Farmer nach Ersteigung einer Anhöhe in eine sich öffnende Klärung hinab zeigte, wo zwischen weit ausgedehnten Feldeinzäunnugen ein neues, sauberes Holzhaus sich erhob, und als er mit einem Blicke, welcher die ganze Befriedigung des heimkehrenden Besitzers aussprach, sagte: „Da sind wir, Mary!“ erst da überkam das Mädchen ein leichtes Gefühl von Beengung, wenn sie an die Personen dachte, unter die sie jetzt treten sollte, und von denen sie noch Niemand kannte. Sie wußte, daß der Alte von ihrem Mitkommen schon im Voraus geschrieben und ihr dadurch die Pein aller Erklärungen bei ihrem ersten Eintritte erspart hatte; trotzdem konnte sie eine Art ängstlicher Scheu, je näher sie dem Hause kam, je weniger los werden.

Sie bogen in eine von den Feldeinzäunungen begrenzte Straße ein, die gerade auf das Haus zuführte, und hatten bald den freien Platz vor demselben erreicht. Nichts regte sich darum her, und es war dem Mädchen, als lege sich diese Stille jetzt noch zu größerer Beengung auf ihr Herz; der Farmer aber ließ ihre Hand los und ging mit großen Schritten ihr voran nach der von einem breiten Dache überschatteten Hausthür, öffnete diese rasch und steckte den Kopf in die Lücke. „Komm nur her, Kind,“ rief er dann zurück, „Mutter ist gerade da!“

In einem freundlichen, weißgetünchten Zimmer, das zum Theil von einem großen zweischläferigen Bett eingenommen ward, erhob sich eine ältliche Frau aus dem hölzernen Schaukelstuhle und ließ schweigend einen musternden Blick über die ganze Gestalt der Eingetretenen laufen. Mary war stehen geblieben und hielt das große Auge ernst auf das Gesicht der Farmersfrau geheftet, bis diese ihren Blick traf und Beider Augen eine Secunde lang in einander hingen.

„Geh heran, Kind, scheu’ Dich nicht und gib der Mutter die Hand,“ sagte Kreuzer aufmunternd – „weißt Du,“ wandte er sich an seine Frau, „sie ist noch traurig, aber das gibt sich, und Verstand hat sie auch genug – ich könnte selbst ein Stückchen davon erzählen!“ setzte er mit einem halben Lachen hinzu.

Mary trat, ohne ihren Blick zu ändern, langsam auf die Frau zu und streckte ihre schmale, weiße Hand aus. „Herr Kreuzer hat mir gesagt, ich solle ihn Vater nennen, und Sie würden auch gern eine Tochter in Ihr Haus aufnehmen, die Alles thun will, damit Sie mit ihr zufrieden sind,“ begann sie mit tiefer, bewegter Stimme.

„’s ist Alles recht, Mädchen, und ich habe gar nichts dawider,“ unterbrach sie die Frau, eine kalte, steife Hand in die ihre legend, „wenn Du nur nicht zu vornehm für unser Leben hier sein wirst. Es ist kein Zuckerlecken, die Farmarbeit; es sieht noch wild aus um uns herum, und da muß Alles mit anfassen, was im Hause ist – Du nimmst Dich mehr wie ein Fräulein aus, als eine Farmersdirne, und um Grobes scheinen sich die weichen Hände auch noch nicht bekümmert zu haben!“

„Ei was! mach’ mir dem Kinde das Herz nicht gleich zu Anfange schwer!“ rief Kreuzer mit einem Anfluge von Verdrießlichkeit, „sie hat das rechte Zeug in sich, und das Andere findet sich von selber!“

[628] In diesem Augenblicke sprang die Hinterthür des Zimmers auf, und geräuschvoll trat ein junger Mensch von fünfzehn oder sechzehn Jahren ein, in dem breiten groben Strohhute, der ein gebräuntes Gesicht beschattete, dem dunkel gestreiften Hemde, um das sich die Beinkleider nur von einem Gurt gehalten schlossen, und den bloßen Füßen in den derben Schuhen, das rechte Abbild eines westlichen „Farmerboy’s“.

„Halloh, Vater, wieder da?“ rief er, den Alten erblickend; zugleich aber fiel sein Blick auf das Mädchen, welches das unverändert ernste Auge nach dem Eingetretenen gewandt hatte, und plötzlich inne haltend, starrte er mit halboffenem Munde die neue Erscheinung an.

„Komm nur her und reich’ ihr die Hand, ’s ist Deine neue Schwester Mary,“ rief Kreuzer, sichtlich seine gute Laune wiedergewinnend; „Mutter wird Euch ja wohl erzählt haben!“

Der Bursche warf einen Blick nach der Frau und dann wieder nach dem Mädchen. „So, das ist sie?“ sagte er endlich, „sie ist anders, als ich mir gedacht – ich glaube aber hübscher, wenn auch nicht so lustig!“ Ein Lächeln wie in halber Befangenheit ging über sein Gesicht; dann trat er heran und schüttelte der Angekommenen derb die Hand, den Blick auf ihre Züge geheftet, als müsse er sich erst damit vertraut machen.

„Well, Ihr werdet müde und hungrig sein,“ begann die Frau wieder; „Heinrich mag Euere Sachen mit dem Wagen vom „Point“ holen, und ich werde unter der Zeit sehen, daß ich ein Unterkommen zurecht mache. Bis dahin ist dann auch das Essen bereit. Jetzt, Mädchen, sage „Du“ zu mir, wie sich’s bei gemeinen Leuten für eine Tochter paßt, und mit der Zeit, denke ich, werden wir mit einander fertig werden. Heute Nacht schläfst Du mit der Magd, und morgen werden wir zusehen, wie sich anders Rath schaffen läßt!“

„Ich bin mit Allem zufrieden, Mutter,“ erwiderte Mary, das dunkle Auge zu ihr aufschlagend, „sage mir nur, was ich thun soll!“

„’s ist schon recht!“ nickte die Frau, „heute heißt’s ruhen, morgen werden wir dann weiter sehen!“

Der erste Strahl, welchen am andern Morgen die aufgehende Sonne über den Wald schoß, fiel in das Giebelzimmer von Kreuzer’s Hause, und zauberte Rosen auf das bleiche Gesicht des jungen Mädchens, das dort auf einer Maisstroh-Matratze unter einer der gebräuchlichen Steppdecken lag. Leicht sprang sie von ihrem Lager. Wer sie beobachtet, hätte durch die ganze Gestalt, von den kleinen zierlichen Füßen an, bis zu der biegsamen Taille und dem feinen Halse an die flüchtige Antilope erinnert werden müssen.

Geräuschlos vollbrachte sie ihr Reinigungswerk und ihren einfachen Anzug, öffnete dann leise die Thür und eilte mit leichten Schritten die Treppe hinab. Im Hause war noch nirgends ein Laut hörtbar; sie schob behutsam den Riegel von einer Hinterthür und trat hinaus in’s Freie.

Mary warf einen Rundblick über die Morgenlandschaft und folgte dem ersten Pfade, welcher dem Walde zuführte; sie horchte, ob sie nicht den Gesang einer Lerche oder den Schrei eines andern Vogels höre, aber Feld und Wald waren stumm, und nur ein dumpfes Brummen unter den umherlagernden Kühen unterbrach zeitweise die Morgenstille. Eine kurze Minute lang dachte das Mädchen daran, wie hier selbst die Natur so ganz anders, so viel weniger freundlich als in ihrer Heimath sei; dann aber stand wieder der gestrige Abend mit seinen Erlebnissen, der eine scharfe Grenze für ihre ganze Zukunft bilden sollte, ihr vor der Seele. Sie hatte sich jetzt so früh aufgemacht, um eine halbe Stunde mit sich allein zu sein, ehe sie der Frau, die sie Mutter nennen sollte, wieder entgegentreten mußte.

Nach dem Tode ihrer Mutter hatte sie mancherlei Arten von Druck mit ihrem Vater durchmachen und Selbstständigkeit lernen müssen; sie fühlte, daß sie Kraft habe, sich in die fremdeste Lebenslage hineinzufinden, und mit dem Betreten von Kreuzer’s Hause war ihr früherer Entschluß wieder hell vor ihre Seele getreten – aber das erste Begegnen mit der Farmersfrau hatte ihr das offene Herz fast wieder zugeschnürt. Bei dem ersten Blicke, welchen sie mit jener getauscht, war es ihr gewesen, als könne sie in diesem kalten, grauen Auge lesen, daß sie dort nie auf eine verwandte Empfindung treffen werde; selbst in dem Blicke des Sohnes war ihr nach dessen erstem Gruße ein Etwas eingegen gesprungen, das ihr Gefühl beleidigte, ohne daß sie sich eine rechte Ursache dafür hätte angeben können. Nur der zweite Sohn vom Hause, ein Bube von zehn Jahren, der den vollen treuherzigen Blick seines Vaters geerbt und ohne Scheu schnell mit ihr Freundschaft geschlossen, sowie der alte Kreuzer selbst, standen als freundliche Bilder vor ihr. Als ihr Koffer angekommen war, hatte die Frau sogleich eine Besichtigung des Inhalts vorgenommen, hatte die ganze Ausstattung, welche ihr Vater noch in Deutschland für sie hatte anfertigen lassen, Stück für Stück herausgelegt und endlich den Kopf geschüttelt. „Ja, was sollen alle die feinen Sachen hier im Hinterwalde, wo wir noch lange nicht daran denken dürfen, die Lady zu spielen?“ hatte sie gesagt; „mit weißen Strümpfen können wir nicht durch Morast und nasses Gras zu den Kühen gehen, und bei solchem Unterzeuge würden wir hier mit Waschen nicht fertig!“

„So wird Anderes angeschafft,“ hatte der Alte gebrummt, der, dicke Dampfwolken aus seiner Tabakspfeife blasend, seine Frau eine Weile beobachtet hatte.

Es war nicht die Schwäche eines kleinen Charakters, es war ein voller, bewußter Entschluß gewesen, der Mary’s Seele sich unter die herben Worte der Frau beugen hieß. „Es wird mir nichts sauer ankommen, Mutter,“ hatte sie gesagt, „wenn Du nur mit mir Geduld haben willst, bis ich weiß, was ich zu thun habe. Ich konnte nichts mitbringen als meinen guten Willen, über den aber sollst Du Dich nicht zu beklagen haben!“

Es mußte, der kaum sichtbar gewordenen Sonne nach, noch sehr früh sein; der Pfad hatte sie zu einem rohgearbeiteten Gatterthore geführt, hinter welchem ein Fahrweg am Saum des Waldes entlang lief, und eben überlegte sie, ob sie weitergehen oder schon zurückkehren solle, als ein Knall dicht vor ihr die Morgenstille unterbrach und ihr einen leichten Schrei entriß. Im nächsten Augenblicke sprang ein junger Mensch, eine kurze Büchse in der Hand, aus dem Gebüsche, ließ die Augen über den Boden gleiten und hob dann ein getödtetes Eichhörnchen aus dem Grase auf. Sein nächster Blick traf das Mädchen am Gatterthor, das mit einem Lächeln, als schäme sie sich ihres Schreckens, die neue Erscheinung betrachtete, und eine unverhohlene Verwunderung begann in seinem Gesichte aufzusteigen. Eine Secunde lang starrte er sie schweigend an, dann breitete sich ebenfalls ein Lächeln, wie widergespiegelt von dem ihrigen, über seine Züge, und mit einem leichten Roth im Gesichte trat er näher. Er mochte etwa achtzehn Jahre alt sein, aber die modische, städtische Kleidung, wie die Art seiner Haltung verriethen, daß er mehr als den Hinterwald gesehen. Er hatte sie angeredet, aber das Mädchen konnte nur mit einem neuen Lächeln den Kopf schütteln, sie verstand kein Wort des Gesagten.

„Nix inglisch sprecken?“ fragte er, ihr Kopfschütteln wiederholend, und eine gleiche Pantomime war Mary’s Antwort. Beide sahen sich eine Minute lang wie in halber Verlegenheit in die Augen, dann nickte sie einen leichten Gruß und wandte sich zum Rückwege. Sie konnte es aber nicht unterlassen, nach kaum zwanzig Schritten den Kopf noch einmal umzudrehen – da stand der junge Mensch noch auf derselben Stelle und sah ihr mit so hellen Augen nach, daß sie schnell den Blick abwandte, ohne sich doch eines rechten Grundes dafür bewußt zu sein; aber ein stilles Lächeln lag auf ihrem Gesichte, als sie rasch ihren Weg weiter verfolgte; und als sie dem Hause nahe kam, wo der große Hund soeben alle Glieder reckte und ihr dann mit einem leisen Schweifwedeln entgegenblickte, mußte sie sich niederbeugen und dem Thiere das zottige Fell klopfen, sie wußte ebenso wenig warum.

Aus der Vorderthür des Hauses war der alte Kreuzer, die kurze, dampfende Pfeife im Munde, getreten, einen behaglichen Blick über die Felder werfend. „Halloh! ist das Wiesel auch schon auf den Beinen?“ rief der Farmer, mit sichtlichem Gefallen ihre schmucke Erscheinung überblickend.

„Bin schon hinüber bis zum Walde gewesen,“ erwiderte sie, „– gehört der Wald auch mit zur Farm, Vater?“

„Gehört meinem Nachbar, dem amerikanischen Major,“ sagte er mit einem eigenthümlichen Stirnrunzeln, „– aber ich wollte etwas Anderes sagen, da Du gerade hier bist. – Weißt, Kind,“ fuhr er langsam vorwärts gehend fort, „meine Alte ist so gut, wie nur Eine, aber die Weiber haben alle ihre Eigenheiten, und Dir werden sie auch nicht fehlen, wenn Du erst älter bist. Also thue jetzt, was sie Dir sagt, und sei freundlich zu ihr, schicke Dich in sie, mir zu Liebe, und Du wirst sehen, daß schon in acht Tagen Alles geht, wie es nur soll.“

„Ich werde gewiß Alles thun, was ich kann, Vater,“ erwiderte sie, hell zu ihm aufsehend, und Kreuzer wandte sich kopfnickend nach dem Hause zurück.


(Fortsetzung folgt.)
[629]
Johann Peter Hebel und der Hebel-Schoppen.
Von Berthold Auerbach.

Beim „Hebel-Schoppen“ in Hausen.
Originalzeichnung von Luc. Reich in Rastatt.

Man erzählt von den beiden Brüdern Schlegel, daß sie einstmals eine gar vortreffliche Anekdote vortragen hörten.

Friedrich,“ sagte Wilhelm zum Bruder, als sie allein waren, „Friedrich, laß mir diese Geschichte! Laß mich sie gelegentlich anbringen.“

„Nein, du kannst sie nicht erzählen wie sich’s gehört.“

„Laß mir sie. Du hast schon lange meine silberne Dose besitzen wollen – gut, hier ist sie; behalte sie und laß mir dafür diese Geschichte als mein Eigenthum.“

Der Handel wurde abgeschlossen.

