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Die Gartenlaube (1859)/Heft 46

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Nur eine Putzmacherin.
Eine stille Geschichte.
(Schluß.)

„Gustav brauchte jetzt meine Unterstützung nicht mehr,“ fuhr das alte Mädchen fort, „wohl aber meine Mutter und die jüngste Schwester. Die älteste war gestorben, die zweite hatte sich gut verheirathet, konnte aber für die Mutter nichts thun, denn ihr Mann war genau, und es wären Zwistigkeiten entstanden, hätte sie die Ihrigen unterstützt. Und doch war das nöthig. Die Mutter war alt und die Jüngste wuchs heran. Ihre Lehrer lobten ihren guten Kopf von jeher, und die Mutter hatte immer gewünscht, sie zur Gouvernante zu bilden. Gustav bedurfte meines Geldes nicht mehr, seine Stiefmutter war auch so gestellt, daß sie ihn ein wenig unterstützen konnte. Ich war an unausgesetzte Arbeit, wie an die größte Einfachheit gewöhnt, ich brauchte also meinen Arbeitslohn vorläufig nicht. Ich hatte zwar gedacht, mir eine Ausstattung zu ersparen, aber natürlich konnte ich die Mutter nicht darben lassen oder zugeben, daß meine Schwester nicht viel lernte, da sie doch große Lust dazu hatte. Mit Vergnügen schickte ich ihnen, was ich hatte, und dachte, eine Ausstattung für mich werde sich finden. Und sie fand sich wirklich, denn Madame Albrecht behauptete, ich sei die Gründerin ihres Wohlstandes, und zeigte sich dankbar. Auch schob sich unsere Verbindung lange hinaus, denn die Beförderung im Bergfach ist ungemein langwierig. Gustav gab also die Staatscarriere auf und ging in’s Ausland. Vorher kam er hierher und Alles, was wir sonst mit einander gehofft und verabredet hatten, wurde wieder durchgesprochen, doch nur im Fluge. Er hielt sich nicht lange auf, denn es drängte ihn, eine gesicherte Stellung zu erringen. Dennoch vergingen Jahre, ehe er sie hatte und die Hochzeit festgesetzt wurde. Ich verließ meine Schwiegermutter und reiste nach Berlin. – Was soll ich Ihnen von meinem Glück sagen? Sieben Jahre hatte ich fast nur von der Hoffnung gelebt, und diese Hoffnung sollte endlich in Erfüllung gehen; sieben Jahre lang war mir der Gedanke an ihn, den ich so sehr lieb hatte, das ganze Leben gewesen, hatte ich ununterbrochen für ihn, für die Wittwe und die Kinder seines Vaters, wie für die Meinigen gearbeitet. Ich hatte es gewiß mit Freuden gethan und wäre für Gustav gern zu noch viel Schwererem bereit gewesen; auch war mir meine sonst schon werthe Beschäftigung noch werther geworden, weil sie mir die Mittel zu seiner Unterstützung gegeben hatte. Dennoch war ich ganz unsagbar glücklich, denn jetzt sollte ja erst mein wahres Leben beginnen; an seiner Seite wollte ich nachholen, was ich versäumt hatte, und Alles genießen, was die Welt und das Leben bieten, wenn man einen offenen Sinn dafür hat. – Gustav empfing mich – er war auf einige Wochen nach Berlin gekommen. Darauf wollte er auf kurze Zeit nach dem Hüttenwerk in Baden zurückkehren, bei welchem er angestellt war, und dann nur zur Trauung wiederkommen. –

Nachdem die erste berauschende Aufregung des Wiedersehens vorüber war, sagten Mutter und Schwester wie aus einem Munde: „Emilie, Gott im Himmel, wie siehst Du aus?“ Ich schaute in den gegenüber hängenden Spiegel und erschrak vor mir selber und noch heftiger, da ich meine Schwester darin neben mir sah. Ich war bleich und abgefallen, ich hatte nicht Zeit gehabt, daran zu denken – auch hatte sich das ja ganz allmählich gefunden. Das frische blühende Gesicht meiner Schwester mahnte mich daran, daß ich einst auch so ausgesehen hatte, und zeigte mir den großen Unterschied zwischen sonst und jetzt, „Armer Gustav, du bekommst eine alte, häßliche Frau!“ sagte ich ein wenig niedergeschlagen. Er aber zog mich in seine Arme und sagte herzlich: wenn meine Jugendblüthe verschwunden sei, indem ich ihm die Treue bewahrte, so sei es ja seine Pflicht, die Röthe der Gesundheit wieder auf meine Wangen zurückzubringen. Er war dabei lieb und gut gegen mich, dennoch gab mir das Wort: „Pflicht“ einen Stich in’s Herz. War es wirklich nur Pflicht, die ihn zur Verbindung mit mir trieb? – war die Liebe erloschen? Ich grübelte darüber, und mein Glück war nicht mehr ungetrübt. Auch sah ich in kurzer Zeit ein, was ich früher nie bedacht hatte: Gustav war ein gebildeter, geistreicher Mann – ich verstand nur Putz zu machen; früher, als wir Beide jung waren, da paßten wir vortrefflich zusammen – jetzt nicht mehr. Er war in den sieben Jahren immer vorwärts gegangen, hatte Gott weiß was Alles gelernt, gesehen, gelesen und gedacht. Ich war die Zeit über nicht blos stehen geblieben, sondern noch verdummt – war nichts, als eine unwissende Handarbeiterin. Das zeigte sich bald. Wovon Gustav auch sprechen mochte, ich wußte darüber nichts zu sagen, konnte über nichts mitreden. Meine Schwester verstand das sehr gut, sie hatte alle möglichen Kenntnisse und freute sich, mit einem so gescheidten Mann, wie Gustav, zu sprechen. Ich saß dabei und horchte, wollte anfangs wohl auch ein Wort dazugeben, wenn Gustav mich aufforderte. Aber das kam dann so ungeschickt und einfältig heraus, daß ich mich herzlich schämte. Noch öfter verstand ich auch gar nichts von dem, was sie redeten, und mußte auf Gustavs Fragen meine Unwissenheit bekennen. O Aline, mit welch schmerzlicher Scham das geschah! Und wie Gustav dann drein sah, wenn ich das nicht einmal gelesen, was von guten Büchern herausgekommen war seit den sieben Jahren, ganz zu geschweigen von allem Uebrigen, was zur Bildung gehört! Ich kann das ja nicht so erzählen, aber Sie werden wohl wissen, was Alles

[662] in einer Unterhaltung vorkommen kann, wie Vielerlei man gehört und gelesen haben muß, um doch überall ein wenig zu Hause zu sein. Gustav war über meine Unwissenheit verwundert und verlegen, gereizt und betrübt. Er sagte nichts und suchte sich zu beherrschen, aber ich sah, wie es in ihm arbeitete. Ich las jeden Gedanken in seinem Innern, denn wenn ich auch sonst nichts verstand, ihn verstand ich. Dazu braucht man ja auch keine Bildung, dazu braucht man blos so herzlich zu lieben, wie ich Gustav geliebt hatte und noch immer liebte.“

Sie schwieg und schöpfte lange und tief Athem. Die sonst unermüdliche und fleißige Hand ruhte, ein Zeichen ungewöhnlicher Aufregung. Hastig und mit zitternder Stimme fuhr sie nach einer kleinen Pause fort:

„Gustav hatte mir treu seine Liebe bewahrt, aber was die Trennung nicht vermocht hatte, das that das Beisammensein. Sein Herz erkaltete und nur seine Großmuth, wie sein Pflichtgefühl, hinderte ihn, zu gestehen, daß die Jugendgeliebte dem Manne nicht genügte, nicht genügen konnte. Ich fühlte das und wußte, was ich zu thun hatte. Sein Glück ging natürlich über mein eigenes, und wie hätte ich auch glücklich sein können, während er litt? Und er mußte leiden, wenn ich sein wurde. Gott im Himmel, hatte ich darum gearbeitet und entbehrt, daß er durch mich elend wurde? Hätte ich noch eine Jugend gehabt, ich hätte sie wieder mit Freuden für ihn hingegeben, wie konnte ich mich also besinnen, ob meine übrige Lebenszeit öde, hoffnungslos sein sollte? Ich gab ihn also auf und wurde wieder Putzmacherin. Aber was ich litt, das kann keine Zunge aussprechen! Es sind seitdem zwanzig Jahr verflossen, aber noch jetzt –“ fügte sie mit zuckenden Lippen und bebendem Ton hinzu, „noch jetzt zittert das thörichte Herz bei der Erinnerung an das damalige Weh.“

„Warum thaten Sie das auch? warum rissen Sie sich von ihm los?“ rief Aline schmerzlich. „Sie waren noch jung genug, Sie hätten ja noch Alles nachholen, sich noch hinreichend ausbilden können! Sie liebten ihn, und ich weiß es aus eigener Erfahrung, wie die Liebe jede Fähigkeit steigert; nichts ist so leicht, wie Kenntnisse zu erwerben, um dem Manne, der uns theuer ist, zu genügen. Es ist dann, als lernten wir gar nicht, als erinnerten wir uns nur eines Vergessenen, das stets in unserem Geiste lag, uns aber jetzt erst zum Bewußtsein kommt!“

Die Putzmacherin schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand über Stirn und Augen, als wollte sie mit der Thräne, welche die Bilder der Vergangenheit ihr erpreßt, auch gleich diese, oder wenigstens ihren Schmerz, fortwischen. Dann nahm sie den Hut auf, woran sie gearbeitet, und steckte bedächtig in zierlichen Fältchen den Atlas auf Kopf und Krempe. Die Wogen des Schmerzes haben im Alter nicht mehr die gewaltige Kraft, wie in der Jugend; wenn die Erinnerung sie auch noch zuweilen aufwallen läßt, so ebnen sie sich doch bald wieder.