Nicht lange darauf gab sich Gelegenheit, daß Wilhelm die anmuthige Anekdote in einer Gesellschaft erzählte. Friedrich spielte dabei mit der silbernen Dose in der Hand; aber kaum war Wilhelm in der Hälfte der Geschickte, da rief Friedrich: „Da – da hast Du Deine silberne Dose wieder. Du verdirbst die ganze Geschichte! Ich werde die Sache berichten, wie sich’s gehört.“

So geht die Sage von den beiden Brüdern Schlegel, und in der That, es gehört zu den peinlichsten Empfindungen, eine gute Geschichte schlecht erzählen zu hören. Worin aber besteht die eigentliche Kunst, eine Anekdote gehörig zu erzählen? Wir haben in Deutschland sogar große Geschichtschreiber, sie können sehr schöne, sehr tiefe Betrachtungen anstellen über den grobkörnigen Charakter Blücher’s und über den abgefeimten Napoleon’s, aber den einen und den andern schildern, daß sie vor uns stehen, ja nur eine Thatsache aus ihrem Leben ganz plan und schlicht erzählen, daß wir sie mit erleben – das vermögen sie nicht, und weil sie das nicht im Stande sind, thun sie groß und sagen, es sei unter ihrer Würde, Anekdoten zu erzählen.

Allerdings sind das die besten Anekdoten, die sich mündlich weiter verbreiten; sie werden in der Regel bei Flüssigem, sei es Bier oder Wein, genossen, und bleiben selbst flüssig in der mündlichen Tradition, geschrieben werden sie leicht stockig und abgestanden. Es gibt aber doch auch einen geschriebenen Vortrag, in dem man, [630] so zu sagen den Ton der Stimme hört; die Buchstaben sind die gleichen, und doch hört man bald den leisen geheimnisvollen Klang, bald den vollen Einsatz der Stimme; man merkt die Kunstpausen, die zur nöthigen Spannung gemacht werden, man sieht das schelmisch vergnügliche Auge des Erzählers, seine wechselnden Gebehrden, ohne daß er dabei in schauspielerischen Vortrag kommt.

Der beste Erzähler dieser Art, ja das unerreichte Muster eines solchen ist Johann Peter Hebel, bekannt als „Rheinländischer Hausfreund“ und Verfasser der „Allemannischen Gedichte“.

Da haben wir’s nun sofort: zum richtigen Erzählen einer Anekdote gehört poetischer Sinn und Takt. Die Personen und Verhältnisse müssen leicht und bestimmt gezeichnet, mit einem leisen, nicht zu groben und nicht zu feinen Farbenauftrag versehen und zur schnellsten Uebersicht richtig gruppirt sein; man darf weder zu lange noch zu kurz bei den eigenthümlichen Merkmalen von Personen und Gegenständen verweilen. Man muß es dem Erzähler anmerken, daß er die Dinge kennt und sieht; dadurch kennt und sieht sie auch der Zuhörer vor sich. Am füglichsten ist dabei ein gewisser dramatischer Vortrag. Es geht gar nicht anders, wenn die richtige Wirkung hervorgebracht werden soll; man muß die Personen sprechen lassen und zwar rasch und knapp, ohne dabei in Angst zu sein, daß der Zuhörer gar zu sehr Eile habe. Denn es gibt auch Menschen, die mit ungeduldiger Hast und Genußsucht nur die sogenannte Pointe, den Spargelkopf wollen ohne den Stengel. Aber es wächst kein Spargelkopf ohne Stengel, keine Aehre ohne Strohhalm. Der echte Anekdoten-Erzähler muß sein eigenes Behagen und das seiner Zuhörer kennen und ermessen, dann werden solche kleine Geschichten zu wahren unvergänglichen Kunstwerken, und weil die Kunst ihr ewiges Vorbild in der Natur hat, so zeigt sich auch hier, daß nicht der Umfang dem Werke seine Schönheit und seine Bedeutung gibt, sondern das Ebenmaß, das in jedem herrscht, und das ist im Kleinen oft noch deutlicher und ausdrucksvoller als im Großen.

Es sind Dichter vergangen und werden noch Dichter vergehen, die umfangreiche Werke geschrieben haben, während – so weit sich voraussehen läßt – die kleinen mit künstlerischer Anmuth gebauten Geschichten Hebel’s als Eigenthum der deutschen Nation bestehen werden, so lange die deutsche Sprache besteht. Von keinem deutschen Dichter sind so viele Geschichten in alle Schulbücher übergegangen wie von Hebel. Sie sind nicht nur Muster von Correctheit im Satzbau, in der einfachen unverschnörkelten Ausdrucksweise, im zutreffenden Worte ohne aufgeleimte Verzierungen, ohne Verwahrungen mit „etwa“ und „wohl“ und „oft“ u. dergl.; auch der Ton des Vortrags ist ein so rein schöner und inniger, daß diese Erzählungen nicht gemacht, sondern gewachsen erscheinen, und sie haben darum die Eigenschaft der classischen Schriftsteller, die nicht Noth darunter leiden, wenn sie in Schulen grammatisch zerlegt werden. Die Hebel’schen Geschichten haben aber dabei auch in ihrer Art etwas wie das Volkslied, heiter und sinnig, übermüthig schalkhaft und dabei wieder voll reinster frommer Rührung ohne alle Frömmelei. So sind die Geschichten Hebel’s ein Eigenthum und eine Eigenthümlichkeit des deutschen Volkes, dem keine andere Nation etwas Gleiches zur Seite zu stellen hat; denn die Fabeln Lafontaine’s sind theilweise Aesop und Phädrus nachgeahmt, und die kleinen Gleichniß-Erzählungen Benjamin Franklin’s sind an Zahl viel geringer und auch weit mehr unmittelbar lehrhaft und weniger poetisch. Franklin häuft die Lehren z. B. in der kleinen Geschichte: „die Kunst reich zu werden“ zu sehr aufeinander; sie sind nicht auf dem Boden der eben erzählten Thatsachen gewachsen, sondern darauf zusammengetragen. Franklin läßt seinen Vater Richard viele an sich vortreffliche Sprüchwörter auf einmal vorbringen, theils selbst geschaffene, theils überkommene. Hebel geht äußerst sparsam mit dem Sprüchwort um; er häuft nicht das Korn aufeinander zur Aufbewahrung, er streut das einzelne Korn aus, daß es hinreichenden und lockern Boden finde, um zu wachsen. Franklin arbeitet immer auf einen bestimmten Zweck hin, Hebel will erheitern und dabei lehren und kräftigen. Ja, dieses nicht einmal immer. Er ist wie ein behaglicher Zecher; nicht jeder Schoppen ist für den Durst, es ist auch mancher zur bloßen Erheiterung und zur Geselligkeit. [2]

Mag es Schriftsteller geben, die aus Ehrgeiz, aus Ruhmsucht schreiben, um Aufsehen zu erregen, um sich geltend zu machen – sie mögen zeitweise Manches erreichen, Eines aber wird ihnen nie, ein Ruhm und eine Wirkung, die sie freilich gering anschlagen, und das ist der, daß ihre Worte von Kindeslippen gesprochen werden und daß Jeder noch im Alter sich deren erfreut. Erzählungen wie: der Schneider in Pensa, Kannitverstahn, der Husar in Neiße, Kindesdank und viele andere, kennt jeder deutsch lesende Knabe, und jeder Mann erinnert sich ihrer mit Freude.

Zwei Erzählungen aus dem Leben Friedrichs II. und Kaiser Josephs, „König Friedrich und sein Nachbar“ und „das gute Heilmittel“, wären ohne die schlichte und dabei dramatisch so glückliche Vortragsweise Hebel’s gewiß nicht so wie jetzt in die allgemeine Kenntniß gedrungen als Beispiele unbeugsamen Rechtssinnes und menschenfreundlicher Güte. Man denke sich, daß einer der redseligen heutigen Kinderbücher-Schreiber diese Geschichten vorzutragen hätte! Wir bekämen allerlei hochtrabende und hohle Redensarten in den Kauf, aber vor lauter Entzückungen und Ausrufungen des Autors kämen wir nicht zur einfachen Aufnahme des Gegenstandes. Gewiß, das Streben, die Jugend für alles Rechtschaffene und Edle zu erwecken, ist hoch zu rühmen; aber die Begeisterung der Autoren für die Sache ist noch nicht das Talent zur Darstellung derselben. Daß nur die vollendete Bildung und nicht die noch brausende Halbbildung zum schlichten einfach kernigen Ausdrucke gelangt, zeigt die musterhafte Vortragsweise der Märchen der Gebrüder Grimm. Hier ist die gleiche Tonart wie bei Hebel. – Die Betrachtungen über das Weltgebäude, die Thierschilderungen Hebel’s sollten noch heutigen Tags als Muster dienen, dann würde auch die aufgeputzte, schönthuerische Manier, mit der man heut zu Tage Naturwissenschaftliches populär zu machen sucht, verschwinden müssen.

In allen Schul-Lesebüchern sind die besten Stücke aus Hebel entnommen, und doch sind sie nicht eigentlich für Schul-Lesebücher geschrieben. Das bildet ihren besonderen Vorzug. Das Naturleben wie das Menschenleben macht nicht besondere Toilette für das Kind. Es gilt nur, das Auge des Kindes auf das Wesentliche zu lenken, Uebersichtlichkeit und Klarheit in die Dinge und Vorkommnisse zu bringen. Es wäre gut, wenn man einmal den Inhalt der deutschen Schul-Lesebücher einer genauen Prüfung unterwerfen würde.[3] Dann würde man auch finden, wie man jetzt aller Orten Geschichten für Kinder zusammenbraut, voll süßer Gefühle und reiner Lehren, deren innere Mattigkeit durch einen gewaltsam überschraubten Ton und deren innere Hohlheit durch einen Wortpomp verdeckt werden soll. Diese Producte werden vergehen, wie sie gekommen sind, während die Hebel’s bleiben, weil sie ein im Leben gereifter Mann und dazu ein Dichter schuf.

Erst als Hebel seine Dichterweihe von Gottes Gnaden in den allemannischen Gedichten bewiesen hatte, drängte es ihn dazu und fühlte er sich befähigt, dem Volke und gleichmäßig der Jugend Lehre und Erheiterung zu bieten. Er hatte das Schwabenalter bereits zurückgelegt, hatte sich in verschiedenen Lebenskreisen, wenn auch in engem Bezirk, umgethan, war reicherfüllt an Wissen und Erkenntniß, und nun wurde er der Hausfreund seines Volkes.

Hebel hat in der Sprache seiner Heimath am Oberrhein Gedichte geschaffen, die zu dem Besten gehören, was die deutsche Lyrik hervorbrachte. In ihnen ist ein neuer und eigenthümlicher Gemüthston; und es will viel heißen, auf diesem Gebiete einen neuen Ton anzugeben. Die allemannischen Gedichte sind ein volkgezeitigtes Ergebniß der Stimmung und Natur Hebel’s, wie der Stimmung und Natur seines Volksstammes. Diese Thatsache, daß ein Einzelner zur persönlichen Erscheinung und Ausdrucksweise eines Volksstammes wird, gibt den Gedichten Hebel’s eine mehr als blos literarische Bedeutung, wenn auch diese von großem Belang ist. Hebel hat einen bestimmten Volksstamm zum Träger, eine bestimmte Landschaft zum Schauplatz und eine bestimmte (seit dem 8. Jahrhunderte, seit der St. Gallischen Uebersetzung der ambrosischen Hymnen) nicht mehr schriftgemäße Sprache zum Ausdruck seiner dichterischen Empfindungen und Anschauungen – man kann nicht sagen gewählt, sondern der innersten Natur der Sache gemäß aufnehmen müssen.

[631] Die Dialektdichtung ist, im großen Ganzen betrachtet, der erste Anflug oder das Unterholz des deutschen Dichterwaldes, bis der Hochwald erwuchs. Bevor es eine allgemein gültige deutsche Schriftsprache gab, erschienen die Dichtungen natürlich im Dialekt, von denen jeder souverain war. Im 12. Jahrhundert gelangte der schwäbische Dialekt zu einer Oberherrschaft, bis im 13. Jahrhundert durch den Sachsenspiegel der sächsische Dialekt der allgemein schriftgemäßere wurde und endlich durch Luther sich in der Ausbildung zur hochdeutschen Sprache unwiderruflich feststellte. Wir haben ein Vorbild der deutschen Einheit in dem Verhältniß der Dialekte zur allgemeinen hochdeutschen Sprache. Ehedem war jeder Dialekt für sich souverain, nun aber herrscht in der Literatur, in Gesetzgebung, Kirche und Schule das Hochdeutsche. Das Majestätsrecht der Goldprägung steht der Centralgewalt des Hochdeutschen allein zu. Die Wissenschaften, die Dichtkunst höherer Formen, die Gesetzgebung etc. sind hochdeutsch. Für den Kleinverkehr, für die inneren Angelegenheiten der Provinz, des Hauses, behält der Dialekt seine Besonderheit als eine gewisse sprachliche Scheidemünze.

Im natürlich richtigen Verständniß dessen, was dem Dialekte zusteht, hat Hebel nie die größeren vielgliedrigen Formen der Dichtkunst, wie Epos und Drama, im Dialekte versucht, denn da würde sich nicht nur die Unzulänglichkeit desselben herausstellen, indem die Scheidemünze des Dialektes hierzu nicht ausreicht, es führte auch zu einer Zersetzung der so nothwendigen und geschichtlich festgestellten Einheit. Hebel hat nur die intimen Beziehungen und Vorkommnisse des provinzialen und häuslichen, die Besonderheiten des Gemüthslebens in den Bereich des Dialekts gezogen. Er versuchte nicht eine Restauration der seit Luther überwundenen Sprachzertheilung, er gab nur das in seiner Besonderheit lebendig Bestehende in seiner begrenzten Berechtigung wieder, und darum wurde er dichterisch und sprachlich zu einem Muster der Dialektdichtung.

Bei allem allgemein deutschen und allgemein menschlichen Kern, den diese Dichtungen enthalten, ist hier ein gewisses Reich des Gemüthslebens zum Ausdruck gekommen, das eben nur in dieser Form sich kund geben konnte. Die Sprache ist hier nicht Costüm, etwa eine eigene geistige Volkstracht, sie ist vielmehr die innerste und einzige Heimath, wenn man so sagen darf, der einzige Körper dieser Volksseele; oder – um durch ein anderes Bild zu erklären – bei aller Übertragung dieser allemannisch empfundenen und nicht blos allemannisch ausgedrückten Gedichte wäre es so, wie wenn man ein feines, für die Cither componirtes Musikstück, wobei das Instrument einer eigenthümlichen Vibration und ihm allein gehörigen Ansprache fähig ist, nun auf Violine oder Clavier übertragen wollte. Es bleibt unverkennbar dieselbe Melodie, aber es ist ihr ausschließlich eigenthümlicher Ausdruck nicht mehr.

Die Thatsache ferner, daß in einer uns nahen, uns vor Augen stehenden Landschaft und Einwohnerschaft die ganze Scala dichterischer Empfindungen sich ausdrücken ließ, das war die augenfälligste und unwidersprechlichste Beweisführung, daß es nicht nöthig ist, in romantischer Ausschweifung in ferne Länder und vergangene Zeiten sich zu begeben, um dichterisch Entsprechendes zu finden und zu bilden. Hebel that aus sich den von Goethe geheischten „Griff in’s volle Menschenleben“ und er „fand das Schöne nah.“

Aus den Gedichten Hebel’s stieg Etwas auf, wie der Brodem frischgepflügten Erdreichs. Die Einsichtigen erkannten es und die dumpf dahin Lebenden fühlten es: der Boden deutschen Lebens ist noch überall so reich und zeugungsfrisch, daß Blüthe und Frucht der Schönheit in ihm gedeiht. Nicht nur in verklungenen Sagen aus der alten Zeit, im „schönen Aberglauben“, wie man es nannte, besteht die innere Poesie des deutschen Volkes; sie ist zu allen Zeiten da und überall, an keine äußere Tracht und keine altherkömmlichen Gebräuche gebunden; es gilt nur, daß eines Dichters Auge die Schönheit finde und sie mit seinem Worte erlöse.

Mitten in schweren Kriegesnöthen, mitten in der Auflösung des Reichs entfaltete sich eine Blume heimischer Poesie und erklang die bescheidene und liebliche Dichterstimme Hebel’s, wie die wilde Rose im stillen Thale blüht, wenn auch lärmende Kriegsschaaren die Heerstraße daher ziehen; wie die Lerche sich jubelnd in die Luft erhebt, mögen die Menschen da drunten in allerlei Hader und Zank und Wirrniß sich das Leben verbittern.

Hebel machte aus seinen Allemannen keine arkadischen Schäfer. Wie er ihnen die Sprache ihres Lebens ließ, so behielten sie auch die ganze derbe, lebensgetreue Erscheinungsweise. Nicht nur in der Heimath wurden diese nach Gehalt und Gestalt neuen Dichtungen mit herzlicher Freude aufgenommen, auch das gesammte deutsche Volk, soweit das Verständniß dafür erschlossen werden konnte, erkannte die Stimme eines Bruderstammes aus dem Munde des Dichters. Jean Paul pries den Dichter laut, und Goethe ging, ihm volles Lob spendend, auf das innerste Wesen dieser Dichtungen ein. Auffallend ist, daß Schiller, der als Schwabe dem Verständniß des Allemannischen so nahe stand, und der eben damals sich mit seinem schönsten Helden aus dem allemannischen Volke trug, soweit bisher bekannt, keinerlei Aeußerungen über die Gedichte Hebel’s that.

Einen eigenthümlichen Vergleich böte Hebel mit dem schottischen Dichter Robert Burns, der ein Jahr vor Hebel geboren wurde und vier Jahre vor dem Erscheinen der allemannischen Gedichte starb. Burns, in einer dichterisch viel reicheren Landschaft geboren, weit mehr von alten Liederklängen erfüllt, war und blieb, eine kurze Beamtung ausgenommen, ein Bauer; er verharrte nothgedrungen in der ländlichen Beschränktheit und empfand diese als eine hindernde Schranke, die er durchbrechen wollte, während Hebel aus den erweiterten Kreisen des Staatslebens und der Wissenschaft sich wieder dichterisch in die ländliche Beschränktheit zurückversetzte. Während Burns einen Verfall der Vermögensverhältnisse seiner Eltern in der Kindheit mit erlebte, und sein ganzes Leben auf und ab zwischen materiellem und geistigem Verkommen und Sicherheben zu ringen hatte, ist Hebel in Noth und Armuth aufgewachsen, und hat sich durch die Güte der Menschen und eigene Ausdauer daraus emporgearbeitet. Während es in Burns’ Gemüthe oft ist, wie in den Schrunden und Schluchten des Hochgebirges, wo auf übereinander geworfenen Felstrümmern der stille Vogel sich niederläßt, und manche Blume zu ihrem eigenen Genügen aufblüht und verwelkt, bis ein Gewitter herniederrauscht, schäumende Wasserstürze sich über die Felsen ergießen und hochaufbrausen, um dann wieder dürre Oede zurückzulassen; so ist dagegen das Gemüth Hebel’s wie ein stiller See von Blumen bekränzt, in dem die Bäume ihr Spiegelbild erschauen und die Sterne wiederstrahlen. Burns bringt mit hinreißender Energie die persönliche und momentane Stimmung zum stärksten und ergreifendsten Ausdrucke; Hebel tritt mit seiner Persönlichkeit kaum merklich hervor; er behandelt ein Leben, das ihm in Erinnerung steht und zu dem ihn die Sehnsucht führt, das ihm aber äußerlich fremd geworden. Die Leidenschaft kennt Hebel nicht, mindestens findet sie keinen Ausdruck in seinen Dichtungen. Er ist früh zu einem stillen Sichbescheiden gelangt, und wenn er später im Leben über manche Ungemächlichkeiten klagt, geschieht es in jenem Tone, der das Mißliche erkennt, aber im Ganzen an keinem gegebenen Lebensverhältnisse ernstlich oder gar in Leidenschaft und Trotz rütteln mag. Die geistliche Würde und der geistliche Beruf gab Hebel eine gewisse Sänftigung, eine Einordnung, die scharf absticht gegen das wildbewegte Leben des Schotten, der in seiner dürftigen und abhängigen Stellung die ersten großen Thatsachen der französischen Revolution wie eine persönliche Erlösung und die Erlösung seiner Standesgenossen empfand.

(Schluß folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Dr. A. E. Brehm.
Nr. 1. Das Kamel.

Die Leser des Jahrgangs 1856 der Gartenlaube erinnern sich gewiß der gelungenen Abbildungdes hochberühmten und vielbelobten Wüstenschiffs und haben sicherlich die vortrefflich geschriebene Erläuterung zu dem rührenden Bilde mit großer Theilnahme gelesen. Meinem Herzen hat die Wärme, mit welcher mein geehrter Mitarbeiter vom Kamel spricht, ungemein wohlgethan, obgleich ich [632] durch jahrelangen Verkehr mit dem lieben Thiere zu einer etwas abweichenden Ansicht gekommen bin. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich diese hier mittheile; denn Verzeihung habe ich nöthig, da ich darauf hinausgehe, dem Kamele ein kleines Stückchen seines Heiligenscheines zu entreißen. Ich will Niemand täuschen; deshalb erkläre ich von vorn herein, daß ich mein Beginnen mit lebhaftem Bedauern und als Frevel ansehe, als Frevel an dem durch gemüthliches Nachschreiben und Weitererzählen unumstößlich Festgestellten, als Frevel an einem Geschöpf, welches man als entsagungsvollen, bescheidenen, sanften, anspruchslosen, milden, treuherzigen, menschenfreundlichen etc. Dulder, ja, als halben Engel anzusehen gewohnt ist. Die Wahrheit verlangt aber, daß auch ich rede, und ihr muß ich selbst den Heiligenschein eines Kameles opfern.

„Hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel!“ Unsere erfindungstüchtigen, eine bilderreiche Sprache liebenden Hochschüler gebrauchen den Ausdruck „Kamel“, wenn sie einen Menschen bezeichnen wollen, welcher die hervorragendsten geistigen Eigenschaften eines Ochsen, Esels, Schafs und Maulthieres in glücklichster Weise in sich vereinigt. Mit wahrer Bewunderung habe ich die überaus treffende Wahl gerade dieses Worts erkennen lernen. Das vierbeinige Kamel vereint wirklich das Wesen der genannten Thiere in sich und ist demnach zu einem Sinnbilde mit Glück zu gebrauchen. Ja, leider ist das Kamel nichts weniger, als „heldenmüthig, bescheiden, klug, sanft, fromm, liebevoll etc. etc. etc.“ – wie es gewöhnlich geschildert wird, sondern vielmehr das gerade Gegentheil von all Diesem. Ich will ganz einfach einige Bilder aus der Wüste hier nachzuzeichnen versuchen und es meinen Lesern dann überlassen, mit dem Endergebniß meiner Anschauungen übereinzustimmen oder nicht.

Versetzen wir uns einmal in das Einbruchsdorf einer Wüstenstraße. Die zur Fortschaffung des Gepäckes bestimmten Kamele sind seit gestern angekommen und fressen mit der unschuldigsten Miene die Wandung einer Strohhütte auf, deren Besitzer eben abwesend ist und es versäumte, sein Haus durch Dornen zu schützen. Die Treiber sind mit dem Umschnüren und Abwiegen des Gepäckes beschäftigt und brüllen dabei nach Leibeskräften und scheinbar mit solcher Wuth, daß man glauben muß, im nächsten Augenblick einen Mord begehen zu sehen. Einige Kamele unterstützen in Erwartung des Kommenden das Gebrüll mit ihrem eigenen; bei den übrigen, welche nicht mit brüllen, bedeutet das nur so viel, als: „Unsere Zeit ist noch nicht gekommen, aber sie kommt!“ Ja, sie kommt; denn die Sonne zeigt die Zeit des Nachmittagsgebetes, die Zeit jedes Beginnes nach arabischen Begriffen an. Nach allen Seiten hin stürmen die braunen Männer, um ihre häuserfressenden oder sonstwie unheilstiftenden Kamele einzufangen; bald darauf sieht man sie mit ihnen zurückkehren. Jedes einzelne Kamel wird zwischen die bereits gerichteten Stücke seiner Ladung geführt und mit einem unbeschreiblichen Gurgellaute gebeten, oder durch einige die sanfte Bitte sanft unterstützende Peitschenhiebe aufgefordert, sich niederzulegen. Mit äußerstem Widerstreben gehorcht das ahnungsvolle Geschöpf, dem eine Reihe schwerer Tage in grellen Farben vor der Seele steht. Es brüllt zuerst mit Aufbietung seiner ganzen Lunge in markerschütternder Weise und weigert sich verständlich und entschieden, seinen Nacken der Bürde zu bieten. Selbst der mildeste Beurtheiler würde sich vergeblich bemühen, jetzt auch nur einen Schimmer von Sanftmuth in seinem wuthblitzenden Auge zu lesen. Es fügt sich ins Unvermeidliche, nicht aber mit Ergebung und Entsagung, nicht mit der einem Dulder so wohlanstehenden Seelenruhe und Geistesgröße, sondern mit allen Zeichen der im höchsten Grade gestörten Gemüthlichkeit, mit Augenverdrehungen, welche unsern Muckern zum Vorbilde dienen könnten, mit ZÄhnefletschen, mit Stoßen, Schlagen, Beißen, kurz mit beispiellosem Ingrimm. Alle nur denkbaren oder besser undenkbaren Untöne orgelt es fugenartig ab, ohne auf Takt und Tonfall die geringste Rücksicht zu nehmen. Dur und Moll wird grauenvoll zusammengeworfen und mißachtet; jeder nur einigermaßen aN Wohllaut anklingende Ton wird der grenzenlosen Wuth geopfert, jeder Naturlaut verstümmelt und zerquetscht. Mein lieber geist- und wortreicher Freund Goltz allein würde im Stande sein, eine annähernd richtige Beschreibung solchen „Tonunwesens“ zu geben; ich fühle mich zu schwach dazu. Endlich scheint die Lunge erschöpft zu sein. Aber nein: es werden blos andere Stimmen gezogen, und in gräulicher Folge etwas kläglichere Weisen angestimmt. Die unaussprechliche Wuth, welche bisher die Seele des herrlichen Thieres erfüllte, scheint durch eine Selbstbetrachtung über die Sclaverei und ihre entsetzlichen Folgen auf Augenblicke verdrängt worden zu sein. Das Brüllen hat sich in ein klägliches Stöhnen verwandelt. Da ich leider keiner der thränenreichen Minnedichter unserer Zeit bin, kann ich blos in schlichter Weise meine Meinung aussprechen, welche dahin geht, daß das Kamel in seinem unendlichen Schmerz wahrscheinlich der goldenen Urzeit gedenkt, in welcher der Erdenteufel, Mensch genannt, dem damals stolz emporgetragenen Fetthöcker der Vorfahren unseres Thieres noch nicht die schwere Bürde auflegte, in welcher es frei und lustig die grünen, leider noch immer nicht wiederaufgefundenen Fluren in nächster Nähe des Paradieses durchstampfte. Die unsäglich traurige, erschütternde Klage des Dulders könnte einen Stein erbarmen. Aber das Herz der Kameltreiber ist härter als ein Stein; das Ohr der Peiniger ist taub für die wehmüthigen Kundgebungen der zartbesaiteten Seele des tief und innig fühlenden Thieres. Nicht einmal eine feinen Unmuth ausdrückende Bewegung wird ihm gestattet. Einer der Treiber stellt sich auf die zusammengelegten Beine des sanften Lammes und faßt mit starker Hand die Nase, um an dieser empfindlichen Stelle gelegentlich einen nach Erforderniß stärkeren oder gelinderen Druck ausüben zu können. Allerdings behauptet der Mann, daß er seine Glieder vor Bissen des „Viehs“ schützen müsse, und zeigt uns seinen Gefährten, dessen Arm von einem Kamele zerbissen und für immer zerstümmelt wurde; allerdings versichert er, daß ein wüthendes Kamel das scheußlichste aller Scheusale sei: allein meine Gerechtigkeitsliebe muß mich jetzt auch den Standpunkt des Kamels würdigen lassen.

Welche Schändlichkeit! Das edle Thier kann sich kaum rühren und soll belastet werden mit der schwersten Bürde, welche außer dem Elephanten überhaupt ein sterbliches Wesen tragen kann, es soll tagelang die schändliche Last schleppen! Ueber solche Erniedrigung bricht es in Erbarmen beanspruchende klagen aus, und der Unmensch schließt beide Nasenlöcher und entzieht ihm den zu solchen Klagen doch unentbehrlichen Athem! Selbst ein Engel würde bei solch einer schnöden Behandlung zum Teufel werden; ein Kamel aber ist weit entfernt, hat nie daran gedacht, irgend welche Ansprüche auf die unerläßlichen Eigenschaften eines Engels gemacht zu haben. Wen soll und kann es Wunder nehmen, daß es seine namenlose Entrüstung durch anhaltendes kräftiges Schütteln des Kopfes kundgibt? wer wird es ihm verargen, daß es zu beißen, mit den Beinen zu stoßen, aufzuspringen, die Last abzuwerfen, durchzubrennen versucht und dann von Neuem zu brüllen beginnt, daß man das Trommelfell vor dem Zerspringen besonders schützen möchte? Und gleichwohl schimpfen und fluchen die Araber noch über solche Ausbrüche gerechten Zornes! Sie, welche sonst alle Thiere mohammedanisch – christlich kann ich, seitdem ich in Spanien war und viele deutsche Spanier sah, hier leider nicht sagen – behandeln, rufen ihm jetzt Verwünschungen zu, wie „Allah jenarhlak abahk, djinsak, ja malâuhn, ja kelb, ja chansihr!“ – Gott verfluche Deinen Vater und Deine Art, Du alles Guten Barer, Du Hund, Du Schwein! – sie stoßen es mit den Füßen, prügeln es mit der Peitsche! Den inständigsten Bitten, den herzerschütterndsten Klagen, der unsäglichsten Wuth setzen sie kalte Mißachtung und höchst empfindliche Schmähungen entgegen! Während der Eine das Kamel an der Nase packt, legt ihm der Andere bereits den Sattel auf den Rücken; ehe es noch halb ausgeklagt hat, liegt auf dem Sattel die schwere Last. Jetzt läßt der Vorderste die Nase los, der Hinterste handhabt die Peitsche wieder: das niedergebeugte Thier soll sich erheben. Noch einmal sucht es seinen ganzen ungeheuren Horn, seine tiefste Verachtung gegen den Menschen in einen einzigen Schrei zusammenzufassen, noch einmal brüllt es beim Aufspringen wuthschnaudend auf, dann schweigt es den ganzen übrigen Tag, wahrscheinlich im Gefühl seiner eigenen Größe und Erhabenheit. Es erachtet es für zu kleinlich, für zu erbärmlich, den tiefen Schmerz seiner Seele über die ihm angethane Entwürdigung noch durch äußere Zeichen dem niederträchtigen Menschen kundzugeben, und geht von nun an bis zum Abend „in stiller Billigung und ohne Schmerzensseufzer seine Stelzenschritte fort“. Aber beim Niederlegen, beim Entladen der Last scheint seine Brust noch einmal frei aufzuathmen; denn dann läßt es nochmals seinen ganzen Ingrimm los.