„Mit Ihnen war das etwas ganz Anderes, Sie waren jung!“ sagte sie mit wehmüthigem Lächeln. „Ich war vierundzwanzig Jahr und obendrein kränklich. Meine Kraft war gebrochen, wie Ihre Schwiegermutter es mir einst vorhergesagt, ohne daß ich es ihr geglaubt. Andere Mädchen mögen in meinem damaligen Alter noch jung sein, ich fühlte, daß meine Jugend vorüber war. Die anhaltende Arbeit, der Mangel an Bewegung und freier Luft hatten mich mehr angegriffen, als ich es bisher in meiner Hoffnungsfreudigkeit bemerkt. Und sogar, wenn ich den Muth und die Stärke in mir gefühlt, noch genügende Bildung zu erlangen – es hätte nichts mehr geholfen, glücklich wären wir doch nicht geworden. Ich kann es, nicht so recht sagen, aber hier in meinem Herzen weiß ich’s ganz deutlich, daß es nimmer gut gethan hätte. Wenn ein Mann ein junges unwissendes Mädchen lieb hat, dann mag es sich unter seinen Augen ausbilden; es thut der Liebe keinem Eintrag, es erhöht sie manchmal wohl noch, wenn er seine Braut selber unterrichtet. Ganz anders war das mit mir. Gustav hatte mich gewiß von ganzem Herzen lieb gehabt, hatte ihn mir doch sieben Jahr hindurch keine Andere abwendig gemacht. Ich war nicht gerade unleidlich als junges Mädchen, und Gustav hatte mein Bild von damals aus seiner Jugendzeit mit sich in sein Mannesalter genommen. Während unserer langen Trennung hatte sich mein Andenken natürlich sehr verschönert und in den paar Tagen, die er einmal hier zubrachte, konnte er nicht von seinem Irrthum zurückkommen. Die Freude hatte meine Wangen geröthet, meinen Augen Glanz gegeben und meine Stimmung war auch wie in der Jugend. Als er mich endlich verblüht und alternd wiederfand, da hätte seine Liebe nur fortbestehen können, wenn ich klug und gescheidt gewesen wäre, wenn meine Unterhaltung ihn angezogen hätte. So fehlte mir Alles, Jugend, Schönheit, Geist, Kenntnisse, selbst Liebenswürdigkeit; denn ich fühlte mich so elend und auch so gedrückt und verschüchtert von der Erkenntnis; meiner Armuth, daß ich unmöglich heiter und angenehm sein konnte. Ich hatte nichts, als mein treues Herz, und das war nicht genug für einen Mann, der noch so jung war, wie Gustav, der in seiner Frau auch eine Freundin und Gesellschafterin haben wollte. Er sah, daß seine Wahl eine unglückliche, übereilte gewesen war, daß er sich in jugendlicher Thorheit zu früh und an die Unrechte gebunden hatte, und seine Liebe erkaltete. Hätte ich nun auch mit Ernst und Ausdauer gestrebt, Alles zu erlernen, was mir fehlte, so hätte er mich deshalb gewiß geachtet, aber wäre seine Liebe dadurch wieder erweckt worden? Gewiß nicht! Und dann wäre es mir auch nicht gelungen, das Versäumte nachzuholen, denn ich war dumpf und stumpf geworden und nicht mehr geschickt, ein frisches, regsames Leben zu beginnen. Ja, wäre ich jung gewesen, hätte ich gewußt, daß er mich liebte, dann wäre das ein Anderes gewesen. So benahm mir der Gedanke, daß es mit seiner Liebe vorbei sei und vorbei sein müsse, vollends das letzte Bischen Sinn und Verstand. Damals dachte ich das Alles nicht so ganz klar; aber ich fühlte es in mir desto lebhafter, daß ein Abgrund zwischen uns lag, den nichts ausfüllen konnte. – Ich reiste schnell ab und sagte Gustav nur schriftlich, daß ich einsehe, wir paßten nicht mehr für einander, darum gäbe ich ihm seine Freiheit zurück. Er schrieb mir wieder und suchte mich zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Seine Worte hätten jedem Fremden warm geklungen, ich kannte aber die Sprache des Herzens und las in seinem Briefe nur, daß er ein zu ehrenhafter Mann war, um ein Mädchen sitzen zu lassen, und – daß er Mitleid mit mir hatte. Ich blieb standhaft und die Zeit lehrte, daß ich Recht gehabt. Er verheirathete sich mit meiner Schwester und lebt mit ihr in der glücklichsten Ehe, wie ich später von Madame Albrecht hörte. Ich selber hatte nie eine Berührung mit ihnen – ich konnte es nicht, weil mein Schmerz dadurch ja immer auf’s Neue erwacht wäre. Aber stets dankte ich Gott für sein und meiner Schwester Glück.“

Sie hielt eine Weile inne und schaute ihre Arbeit an. Wie weit waren wohl ihre Gedanken von derselben! dennoch fuhr sie fort, zu nähen oder Stecknadeln einzustecken, und es schien, selbst die mechanische Beschäftigung stille lind ihr erregtes Gemüth.

„Madame Albrecht nahm mich mit offenen Armen auf,“ sprach sie weiter. „Sie war zwar schon wohlhabend, allein die Erziehung und Ausstattung ihrer Kinder kostete viel, sie konnte mich also wohl brauchen. Meine Natur war aber zu sehr angegriffen, ich wurde krank und nur ihre sorgliche Pflege half mir wieder auf. Zuerst war ich, Gott verzeihe mir’s, wenig dankbar dafür, daß ich am Leben geblieben, aber ich lebte nun doch einmal und richtete mich wieder hier ein in diesem Stübchen, wo ich sonst auch gearbeitet hatte. Was brauche ich erst zu sagen, wie schwer und langsam mir die Stunden hinschlichen? Sie können sich das wohl denken. Aber die Zeit milderte nach und nach den wilden Schmerz, und mit jedem abgelaufenen Jahre wurde es stiller in dem unruhigen Herzen, vernarbte die Wunde in der Brust mehr. Zuerst war mir jede Gesellschaft zuwider, war mir am wohlsten, wenn ich keinen Menschen sah oder hörte, und ich lebte nur für meine Arbeit. Auch später konnte ich mich nie recht an die Leute anschließen, so herzlich mir auch Alle hier im Hause entgegenkamen und so sehr ich Jedem auch das Beste wünschte. Gott weiß, ich war nicht mißgünstig, es war gewiß nicht Neid, aber ich konnte kein frohes Lachen hören, kein blühendes, zufriedenes Gesicht sehen und besonders kein fröhliches Kind. Es gab mir dann allemal einen tiefen Stich in's Herz und ich mußte an die Vergangenheit denken, in der ich auch glücklich war, und daran, wie ich mir die Zukunft so anders geträumt und vorgestellt hatte, als sie nun wirklich geworden war. Auch lesen oder Musik hören konnte ich nicht, ich mochte nicht einmal spazieren gehen, denn Alles erinnerte mich ja an frühere Zeiten und an mein Unglück. Mein Gemüth war zu wund, Alles that ihm weh. Zuletzt, als ich ruhiger geworden war, hatte ich mich so an meine Abgeschlossenheit und an die Arbeit gewöhnt, daß mir nirgend so wohl war, wie hier in dem kleinen Stübchen unter Hüten und Hauben. Die ganze Welt hatte für mich beinahe aufgehört zu sein, war mir wenigstens ganz fremd geworden, und ich hatte nie den Wunsch, meine Lebensweise zu ändern.“

[663] Die junge Frau kämpfte mit ihren Thränen. Ihr war jetzt geistige Regsamkeit, fortschreitende Entwickelung, Verkehr und Zusammenhang mit der Außenwelt Bedürfniß, sie besaß einen zärtlichen, geliebten Gatten, liebliche Kinder, einen traulichen, heimischen Heerd. Emilie hatte von alldem nichts; sie war nicht allein einsam im Herzen, sie entbehrte auch die Anregungen und Genüsse der Bildung. Ein solch’ enges, beschränktes Leben erschien ihr namenlos beklagenswerth und viel schlimmer als der Tod; es schien ihr wie eine Verbannung in die unermeßlichen Einöden Sibiriens, wo jede geistige Lebensregung, jeder Keim zu fruchtbringender Fortentwickelung erstarren und verkümmern muß. Sie gab ihren Empfindungen keine Worte, um die Putzmacherin nicht zu verletzen, allein diese schien in ihrem Innern zu lesen; hatten ihre eignen Gedanken doch auch dieselbe Richtung genommen.

„So gar elend, wie Sie sich mein Leben vorstellen, ist es nicht!“ sagte sie sanft. „Wenn man jung, gesund und glücklich ist, dann wünscht man sich etwas Anderes und braucht auch etwas Anderes, als wenn man alternd, schwächlich und kummervoll ist. Mir war Ruhe das Allernothwendigste, es that mir wohl, mich von Allem abzusperren und nur auf das Allernächste zu achten. Wie sagt nur Schiller? „„In den Ocean schifft mit tausend Masten der Jüngling; still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.““ Wenn Männer nach dem Schiffbruch ihrer Hoffnungen und Pläne sich bescheiden lernen und lernen müssen, wie viel leichter wird das nicht uns? Haben wir doch auf unsern, Lebensschiffchen nie tausend Masten, ja, ich kann wohl sagen, daß ich nur einen einzigen hatte und der hieß Gustav. Nachdem ich ihn verloren, gab’s für mich nur die Möglichkeit, in einem stillen Hafen zu ankern, wie ich’s gethan habe. Auch ist’s ja die Hauptsache, wie man zu leben, was man für Ansprüche zu machen gewöhnt ist. Man spinnt sich zuletzt ein, wie eine Puppe, und fühlt sich gar nicht bedrückt in dem engen Gehäuse, in dem Andere ersticken möchten. Und ein großer Trost war mir meine Arbeit. Der Dichter hat Recht, nichts bleibt uns so lieb und tröstlich bis zu allerletzt, als „„Beschäftigung, die nie ermattet““. Sie sehen, ich weiß doch noch Etwas von Schiller, so arm an Bildung und Poesie ich auch bin!“ unterbrach sie sich mit einem melancholischen Lächeln. „Das macht, Gustav liebte Schiller und las uns zuweilen etwas von ihm vor, und dergleichen prägt sich Einem dann wohl für immer ein, so schwach und vergeßlich das Gedächtniß sonst auch wird, wenn es ohne Uebung bleibt, wie das meine. – Ja, was ich von der Arbeit sagen wollte: Alles, was wir fertigen, auch das Geringste, macht uns Freude, und wie ein Künstler oder Dichter an seinen Werken, fühlt Jeder, je nach seinen Kräften, auch Lust an dem, was er geschaffen. Ich kann wohl sagen, meine Putzsachen erfreuten mich, wenn sie allmählich so hübsch und duftig unter meinen Händen entstanden. Ich sann gern über Veränderungen daran, scheute keine Mühe, jedes Hütchen oder Häubchen zu einer Art Kunstwerk zu machen.“

Der Eintritt des Baumeisters unterbrach sie. Er schaute, nachdem er die Putzmacherin herzlich begrüßt hatte, befremdet und besorgt in die thränenvollen Augen seiner Frau. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und flüsterte, um ihre Bewegung zu erklären:

„Ach, denke Dir, sie hat Deinem Stiefbruder ihr Gehalt zum Studiren gegeben und ihm später entsagt, weil sie ihm nicht gebildet genug war!“

„Ich wußte das längst –“ sagte der Baumeister und schaute sich gedankenvoll in dem kleinen Stübchen um, worin er so angenehme Stunden verbracht hatte. Dann sagte er: „Ich habe eben einen Brief von Gustav bekommen. Er und seine Frau wünschen dringend, daß Sie zu ihnen kämen, und er ersucht mich, Sie dazu zu bewegen.“

Er zog das Schreiben hervor und reichte es Emilie, die es zögernd nahm und dann auf ihren Arbeitstisch legte, während sie schweigend den Kopf schüttelte.

„Sie wollen nicht?“ sagte der Baumeister. „Warum? Sie haben Ihre Jugend für ihn geopfert – weshalb soll er nicht für Ihr Alter sorgen? Er weiß zwar nichts von dieser Verpflichtung, aber er hat doch eine große Schuld gegen Sie; es war jedenfalls unrecht’, daß er Sie aufgab und zwar nach einer so langen Verbindung.“

„Nein, nein, das machen Sie ihm nicht zum Vorwurf!“ erwiderte das alte Mädchen mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit. Durfte sie denn zugeben, daß der einst Geliebte getadelt wurde? „Ich habe ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht, daß er mich zu lieben aufhörte, denn das war nicht seine Schuld – wir paßten einmal nicht mehr zusammen. Auch wollte er ja sein Wort halten, und ich war es, die zuerst brach, weil ich fühlte, daß wir unglücklich sein würden. Konnte ich etwa darum einen Anspruch auf ihn gründen, weil ich viele Jahre, von der zartesten Jugend an, nur in dem Gedanken an ihn lebte, weil ich dadurch um jede andre Aussicht auf Lebensglück gekommen war? Gott weiß, ich bin von Herzen gewiß demüthig, bin ich doch auch nur ein armes, unbedeutendes Mädchen – aber dazu war ich doch zu stolz. Als er einsah, daß er sich in mir getäuscht, daß ich ihn nicht glücklich machen konnte, da hörte auch seine Verbindlichkeit gegen mich auf; mein einziges Anrecht an ihn war seine Liebe, nicht ein Versprechen, nicht ein Verlöbniß. Auch was ich für ihn empfunden oder vielleicht gethan hatte, verpflichtete ihn zu nichts –“ fuhr sie fort, während eine tiefe Röthe auf ihren Wangen brannte und ihre matten Augen in Hellem Glanz leuchteten. Es wurde ihr schwer, zu einem Mann von den Gefühlen zu sprechen, welche sie stets verschämt im tiefsten Herzen verborgen hatte, doch galt es ja seine Vertheidigung. „Mag er lange glücklich leben und einst sanft entschlafen – gegen mich hat er keine Schuld, die sein Gewissen nur im Geringsten drücken dürfte. Ich habe ihn so sehr geliebt, daß sein Glück mein Hauptwunsch war, und bin ihm dankbar, daß ich ihn so lieben konnte, daß er und seine Neigung meine Jugend unaussprechlich schön machte. Daß ich für ihn arbeitete und entbehrte, konnte natürlich nie in Rechnung kommen – dafür waren wir gleich quitt. Man ist ja mit Freuden bereit, für den Mann, den man von Herzen lieb hat, viel mehr, ungleich Schwereres zu thun und zu leiden, als einige Nachtstunden bei der Handarbeit zuzubringen oder unnützem Luxus zu entsagen. Das liegt einmal in der Natur – ist kein Verdienst. Und je mehr man thun und opfern kann, desto glücklicher und stolzer ist man ja. Wenn mich später in Leid und Einsamkeit, in Schwäche und Alter Etwas aufrichtete, so war es eben der Gedanke, daß ich ihm genützt hatte. Dadurch bekam mein Leben einen Werth für mich, den es sonst nie gehabt hätte. Und darum begreifen Sie gewiß, daß hier von einer Wiedererstattung nie die Rede sein kann und darf, und werden es an Gustav nicht verrathen, daß er damals mein Geld erhielt. Es würde ihn ja nur unnütz quälen, daß er für mich durchaus nichts thun kann.“

Der Baumeister und seine Frau hatten mit Ueberraschung in das Gesicht des alten Märchens geschaut, das unverkennbare Spuren von Schönheit und Lieblichkeit zeigte, nun die fahle Farbe, die Stumpfheit oder doch Unbelebtheit und Ermüdung gewichen war, wodurch es sonst entstellt wurde.

„Dann kommen Sie zu uns!“ sagte der Baumeister warm, „Geben Sie das Putzmachen auf, bei dem Sie körperlich und geistig verfallen sind. Wir wollen es Ihnen bei uns so behaglich machen, wie möglich – Sie sollen ganz ungenirt nach Ihren Neigungen und Gewohnheiten leben. Dabei werden Sie sich in kurzer Zeit erholen und noch einmal anfangen zu leben – sind Sie doch kaum in der Mitte der Vierzig.“

Aline stimmte sogleich ein und zählte als Ueberredungsgründe Alles auf, was sie thun wollte, um der alten Freundin das Leben recht angenehm zu machen. Doch diese dankte ihnen und sagte: „Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, dann komme ich zu Euch, und Sie sollen mich pflegen, Aline. Jetzt thäte das nimmer gut. Ihr seid mir herzlich willkommen, wenn Ihr zu mir kommt, aber bei Euch würde ich mich nicht behaglich fühlen und nur Euer Glück stören. Ich passe nach Bildung und Lebensgewohnheiten nicht in Eure Mitte und bin zu alt, ein neues Leben anzufangen. Auch habe ich meine Art Stolz und denke, mag Einer sein, was er will, darauf kommt’s wenig an, die Hauptsache ist, daß er das, wozu ihn die Umstände machten, auch recht und von ganzer Seele ist. Auf den Platz nicht hingehören, den man einnimmt, ist immer schlimm, aber im Aller am allerschlimmsten, denn man findet sich nicht mehr so leicht zurecht, wie in der Jugend – hat nicht mehr die Fähigkeit dazu. Es ist närrisch und hochmüthig, aber gewiß würde es mich kränken, wenn ich von so Vielem, was bei Euch besprochen wird, nichts verstände – hier kann mir das nicht passiren, hier fühle ich mich sicher und daheim, weil ich weiß, daß ich verstehe, was zur Arbeit nöthig ist, und meine Sachen nicht verpfusche. [664] Darum laßt mich nur immer bleiben, was ich war und bin – eine Putzmacherin.“

Das junge Ehepaar nahm bald Abschied, denn es dämmerte schon und Aline ängstigte sich um ihre Kleinen, von denen sie ungewöhnlich lange fortgeblieben war. Bei dem Lächeln und Plaudern ihrer Kinder, an der Seite ihres Mannes dachte die junge Mutter mit doppelter Wehmuth an das freudenleere Loos ihrer Wohlthäterin, allein der traurige Gedanke an ein ödes, glückloses Leben trat vor dem eignen Glück auch bald wieder in den Hintergrund.

Die Putzmacherin saß indeß, ermüdet von dem ungewohnt vielen Sprechen, in dem kleinen dämmernden Stübchen. Hier war sie einst, freudig und hoffnungsvoll, viele Jahre hindurch Tag aus Tag ein bis lange nach Mitternacht fleißig gewesen, im Stillen immer wieder berechnend, was Gustav für ihren Arbeitslohn haben könne, oder wie lange es wohl noch bis zu ihrer Vereinigung wäre; hier hatte sie die letzte Zeit vor ihrer Reise nach Berlin in einem Rausch des Entzückens zugebracht und später auf derselben Stelle das qualvolle Weh ihres Herzens still und einsam durchgekämpft und überwunden. Würde sie je ein Ort, und sei es der allerschönste auf dem ganzen Erdkreise, so anheimeln, wie dies kleine Zimmer, in dem sich ihr Dasein abgesponnen hatte? Schon darum konnte sie es nicht verlassen. Auch war ihr die hübsche, zierliche Arbeit lieb und werth geworden durch die lange Gewohnheit und noch mehr durch all’ die Träume, Wünsche, Gedanken und Empfindungen, welche ihr Inneres erfüllt hatten, während die Finger sich emsig geregt. Ueberdies hatte sie noch einen andern Grund, ihre Beschäftigung nicht aufzugeben, den zu nennen sie zu bescheiden gewesen. Nach ihrer Trennung von ihrem Geliebten hatte sie Niemand gehabt, für den sie arbeiten konnte, denn ihre Mutter war bei der jüngsten Tochter und bedurfte ihrer Unterstützung nicht. Dennoch war es ihr Bedürfniß, daß ihre Arbeit durch irgend einen Zweck gleichsam geheiligt werde; an sich selbst zu denken hatte sie nie gelernt, und die Nutzlosigkeit ihres Daseins vermehrte noch ihr Elend. Ihr warmes, großmüthiges Herz hatte indeß bald einen Lebenszweck gefunden. Ihr eignes Leben erschien ihr so gebrochen, daß sie es nicht der Mühe werth hielt, es mit größerer Gemächlichkeit, als sonst, zu umgeben oder gar mit dem Luxus, welchen der reichliche Ertrag ihrer Arbeit wohl gestattet hätte; – sie sparte eifrig, um einst das Geld für Andre zu verwenden. Ihr Lebensglück war durch den Mangel an Kenntnissen zerstört worden, sie wollte wenigstens einige Mädchen vor einem ähnlichen Loose bewahren. Alles, was sie erarbeitete und erdarbte und einst hinterließ, sollte einen Fond bilden, dessen Interessen zur Unterstützung armer Mädchen bestimmt waren, die Lust und Anlagen zu geistiger Entwickelung, aber nicht die Mittel dazu besaßen. Seit fast zwanzig Jahren hatte sie ihr bedeutendes Gehalt zu diesem Zweck gesammelt, das Wenige, was sie für sich verwendet, war nicht einmal der Rede werth. Und seit dem Rücktritt der Madame Albrecht hatte sie in Gemeinschaft mit der ehemaligen Directrice das Geschäft übernommen, in welchem das darauf verwendete Capital sich erstaunlich hoch verzinste. So hatte sie es jetzt schon zu einem ziemlich ansehnlichen Vermögen gebracht, doch nur ihre nächsten Freunde ahnten, wozu es bestimmt war, und durften davon niemals reden.

Das Mädchen brachte die Lampe, und Emilie las nun den Brief des ehemaligen Bräutigams. Er erzählte dem Bruder von seiner Frau und Familie und seinem häuslichen Glück. Diesem fehlte nur, wie er hinzusetzte, daß Emilie sich bewegen lasse, zu ihnen zu kommen. Er sprach in Ausdrücken von der Schwester seiner Gattin, welche bewiesen, daß er der Geliebten seiner Jugend eine Achtung und Theilnahme bewahrt hatte, wie sie nach der Auflösung solcher Verhältnisse selten zu finden sein mag.

Lange neigte sich das verwelkte Gesicht der Putzmacherin über diese Schriftzüge, deren Anblick einst ihr Herz in Entzücken klopfen gemacht hatte. Noch vor wenigen Jahren hätte sie dieselben nur mit tiefem Weh betrachtet, jetzt hatte sie sich endlich zum Frieden durchgerungen. Eine Freudenthräne, ein lange ungewohnter Gast in diesen trübgewordenen Augen, fiel auf das Papier; es freute sie, daß es ihm wohl ging und daß er ihrer gedachte.