So gebehrdet sich das Kamel beim Auf- und Abladen; und ich mache mir heute noch Vorwürfe, daß ich die wahre Seelengröße des edlen Wesens jemals verkannt und Ausbrüche des [633] nur allzutief begründeten Unmuths und ganz erklärlicher Nachsucht gegen den abscheulichen Menschen so oft rücksichtslos bestraft habe.

Ich glaube im Vorstehenden den Standpunkt des Kameles vollkommen gewahrt und somit meine Gerechtigkeitsliebe bewiesen zu haben. Dieselbe Tugend verlangt aber, daß ich mich nun auch einmal auf den Standpunkt des Menschen stelle. Von hier aus sieht sich die Sache etwas anders an. Es läßt sich nicht verkennen, daß das Kamel wahrhaft überraschende Fähigkeiten besitzt, einen Menschen ohne Unterlaß und in unglaublicher Weise zu ärgern. Ich kenne kein Thier, welches ihm hierin gleichkäme. Ihm gegenüber ist ein Ochse ein höchst achtungswerthes Geschöpf, ein Maulthier, welches sämmtliche Untugenden aller Bastarde in sich vereinigt, ein überaus gesittetes, ein Schaf ein sehr kluges, ein Esel ein entschieden liebenswürdiges Thier. Dummheit und Bosheit sind gewöhnlich Gemeingut; wenn aber zu ihnen auch noch Feigheit, Störrigkeit, ewig schlechte Laune, Starr- und Murrköpfigkeit, entschiedner Widerwille gegen alles Vernünftige, Gehässigkeit oder Gleichgültigkeit gegen den Pfleger und Wohlthäter und noch hundert andere Untugenden kommen, welche ein Wesen sämmtlich besitzt und mit vollendeter Fertigkeit auszuüben versteht: kann der Mensch, welcher mit solchem Vieh zu thun hat, schließlich rasend werden. Der Araber behandelt seine Hausthiere wie seine Kinder, aber das Kamel bringt ihn zuweilen in namenlosen Zorn. Dies begreift man, nachdem man selbst vom Kamel abgeworfen, mit Füßen getreten, gebissen, in der Steppe verlassen und verhöhnt worden ist, nachdem Einen das Vieh tagen und wochenlang stündlich mit bewunderungswerther Beharrlichkeit und Ausdauer geärgert, nachdem man Besserungs- und Zuchtmittel sowie Bekehrungsversuche aller Art vergeblich verbraucht, alle die elektrische Spannung der Seele abkühlenden Donnerwetter ohne Wirkung losgelassen hat. Daß das Kamel in einer Weise ausdünstet, welche den Bocksgestank als Wohlgeruch erscheinen läßt, daß es das Ohr durch sein Gebrüll ebenso martert, wie die Nase durch seinen Gestank, und auch das Auge durch den gezwungenen Anblick seines unsäglich dumm aussehenden Kopfes auf dem langen Straußenhalse, gehört nicht hierher; daß es aber mit Bewußtsein dem Willen seines Herrn jederzeit entgegenhandelt, das ist es, was es in meinen Augen so tief stellt. Ich habe auf allen meinen Reisen in Afrika unter den Tausenden von Kamelen, die ich beobachten konnte, nur ein einziges gesehen, welches eine gewisse Anhänglichkeit an seinen Herrn zeigte; alle übrigen arbeiteten gezwungen zum Vortheile des Menschen.

Die einzige Eigenschaft, in welcher das Kamel groß ist, dürfte seine Freßgier sein. Außer den Häusern oder Hütten, welche es gelegentlich bis auf das Holzgerüst auffrißt, verzehrt es alle möglichen Stoffe des Pflanzenreichs, einen Mimosenaft mit den fürchterlichsten Dornen, wie einen alten ausgedienten Korb aus Dattelblattstreifen, Durrahkörner, wie Rinden, oder besser Schalenstücken. In dieser Freßgier gehen alle geistigen Eigenschaften unter. Sein Verstand ist ungemein gering. Es zeigt, ungereizt, keine Liebe und keinen Haß, sondern blos Gleichgültigkeit gegen Alles, mit Ausnahme des Futters und seines Jungen. Gereizt wird es, sobald es sich anstrengen, sobald es arbeiten soll; hilft ihm seine Wuth nichts, dann fügt es sich mit derselben Gleichgültigkeit in die Arbeit, wie in alles Uebrige. Im Augenblicke seiner Wuth ist es aber äußerst boshaft und wirklich gefährlich. Wahrhaft abscheulich ist seine grenzenlose Feigheit. Das Gebrüll eines Löwen zersprengt augenblicklich die Karawane; jedes Kamel wirft sofort seine Last ab und stürzt davon. Das Heulen einer Hyäne beunruhigt das feige Vieh außerordentlich; ein Affe, ein Hund, eine Eidechse sind ihm entsetzliche Geschöpfe. Ich kenne kein anderes Thier, mit welchem es in Freundschaft lebt. Der Esel scheint sich ziemlich gut mit ihm zu vertragen, von besonderer Freundschaft zum Kamel kann aber auch bei ihm keine Rede sein; das Roß scheint in ihm das widerwärtigste aller Thiere zu erblicken. Seinerseits scheint das Kamel die übrigen Thiere mit demselben Mißmuthe anzusehen, mit dem es den Menschen betrachtet.

Doch die häßlichste Untugend des Kamels ist unzweifelhaft seine Störrigkeit. Man muß ein Kamel tagelang geritten haben, um diese Untugend in ihrer ganzen, entsetzlichen Ausdehnung kennen gelernt zu haben. Der Anfänger im Kamelreiten hat mit dem Aufsteigen und dem sich Erhalten im Sattel genug zu thun; sowie das Thier störrisch wird, ist es zu Ende mit allem Netten. Dann gehört ein Ausgelernter in den Sattel. Das Aufsteigen in den Sattel hat seine Schwierigkeiten. Der Reiter muß mit kühnem Schwunge in denselben springen und hat anfangs genug zu thun, um sich festzusetzen. Diesen Augenblick benutzt das Thier, um allerlei Unthaten aufzuführen. Der Reiter will sich nach Süden hin wenden – er darf überzeugt sein, daß das Kamel nach Norden sich richtet; er will traben – das Kamel geht Schritt; er will es im Schritt gehen lassen – es geht mit ihm durch! Und wehe ihm, wenn er nicht ordentlich reiten, wehe ihm, wenn er das Vieh nicht zügeln kann! Er ziehe den Zaum an, soviel er will, er reiße den Kopf zurück, daß die Schnauze senkrecht nach oben steht, das Kamel wird um so toller davonstampfen. Und nun mag er sich festsetzen und sich wahren, damit ihn das Vieh nicht nach vorn hin aus dem Sattel wirft, und er dabei auf den Hals desselben zu sitzen kommt! Das liebenswürdige und tugendreiche Wesen ist viel zu ernst, als daß es ein solches Zuwiderhandeln aller Regeln höherer Reitkunst als Scherz oder Versehen hinnehmen sollte! Die nichtswürdige Behandlung, welche es seit seiner Zähmung von dem Menschen erdulden mußte, hat seinen ursprünglich unzweifelhaft edlen und großen Charakter mürrisch und unduldsam gemacht. Es sieht das Ungeschick des Reiters von der ungünstigsten Seite an, als Unbilliges, welches „kein edles Herz erträgt“, und sucht sich nach Kräften dagegen zu wehren. Ein Schrei der Wuth entringt sich seinen nicht gerade anmuthigen Lippen, dann rast es zornig davon. Die auf dem Sattel liegenden und an ihm hängenden Teppiche, Trinkschläuche, Waffen etc. werden herabgeschleudert, und der Reiter folgt seinen Geräthschaften zuletzt sicher nach. Jetzt macht es schleunigst einen Versuch, der Zwingherrschaft zu entrinnen, und stürmt auf gut Glück in die Wüste hinaus. Leider sind die Kameltreiber auf alle diese Fälle vorbereitet. Augenblicklich eilen sie dem Flüchtling nach; laufend, schleichend, eine unbefangene Miene heuchelnd, suchen sie sich ihm zu nähern; sie bitten, locken, schmeicheln, bis sie den nebenherschleppenden Zügel erfaßt haben: dann aber zeigt sich ihre schwarze Seele in ihrer ganzen Abscheulichkeit. Mit einem Satze sind sie, die Kunstgeübten, im Sattel, kräftig zügeln sie das widerspenstige Thier, eilen auf seiner Spur zurück, suchen die abgeschüttelten Gegenstände zusammen, lassen das Kamel sich niederlegen, prügeln es tüchtig ab und beladen es, als wäre nichts geschehen, mit unendlicher Ruhe von Neuem. Und sollte es ihnen wirklich nicht gelingen, des Flüchtlings wieder habhaft zu werden, so sind dafür hundert Andere, ganz Unbetheiligte, immer bereit, ein herrenloses Kamel einzufangen und es, seiner Spur folgend, zum Ausgangspunkte seiner Lustwandlung zurückzureiten; denn kein Araber läßt ein flüchtig gewordenes Kamel entrinnen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, es wieder unter die rechtmäßige Botmäßigkeit zurückzuführen. Daß bei solcher Behandlung das vortreffliche Geschöpf seinen Seelenschmerz in herzerschütternden Seufzern zum Himmel schreit, ist sehr erklärlich.

Doch wo käme ich hin, wollte ich noch mehr von den geistigen Eigenschaften des Wüstenthieres erzählen! Es genüge, wenn ich sage, daß ein Kamel die Kunst versteht, den Menschen durch sein Gebahren rasend zu machen, daß es keine einzige wirklich großartige Eigenschaft des Geistes besitzt, daß es an Adel des Geistes hinter sämmtlichen anderen Hausthieren zurücksteht. Und gleichwohl ist es das wichtigste aller Hausthiere Nordafrika’s! Dies dankt es seinen leiblichen Begabungen, welche ich in einem zweiten Aufsatze besprechen will.




Aus den ersten Tagen Neapolitanischer Freiheit.
Dritter Brief eines deutschen Malers.

– – – Noch habe ich’s nicht überwunden: die physische und geistige Hitze dieser drei letzten Tage, das betäubende Jubelgeschrei, die Lichter, die Fackeln, das Wogen und Drängen und Gesticuliren und Declamiren dieser braunen Flammen von Menschen, dieses unerhörte Carnevalsfest der Freiheit, diese Meuchlings-Ueberfälle umarmungs- und kußwüthiger Volksmassen summt und [634] brennt noch durch meine Glieder. Ich bin entsetzlich müde, kann aber vor Aufregung nicht schlafen. Es ist lange nach Mitternacht, aber die Hitze auf meinem Lager treibt mich, die weiche, klare, dunstlose Luft von draußen und der tiefblaue Himmel oben mit seinen hellgoldenen Sternen – o ihr habt keine Ahnung von diesem dunkeln Blau und diesem hellen Gold des italienischen Himmels! – Dies Alles lockt mich, und ich möchte wieder hinaus, durch die entzückten Straßen laufen und am Hafen die Wonnen der Meeresluft trinken und mich in diesem leuchtenden, würzigen, weichen Odem der Nacht baden! Aber nein, endlich muß ich Euch schreiben (ich sage Euch, da ich nicht für Dich allein schreibe und hoffe, daß Du meine Briefe nicht nur –, sondern auch – [folgen Privatbeziehungen] mittheilen wirst). Es ist mir Bedürfniß, mich zu sammeln und wenigstens etwas von diesen Wundern der letzten Tage auf’s Papier und in eine Art von Ordnung zu bringen; höchstes Bedürfniß, mitzutheilen, auszusprechen. O, könnte ich ein Heldengedicht singen, diesen Reichthum wunderbarer Lebensbilder ausführen und einrahmen!

Doch jetzt wollen wir uns mit flüchtig erhaschten und hingeworfenen Strichen begnügen. Zunächst einige Umrisse zu dem Hintergrunde des Hauptbildes am 7. September. Du weißt, wie ich längst nach Neapel gekommen war. Von meiner Thätigkeit nur so viel, daß die Deutschen und Schweizer, die von den Neapolitanern in Bausch und Bogen bald Bavarini, bald Tedeschi – Baiern und Deutsche – mit gleich giftigem Tone genannt werden, sich theils als stupide, rohe Klötze erwiesen, die keine Ahnung von Ehre, Vaterland, Freiheit und dergleichen Idealismen haben, theils als emancipirte, blousirte und von 1848-49 her demoralisirte Abgänge gebildeterer Classen aller möglichen deutschen Regionen: Baiern, Schweizer, Oesterreicher, Berliner, Dresdener etc. Ich hatte es, glaube ich, geschickt arrangirt, daß eines Abends in einem Kaffee- und Limonaden-Hause die meisten deutschen Officiere zusammenkamen, und ich sie wie zufällig traf. Ich sprach ohne viel Complimente ziemlich offen, wie sie ebenfalls. Mit meiner Anspielung aber auf ihr ehrloses Gewerbe und Deutschlands Schande fiel ich radical durch. „Wenn ich vor zwölf Jahren nicht auf Mitbürger geschossen hätte, wäre ich erschossen worden,“ sagte der Eine. Ein Anderer schilderte mit wildaufschäumendem Zorne, wie er gegen ein Städtchen gehetzt worden war, in welchem Vater und Mutter und zwei verheirathete Schwestern mit Kindern lebten, wie er im Namen des Landesfürsten, der Ruhe und Ordnung mit Säbeln und Bajonneten umherwüthen lassen mußte – stets mit dem Gefühl, daß eine der von ihm commandirten Hieb- und Stoßwaffen Vater, Mutter, Schwester treffen könnte, und wie er aus Wuth darüber später zur Gegenpartei übergegangen. Wieder Einige erzählten von ihren Schicksalen in der süddeutschen Bewegung und wie man sie, trotzdem sie nicht die Waffen gegen den „Angestammten“ erhoben, doch so chikanirt und gehudelt, daß sie schließlich hinaus wandern mußten in die Fremde – ohne Brod, ohne Mittel! „Sprech’ uns doch Niemand von der Schande unserer Soldaterei hier! Zu Hause wegen Patriotismus steckbrieflich verfolgt, von Ort zu Ort ausgewiesen, an Niederlassung und Broderwerb polizeilich behindert, tausendfach bemaßregelt und cujonirt, endlich in’s Ausland getrieben – ergriff eben so ziemlich Jeder, was sich ihm bot, was ihm erreichbar erschien, um zu leben. Die Schande, daß wir hier sind, ist allerdings eine Schande, aber wir wollen sie hübsch mit unserer Heimath theilen und ihr von Rechtswegen die erste und größere Hälfte zuerkennen.“

In diesem Sinne rechtfertigten sie sich. Obgleich ich ihnen logisch nicht Recht geben konnte, fühlte ich mich doch auf meinem Standpunkte zu sehr beschämt, als daß ich ihnen etwas Gescheidtes hätte entgegen halten können. Im Uebrigen waren sie ganz nach meinem Sinne und erklärten ganz offen, daß sie mit Freuden ihren alten Brodherrn zum Teufel gehen sähen, um bei einem neuen Herrn, einem Helden und Soldaten, Dienste zu nehmen. Mehr war vor der Hand nicht nöthig. Kein Einziger verlor ein Wort für den längst moralisch verfallenen und gehaßten „Brod-“ und respective „Kriegs-Herrn“. Sie betrachteten sich ganz naiv als „Söldlinge“ und waren froh, aus einem abgelaufenen, schmachvollen Dienste gleich wieder in einen neuen, ehrenvolleren eintreten zu können. Ich hatte nämlich Autorität, ihnen zu sagen, daß sie der neuen Regierung willkommen sein würden, wenn sie mit Leib und Seele übergingen. Welch gefährliche Unterhandlung! Vielleicht wäre ich zu jeder andern Zeit erschossen worden. Jetzt dachten weder ich, noch die Landsleute an irgend eine Gefahr. Garibaldi war im Geiste schon da, der König aber nur noch ein verschwindender fahler Schatten. Er war am 4. Abends auf eins seiner mächtigen Kriegsschiffe gegangen, um zu fragen, ob man ihn fortschaffen wolle. „Wohin?“ fragt der Capitain. „Wohin ich befehle!“ „Nein,“ antwortete der Capitain; „nach Gaeta, ja, aber in keinen auswärtigen Hafen.“ – Die Majestät sollte beabsichtigt haben, wenigstens so viel Flotte wie möglich mitzunehmen – nach Triest. Die Flotte blieb und stellte sich sofort der neuen Regierung zur Verfügung. Er mußte auf einem fremden Schiffe fliehen, wie Louis Philipp in einer gemietheten Droschke.