Endlich faltete sie das Blatt zusammen und flüsterte dann: „Gott segne Dich, mein Gustav, Dich und die Deinigen. Wie habe ich Dich lieb gehabt – so sehr, daß ich gern noch einmal all’ das vergangene Leid auf mich nähme, wenn es Dir nützte.“

Sie nahm den begonnenen Hut vor und vollendete ihn, Friede und Heiterkeit im Herzen. Hatte sie doch auch Ursache zufrieden zu sein und ihre Beschäftigung zu lieben. Auf ihrer Seele lag nicht wie ein drückender Alp jener Fluch, der gewöhnlich alte Mädchen verfolgt, der Fluch eines unnützen, zwecklosen Daseins. Ihr Leben war, bei aller anscheinenden Armuth, Beschränkung und Einseitigkeit, nicht verfehlt; sie hatte durch Fleiß und Ausdauer eine Geschicklichkeit in ihrem Fach erlangt, die segensreich für Viele geworden war. Sie hatte ihrem Geliebten eine ehrenvolle, ihn befriedigende Laufbahn möglich gemacht und dazu beigetragen, daß ihre Schwester eine passende Gattin für ihn wurde. Seine Verwandten dankten ihr Wohlstand, Erziehung und eine ehrenvolle Stellung im Leben, und zu Alinens Glück hatte sie auch mitgewirkt. Und einst würden noch viele Mädchen, die sonst bei dem Drang nach höherer Entwicklung in Unwissenheit verkommen wären, eine Thräne der Dankbarkeit haben für das edle, dann längst in Staub zerfallne Herz, welches das eigne düstre Dasein mit dem Streben erhellte, Andern das Licht zugänglich zu machen, welches ihm selber fehlte.

Was kümmert es sie, daß ihr Mühen verkannt wird? Das eigne Bewußtsein überwiegt unendlich die Meinung der Menge, und es würde ihr nur peinlich sein, wollte Jemand ihr Beweise von Achtung zollen. Still und geräuschlos, eben so unermüdlich, obgleich nicht in so übersprudelnder Hoffnungsfreudigkeit, wie einst das Geld zu Gustavs Studien, erarbeitet sie eine kleine Summe nach der andern. Die Leute aber, welche der verfallenen Gestalt in dem unscheinbaren Anzüge zuweilen ansichtig werden, schütteln den Kopf und sagen: „Wie kann man nur so geizig sein! – die Habsucht verzehrt die alte Putzmacherin ganz – so viel, wie sie braucht, muß sie doch längst zusammengescharrt haben.“ Oder es heißt auch wohl: „Da geht eine närrische alte Jungfer – wozu war die wohl nütze in der Welt?“





Zum 10. November.

Die Redaction der Gartenlaube hat es sich stets angelegen sein lassen durch geeignete Beiträge die Erinnerung an Schiller, den Liebling der deutschen Nation, wach zu halten und auf jede Weise zu fördern. Der Besuch im Schillerhause (1853, Nr. 13), Schiller in Volksstedt (1855, Nr. 27), Schiller’s Eltern (1855, Nr. 39), Schiller’s Frau (1855, Nr. 19), das Schillerfest in Leipzig (1855, Nr. 51), Weimar’s Dichter (1856, Nr. 24), Erinnerungen an Schiller’s Familie (1857, Nr. 40), das Schillerhaus in Lauchstedt (1857, Nr. 26) legen Zeugniß davon ab. Wir dürfen zudem bei den Lesern der Gartenlaube voraussetzen, daß ihnen die Lebensschicksale ihres Lieblingsdichters bekannt sind, und verzichten deshalb darauf, ihnen diese nochmals vorzuführen.

Wenn wir trotz dieser vielfachen Beweise der Verehrung heute zur Feier des Tages dem Unvergeßlichen nochmals den Tribut unserer Liebe in Wort und Bild zollen, so folgen wir damit nur dem Drange unseres Herzens und den gerechten Anforderungen der deutschen Nation, die mit Recht verlangt, daß die Presse das Andenken eines Mannes feiere, der so viel und so schön zum geistigen Aufschwung der Nation beigetragen. In Schiller feiern wir unsere edelsten Bestrebungen, unser sittlich-größtes Ringen und deshalb ist uns Alles – Alles, was uns das Andenken dieses Mannes zurückruft und derer, die ihn am nächsten standen, so unendlich lieb und werth.

Indem wir die bekannten Bildnisse der Eltern Schiller’s und seiner Frau nochmals vorführen (wenigstens den Lesern des Jahrgangs 1855 schon bekannt), freut es uns, heute in nebenstehendem Bilde das Portrait des sechsundzwanzigjährigen Dichters geben zu können, das nach dem allgemeinen Urtheile als das einzig ähnliche aus jener Zeit betrachtet werden kann. Das Original-Oelgemälde von Reinhardt befindet sich bekanntlich im Besitze des in Leipzig lebenden Dichters Adolf Böttger, der davon auch eine gute Lithographie fertigen ließ.

[665]

Friedrich von Schiller.
im sechsundzwanzigsten Jahre, nach einem Original-Oelgemälde von Reinhardt.


Helle Freudenfeuer flammen
Von den Höhen in das Land,
Haus’ bei Hause tritt zusammen,
Alles drückt sich froh die Hand.

5
Fackeln leuchten, Fahnen wehen,

Rede, Sang, und Festgelag:
Denn es will das Volk begehen,
Schiller, Deinen Ehrentag!

Wo die deutschen Laute klingen,

10
Ueber Land und über Meer,

Wo sie deutsche Lieder singen –
Deutsche Lieder hell und hehr –
Dir gilt heut’ des Volkes Rufen,
All’ sein Lieben und sein Ruhm,

15
Schiller, dessen Lieder schufen

Ihm ein ewig Heiligthum.

Männer hast Du für die Wahrheit,
Für das heil’ge Recht bewehrt.
Hast das Ringen nach der Klarheit

20
Des Gedankens sie gelehrt,

Sie zum höchsten Ziel geleitet,
Und bekämpft den blinden Wahn,
Hast in edlem Streit bereitet
Edler Freiheit eine Bahn.

25
Auf den häuslichen Altären

Opfern deutsche Frauen Dir,
Denn Du lehrtest sie verklären
Sich mit hoher Anmuth Zier.
Ordnend und mit sinn’gem Walten

30
Geh’n sie durch des Gatten Haus,

Bauen es durch ihr Gestalten
Ihm zur schönsten Heimath aus.

In das Herz der deutschen Jugend
Schlug Dein Dichten flammend ein,

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Auf dem Weg zu aller Tugend

Wolltest Du ihr Führer sein.
Ahnend beben ihre Herzen,
Sehnend wogt’s in ihrem Sinn,
Aber aus des Zweifels Schmerzen

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Führst Du sie zum Schauen hin.


Ueber alle goß Dein Schaffen
Füllereichen Segen aus:
Für das Leben gabst Du Waffen,
Süßen Frieden für das Haus. –

45
Deutsches Volk! Es galt sein Lehren,

Und sein ganzes Ringen Dir.
Willst Du Deinen Seher ehren,
Halte hoch, hoch sein Panier!

 L. Pedretti.

[666]
Schiller’s Bedeutung für das deutsche Volk.

Ein heiliges Feuer hat alle deutsche Herzen bei der Erinnerung an das hundertjährige Geburtsfest des berühmten Dichters entzündet; nicht eine Stadt, sondern alle Städte, nicht ein Stamm, sondern alle Stämme des sonst vielfach gespaltenen Vaterlandes rüsten sich zur gemeinsamen Feier des unsterblichen Sängers. Die so heiß ersehnte Einheit scheint plötzlich vom Himmel herabgestiegen und über Nacht herrlich aufgeblüht zu sein. Wie um eine heilige Fahne schaart sich das deutsche Volk um das Standbild seines großen Todten.

Welch’ ein Wunder ist geschehen? Woher diese flammende Begeisterung der ganzen Nation?

Andere Dichter haben vor und mit Schiller gelebt, deren Werke nicht minder den Stempel der Unsterblichkeit an sich tragen, deren Schöpfungen uns entzücken und Bewunderung erregen, die sich würdig ihm zur Seite stellen dürfen. Nicht fehlt es unserem Vaterlande an tapferen Helden, großen Männern, deren Verdienste wir freudig anerkennen, deren Thaten die Geschichte preisend aufbewahrt. Aber Keiner von ihnen hat in dem Maße die Liebe seines Volkes sich errungen, die heute Schiller’s Stirn wie Strahlenglorie umgibt und schmückt.

Wodurch hat Er diese Liebe sich erworben; wodurch eine solche Verehrung von uns verdient?

Weil Schiller wie kein Anderer sein Volk geachtet und geliebt, darum liebt es auch ihn wie keinen Anderen; weil er für sein Volk gedichtet und gelebt, darum ist auch er vor Allen der Dichter seines Volkes. In ihm hat sich der deutsche Genius am reinsten offenbart; seine hohe Dichterseele spiegelt, wie der Silberquell das goldene Licht der Sonne, das Höchste und das Beste wieder, was dem Deutschen theuer und eigen ist: die Begeisterung für die Freiheit, die Achtung für Menschenwürde, die Liebe zum Vaterlande, das glühende Streben nach Wahrheit und Erkenntniß, verbunden mit der erhabensten Sittlichkeit. Darum wird Schiller von seiner Nation wie kein anderer Dichter heut’ gefeiert; darum sind seine Werke in jeder Hand. Jung und Alt, Vornehm und Gering, der König auf seinem Thron wie der Handwerker bei der Arbeit, der Hochgebildete wie der Bildungsbedürftige kennen seine Lieder und schöpfen aus ihnen Hoffnung und Trost, Muth und Begeisterung. Von den Bergen, wo die Freiheit wohnt, schallen sie herab zum stillen Thal und wecken das Echo in der Menschenbrust. Beim fröhlichen Mahl und hellem Gläserklang tönt das Lied der Freude:

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Rascher pocht das Herz des Knaben, wenn er die Balladen Schiller’s liest, die „Bürgschaft“, welche so herrlich das Gefühl der Freundschaft preist, den „Gang nach dem Eisenhammer“ voll wahrer Frömmigkeit und Herzenseinfalt, den „Taucher“, der die Wunder der Tiefe mit allem Zauber, deren Vers und Sprache fähig ist, enthüllt. Röther färben sich der Jungfrau Wangen, wenn der Dichter ihr das süße Geheimniß ihres Herzens deutet; sie flüstert tief bewegt ihm nach:

O, daß sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!

Gibt es einen Jüngling, den des Sängers Lieder nicht mit Begeisterung erfüllen, zu edlen Entschlüssen und großen Thaten spornen? Seine Gedichte sind das Evangelium der Jugend geworden und verdienen es zu sein wegen der Reinheit ihres Inhalts, wegen des sittlichen Adels, der aus ihnen spricht. Nie hat Schiller dem Geschmack der Mode gehuldigt, nie auch nur eine Zeile geschrieben, über die er zu erröthen brauchte; nie erniedrigte sich seine Muse, weder zum Schmeicheln, noch zum frivolen Spiel. Wohl durfte mit Recht sein geistiger Zwillingsbruder Goethe von ihm rühmen:

Und hinter ihm im wesenlosen Scheine
Lag, was uns Alle bändigt, das Gemeine.

Aber auch dem gereiften Manne bringt der Dichter in seinen Gesängen einen Schatz von Weisheit und Lebenserfahrung zugetragen; reich an Gedanken kehrt er von dem „Spaziergang“ an Schiller’s Hand in sein Haus zurück, wo er die sinnige Frau mit leuchtenden Blicken findet, entzückt von dem Lobe, das kein Sänger ihr schöner sang, als er.