Es war am Donnerstage, den 6. September Abends, als der letzte der Bourbonen schmachvoller, als je ein Tyrann, endete und floh, moralisch und politisch todt und noch athmend, lebend! Am Morgen brüllten die berüchtigten Fischweiber noch um Rettung für ihren König gen Himmel und durch die Straßen.

Am 6. Vormittags etwa um 10 Uhr stieg ich aus einer der vielen nach der berühmten Toledo herunterlaufenden Straßen herab und war in einer Minute von vielleicht ein Dutzend Droschkenkutschern umgeben, da ich Miene gemacht hatte zu fahren. Sie fluchten und schlugen sich thatsächlich um mich, wüthend gemacht durch den Mangel der letzten Tage, die vielleicht 100,000 der wohlhabendsten Bewohner aus der Stadt getrieben. (Dafür sind nun auch vielleicht doppelt so viel gekommen, als der König verschwunden und Garibaldi erschienen war.) Ich entschied mich, arg zugerichtet – aber in der besten Absicht mißhandelt – für den Einen und flog wie auf einem Luftschiffe durch die brennende, blendende Toledostraße. Welch seltsame Thätigkeit! An allen Läden mit königlichen Insignien (Hoflieferanten) war man leidenschaftlich beschäftigt, die Wappen, Schilder und Decorationen des Bourbonenthums theils abzureißen, theils auszukratzen oder zu überstreichen.

Dafür stiegen die Tricoloren Sardiniens auf. Selbst die königlichen Lotterie-Gebäude und das königliche Postamt waren eifrig mit dieser Metamorphose beschäftigt – sechs Stunden vor der Abfahrt des letzten Bourbonen. Als ich nach zwei Stunden zurückkam, war in der ganzen, langen, breiten, glänzenden Toledostraße die letzte Spur königlicher Ab- und Auszeichnungen verschwunden – Alles voll sardinischer Tricoloren und Vorbereitungen zu der großen Garibaldi-Illumination des folgenden Abends. Während des ganzen Tages schleppten sie königliche Koffer und Kisten auf zwei spanische und einen österreichischen Dampfer. Um 8 Uhr Abends soll der junge Mann, bisher von Gottes Gnaden König beider Sicilien und von Jerusalem etc., Herzog von Parma und Piacenza etc. (er hatte noch mehrere erhabene Titel) mit seiner jungen, unglücklichen deutschen Frau durch eine nach dem Hafen öffnende Hinterthür des „realen Palastes“ auf einen dieser spanischen Dampfer gekommen und nach Gaeta abgefahren sein. Ich habe Niemanden finden können, der zusah. Es scheint sich Niemand hinzugedrängt, darum bekümmert zu haben.

Die Stadt blieb ruhig bis etwa 101/2 Uhr. Da stieg über dem Dache des Café d’Europa die größte Fahne mit dem Kreuze des Hauses Savoyen hoch in die klaren Abendlüfte. Ganz Toledo, das ganze Westende Neapels, brach in ein betäubendes Jubelgeschrei aus, das weit von der Chiaga und dem Berge Posilippo und vom Süden her aus dem weiten Hafen wiederhallte, von den Mastbäumen und Dampfschlotten wiederholt und verstärkt ward. Jeder wußte, daß der König geflohen und Garibaldi im Anzuge war. So machte sich der erste volle Aufschrei des Freiheitsgefühls geltend, und mit welchen neapolitanischen Gliedern und Kehlen! Es ist nicht möglich, diese Zuckungen und Gesticulationen, diese umherschießenden Flammen der Blicke, Arme und Beine, diese Mimik und Gymnastik neapolitanischer Leidenschaft zu schildern.

Am folgenden Morgen um 12 Uhr war er glücklich angekommen, 60 geographische Meilen weit her, die er in 17 Tagen durch das Land Neapel mit 100,000 Mann Kerntruppen – als Führer einer rasch zusammengewürfelten kleinen Schaar – Schritt für Schritt Sieger und Held – zurückgelegt hatte.

Ich sah ihn nicht ankommen. Die Straßen voller Fahnen und Flaggen und Ilunminations-Decorationen, voll marschirender National-Garde und ihrer National-Fahnen, voll Menschengewühl und wahnsinnigen Jubelgeschreis machten es mir und tausend Anderen unmöglich, in die Nähe des Eisenbahnhofes zu kommen, wo ihn Deputationen und Gesandten-Equipagen und tobende Wogen [635] souverainen Volks erwarteten. Etwa um 1 Uhr passirt der Garibaldi-Zug – zwanzig Equipagen, Soldaten, Nationalgarde, Volksmasse – durch die Castell-Straße vor mir vorbei. Er sitzt im Wagen des französischen Gesandten, umtobt, umklettert von heißen, brennenden Gesichtern und Händen, die nach ihm drängen und greifen, als wollten sie ihn zerreißen. Er sitzt ruhig und schaut mit unbewegtem, melancholischem Ausdruck in dieses tobende Meer von braunen Köpfen, Armen und Händen. Die regnenden Blumen fallen zum Theil auf seinen staubigen, zerdrückten Hut und eine volle, üppige Blüthentraube weißen Oleanders trifft ihn in’s Gesicht. Er lächelt hinauf zu dem Balcon, aber nur wie ein flüchtiger Sonnenblick durch den bewölkten Himmel. Der traurige Ausdruck seines rasch alternden Gesichts kehrt wieder und bleibt. Ich wußte, daß er durch die Toledo hinunter fahren und im Palazzo della Regina di Savoia, gegenüber dem „realen Palaste“, auf dem großen Platze am Ende der Toledostraße aussteigen würde. So sichere ich mir auf Umwegen einen Platz, dem großen Balcon des Palastes gegenüber, und sehe ihn aussteigen. Wie klein, wie armselig sieht er aus in seinen grauen Beinkleidern, dem rothen Hemde, mit dem taschentuchartigen Panuelo lose um die Schultern geknüpft, und dem bestaubten, zerdrückten Hute, unter welchem dünn gewordene, oft graue Locken hervorquellen, wie proletarierhaft in Front des stattlichen alten Königspalastes! Die Türr’s, Bixio’s, Carini’s und sonstige Helden neben ihm fallen mehr in’s Auge; das beispiellos Malerische von Costümen und Menschen um ihn her verdunkelt ihn. Aber er wird auf den großen Balcon herausgeschrieen und kann hier zum ersten Male in seiner schmucklosen Heldenwürde, in seinem eigenen solarischen Gotteslichte gewürdigt werden. Welch eine Beseligung quillt und strahlt aus dem Antlitze eines edlen Menschen! Wir Maler haben sehen gelernt! Auch das Sehen ist eine Kunst. Ich bin überzeugt, daß wenige Menschen, daß alle diese Tausende mit ihrem betäubenden Jubelgeschrei nicht diesen innigen, erhebenden Genuß gehabt haben, wie ich beim Anblick meines Helden in seiner einfachen Glorie, wie er so allein da stand in der Mitte des langen Balcons und sich ruhig, wehmüthig herabbeugte auf die tobenden Wogen des brüllenden, maßlosen, unerschöpflichen Jubelgeschreis.

Er war mit einem reichen Gefolge herausgetreten. Aber Alle zogen sich zurück und ließen ihn allein. Er läßt sie toben und blickt mit festem, ruhigem Auge vorgebeugt herab. Keine Muskel bewegt sich, fest ruht der Ausdruck des – Mitleids, der Wehmuth in seinem Auge. In einer antiken Versammlung von Menschen hatten sich Götter incognito eingefunden. Niemand erkannte sie; aber Einer – wer war’s doch? entdeckte sie an dem ruhigen, festen, unblinkenden Blick des Auges. Auch Garibaldi’s Auge hatte einen solchen Blick. Und was ist die Stirn des berühmten Vaters der Götter und Meuschen von Phidias gegen den Vorderkopf Garibaldi’s? Wie er den Hut abnahm, leuchtete mir diese Stirn, so oft ich sie auch bewundert, in nie geahnter Glorie und eigenster Majestät. Welche edle Gehirnmasse drängt sich hervor von einem Schlafe zum andern! Welche gewaltige Wölbung der obern Stirn! Ueber den Augen tritt sie schon ungewöhnlich hervor, dann folgt eine Art Thal, das durch die majestätische, gewaltige Aufwölbung oben beschattet wird. Das ist der Olymp seines Heroismus. Man würde erschrecken vor diesem Felsen der Kraft und des Entschlusses, wäre das Auge darunter nicht so mild, so weich, so menschlich, und sein Lächeln – trotz der gewaltigen Furchen von Sorgen und Arbeit – nicht so süß, seine Stimme nicht so musikalisch melodiös. Er läßt sie toben. Der Ausdruck melancholischer Wehmuth verläßt ihn nicht. Er kennt die dämonische Unhaltbarkeit des Volks-Enthusiasmus: heute breiten sie Palmenzweige und ihre eigenen Kleider auf seinen Weg, morgen schreien sie vielleicht: Kreuzigt ihn! Er weiß, welch ein erbarmenswerthes, planmäßig verwahrlostes entadeltes Volk da unten tobt und jauchzt! Er weiß auch, was noch vor ihm liegt. Die Feinde im Felde fürchtet er nicht, aber wie allein, allein, allein steht er zwischen brütenden, feigen, tückischen, zitternden, habsüchtigen dynastischen Interessen und Diplomaten! – Was auch daraus werde, ewig im Sonnenglanze der Höhen unserer Weltgeschichte steht der Augenblick, als er schweigend, wehmüthig, ruhig herabsah auf die ersten Feuerwogen der Begeisterung eines von ihm beispiellos befreiten Volks. Endlich sprach er. Seine Rede wird in den Zeitungen zu finden sein. Goldene, feurige Worte, aber das können andere Leute auch. Mir war der schweigende Mann der That die höchste Glorie des Bildes. Auch was folgte, hatte wenig Werth für mich. Uebermüdet floh ich Abends aus den brillantenen Excessen der Illumination, wobei sich auch Dirnen als Freiheitsgöttinnen herumtrieben.




Schloß Stolpen und die Gräfin von Cosel.

„Anno 1708, den 16. Julii,“ heißt es in Gercken’s Historie von Stolpen, „langten Ihro Königliche Majestät von Polen und Churfürstliche Durchlaucht von Sachsen, Fridericus Augustus, Vormittags nach 9 Uhr glücklich allhier an. Bald darauf folgten auch die Frau Gräfin von Cosel und einige Herren Cavalliers. Ihro Königl. Majestät nahmen die hiesigen Vestungswerke zu Pferde in Augenschein und belustigten Sich sodann, nebst der Frau Gräfin von Cosel, mit Wildpretschießen im Thiergarten. Am folgenden Morgen 8 Uhr gingen Sie wieder nach Pillnitz zurück.“

Acht Jahre später, am 25. December 1716, brachte eine verschlossene Kutsche, von vier kursächsischen Dragonern escortirt, die Gräfin Cosel von ihrem Lustschloß Pillnitz nach derselben Veste. Mit unbedecktem Haupte empfing der damalige Commandant, Obrist-Lieutenant von Wehlen, die Gefangene, die mit gleich ungebeugtem Stolze, als schritte sie noch zur Seite ihres fürstlichen Geliebten, dem alten Soldaten die Fingerspitzen ihrer linken Hand reichte, um den St. Johannisthurm zu betreten. Hier blieb sie, wenn auch nicht in enger Haft, bis zu ihrem Tode, der sie erst 1761, in ihrem einundachtzigsten Jahre erlöste.

Fräulein Anna Constantia von Brockdorff[WS 2], aus Holstein gebürtig, war Hofdame bei der Erbprinzessin von Wolfenbüttel. Der Ruf ihrer ausgezeichneten Schönheit und ihrer Talente hatte den kursächsischen Minister von Hoymb veranlaßt, sich um ihre Hand zu bewerben, die er auch erhielt, da sie ehrgeizig und ein armes Fräulein war.

Bei einem lustigen Gelage des Königs von Polen und Kurfürst von Sachsen, gewöhnlich „August der Starke“ genannt, rühmten seine Höflinge ein jeder seine Geliebte; nur der Graf Hoymb stimmte nicht in diesen Ton ein, sondern rühmte[WS 3] vielmehr die Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner Gemahlin, wodurch sie alle Andern verdunkeln würde, sobald sie am Hofe erschiene. Der König äußerte Zweifel, und der Fürst von Fürstenberg bot sogar eine Wette von 1000 Ducaten an, daß die Gräfin von Hoymb bei Hofe gar nicht bemerkt werden würde, es sei denn durch ihre linkische Haltung und ihren geschmacklosen Anzug. Der Minister Hoymb nahm die Wette an und ließ seine Gemahlin, welche er bisher sorgsam auf seinem Landgute zurückgelassen hatte, nach Dresden kommen. Mit gutem Bedacht hatte er sie nicht bei Hofe vorgestellt, jetzt ließ er sich dazu durch seine Eitelkeit und durch eine Wette verleiten, und hatte bald genug Ursache, diesen Schritt zu bereuen. Kaum erschien die Gräfin am Hofe, als nicht nur der König, sondern der Fürst von Fürstenberg selbst sich sogleich für besiegt erklärten und die Wette bezahlten. Allein damit war auf der Stelle ein neues Abenteuer begonnen; der König fühlte sich unwiderstehlich angezogen und bot Alles auf, um zu seinem Zweck zu gelangen. Niemals hat ihm ein Sieg mehr gekostet, zumal da er zuletzt doch immer der Besiegte blieb. Die Bedingungen, unter welchen die Gräfin Hoymb sich entschloß, mit dem König zu leben, waren anmaßend im höchsten Grade, allein um seine Leidenschaft zu befriedigen, war dem Könige Ehre, Krone, Freiheit und was man sonst verlangte, feil. Er mußte versprechen: 1) für immer der Fürstin von Teschen, frühern Gräfin Lubomirska, zu entsagen; 2) die Scheidung der Gräfin Hoymb von ihrem Manne zu bewirken; 3) durch einen eigenhändigen Contract die Versicherung geben, im Fall die Königin sterben sollte, sie an ihrer Stelle zur Königin zu erheben und ihre Kinder als legitime Prinzen und Prinzessinnen von Sachsen anzuerkennen. 4) auf der Stelle ihr eine jährliche Pension von 100,000 Rthlrn. anzuweisen! Alles dies gestand der König zu; die Scheidung wurde

[636]

Gräfin Cosel in dem St. Johannisthurm des Schlosses Stolpen.

veranlaßt, Frau von Hoymb erhielt den Titel einer Gräfin von Cosel. Mit noch größerer Pracht, als früher für die Gräfin von Königsmark, wurde der Palast der Gräfin Cosel eingerichtet, welcher durch eine bedeckte Gallerie mit dem kurfürstlichen Schlosse in unmittelbarer Verbindung stand.[4] Nicht minder prächtig wurde für den Sommer ein Gartenpalais für sie eingerichtet, wo man Indien und China beisammen zu finden wähnte, so reich waren die Stoffe der Gardinen, so mannichfaltig das Porcellan, die Vasen, Teppiche und Tapeten, so geschmackvoll die Anlage des Parks.