Schiller’s Muse ist sein „Mädchen aus der Fremde“:

Und theilte Jedem eine Gabe,
Dem Früchte, Jenem Blumen aus;
Der Jübgling und der Greis am Stabe,
Ein Jeder ging beschenkt nach Haus.

Doch am größten und bedeutendsten erscheint sein Genius, wenn er von den Bretern herab, welche für ihn „die Welt bedeuten“, zu dem versammelten Volke spricht. Mit athemloser Stille und gespannter Erwartung hängt das dichtgedrängte Haus an den wunderbaren Gestalten, an den großen und erhabenen Schöpfungen seiner dramatischen Poesie. Wie weiß er das Herz seiner Zuschauer zu erschüttern und zu rühren, bald mit Bewunderung für die Tugend, bald mit Abscheu vor dem Laster zu erfüllen! Aber vor Allem ist Schiller in seinen Dramen der Dichter der Freiheit, die sich wie ein rother Faden durch seine Werke, vom ersten bis zum letzten, zieht.

Mit dem Motto: „in tyrannos!“ eröffnete er mit jugendlichem Ungestüm in den „Räubern“ den Kampf gegen die drückenden Fesseln der Tyrannei; Karl Moor ist der revolutionaire Geist des Jahrhunderts selbst, der, unter dem Drucke der sogenannten patriarchalischen Zustände zum Aeußersten getrieben, gewaltsam jede Fessel sprengt und in titanenhafter Wildheit gegen die Gesellschaft sich auflehnt. Mit prophetischem Geiste ahnte der damals achtzehnjährige Dichter die große politische und sociale Bewegung seiner Zeit, deren welterschütternde Ideen er von der Bühne herab verkündigte, bevor noch Männer wie Mirabeau, Danton und Robespierre dieselben gleich Brandfackeln in die Welt schleuderten. Ganz Deutschland war erstaunt über die Kühnheit eines ungekannten Jünglings und bewunderte seinen Muth und mehr noch sein Genie. Damals schon erkannte das Volk mit richtigem Instincte in Schiller seinen Dichter und jauchzte ihm Beifall zu, während die Großen und Schriftgelehrten, vor Allen aber sein Landesvater, der Herzog Karl von Würtemberg, mit dem gleichen Instincte in dem Schüler seiner Karlsschule den Feind des Despotismus ahnte und ihn mit dem Schicksale des ihm verwandten eingekerkerten Schubart bedrohte.

In tiefer Uebereinstimmung seines Handelns mit seinem Dichten trotzte Schiller dem Verbote des Herzogs, ohne dessen Bewilligung nichts mehr drucken zu lassen; er ergriff die Flucht, indem er Eltern, Vaterland und sichere Lebensstellung seinem heiligen Berufe opferte.

Unter Mangel und Entbehrungen der schwersten Art verfolgte er den einmal eingeschlagenen Weg, indem er in Mannheim seinen „Fiesko“ zur Aufführung brachte, den er selbst ein republikanisches Trauerspiel nannte. Der Hauch der Freiheit beseelte auch dies neue Werk, worin er in dem ehernen Verina den echten Republikaner von unerschütterlicher Festigkeit dem glänzenden, die Freiheit nur zu seinen egoistischen Zwecken mißbrauchenden Fiesko gegenüberstellte. Aber das im Shakespeareschen Riesengeiste erfaßte Stück war für die damalige Stimmung und die kleinlichen Verhältnisse in Deutschland zu groß. Schiller schrieb darüber an seinen späteren Schwager Reinwald: „Den Fiesko verstand das Publicum nicht. Republikanische Freiheit ist hier zu Lande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name; in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut.“

Weit näher lag dagegen Schiller’s „Kabale und Liebe“ der Anschauungsweise des deutschen Volkes. Waren es ja dessen Jammer, dessen Leiden unter der damaligen Minister- und Maitressenwirthschaft, welche der Dichter mit schonungsloser Hand aufdeckte, indem er auf die tiefe Wunde des Vaterlandes wies; gab er doch in dem Musikus Miller und seiner Familie das treue Bild des unterdrückten Bürgerthums, während er in dem Präsidenten und seinen Helfershelfern die Nichtswürdigkeiten der vornehmen Welt brandmarkte. In einer Reihe der erschütterndsten Scenen kämpft er für die Freiheit gegen das Standesvorurtheil, dessen Lächerlichkeit und Verderblichkeit er bald mit schneidendem Spotte geißelt, bald mit heiligem Ernste richtet. Indem er aber diesen höheren Standpunkt seinem Werke verlieh, erhob er das beschränkte, bürgerliche [667] Familiengemälde zu einer Tragödie von wahrhaft geschichtlicher und politischer Bedeutung.

Alle Wünsche aber, alle Hoffnungen und Träume einer nach Freiheit dürstenden Seele strömte der Dichter in seinem „Don Carlos“ aus. Noch heute, in einer den materiellen Interessen nur zu sehr hingegebenen Zeit, wirkt der ideale Gehalt dieses Trauerspiels stets begeisternd auf die Menge und vor Allem auf das Herz der Jugend, deren Lieblingsheld der edle, hochherzige Marquis Posa geworden ist; noch heute, Gott und dem Dichter sei dafür gedankt, wecken die Verse des todesmuthigen Schwärmers für Menschenwürde und Völkerwohl ein tausendfältiges Echo in unserem Vaterlande, rütteln sie ein nur zu oft der Lethargie oder der Blasirtheit verfallenes Geschlecht aus seinem Schlaf, wenn die erhabene Mahnung, für den Tyrannen Philipp bestimmt, an sein Herz pocht:

 Sehen Sie sich um
In seiner heiligen Natur! Auf Freiheit
Ist sie gegründet – und wie reich ist sie
Durch Freiheit! Er, der große Schöpfer, wirft
In einen Tropfen Thau den Wurm, und läßt
Noch in den todten Räumen der Verwesung
Die Willkür sich ergötzen – Ihre Schöpfung
Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes
Erschreckt den Herrn der Christenheit – Sie müssen
Vor jeder Tugend zittern. Er – der Freiheit
Entzückende Erscheinung nicht zu stören –
Er läßt der Uebel grauenvolles Heer
In seiner Welt blind toben – ihn,
Den Künstler, wird man nicht gewahr; bescheiden
Verhüllt er sich in ewige Gesetze!
Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu
Ein Gott? sagt er: die Welt ist sich genug,
Und keines Christen Andacht hat ihn mehr,
Als dieses Freigeists Lästerung, gepriesen. –

Aber für Schiller in seiner fortwährenden Entwickelung war die Freiheit kein bloßer abstracter Begriff, das Vaterland kein leerer Schall, das Volk kein eitles Wort. Ueber die Liebe zur Menschheit vergaß er nicht sein Volk, das deutsche Volk, dessen Größe und Erhebung ihm vor Allem am Herzen lag. Er wollte es stark durch Einigkeit und geachtet wissen; tief empfand er die Schmach und Erniedrigung desselben unter einheimischer Tyrannei und dem Drucke fremder Eroberer. Schon in seinem „Wallenstein“ deutete er auf unser Grundübel hin, auf unsere nationale Zerrissenheit:

Was geht der Schwed’ mich an? Ich hasse ihn, wie
Den Pfuhl der Hölle und mit Gott gedenk’ ich ihn
Bald über seine Ostsee heimzujagen.
Mir ist’s allein um’s Ganze. Seht! Ich hab’
Ein Herz, der Jammer des deutschen Volkes erbarmt mich.

Selbst der Ehrgeiz eines Wallensteins schreckt nicht vor dem Abfall von seinem Kaiser, aber wohl vor dem Verrathe am Vaterlande zurück; er fragt darum:

Wie war’s mit jenem königlichen Bourbon,
Der seines Volkes Feinden sich verkaufte
Und Wunden schlug dem eignen Vaterland?
Fluch war sein Lohn, der Menschen Abscheu rächt
Die unnatürlich frevelhafte That.

Aus diesem wahren, aber keineswegs beschränkten Patriotismus entsprang die herrliche Gestalt der „Jungfrau von Orleans“, welche ihr gottgeweihtes Schwert gegen die Unterdrücker ihres Volkes zieht. Der Dichter wurde wieder zum Seher, der seiner Zeit vorauseilte und den künftigen Freiheitskampf verkündigte. In der stillen Werkstätte der Gedanken erschien ihm der Genius und offenbarte ihm die Geschicke seiner Nation: nicht durch die Macht der uneinigen Fürsten, durch die Tapferkeit des übermüthigen Adels, sondern nur durch den Geist des Volkes sollte einst das Vaterland gerettet aus seiner größten Schmach wieder auferstehen; wie Frankreich durch die gottbegeisterte Jungfrau von niederer Geburt sich von Neuem erhoben hatte. In dem Volke erkannte Schiller mit welthistorischem Blicke die Elemente einer neuen besseren Zeit, den Träger einer großen Zukunft. Wie in allen seinen Werken, so bekundete er auch hier seine Liebe, sein Vertrauen zu dem Volke, dem er das Höchste zumuthete. Vorzugsweise aber war es wieder die deutsche Nation, welche er im Auge hatte, obgleich er die Geschichte seines Drama’s, sei es Zufall oder weise Absicht, dem französischen Boden entlehnte. Unter seiner Hand jedoch erhielt der fremde Stoff ein vaterländisches Gepräge, ähnlich den heidnischen Altären, welche dem Christenthume dienen, gleich dem Schwerte, das ein tapferer Krieger dem Feinde entreißt, um ihn selbst damit zu bekämpfen.

Mit Recht erinnert sich daher die edle Königin Louise von Preußen in einem ihrer schönsten Briefe aus dem Jahre 1809 in ihrem tiefsten Schmerze an den hingeschiedenen Dichter der Jungfrau, von dem sie folgendermaßen an eine Freundin schreibt: „Auf den Bergen ist die Freiheit!“ Klingt diese Stelle, die ich erst jetzt verstehe, nicht wie eine Prophezeiung, wenn Sie auf das Hochgebirge blicken, das sich auf den Ruf seines Hofer erhoben hat? Welch ein Mann, dieser Andreas Hofer! Ein Bauer wird ein Feldherr und was für einer! Seine Waffe – Gebet, sein Bundesgenosse – Gott! Er kämpft mit gefalteten Händen, kämpft mit gebeugten Knieen und schlägt wie mit dem Flammenschwerte des Cherubs! Und dieses treue Schweizer-Volk, das meine Seele schon aus Pestalozzi angeheimelt hat! Ein Kind an Gemüth, kämpft es wie die Titanen mit Felsstücken, die es von seinen Bergen niederrollt. Ganz wie in Spanien! Gott, wenn die Zeit der Jungfrau wiederkäme und wenn der Feind, der böse Feind doch überwunden würde, überwunden durch die nämliche Gewalt, durch die einst die Franken, das Mädchen von Orleans an der Spitze, ihren Erbfeind aus dem Lande schlugen! – Ach, auch in meinem Schiller hab’ ich wieder und wieder gelesen! Warum ließ er sich nicht nach Berlin bewegen? Warum mußte er sterben? Ob der Dichter des Tell auch verblendet worden, wie der Geschichtsschreiber der Eidgenossen? (Johannes von Müller, der französischer Staatsrath wurde.) Nein! Nein! Lesen Sie die Stelle:

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre!