Die Gräfin von Cosel aber begnügte sich nicht mit diesem äußeren Glanze, sie fing bald an, sich auch Einfluß in die Angelegenheiten der Regierung zu verschaffen. Vor Allem suchte sie diejenigen, welche diesen Einfluß bisher ausgeübt hatten, von der Person des Königs zu entfernen. Der Kanzler von Beichling, welcher dem Könige sehr ernstliche Vorstellungen wegen des verschwenderischen [637] Aufwandes seiner Geliebten machte, wurde auf ihre Veranlassung wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zur Untersuchung gezogen, auf die Bergveste Königstein gebracht und seine Güter wurden confiscirt. Dieser entschiedene Schritt war ein Wink für die andern Umgebungen des Königs, sich der Gräfin Cosel in Allem gefällig zu erweisen, und so wagten selbst die sonst Alles vermögenden Günstlinge, der Fürst von Fürstenberg, der General Flemming und Herr von Vitzthum, es nicht, Etwas gegen sie zu unternehmen.

Während der ganze Hof sich vor ihr beugte, erlaubte sich ein lutherischer Prediger in der Kreuzkirche zu Dresden eine ziemlich deutliche Anspielung zu machen, indem er sie mit „Bathseba“ verglich. Als sie es erfuhr, verlangte sie von dem Könige Genugthuung und Bestrafung des Geistlichen; allein Friedrich August sagte ihr, daß die Prediger alle Wochen einmal eine Stunde und einen Ort frei hätten, wo sie Alles, was ihnen beliebte, sagen könnten. Sollte sich ein Prediger einmal außer der Kirche ein ungeziemendes Wort gegen sie verlauten, würde er ihn sogleich festnehmen lassen; „allein die lutherische Kanzel,“ fügte er scherzend hinzu, „ist schon zu hoch für den Papst, um wie viel mehr also für mich, der ich nur ein Weltkind bin!“

Als der schwedische Krieg den König wieder nach Polen rief, war er fest entschlossen, die Gräfin Cosel in Dresden zu lassen und allein nach Warschau zu gehen; diese aber fürchtete, die Fürstin Teschen möchte sich dort des Königs wieder bemächtigen, und eilte ihm nach. Da die Fürstin eine nahe Verwandte des Cardinal-Primas von Polen war, durfte der König sie nicht vernachlässigen. Es gelang ihm auch bald, sich wieder mit ihr zu versöhnen; allein welche Mühe sie sich auch gab, ihren Oheim günstig für den König zu stimmen, sie konnte ihn dennoch nicht zurückhalten, sich mit Carl XII. zur Entthronung August’s zu verbinden.

Mit großer Geschicklichkeit wußte der König beiden Damen die Standhaftigkeit seiner Liebe zu versichern, während er sie beide betrog und mit der Tochter eines französischen Weinhändlers, Namens Renard, in Warschau lebte, welche ihm später eine Tochter gebar, die er zur Gräfin „Orzelska“ [5] erhob. Sobald der Krieg sich der Hauptstadt näherte, fand der König es doch für gut, die Gräfin Cosel, welche ihre Niederkunft erwartete, wiederum nach Dresden zurückzuschicken. Aus seinem Königreiche verjagt, kehrte August bald nachher auf einige Zeit nach Dresden zurück; anstatt aber mit dem Degen in seiner berühmten starken Faust die Schweden zurückzuschlagen, die von Polen aus durch Schlesien nach Sachsen vorgedrungen waren, saß er gelassen an dem Wochenbette der Gräfin Cosel, die ihn mit einer Tochter beschenkt hatte.

Unsägliches Elend wurde über das ohnehin schon ruinirte Sachsen gebracht; der Friede, welchen der stolze Sieger zu Altranstädt (1706) vorschrieb, war nicht geeignet, die tief geschlagenen Wunden zu heilen. Unter solchen Umständen hielt es der leichtsinnige und entthronte König für das Beste, sich auf einige Zeit aus seinem Kurfürstenthum zu entfernen, um das Elend seiner Unterthanen nicht täglich vor Augen zu haben. Er ging nach den Niederlanden, um unter Prinz Eugen und Marlborough gegen die Franzosen zu kämpfen. Allein bald wurde ihm das Leben hinter den Schanzkörben und in den Laufgräben zu lästig, er zog es vor, nach Brüssel zu gehen und leichtern Kaufs die Herzen der Opernsängerinnen und Tänzerinnen zu erobern. Dennoch wußte die Gräfin Cosel ihre Stellung zu behaupten; sie ward von einer zweiten Tochter entbunden, und der König behandelte sie, trotz ihres leidenschaftlichen und herrischen Benehmens, immer mit gleicher Auszeichnung. „Keine andere Geliebte,“ bemerkt Pöllnitz, „wurde jemals von dem Könige so ausgezeichnet.“ Endlich aber gelang es doch den vereinten Anstrengungen der Herren v. Flemming und v. Vitzthum, die ihnen Verhaßte zu stürzen. Die Gräfin Dönhoff wurde, als würdiger Ersatz, dem König fast aufgedrungen, und die Cosel erhielt den Befehl, Dresden zu verlassen. Diesen Befehl zu vollstrecken, kostete indessen dem damit Betrauten nicht geringe Mühe, und er brachte es nicht weiter, als daß die Verabschiedete vorläufig ihr Quartier in Pillnitz nahm.

Der König versuchte es nun mit List und durch Drohungen, von der Gräfin Cosel das ihr schriftlich ertheilte Eheversprechen zurückzuerhalten; allein sie verweigerte es hartnäckig und entfloh, um einer Verhaftung zu entgehen, heimlich nach Berlin, wo man ihr jedoch sehr bald andeutete, daß sie sich nach Halle begeben möchte. Hier lebte sie sehr zurückgezogen. Herr von Loen erzählt: „Die Gräfin Cosel sah ich als Student in Halle, wo sie als eine vom Hofe verwiesene Liebhaberin des Königs sich hingeflüchtet hatte; sie hielt sich daselbst ganz verborgen in einer abgelegenen Straße bei einem Bürger unweit dem Ballhause auf. Ich ging fast täglich zu einem guten Freunde, der gleich nebenbei wohnte. Das Gerücht breitete sich aus, daß sich daselbst eine fremde Schönheit aufhalte, die ganz geheim lebte. Das Studentenvolk ist vorwitzig. Ich sah sie mehrmals mit gen Himmel aufgeschlagenen Augen in tiefen Gedanken hinter dem Fenster stehen; sobald sie aber gewahr wurde, daß man sie belauschte, trat sie erschrocken zurück. Außer den Leuten, die ihr das Essen über die Straße brachten, sah man Niemand als einen wohlgekleideten Menschen bei ihr aus. und eingehen, den man für ihren Liebhaber hielt. Man konnte keine schönere und erhabenere Bildung sehen. Der Kummer, der sie verzehrte, hatte ihr Angesicht blaß gemacht; sie gehörte unter die schmachtenden braunen Schönen, sie hatte große, schwarze, lebhafte Augen, eine weiße Haut, einen schönen Mund und eine fein gespitzte Nase. Ihre ganze Gestalt war einnehmend und zeigte etwas Großes und Erhabenes.“ Später wurde sie auch von hier wieder fortgewiesen. Ein Officier von dem Regimente Anhalt meldete sich bei ihr mit der Ordre des Königs von Preußen, sie über die sächsische Grenze zurückzubringen. Bald darauf wurde sie nach Pillnitz abgeführt und hätte hier ruhig und unangefochten leben können, wäre sie zu dem Entschlusse zu bringen gewesen, dem Könige jenes „Eheversprechen“ zurückzugeben. Sie weigerte sich aber standhaft, sie leugnete sogar, ein solches noch zu besitzen, und entschloß sich endlich, lieber das Gefängniß zu betreten, als ein Document aus den Händen zu geben, das ihren Verfolger erzittern machte und für sie als ständiges Rachewerkzeug dienen sollte. Sie bezog demnach am 25. December 1716 den St. Johannisthurm (später und bis auf heute der „Coselthurm“ genannt), den sie nach 45jähriger Gefangenschaft nur mit der letzten Wohnung, dem Grabe, vertauschte, obgleich sie der Nachfolger August’s in Freiheit setzen wollte. Noch einmal (1727) sollte sie, wenn auch nur flüchtig, ihren einstigen Geliebten sehen, als dieser Stolpen besuchte, um die Festigkeit des dortigen Basalts durch Abfeuerung einiger Kugeln aus halben Carthaunen zu probiren. Mit schmerzerstickter Stimme rief sie von ihrem Fenster einige Worte in französischer Sprache herunter – der König aber lüftete schweigend den Hut – und galoppirte vorüber.

Der St. Johannisthurm, der noch ziemlich gut erhalten, ist drei Stockwerke hoch und jedes derselben enthält nur ein Gemach mit bombenfester gewölbter Decke. Die vier engen Fenster, die nach den Himmelsgegenden gerichtet, sind tief in die Mauern eingelassen, so daß das Licht nur spärlich einfällt. Die Spitzbogen-Thüren sind so niedrig, daß man fast gebückt durchgehen muß. Der Thurm ward von Johann VI., Bischof von Meißen, erbaut und 1628 vom Kurfürst Johann Georg restaurirt. „Als aber 1742,“ fährt Gercken, ein Zeitgenosse der Gräfin Cosel, fort, „ein heftiges Gewitter die Spitze dieses hohen Thurmes anzündete und die ganze Haube abbrannte, so ist er bei erfolgter Reparatur, gleich denen übrigen Thürmen, mit Schiefer gedecket, auch ein kupferner und vergüteter Knopf aufgesetzet worden. Auch in diesem Thurme sind drei Gefängnisse, wovon das mittelste des Thurmes Namen hat. Das oberste heißet „der Richter Gehorsam“. In allen dreien wohnet voritzo Ihro Excellenz die Frau Gräfin von Cosel und hat im ersten Stockwerk ihr Wohngemach und im zweiten ihre Bibliothek.“

Trotzdem der Fluch des Volks die Gestürzte bis in das Gefängniß verfolgte, wegen ihrer unbezwinglichen Herrschsucht und namenlosen Verschwendung, erhielt sie sich noch im Unglück eine Art Nimbus, der, wenn auch nicht ihren Charakter, so doch ihre Person verklärte. „Niemand,“ sagt ein anderer Zeitgenosse, „hätte den Muth gehabt, dieser stolzen Frau mit ihrer unvergänglichen Schönheit und Anmuth, die sie bis zu ihrem spätesten Alter kaum verließen, verächtlich entgegen zu treten, zumal wenn man in Erwägung zieht, daß es für keine Schande gilt, die Maitresse eines Fürsten gewesen zu sein.“ Und in der That ereignete es sich zu Leipzig, wo der König während der Messe die Bekanntschaft eines Fräuleins von Dieskau machte, daß die Mutter derselben ein förmliches Brautfest anordnete und dem Könige ihre Tochter übergab. Sie war mit einem Myrtenkranze geschmückt, [638] und die Mutter hatte sogar die Dreistigkeit, sie im Zimmer der Königin vorzustellen! – – –

Wir erzählen dieses Factum, wie die ganze vorhergehende Geschichte, nicht, um unterhaltend oder pikant sein zu wollen – wir hielten vielmehr ein Blatt aus der Geschichte jener „galanten“ Zeit unsern Lesern vor, um ihnen zu zeigen, wie die Sitten- und Charakterlosigkeit eines einzigen Mannes, den die Vorsehung auf einen Thron berufen und ihm das Wohl und Wehe eines ganzen Volkes anvertraute, im Stande war, dieses Volk, wie ein ganzes Jahrhundert zu entwürdigen, sodaß jener Kurfürst von Baiern nicht ohne Grund der „geputzten sächsischen Männerchen“ spottete, welche er mit seinen rauhen Cuirassieren zu Paaren trieb. Ohne sich nur einer Grausamkeit bewußt zu sein, wurden Menschen [6] und Thiere zu Tode gehetzt; ohne das Ende einer solchen Wirthschaft zu bedenken, wurden oft Millionen für ein einziges Fest ausgegeben; ohne der Stimme der Vernunft und des Gewissens Gehör zu geben, griff man mit frecher Hand in die heiligsten Familienrechte oder zertrat an der Seite üppiger Weiber den letzten Funken von Sitte und Ehrgefühl.

Das war, wie Freiherr von Pöllnitz sich ausdrückt, das „galante Sachsen“, dessen traurige Spuren sich selbst bis auf den heutigen Tag nicht ganz verwischen lassen. Die redlichste Sparsamkeit der späteren Fürsten dieses Landes konnte in einem Jahrhundert nicht ersetzen, was jener Fürst in wenigen Decennien verschleuderte. Außer einem bis auf’s Aeußerste zerrütteten Lande hinterließ er ihnen nichts, als eine Anzahl Schlösser und Kunstschätze, die wie Oasen aus jener Wüstenei herüberschauten.

(Schluß folgt.)




Die Preßnitzer Harfnerin.
Auch eine culturhistorische Studie.