„Kann diese Stelle trügen? – Und ich kann noch fragen: warum er sterben mußte? Wen Gott lieb hat in dieser Zeit, den nimmt er zu sich.“

Bewundern wir in Schillers Jungfrau seinen Seherblick, womit er die künftige Größe und Bedeutung des Volkes ahnte, so müssen wir noch weit mehr den welthistorischen Sinn anstaunen, der uns aus seinem „Tell“ entgegen leuchtet. Schillers Idealismus, den man ihm so oft und stets mit Unrecht zum Vorwurf macht, wird immer von dem Geiste der Geschichte so lebenskräftig durchströmt, daß sich Beide gegenseitig ergänzen und durchdringen. Solch eine Ergänzung zu der idealen Jungfrau bildet sein Tell; dort die gottbegeisterte Schwärmerin, hier der besonnene Mann, dort die Idee, hier die That, dort das evangelische Wunder des Glaubens, hier der mächtige Impuls der selbstbewußten Freiheit. Beide Werke verhalten sich zu einander wie der Mann zur Frau, wie die dunkle Ahnung zu dem klaren Wissen. Der Dichter selbst hat in seinem letzten Drama das Wesen der Freiheit auch am tiefsten erfaßt. Nicht der Einzelne, so hoch er auch stehen mag und sei er selbst ein Mann wie Tell, vermag mehr das große Werk allein zu thun; dazu bedarf es aller Kräfte, aller Stände, aller Parteien im Vaterlande. Das Volk selbst muß zum Helden werden in dem Drama seines Freiheitskampfes. Adel und Bürger, Landmann und Handwerker müssen sich einst die Hände reichen, um die Despoten zu verjagen. In diesem Sinne ruft der edle Attinghausen dem verführten Rudenz zu:

Lern’ dieses Volk der Hirten kennen, Knabe!
Ich kenn’s, ich hab’ es angeführt in Schlachten.
Ich hab es fechten sehen bei Farenz.
Sie sollen kommen, uns ein Joch aufzwingen,
Das wir entschlossen sind nicht zu ertragen!
O, lerne fühlen, welchen Stamms du bist!
Wirf nicht für eitlen Glanz und Flitterschein
Die echte Perle deines Werthes hin –
Das Haupt zu heißen eines freien Volks,
Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht,
Das treulich zu dir steht im Kampf und Tod –
Das sei dein Stolz, des Adels rühme dich.
Die angebornen Bande knüpfe fest,
An’s Vaterland, das theure, schließ dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.

Und sterbend mahnt der Greis die Seinigen zur Eintracht:

Drum haltet fest zusammen – fest und ewig –
Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd –
Hochwachten stellet aus auf euren Bergen.
Daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle.
Seid einig – einig – einig.

Ist es nicht, als hätte Schiller selbst, von einer plötzlichen Ahnung seines eigenen nahen Todes ergriffen, im Tell ein Vermächtniß [668] für ewige Zeiten hinterlassen wollen, das Erbtheil einer unbegrenzten Liebe für sein Volk?

Anfang und Ende seiner nur zu kurzen Dichterbahn stimmen in seltener, so bei keinem andern Dichter vorhandenen Harmonie zusammen; dem stürmischen Morgenrothe, womit sich sein Gestirn in den Räubern ankündigte, folgte das verklärte Alpenglühn seines Tell; noch am Rande des Grabes pflanzte der Mann das Banner der Freiheit auf, das der Jüngling einst so kühn entfaltete.

Solche Treue ist selten!

Aus der Saat aber, welche der große Säemann ausgestreut, erwuchs jene Begeisterung, die Mutter edler Thaten. An Schillers heiliger Gluth entzündete sich die deutsche Jugend zum Kampf für das Vaterland gegen den fremden Unterdrücker. Aus seiner Quelle schöpften die späteren Freiheitssänger, ein Theodor Körner, ein Max von Schenkendorf, ihre schönsten Lieder. Die Worte des Dichters wurden zu Thaten; an seinen patriotischen Gedanken ermannten sich seine Zeitgenossen. Das Theater, einst nur der Schauplatz banaler Unterhaltung, wurde durch ihn zum geweihten Tempel umgewandelt, und noch heute erfaßt die Zuschauer, wie einst unsere Väter, ein heiliger Schauer der Begeisterung, wenn der ritterliche Dunois sein Volk zum Widerstande gegen den Erbfeind auffordert, wenn der wackere Stauffacher uns zuruft:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Muthes in den Himmel
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst.

Somit dankt das deutsche Volk dem Dichter das Bewußtsein seiner Würde, seiner Kraft; er weckte in ihm die Liebe zur Freiheit, den Haß gegen jeden inneren und äußeren Despotismus; er stärkte den Nationalsinn, der dem Deutschen am meisten Noth thut. Seine unsterblichen Werke haben nicht nur unsere Muttersprache bereichert, unsern Sinn für Kunst und Literatur gehoben, unsere geistige Bildung gefördert; sie sind keine bloßen Erzeugnisse der dichterischen Phantasie, geschaffen vorzugsweise zum ästhetischen Genuß; sondern die höchsten und bedeutendsten Denkmäler des deutschen Genius, lebendige Lehrer und Erwecker des Volkes, ewige und unerschütterliche Wegweiser auf der Bahn des Fortschritts zu allem Guten und Vollendeten. Wie kein anderer Dichter verbindet Schiller mit der schönen Form auch den bedeutenden Inhalt, mit der künstlerischen Abrundung auch die höchste Idee. Seine Werke sind goldene Früchte in silbernen Schalen, Blüthen der reinsten Menschheit, wie die Rose die größte Schönheit mit dem seelenvollsten Duft vereinend. Darum sind sie auch das Gemeingut der ganzen Nation und nicht einer vorzugsweise ästhetisch gebildeten Classe geworden, verständlich für Alle, tief eingedrungen in das Volk, welches mit den Sentenzen und Gedanken Schillers den Schatz seiner Weisheit bereichert und sie den ihm eigenthümlichen Sprüchwörtern einverleibt hat.

Darum erfüllt die Nation nur eine heilige Pflicht, wenn sie heut in dieser großen, allgemeinen Feier die Schuld ihrer Dankbarkeit abzutragen versucht; sie ehrt sich nur selbst, indem sie ihren Lieblingsdichter ehrt.

Aber nicht das helle Glockengeläute, das von allen Thürmen schallt, nicht der Glanz der Fackeln, nicht das Jauchzen der Menge, wenn die Hülle von des Dichters Standbild fällt, nicht der Festgesang zu seinem Preise, Reden und Toaste zu seinem Lobe in dem mit Blumen geschmückten Saal sind die Opfer, welche der Genius heut von uns verlangt. Sie legen zwar ein Zeugniß unserer Liebe und Verehrung ab; doch der Unsterbliche bedarf unserer Anerkennung nicht. Sein erhabener Geist, der vom Sternenzelt herniederschaut, fordert andere und höhere Gaben.

Was habt Ihr, darf er uns in dieser Stunde fragen, mit meinem Vermächtnisse angefangen? Habt Ihr das heilige Erbe, das ich Euch hinterlassen, bewahrt und durch Eure Arbeit noch vermehrt? Seid Ihr, wie ich es gewollt, ein freies, einiges Volk geworden, groß nach innen und nach außen Achtung gebietend, vertrauend auf die eigene Kraft und bereit, das Leben für die höchsten Güter der Menschheit einzusetzen? Seid ihr fortgeschritten auf der Bahn, die ich Euch vorgezeichnet, auf der Bahn der Duldung, der Humanität, oder zurückgefallen in die Nacht des Aberglaubens und der Finsterniß?

Noch können wir dem seligen Geiste nicht antworten, wie wir so gern möchten; noch ist Deutschland nicht in seinem Sinne frei und einig, noch sind wir kein Volk von Brüdern, wenn auch die Sehnsucht nach dieser Einheit mächtiger als je empfunden wird. Noch fehlt es der Nation an freudigem Opfermuth; noch dulden wir das Unrecht in unserer Mitte; noch lassen wir es zu, daß die Partei, welche im Finstern schleicht, uns das Licht der Vernunft zu verdunkeln und zu rauben sucht. Noch treiben die Alba’s und Domingo’s unter uns ihr Wesen, nur daß sie feiger geworden sind, als ihre größeren Vorbilder. Noch stehen wir unter der Herrschaft eines alle höheren Interessen bedrohenden Materialismus; noch knieen wir vor dem goldenen Kalb, dem Götzen dieser Zeit.

Wollen wir daher Schiller wirklich feiern, wie er es um uns verdient, so müssen wir in seinem Geiste denken, handeln und leben.

Das deutsche Volk, das er so sehr geliebt, hat noch die hohe Aufgabe zu lösen, die er ihm gestellt: Freiheit und Einigkeit sei unsere Losung!

Der Adel suche seinen Adel nicht in verrotteten Vorurtheilen und Verfolgung seiner Sonderinteressen; er schließe sich dem Ganzen innig an und zeichne sich vor Allen durch Liebe zum Vaterlande, durch jede männliche Tugend aus!

Der Gelehrte sehe nicht mit vornehmem Dünkel auf die Menge herab! Sein Wissen hat nur Werth, wenn es das Gemeinwohl fördert.

Der Lehrer der Religion lerne von Schiller Duldung und Liebe, die das wahre Christenthum gebietet!

Der Dichter vor Allen strebe dem hohen Vorbilde eines Schiller nach in seiner Achtung für Menschenwürde, in seiner idealen Begeisterung für alles Edle und Erhabene, womit der Materialismus der Gegenwart bekämpft werden muß! Seine Muse sei keusch und rein, zu stolz, dem verdorbenen Geschmack des Augenblicks zu huldigen.

Der Bürger vergesse über dem Streben nach Erwerb nicht die höheren Güter des Lebens, seine geistige Ausbildung, die Bereicherung mit solchen Schätzen, die ihm kein Zufall rauben kann.

So feiern wir Alle, Alle Schiller am würdigsten, so danken wir dem Unsterblichen am schönsten.

M. R.



Schiller's Beerdigung (1805) und die Aufsuchung seiner Gebeine (1826).
Von Dr. Schwabe.[1]

Die Nr. 14 des laufenden Jahrganges der Gartenlaube bringt uns eine Mittheilung aus Goethes Leben; betitelt: „Eine ernste Stunde. Aus dem Leben Goethe’s, mitgetheilt und gezeichnet von einem Zeitgenossen des Dichters.“ Es wird uns darin erzählt, wie Goethe die einundzwanzig Jahre nach Schillers Tode aufgefundenen Ueberreste dieses seines großen Freundes geprüft und für ihre nochmalige Bestattung gesorgt habe. So anziehend der kleine Aufsatz geschrieben ist, so enthält er doch manche Unrichtigkeiten und läßt richtige und interessante Thatsachen unerwähnt. Da ich eine genaue und zuverlässige Kenntniß der bei Schiller’s Beerdigung, sowie bei der Aufsuchung seiner Gebeine concurrirenden Umstände besitze, so fühle ich mich zu einer Mittheilung darüber in Ihrem weitverbreiteten Blatte um so mehr berufen, als die heutige hundertjährige Feier der Geburt unseres geliebten Dichters gewiß das Interesse für jenen Gegenstand bei Ihren Lesern erhöht und belebt. Ausführlicher, als es hier geschehen kann, habe ich dies in einer besondern Schrift (bei Brockhaus) gethan, von der ich jedoch voraussetzen muß, daß sie nur einem kleinen Theile von den Tausenden Ihrer Leser bekannt ist.