Wer hat sie nicht schon gesehen, die Mädchen mit dem bleichen, zerstörten Antlitze hinter den tönenden Harfen, wenn sie im hellerleuchteten Saale saßen und gedankenlos die hübschen Liedchen abtrillerten, die ihnen zu Hause ein gefälliger Freund oder Bruder lehrte? – Wer hat die Leipziger Messe, die Vogelschießen in Mittel- und Norddeutschland, die Seebäder und Café’s der größern Städte besucht und nicht hinüber geschielt nach den schlanken schwarzhaarigen Gestalten, die sich hinter den hohen Saiteninstrumenten in koketter Haltung singend und spielend bewegen und die Herzen der Zuhörer zu rühren hoffen mit ihren: „Ach, wenn Du wärst mein eigen!“? Es sind schöne, liebe Kinder darunter, dunkle, seelenvolle Augen, die viel Unglück anstiften können, aber auch viele verblühte, abgelebte und zerrissene Gesichter, auf deren Teint selbst der schäumende Champagner oder der heiße Grog keine Frühlingsblüthen mehr hervorzuzaubern vermögen. Ihr Alle kennt sie und habt ihnen wohl auch zugelächelt, wenn sie mit dem Teller in der Hand den Lohn sammelten für ihre schmelzenden Liebeslieder, aber nur Wenige von Euch werden wissen, daß eine kleine böhmische Bergstadt, Preßnitz, die meisten dieser singenden und spielenden Mädchen liefert, wenn auch andere Ortschaften des sächsischen und böhmischen Erzgebirges noch manches hübsche Kind auf das verlockende Saitenspiel einüben. Es ist ein eignes interessantes Völkchen, was da jährlich ausfliegt in alle Welttheile, und es lohnt sich schon der Mühe, den Lesern der Gartenlaube zu erzählen, aus welchen Anfängen diese seidenbehangenen Vöglein hervorgingen. Sind doch die Wege ihrer Künstlerschaft vielfach durchkreuzt und mannichfaltig! Ueberall ziehen sie hin: die Leipziger Messe, die norddeutschen Seebäder, Friesland und das mächtige Rußland sind die ersehnten und lohnenden Ziele für sie, und über Ungarns Pußten sieht man sie nach den magyarischen Edelsitzen, die Bessern nach den Concertsälen Rußlands, manche sogar nach Tiflis bis in den asiatischen Orient wandern. Dort lassen sie in der Nähe des Grabmals des Sänger-Fürsten David, der die Harfe so wundervoll gerührt, und an der Stelle, wo die Väter Juda’s ihre schweigenden Harfen an die Weidenbäume gehängt, die Saiten von den Heimathsklängen eines deutschen Walzers ertönen oder schmettern mit heller Stimme hinaus: „Ist denn goar ka Weg, is denn goar ka Steg“ etc. etc.

Wodurch aber nun wurde diesen Geschöpfen der unwiderstehliche Trieb eingeimpft, mit ihrem Stimmchen und mit ihren nothdürftigen Griffen auf der Harfe bis an die Enden der Welt zu dringen? – Wer lehrte sie zuerst Sang und Saitenspiel? wann werden diese lustigen Singvogel flügge, und wann kehren sie heim? Waren ihre Wege gesegnet oder endeten sie im Unglück? – Diese Fragen sind kurz zu beantworten.

Musik lebt wie ein tiefeingewurzelter Naturlaut in den Bergen, die Gabe des Gesangs muß sich unaufhaltsam offenbaren. Daß aber Musik zum Erwerbe wird, und noch obendrein die der Harfe – dazu ist eine äußere zwingende Macht vorauszusetzen nothwendig. Wie im Erzgebirge die Noth – die Mutter vieler anderer Fertigkeiten und Wissenschaften – so war sie es auch, die den Sang und das Saitenspiel lehrte, nachdem die Reichthümer von Böhmens Altcalifornien auch in den Preßnitzer Bergwerken versiechten. Man suchte das schwindende Silber der Heimathsberge in den Stimmen, und die es thaten, kehrten auch mit versilberten Kehlen heim. Zunächst war es wieder ein Weib, welches sich zu Barbara Elterlein, der verehelichten Uttmann – dem rettenden Engel des Erzgebirges – gesellte, welche den Klöppel in die Thäler trug. Dieser weibliche Genius von Preßnitz hieß Elisabeth Enzmann und war die Tochter des Schullehrers Enzmann aus dem eine Viertelstunde von Preßnitz entfernten Dörnsberg, sie war die Meisterin und Lehrerin des Sanges und Saitenspieles geworden, und zwar um die Jahre 1780–1790. Seltsamer Weise hießen sie Uttmann und Enzmann – diese beiden Weiber mit männlicher That.

Die Kunst, mit der die Enzmann (unter dem Volke als „Sing-Anne-Lis-Mydl“ bekannt) sang und die Harfe bewältigte, erregte die Bewunderung und den Eifer der Nachahmung in nächster Umgebung. Alsbald hatte sich ein kleiner Kreis von Mädchen gebildet, die bei ihr die Lehre antraten. Diese ersten Harfnerinnen hatten Methode und musicirten mit Weihe, ihre Anfänge bezeichnen nicht allein das goldene Zeitalter der Preßnitzer Musik, sondern sie erfreute sich dazumal auch eines goldenen Bodens. Zunächst war es die Alexander-Lise, welche durch Schönheit der Gestalt und durch Kunst des Gesangs nicht blos die Achtung besseren Publicums sich errungen, sondern auch die Gnadenblicke dreier Monarchen im Jahre 1813 zu Kommotau an sich zog. Ein hoher Gönner wollte sie für die Oper einer Residenzstadt gewinnen, wohin sie auch für eine Zeit lang zugereist war; das unüberwindliche Heimweh nach dem alten Thale trieb sie aber sehr bald wieder zurück, obgleich sie dem Gesange nicht verloren ging und wiederholt sich auf Sängerfahrten begab. Unnachahmlich sang sie jene Lieder, welche durch Harfnerinnen später eben so volksthümlich wurden.

Ihre Kunst umgab sie auch mit ewiger Jugend, indem sie noch i. J. 1850 – relata refero – im vollen Besitz ihrer Stimme vortrefflich gesungen haben soll. Andrerseits schätzte man sie auch in der Heimath, wohin sie feinere Sitte übertrug, als unumschränkte Herrscherin des Anstandes bei Festgelagen und Tänzen, wenn die Gesellschaft ein unmäßiger Geist zu bedrohen anfing. Ein Augenwink von ihr genügte, das Völklein in Ordnung zu bringen.

Ihre Verpflanzung des Harfenspiels und Sanges nach Preßnitz ward vorzüglich nach dem Jahre 1811 von großer örtlicher Bedeutung. Bis dahin lag das nette, reine, waldumgürtete, vom Kupferberge vor Stürmen geschützte Bergstädtchen ungefährdet da, bis ein verheerender Brand den größten Theil der Stadt im Jahre 1811 zu Schutt und Asche verwandelte und mehrere hundert Familien vermögens- und obdachlos machte. Nun war die Stunde gekommen, die bewährte, in der die Fabel wahr werden sollte, daß Arions Sang Steine bewegte und die Leyer Apoll’s Mauern emporsteigen ließ. – Die Töchter von Preßnitz strömten nun mit einer Art natürlicher Begeisterung in die Welt und sangen und rührten um ihrer Eltern willen. Mit gefüllten Börsen kehrten sie heim und hoben das Heimathsstädtchen mit ihrer Hülfe allmählich [639] aus der Asche empor. Die Alexander-Lise hatte nicht blos sich ein Haus ersungen und erspielt, auch ihren Eltern errichtete sie eines und erkaufte ihnen Felder und legte Capitalien an. Sie ward nachmals die Frau eines guten Flötisten Namens Rudler. Nicht wenig trug sie dazu bei, ein gründlicheres Lehrmeisteramt zu eröffnen, was durch die Aussendung geschulter Preßnitzer Gesellschaften seiner Zeit auch Früchte getragen.

Die Nachahmung ward durch glückliche Erfolge gereizt, Kinder ergriffen die Harfe und eilten in’s Weite, sie kehrten oft nicht wieder, zuweilen entartet, mit gebrochenem Herzen oder in Schande und Schmach. Die Gesetze haben später dem voreiligen Hinausziehen vorgebeugt. Die Großjährigkeit beschränkt die heutige Freizügigkeit, und die Ablegung einer Prüfung durch einen von der Behörde bestellten Kunstverständigen sucht dem grassen Dilettantismus Einhalt zu thun. Ferner ward der Sittlichkeit wegen die Gewohnheit einer Art Preßnitzer „Garde de Dame“ eingeführt, die zu Lande die „Harfenmutter“ genannt wird. Eine altgediente Harfnerin wandert den jüngeren zur Seite; wie weit sie den jungen Geschöpfen Schutz angedeihen läßt, weiß ich nicht zu bestimmen. So findet man neben blühenden Rosen welke Mütter und Tanten oder Schwestern.

Auf der Reise sind diese wandernden Kunstnovizen ursprünglicher Natur genügsam und karg in Sitte und Lebensweise. Das Blut der Rebe, der Saft der Gerste wird ihnen als Geschenk von ihrem Protector kredenzt. Dagegen genügt ihnen als nahrhafteste Kost ein Kaffee, dessen Zusammensetzung aus Cichorie und Syrup ihnen die Mutter in der Heimath gelehrt, wenn sie nicht etwa den unverfälschten Mokka des Orients geschlürft haben. Die meisten dieser Singvögel kennen nicht die sybaritische Sitte der weichen Eiderdaunen und elastischen Matratzen, und strecken genügsam ihre von Fußreisen ermüdeten Glieder auf dem Strohlager der Wirthshäuser aus, wo sie gesungen, nachdem die in ihre schönen Haargeflechte auf rothem Chenille gewundenen gläsernen Perlen beseitigt. Das Roth des Haarputzes sollte einmal ihrem dem Schnee der Heimathberge gleichenden Teint einen Gegensatz bieten, der jedoch durch die fortwährenden Wanderungen der Sonnverbranntheit der Zigeunerinnen allmählich sich annähert. Sie lieben den „Staat“, was jedoch in ihrer Sprache der Putz heißt. Die Häuslersdirne aus dem Dorfe ist indeß einfacher in ihrer Kleidung, ärmer an musikalischen Kenntnissen und wagt sich nicht so weit in die Welt. Wenn sie auszieht, so sagt man, daß sie „strässig“ oder landläufig wurde, und bezeichnet sie allgemein als ein „Harfenmensch“. – Ihr Künstlerlohn ist oft gar zu gering und bescheiden und besteht nicht selten in einer abgesammelten Collecte von Kartoffeln und Grünzeug. Ich erwähnte schon früher von dem schwarzen dunklen Haar, das die Harfnerin sonst in mächtige, breite Zöpfe gewunden, nun aber zu einer Frisur aufzuthürmen pflegt, die in der Damenwelt unter dem Namen der Coques bekannt ist. Blondinen sind eben nur – weiße Raben. Die etwas vorstehenden breiten Backenknochen rauben der Wange die Rundung der duftigen Rose, und nur das durch die Saiten der Harfe feurig sprühende Auge, von einem – ihrem Verehrer zugeworfenen – reichen Lächeln begleitet, das kokettiren mit den in der Harfe wühlenden, ringbesetzten Fingern und ein gewisser pathetischer und theatralischer Ansatz des spielenden, üppigen Armes erweckt in dem meist männlichen Publicum wo nicht Bewunderung und Anerkennung – doch Mitleid oder Theilnahme. Bei Musikbanden, denen die Harfnerin als Mitglied einverleibt ist, wird diese gewiß die Rolle übernehmen, so timid sie auch spielen mag – den Sängerlohn auf einem Teller zu sammeln, wenn sie die Gesellschaft dieser Pflicht nicht selber entbunden hat.

Wie verschiedenartig ist dieser Lohn, und welche Abstufungen gibt es von dem schimmernden Rubel, der in den Geldgürtel rollt, wenn sie nach den Erzen des Urals gezogen und in dem Zug der Argonauten ihr goldenes Vließ erbeutet, von der hohen Banknote, welche ein berauschter Liebhaber einem Mädchen zuwirft, bis zu der kupfernen Wegzehrung eines Hellers oder einem mit Kartoffeln gefüllten Säckchen, wo in nächster Umgebung die Kunst eben betteln geht! Wie oft dieser reiche oder karge Lohn mit frechen oder höhnischen Worten gereicht wird, wollen wir nicht erzählen, aber jeder Fant, der seinen Silbergroschen verächtlich auf das Notenblatt der Sängerin wirft, glaubt ein Recht zu haben, das Mädchen zu necken oder gar mit schmutzigen Worten zu beschämen.

Als in den vierziger Jahren, namentlich zu Ende derselben, der große Mangel an rationellem Unterricht in der Harfe bei den Preßnitzer Musikern immer mehr zum Bewußtsein gelangte, verfiel man auf ein anderes Instrument. Siebenjährige Mädchen wurden von einem tüchtigen Lehrer erfolgreich in der Violine geschult. Sie versuchten in die Fußstapfen der Milanollo’s zu treten, und Einzelne erhoben sich annäherungsweise bis zu dem Niveau der böhmischen Concertistinnen Brousil, die ihrer Zeit auch in Paris Würdigung fanden.

Mit dem Gesange ging es im Jahreslaufe, statt aufwärts, immer nur abwärts. Namentlich gebrach und gebricht es diesen Naturkindern doch an der natürlichen Stimmerzeugung aus Kehle und Brust. Unerquicklich gequetschte Guttural- und Nasallaute kleben den bestgeschulten Harfensängerinnen an, mögen sie durch nachherige Uebung auch einen hohen Grad Coloratur erreicht haben, wornach vorzugsweise ihr Streben gerichtet. Zu diesem seelenlosen und übelerzeugten Gesang stößt noch das Urthümliche heimischer Mundart, um den Genuß der Leistung noch voll zu machen. Eine gewisse unerquickliche, dem E-laut den Charakter des Doppellauts Ae gebende Breite: „Reich mir die Hand – mein Läben“, „Läbe woll, mein theires Leben!“ ein hartes Aussprechen der Mittellauter, wie „woll“ statt „wohl“, geben einen merkwürdigen Charakter, der zuweilen an das mehr als Unverständliche streift.

Ob es unter den geschilderten Umständen nicht nationalökonomisch und künstlerisch von der besten Bedeutung wäre, den Erwerbszweig der Harfe und des Gesangs ganz erlöschen zu lassen, oder welche künstliche Mittel zu ergreifen wären, um diesen wilden Zweig durch ein Pfropfreis zu veredeln – gehört nicht in den Umfang dieser Skizze. Daß nicht allein Musikdrang, sondern der verlockende Reiz des mannichfaltigen Gebens die Dirnen in die Welt getrieben, ist offenbar. Wie sie für manche Jünglinge, so wurde die Welt wieder für sie eine Circe. Manche ging unter in dem Strudel der sinnlichen Freuden, manche aber erhob sich als stärkere Natur über manche Erfahrungen und siegte als die angetraute Gattin irgend eines absonderlichen Gutsbesitzers, oder liebte es, dessen Ehefrau ohne Trauact zu werden. Noch erzählt es heut mancher Preßnitzer, wie der leidenschaftliche Verehrer eines erst von den Reisen heimgekehrten Mädchens sie in einem glänzenden Vierspänner abgeholt hatte. Sie kam nie wieder nach der Heimath zurück. Für eine Andere ward ein Erziehungsbeitrag ausgesetzt und auf dieselbe auch aufgewendet. Nach dem höchsten Grade erlangter Politur ward sie von dem Spender als Gattin gewürdigt. In den vierziger Jahren kamen drei Harfnerinnen regelmäßig jede Messe mit einem Zweispänner in Leipzig an, und ich selbst kenne eine tüchtige Opernsängerin, die einst als „Preßnitzer Harfnerin“ mit zwei andern Dirnen nach Leipzig auszog. Manche Andere starb aber – durch Versprechungen, welche sie täuschten, sinnlos gemacht, in Wahnsinn und Fieber. Eine davon war ein gar munteres Geschöpf, die noch ein Jahr vorher in einer Gesellschaft von Brausewinden im Champagnertrinken den ersten Preis davon trug. Das ewige Ab- und Zugehen der Zugvögel muß selbstbegreiflich das Leben der Familie zerstücken. Es kamen Fälle vor, daß zarte Enkelein, von ihren Großeltern oder auch nur von Pflegeeltern daheim behalten, ihre eigenen Eltern jahrelang nicht sahen; einmal auch, daß sie nicht wiederkehrten und daß das leere Haus verkauft worden war, um dann die Kinder zu nähren und zu kleiden. Kehren aber einmal die männlichen und weiblichen Wanderer wieder, ist Jubel im Hause und allwärts Verträglichkeit und Friede.