Es sei mir gestattet, meine Mittheilungen mit der Beerdigung

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Schiller’s Frau, Charlotte von Lengefeld.




Schiller’s zu beginnen, die von besonderen, vielfach besprochenen und fast immer falsch beurtheilten Umständen begleitet war. Meiner lieben Vaterstadt Weimar hat man den ungerechten Vorwurf gemacht, daß sie bei der Beerdigung ihres großen Bürgers eine unerklärliche Theilnahmlosigkeit gezeigt habe, weil Schiller bekanntlich in der Stille der Nacht, mit einem nur sehr kleinen Geleite, ohne Grabrede und sonstige Feierlichkeit zur Erde bestattet worden ist. Diese Thatsachen sind richtig, keineswegs aber der daraus gezogene Schluß. Die Kunde von dem so unerwartet eingetretenen Tode Schiller’s erregte in Weimar die allgemeinste, schmerzlichste Bestürzung, die sich sogar überall in den Straßen unter den sich Begegnenden so unverkennbar kund gab, daß diejenigen, zu welchen die Trauernachricht noch nicht gelangt war, sich ängstlich nach der Ursache dieser allgemeinen Bestürzung erkundigten.

Am tiefsten war natürlich die Trauer und der Schmerz in der Familie Schiller’s. Frau von Schiller war in Thränen aufgelöst. Außer ihren Kindern und ihrer damals auf Besuch bei ihr weilenden Schwester, der Frau von Wolzogen, ließ sie Niemanden zu sich in’s Zimmer. Die Sorge für die so peinlichen Vorbereitungen zur Beerdigung hatte sie in die Hände des befreundeten Consistorialrathes Günther gelegt, dabei aber ihren bestimmten Willen ausdrücklich ausgesprochen, daß die Beerdigung ganz in der Stille und ohne alles Gepränge vor sich gehen solle. Wohl wurde in Weimar der Wunsch laut, mit Schiller’s Leichenbegängniß eine der hohen Verehrung, deren der Verstorbene bei seinen Mitbürgern genoß, entsprechende Feier zu verbinden. Dieser Wunsch scheiterte jedoch an dem bestimmt ausgesprochenen Willen der Frau von Schiller. Der glaubwürdigste Zeuge hierfür, Frau von Wolzogen, sagt in ihrem Werke (Schiller’s Leben, II. 307): „Auf verschiedene Anträge zu einer andern Bestattung ging meine Schwester nicht ein.“

So wurden denn dem hierzu beauftragten Consistorialrath Günther die Vorbereitungen zur Beerdigung, dem Willen der Wittwe und den damals in Weimar bestehenden Gebräuchen gemäß, getroffen. Der letzteren möge hier noch kurze Erwähnung geschehen. Zu jener Zeit pflegte man in Weimar die eigentliche Beerdigung der Todten des Nachts in der Stille, ohne Geleite und ohne Grabrede, vorzunehmen und erst am Tage darauf die kirchliche Feier durch Absingen eines Liedes und durch eine priesterliche Trauerrede in der Gottesackerkirche zu begehen. Diese Feier nannte man die Collecte, und ihr wohnten diejenigen bei, welche ihre Theilnahme an dem Todesfall bezeigen wollten. Bei Sterbefällen in den höheren Ständen erboten sich gewöhnlich diejenigen Handwerksmeister, die für das Haus Arbeiten geliefert hatten, das Tragen des Sarges zur letzten Ruhestätte zu übernehmen, wofür sie in dem Sterbehause mit Wein und Kuchen bewirthet wurden. Die etwa noch fehlenden Träger wurden von den Zünften, die der Reihe nach abwechselten, gestellt und hierfür besonders bezahlt. Bei Schiller’s Beerdigung war die Zunft der Schneider an der Reihe.

Am 9. Mai 1805 war Schiller gestorben; in der Nacht vom 11. zum 12. Mai sollte er beerdigt werden.

Mein Vater, der wenige Jahre zuvor die Universität verlassen hatte und als Secretair bei der Landesregierung angestellt worden war, kehrte am Nachmittag des 11. Mai von einer mehrtägigen Geschäftsreise nach Weimar zurück. Hier empfing ihn die erschütternde Nachricht, daß Schiller gestorben sei und in der bevorstehenden Nacht um 12 Uhr ganz in der Stille von Handwerkern zu Grabe getragen werden solle. Mein Vater war ein begeisterter [670] Verehrer Schiller’s; es widerstrebte seinem Gefühl, daß den großen Dichter Männer zur Ruhe tragen sollten, die, so brav und wohlmeinend sie sein mochten, doch wenig oder keine Ahnung von dem Werthe des Dahingeschiedenen hatten. Sie wollten nur den „Herrn Hofrath von Schiller“ begraben, während Deutschland einen seiner größten und geliebtesten Söhne beweinte.

Mein Vater begab sich sofort in das Schiller’sche Haus und ließ die Frau v. Schiller, der er genau bekannt war, bitten, sie einen Augenblick sprechen zu dürfen, wurde jedoch nicht vorgelassen, auch als er wiederholt darum bat, mit dem Zusatze, daß sein Anliegen die Beerdigung ihres Gatten betreffe. Frau v. Schiller ließ ihm sagen, er möge sich an den Consistorialrath Günther wenden, welchem sie alle Anordnungen übertragen habe. Zu diesem eilte nun mein Vater; er eilte, denn die Zeit drängte, da die Beerdigung schon in sechs bis sieben Stunden vor sich gehen sollte.

„Frau v. Schiller hat mich zu Ihnen gewiesen, als ihrem Bevollmächtigten,“ redete er den geistlichen Herrn an. „So eben von einer Reise zurückgekehrt, höre ich, daß Schiller diese Nacht von Handwerkern zu Grabe getragen werden soll. Gestatten Sie, daß ich dieses heilige Geschäft mit mehreren meiner Freunde vollziehe.“

„Ja, lieber Freund,“ entgegnete Günther trocken, „dazu ist es nun zu spät. Ich habe bereits alle Anordnungen getroffen; die Handwerker, welche die Leiche tragen sollen, sind schon bestellt; daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Wenn Sie bei Frau von Schiller waren, werden Sie auch erfahren haben, daß die Beerdigung in größter Stille vor sich gehen soll. Sie und Ihre Freunde können ja Ihre Theilnahme an dem Tode des verehrten Mannes bei der „Collecte“, die morgen Nachmittag drei Uhr gehalten werden wird, an den Tag legen.“

„Verzeihen Sie, wenn ich jetzt nichts von der Collecte hören mag, jetzt, wo die Stunde so nahe bevorsteht, in welcher Schiller zu seiner letzten Ruhestätte getragen werden soll. Diese heilige Handlung geht mir näher zu Herzen, als Ihre Collecte. Wollen Sie die Leiche eines Schiller von Leuten tragen lassen, die es vielleicht kaum vom Hörensagen wissen, daß es die Hülle unseres größten Dichters ist, die auf ihren Schultern ruht – während doch eine Anzahl inniger Verehrer des großen Mannes sich erbieten, ihm diese letzte Ehre zu erweisen?“

„Mein junger Freund,“ versetzte Günther, „Ihr Anerbieten verdient allerdings alle Anerkennung; aber, wie gesagt, es ist zu spät, und ich muß bedauern, Ihnen Ihre Bitte abschlagen zu müssen.“

„Herr Consistorialrath,“ sagte mein Vater, immer dringender werdend, „bedenken Sie, was Sie thun, bedenken Sie, was jetzt in Ihre Hand gegeben ist! Verharren Sie nicht bei Ihrer Weigerung, durch welche Sie eine Schmach auf sich, auf Weimar, auf Deutschland laden würden. Was wird man davon sagen, wenn man hört, daß der edelste Dichter, der Liebling der deutschen Nation, von bezahlten, gleichgültigen Leuten zu Grabe getragen worden ist?“

Das schien denn doch Eindruck auf Günther zu machen, und als mein Vater versprach, daß die größte Stille beobachtet werden sollte, auch, daß er für die Bezahlung der bereits bestellten Träger einzustehen sich verbindlich mache, da schienen die engherzigen Bedenklichkeiten Günthers zu schwinden, und er erkundigte sich nur noch, wer denn eigentlich die Männer seien, welche die Leiche tragen wollten.

Mein Vater stand einen Augenblick betroffen, da er für den Moment außer seiner eigenen Person noch Niemanden namentlich nennen konnte. Doch versicherte er, unter seinen Freunden seien Viele, welche gleicher Gesinnung mit ihm seien, und in wenigen Stunden werde er ein Verzeichniß derselben vorlegen.

Günther gab seine Einwilligung und die Handwerker wurden abbestellt.

Mein Vater eilte nun in der Stadt umher und suchte diejenigen unter seinen Bekannten auf, von denen er voraussetzen durfte, daß sie gern seinem Rufe Folge leisten würden. Am Abend ließ er denjenigen, die er nicht angetroffen hatte, ein Circular vorlegen, dessen Original mit den Unterschriften noch in meinen Händen ist.

In der Nacht halb ein Uhr kamen zwanzig junge Männer, theils Staatsdiener, theils Gelehrte und Künstler, in der Wohnung meines Vaters zusammen. Alle waren schwarz gekleidet, mit den damals üblichen Trauerhüten, Flören und Mänteln, für die mein Vater gesorgt hatte, versehen. Ernst und schweigend begaben sie sich nach dem Schiller’schen Hause, wo im Treppenflur der einfache, aber mit Kränzen reich behangene Sarg mit der Hülle des Dichters stand, von zwei daneben gestellten, trüben Kerzen matt beleuchtet. Weinen und Schluchzen klang dumpf durch die verschlossene Thüre eines nahen Zimmers. Geräuschlos traten sie ein, acht von ihnen nahmen die theure Bürde auf die Schultern, und im tiefsten Schweigen bewegte sich der kleine Zug, von zwei Laternen geleitet, durch die völlig menschenleeren Straßen nach dem in der Stadt gelegenen Jacobskirchhof. Kein feierliches Glockengeläute ertönte und keine Trauermusik, nicht einmal ein Geistlicher begleitete die Leiche; aber eine um so feierlichere, tief wehmüthige Stimmung erfüllte die Herzen der Träger und machte sich bei den meisten von ihnen in warmen Thränen Luft. Graue zerrissene Wolken jagten am Himmel hin, den vollen Mond bald länger verhüllend, bald seinen Strahlen auf Augenblicke sich öffnend, so daß der Zug sich bald in tiefem Dunkel, bald in jähem Wechsel von taghellem Lichte übergossen dahin bewegte. – Der Letzte der Leidtragenden, Registrator Irrgang, starb erst vor wenigen Jahren.