Das Mädchen jener Harfe, die zur Flöte, Violine und Clarinette gesellt und deren Verehrer sich im musikalischen Kreise befindet, trotzt den Gefahren der Reise zumeist. Ihre musikalische Leistung wird in der Regel auch verhältnißmäßig die bessere sein. Ihr Schicksal ist gewöhnlich, von einem Flötisten oder Clarinettisten, der auf die Harfnerin etwa die Anziehungskraft ausübt, welche der Tenorist auf die erste Operistin, nach Jahren zum Altar geführt zu werden. Beim Hochzeitstanze spielen ihre Freunde die besten Stücke auf, über die sie gebieten.

Im Ganzen ist das Loos dieser „fahrenden Sängerinnen“ nicht zu beneiden. Wirthshausqualm, Nachtwachen und wildes Leben untergraben meist die Gesundheit der Mädchen, von denen nur Wenige draußen eine glückliche Existenz finden. Die Meisten kehren zurück – die letzte Hälfte des Lebens von Erinnerungen zehrend, die ihnen eine lustig durchlebte Jugend noch einmal vorzaubern.
K. B. H.

[640]
Blätter und Blüthen.


Prätendenten-Segen. Wie die neuesten Nachrichten von der hesperischen Halbinsel melden (diese Zeilen wurden am 11. September geschrieben), hat König Franz II. von Neapel seine Hauptstadt dem siegreichen Dictator Garibaldi überlassen; binnen Kurzem dürfte er auch seinem Reiche den Rücken gekehrt und in Oesterreich, Spanien oder England ein Asyl gesucht haben. Damit wäre dann das Dutzend der europäischen Kronprätendenten voll. Von dieser Zahl kommt die Hälfte auf Italien, und zwar sind solches neben König Franz noch folgende Pnnzen: 1) der Erzherzog Ferdinand von Oesterreich, seit dem August vorigen Jahres durch die Thron-Entsagung seines Vaters Leopold Großherzog von Toscana. 2) Der Erzherzog Franz von Oesterreich-Este, welcher trotz seiner zweimaligen Verjagung (1848 und 1859) sich noch immer „Herzog von Modena, Reggio, Massa und Carrara“ nennt. 3) Die im Sommer vorigen Jahres vertriebene Herzogin-Regentin Louise von Parma, geborne Prinzessin von Bourbon, Vormünderin ihres Sohnes, des minorennen Herzogs Robert. 4) Fürst Karl Honorius von Monaco, Reclamant der Duodez-Staaten Mentone und Roccabruna. 5) Prinz Lucian Murat, Sohn des im October 1815 zu Pizzo in Calabrien erschossenen Exkönigs Joachim Murat, Schwagers Napoleon’s I., welcher den von seinem Vater in den Jahren 1808 bis 1815 besessenen neapolitanischen Thron für sich in Anspruch nimmt.

Die sechs außeritalienischen Kronprätendenten sind: 1) der Infant Dom Miguel, Prinz von Braganza, reclamirt den Thron von Portugal, welchen er von 1828 bis 1834 mit Blut und Schmach besudelte. 2) Der Infant Don Carlos von Spanien, welcher seinen vermeintlichen Rechten auf die Kronen von Spanien und beiden Indien erst kürzlich durch eine Don-Quixotiade Geltung zu verschaffen suchte, dabei gefangen ward, um frei zu kommen verzichtete, als er diesen Zweck erreicht hatte, aber (echt bonrbonisch und echt ritterlich!) seine Verzichtleistung wieder zurücknahm. 3) Der „Graf von Chambord“ Henri Dieudonné, Herzog von Bordeaux, welcher seinen Anhängern, den Legitimisten, als rechtmäßiger König „Heinrich V.“ von Frankreich und Navarra gilt. 4) Der „Graf von Paris“, Louis Philippe, Herzog von Orleans, beansprucht zwar nicht wie sein Vorgänger den französischen Thron als ein „von Gottes Gnaden“ ihm zustehendes Erbe, gilt aber seiner Partei nichtsdestoweniger als rechtmäßiger „König der Franzosen“. 5) Prinz Gustav Wasa, aus der jüngeren Linie des herzoglichen Hauses Holstein-Gottorp, Sohn des 1809 vertriebenen und 1827 verstorbenen Königs Gustav IV. von Schweden, welcher, zur Zeit General und Gutsbesitzer in Oesterreich, bei jedem Thronwechsel im Hause Bernadotte seine Rechte auf den schwedischen Thron in Erinnerung bringt. Endlich ist 6) noch ein Herr Demetrius Komnenos in Paris, welcher bei dem vermutheten baldigen Hinscheiden des „kranken Mannes“ miterben, ja sogar der Haupterbe sein will.

Er beansprucht nämlich, als angeblicher Abkömmling der alten ruhmreichen (später freilich entarteten) byzantinischen Kaiserfamilie der Komnenen, diejenigen Provinzen des türkischen Reiches, welche seine angeblichen Vorfahren zu der Zeit besaßen, als sie auf den Thronen von Constantinopel und Trapezunt saßen; also etwa das heutige Königreich Griechenland, die europäisch-türkischen Provinzen Thessalien, Macedonien und Rumelien und den größten Theil von Kleinasien. Ein Weiteres begehrt Herr von Komnenos nicht, und hat erst vor wenigen Wochen in mehreren Pariser Zeitungen „den Herrschern und den Völkern von Europa“ seine „wohlfundirten“ Rechte auf die genannten Länder ans Herz gelegt; wir haben jedoch nicht vernommen, daß irgend eine Großmacht geantwortet oder ihm auch nur die Insertions-Gebühren seiner Proclamation erstattet hätte.

Zu keiner andern Zeit jemals ist Europa so gesegnet mit Prätendenten gewesen, wie gegenwärtig; selbst nicht zur Zeit der Throne umstürzenden Gewaltherrschaft des ersten Napoleon. Zwischen den Prätendenten von damals und denen von jetzt waltet übrigens der große Unterschied ob, daß jene sämmtlich, mit einziger Ausnahme des schon genannten Königs Gustav IV. von Schweden, durch das Schwert eines Eroberers von ihren Thronen verdrängt wurden, während sämmtliche jetzige Prätendenten entweder selbst von ihren Unterthanen vertrieben wurden, oder Söhne oder Nachkommen solcher Fürsten sind, die ihre resp. Kronen durch Verbrechen oder Thorheit verscherzten.
G. J.


Ein seltenes Jubiläum feierte in letzter Leipziger Messe der Fabrikant Carl Weißenborn aus Langensalza. Dieser alte, noch sehr rüstige Herr, der, seiner Gesundheit nach zu urtheilen, leicht noch 50 Messen besuchen kann, hat seit dem Jahre 1810 ununterbrochen die Leipziger Messen, Ostern, Michaeli und Neujahr, bezogen und somit jetzt 152 Messen einer Stadt mitgemacht – in guter und schlechter Zeit. Der Leipziger Stadtrath, in gerechter Würdigung dieser seltenen Geschäftsenergie und Anhänglickkeit an Leipzig, hat im Laufe der letzten Messe folgendes Schreiben an den Jubilar erlassen:

„Es ist von uns in Erfahrung gebracht worden, daß Sie seit der Ostermesse 1810, mithin seit fünfzig Jahren, die hiesigen Messen ununterbrochen besuchen. –

Wenn Sie auf den verflossenen langjährigen Zeitraum zurückblicken, so werden Sie gewiß mit dankbarem Herzen gegen die gütige Vorsehung erfüllt sein, die Ihnen ein so seltenes Glück hat zu Theil werden lassen; Sie werden sich aber auch den Gefühlen des Dankes um so freudiger hingeben können, da Sie die wohlthuende Genugthuung haben, daß Ihre lange unermüdete Thätigkeit nicht ohne Erfolg geblieben ist und Ihnen einen ehrenvollen Ruf in der Geschäftswelt gesichert hat.

Ist nun aber eine ehrenhafte langjährige Wirksamkeit mit vollem Rechte ein Gegenstand besonderer Achtung, so finden auch wir uns veranlaßt, Ihnen an diesem für Ihr Geschäftsleben höchst erfreulichen Jubelfeste unsere aufrichtigste Theilnahme zu bezeigen und Ihnen zu den erlangten Erfolgen Ihrer Thätigkeit Glück zu wünschen. – Möge es Ihnen vergönnt sein, die Früchte Ihres unermüdlichen Fleißes noch lange zu genießen, und mögen Sie bei ungeschwächter Kraft des Körpers und des Geistes noch manches Jahr in unsere Stadt zurückkehren und stets gern hier verweilen.

Mit vollkommenster Hochachtung unterzeichnet

Leipzig, den 7. Mai 1860.
Der Rath der Stadt Leipzig.“




Eine in Texas erscheinende Zeitschrift enthält folgendes bemerkenwerthe Inserat:

Es wird ein Müller gesucht;

derselbe muß ein unbescholtener Mann sein, kein Lästerer oder Trunkenbold, kein Schnapstrinker, kein Sabbathschänder. Wenn er Christ ist, muß er ein Bibelchrist, d. h. ein solcher sein, welcher die Religion nicht im Kopfe, sondern im Herzen trägt, nicht Einer, der schön thut vor den Leuten – nicht Einer, von denen der Apostel Paulus sagt: „Fliehe vor ihnen.“ Vor Allem soll mit ihm ein christlicher Umgang zu pflegen sein, und sein Herz sich verschließen vor jedem unkirchlichen Handel und Wandel. Auch muß er ein Mann sein, der Mühlsteine so behauen kann, wie sie das beste Mehl machen und der überhaupt versteht, die Mühle in Ordnung zu halten. Ebenso muß er die Maschine treiben können, da es ihr im Sommer und im Winter an Wasser fehlt.

Fayette, May 10. 1860.   John Raab.“

Wir wünschen Herrn Raab, daß er einen Müller nach seinem Herzen finden mag.




Schach.
Dilaram’s Matt.

Im freundlichen Gartensalon vor Ispahan’s Thoren saß zu dämmernder Abendstunde am Schachbret ein edler Greis, Persiens großer Dichter und Schachmeister Al Suli; ihm gegenüber seine und des ganzen Landes schönste Tochter Dilaram. Wie wenig ahnten sie Beide, von des königlichen Spieles Zauber gefesselt, die drohende Gefahr eines Ueberfalles! Ismael Khan, der zurückgewiesene Freiwerber, schlich mit rohen Sclaven heran, um Vater wie Tochter in seine Gewalt zu bringen. Aber Allah wachte für sie und sandte Rettung. Nourjehan, Persiens edler Prinz, der Stolz eines siegreichen Heeres, warf, dem Todesengel Azrael gleich, sich unter die räuberische Rotte, und die sein Schwert verschonte, trieb bleicher Schrecken zur Flucht. Wohl fesselte Dankbarkeit und Wohlwollen, bald aber auch glühende Liebe zu einander wie zum königlichen Spiele den Retter und seine Schützlinge. Dilaram ward des edlen Persers bevorzugte Gattin, er selbst der gefürchtetste Gegner auch im friedlichen Kampfe auf den vierundsechzig Feldern. Da zog, von so hohem und weitem Rufe getrieben, ein Fürstensohn aus dem Süden herbei, um im Kampf mit Persiens Stolz unsterbliche Lorbeeren zu erringen. Durch einen weisen Braminen in Indien erzogen, und auch in des königlichen Spieles tiefste Geheimnisse eingeweiht, erstritt der Ankömmling Sieg auf Sieg und gewann in Ispahan reiche Beute. Schon hatte sein edler Gegner alle Schätze und Besitzungen, ja seine Familienkleinodien vergeblich auf’s Spiel gesetzt. Da ging er, von wilder Leidenschaft hingerissen, den letzten Kampf um seine geliebte Dilaram ein. Heftig entbrannte die Schlacht, lange schwankte die Entscheidung; plötzlich dreht der überlegene Schachgegner ein unabwendbar scheinendes Matt. Wilder Verzweiflung Grimm erfaßt den edlen Perser, schon will er zum Kampf auf Leben und Tod nach dem Schwerte greifen, da stürzt aus dem nahen Zimmer hinter dem lichten Vorhang die geängstete Lauscherin Dilaram hervor, und mit bebendem Aufruf: „Gib hin den Thurm und rette Dein Weib!“ bringt sie die Erlösung für sich wie für den Gatten.

Aufgabe Nr. 7.
Schwarz.

Weiß.
(Nourjehan und Dilaram.)

Die Tradition hat die Schlußstellung der Partie unter dem Namen „Dilaram’s Matt“ aufbewahrt; es ist das älteste bekannte Schachproblem, welches nach unseren gegenwärtigen Schachregeln modificirt hier mitgetheilt wird. Das Original nebst der Sage findet sich in einem alten persischen Manuscript unter Nr. 16,856 des britischen Museum. Wir werden hierauf, sowie auf die sogenannte christliche Version des Ganzen, bei Mittheilung der Lösung zurückkommen.

Weiß zieht an und setzt in fünf Zügen Matt.




Für „Vater Arndt“
gingen bei Unterzeichnetem wieder ein: 15 Thlr. Von einem kleinen Kreise Deutscher in Moskau – 3 Thlr. Döring in Calbe – 2 Thlr. F. S. Hartmann in Iwanowskoe (Gouvernement Kursk) – 10 Thlr. 20 Ngr. Für Vater Arndt, durch Advocat Hannsen in Meldorf, 26 Mark 12 Schilling Hamburger Courant, als Ergebniß einer Sammlung bei Gretchen Ott – 2 Thlr. 71/2 Ngr. Sammlung der Redaction des Schleizer Wochenblattes.
Ernst Keil.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Verfasser der bekannten deutsch-amerikanischen Romane: „der Pedlar“ und „Gold und Geist“, ein geborner Thüringer, ist augenblicklich Redacteur des vielverbreiteten „Anzeiger des Westens“ in St. Louis und ein Liebling der deutschen Lesewelt in Amerika. „Mary Kreuzer“ ist ein Originalbeitrag des uns befreundeten Autors.
         D. Red.
  2. Darum ist der Hebel-Schoppen, der am hundertsten Geburtstage Hebel’s gestiftet wurde, schon in diesem Sinne ein entsprechendes Abbild seines Strebens. Nicht eine wohlthätige Stiftung, eine Armenspeisung allein ist im Geiste Hebel’s, sondern eine Stiftung zur Heiterkeit, zur Freude.
  3. In dem sächsischen Schul-Lesebuch, genannt „Lebensbilder I“, heißt es Seite 40 der zwanzigsten Auflage:

    „Ihr Dütennäscher, laßt euch sagen,
    Viel Zuckerzeug verdirbt den Magen.“

    Kann es nach Form und Inhalt etwas Abgeschmackteres geben, als solche Verse?

  4. Da, wo der heutige Taschenberg.
  5. Dieselbe, die später den Kronprinzen von Preußen, nachmals Friedrich den Großen, entflammte, als er in Dresden war.
  6. Wir erinnern hierbei an die „Läufer“, welche oft Stunden lang vor dem Wagen einhertraben mußten, und von denen einige mitten im Laufen todt zusammenbrachen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Einwandern
  2. Vorlage: Burgsdorff; vergl. Berichtigung in Heft 42.
  3. Fehlstelle ergänzt aus Google