Auf dem Kirchhofe angekommen, setzte man den Sarg vor dem gleich rechts vom Eingange befindlichen sogenannten Cassengewölbe nieder, dessen unterirdische Räume den großen Todten aufnehmen sollten. Man nahm das Bahrtuch vom Sarge hinweg, und in demselben Augenblicke trat der schon längere Zeit von Wolken verhüllte Mond aus diesen hervor und beschien mit seinem sanften klaren Lichte auf einige Augenblicke den blumengeschmückten Sarg, nach diesem Abschiedsgruß sich wieder hinter dunkeln Wolken verbergend.

Der Sarg wurde wieder aufgehoben, in das kleine Gewölbe getragen und da durch eine Fallthür von den Todtengräbern in die Gruft hinabgelassen. Mit jenem eigenthümlich schauerlichen Rasseln wurden die Seile unter dem Sarge hinweg wieder herauf gezogen, die Fallthüre niedergelassen und die äußere Thüre des Gewölbes verschlossen. Schweigend wollten die Männer des Trauergeleites sich eben vom Kirchhofe entfernen, als ein die tiefe Stille unterbrechendes lautes Schluchzen ihre Aufmerksamkeit auf eine hohe männliche, in einen Mantel verhüllte Gestalt lenkte, die zwischen den Grabhügeln umherschwankte. Es war dies der Schwager Schiller’s, Herr von Wolzogen, der die Botschaft von Schiller’s Tode in Naumburg erhalten hatte. Er war sofort nach Weimar geeilt und kam gerade noch zur rechten Zeit an, um dem vom Trauerhaus bereits abgegangenen Leichenzuge dicht vor dem Kirchhofe sich noch anzuschließen. Die im Publicum stets lebendige Sucht nach abenteuerlichen, seltsamen Dingen hatte sofort herausgefunden, jene verhüllte Gestalt sei Goethe gewesen, der, obgleich selbst krank, es sich nicht habe versagen können, der Beerdigung seines Freundes beizuwohnen; Andere wollten sogar wissen, es sei der Herzog Karl August gewesen.

Goethe war damals schon längere Zeit körperlich sehr leidend. Ein schmerzhaftes und nicht ungefährliches Uebel, eine Nierenkolik hielt ihn mehrere Tage an’s Bett und wochenlang an’s Zimmer gefesselt. Mit dem ebenfalls kranken Freunde konnte er nur schriftlich, durch kurze Billets, verkehren. Sein Leiden war bereits im Abnehmen begriffen, während sich Schiller’s Krankheit immer gefährlicher gestaltete. Vom 24. April an hörte jener Briefwechsel auf, der eine so große Zierde unserer Literatur geworden ist und von der innigen Freundschaft der beiden großen Männer so erhebendes Zeugniß ablegt. Aus Schiller’s Schweigen und aus den zurückhaltenden Aeußerungen seiner Umgebung merkte Goethe recht wohl, daß er das Schmerzlichste, was ihm damals begegnen konnte, den Verlust des geliebten Freundes, zu fürchten habe. Man hörte ihn Nachts im Bette weinen. Voß, der Sohn des bekannten Dichters, damals Professor in Weimar und Schiller’s wie Goethe's Hausfreund, besuchte Goethen, als dieser den ersten, kurzen Gang in’s Freie in seinem Hausgarten wagte. Er fand ihn langsam und mit thränenerfüllten Augen zwischen den Beeten umher wandelnd. „Lebt Schiller noch?“ war seine erste bange Frage an Voß. „Noch lebt er!“ lautete die mit unsicherer Stimme gegebene, nichts Gutes verheißende Antwort. Goethe bedeckte das Gesicht mit der einen Hand, mit der andern winkte er Voß schweigend, ihn zu verlassen.

Als die Kunde von Schiller’s stillem, schmucklosem Leichenbegängniß die Runde durch die Welt machte, war man schnell mit harten, lieblosen Urtheilen darüber bei der Hand, die besonders [671] auch gegen Goethe gerichtet waren. „Goethe,“ so hieß es z. B. in einem von Archenholz geschriebenen Artikel in der Minerva (Jahrg. 1805, S. 548), „Goethe war der vieljährige vertraute Freund Schiller’s, er war Minister in Weimar, und that nichts zur Verherrlichung von Schiller’s Todtenfeier!“ Man beschuldigte ihn der Theilnahmlosigkeit, des kalten Egoismus. Goethe aber, als man ihm zwei Tage nach Schiller’s Tode die Trauerkunde nicht mehr verheimlichen konnte, verschloß sich in sein Zimmer, vergoß heiße Thränen und klagte, daß ihm die Hälfte seines Daseins entrissen sei.

„Die Selbstsucht sollt’ aus härtrem Stoff bestehen!“

Später äußerte sich Goethe mit wehmüthiger Befriedigung darüber, daß man, dem Willen der Frau von Schiller gemäß, den Freund still und einfach zur Ruhe getragen hatte. „Unangemeldet und ohne Aufsehen zu machen, kam er nach Weimar,“ sagte Goethe, „und ohne Aufsehen zu machen, ist er auch wieder von hinnen gegangen. Die Paraden im Tode sind es nicht, was ich liebe.“

Die sogenannte Collecte, die kirchliche Todtenfeier für Schiller, wurde am folgenden Tage Nachmittags drei Uhr gehalten. Die Nr. 39 des Weimarischen Wochenblattes vom Jahre 1805 bringt darüber folgende officielle Notiz:

Beerdigte bei der Stadtgemeinde.

„Den 12. Mai, des Nachts 1 Uhr, wurde der in seinem 46. Lebensjahre verstorbene Hochwohlgeborene Herr, Herr Dr. Carl (irrig statt Johann Christoph) Friedrich von Schiller, Fürstl. S. Meiningscher Hofrath, mit der ganzen Schule erster Classe, in das Landschaftscassen-Leichengewölbe beigesetzt und Nachmittags 3 Uhr des Vollendeten Todesfeier mit einer Trauerrede von Seiner Hochwürden Magnificenz, dem Herrn Generalsuperintendent Vogt in der St. Jacobskirche begangen, und von Fürstl. Kapelle vor und nach der Rede eine Trauermusik aus Mozart’s Requiem aufgeführt.“

Diese Collecte fand in sehr ergreifender Weise und unter allgemeiner Theilnahme statt, die geräumige Kirche vermochte die Menge der Zuhörer bei weitem nicht zu fassen, sodaß der größte Theil derselben vor den Eingangsthüren dicht gedrängt stand.

Durch jene Beerdigungsanzeige des Weimarischen Wochenblattes wurde Hoffmeister in seinem bekannten Werke über Schiller veranlaßt, zu sagen:

„Alle Schüler der ersten Classe des Gymnasiums gingen dem Sarge voran,“

wobei er sich auf jenen Artikel des Wochenblatts bezieht. Zu diesem Irrthum wurde er veranlaßt durch den Ausdruck „mit der ganzen Schule erster Classe,“ womit man in Weimar, wie in vielen andern Orten, eine der Abstufungen in der Art der kirchlichen Beerdigungsfeier und in den dafür zu entrichtenden kirchlichen Gebühren bezeichnete.



II.

Der Consistorialrath Günther hatte pflichtgemäß dafür gesorgt, daß Schiller auch „standesgemäß“ beerdigt wurde. Schiller war nicht in die Reihe der gewöhnlichen, bürgerlichen Todten gekommen; über seinem Grabe erhob sich kein mit freundlichem Grün und Blumen geschmückter Hügel, sondern ein kleines, düsteres Gebäude stand über der Gruft, in welcher der edle Dichter in Gemeinschaft mit 22 vornehmen, meist adligen Todten, den ewigen Schlaf schlief. Da lagen sie untereinander, die Gebeine von Excellenzen, Geheimräthen, Kammerherren und Hofdamen bis herab zu den Hofräthen, untermischt mit den Trümmern zerfallener Särge. Da lagen sie Alle, meist vergessen und verschollen, und nur der unsterbliche Name Schiller schwebte wie ein Stern über dem kleinen, finsteren Hause. Dieses Haus mit dem darunter befindlichen Grabgewölbe war Eigenthum der sogenannten Landschaftscasse und hieß daher das Cassengewölbe. Es war nur wenige Fuß lang, breit und hoch, von Stein erbaut und mit einem spitz zulaufenden kleinen Schieferdach bedeckt. Der einzige darin befindliche kleine Raum hatte keine Fenster und erhielt seine düstere Beleuchtung nur durch die in der oberen Hälfte aus Eisengittern bestehende Thüre. Der Boden war mit Steinen gepflastert, und in der Mitte befand sich eine große Fallthüre, durch welche die Särge an Seilen hinab in die Gruft gelassen wurden. Auf einer bis zu dieser Fallthüre reichenden alten Leiter konnte man hinab in die von Moder und Verwesung erfüllte Gruft steigen.

Dieses Gewölbe wurde zur Beisetzung von Leichen aus den höheren Ständen, deren Familien kein besonderes Erbbegräbniß besaßen, benutzt. Für jeden solchen Fall war ein schriftlicher Erlaubnißschein des Landschaftscollegiums nöthig, der zwar gratis gegeben wurde, aber für welchen man den ihn ausstellenden Secretair mit zwei, drei Speciesthalern, auch mit einem Louisd’or zu honoriren pflegte. Ueber die im Cassengewölbe beigesetzten Leichen wurde in den Acten des Landschaftscollegiums ein sorgfältiges Register geführt, ein Umstand, der sich später bei der Aufsuchung der Gebeine Schiller’s als sehr wichtig herausstellte.

Wie im Leben die vornehme Welt von der Etiquette vielfach geplagt und beengt wird, so waren auch hier in den Räumen des Todes die im Cassengewölbe beigesetzten vornehmen Todten viel weniger gut daran, als die Schläfer, die draußen unter Gras und Blumen jeder sein eigenes Bett hatten. Im Cassengewölbe herrschte ein gräuliches Durcheinander. Die kleine Gruft faßte nur zwanzig bis fünfundzwanzig ihrer stillen Gäste. Die Särge wurden durch die Fallthüre hinabgelassen, oft ohne daß erst der Raum unten freigemacht worden wäre. So kamen Särge auf Särge zu stehen; durch den Moder und durch das drückende Gewicht der oberen Särge brachen die unteren auseinander, und ihre Trümmer lagen mit den herausgefallenen Gebeinen, mit Resten von Leichenkleidern vermengt. Die Verwesung ging in diesem Gewölbe sehr rasch vor sich, da die Feuchtigkeit bei der abhängigen Lage des Ortes ungehinderten Zutritt hatte. Wenn nun der Raum da unten gefüllt war, was etwa alle dreißig bis vierzig Jahre eintrat, so ordnete das Landschaftscollegium an, daß das Cassengewölbe „aufgeräumt“ werden sollte. Dann wurde in einem Winkel des Kirchhofes eine Grube gegraben, die Gebeine und Sargreste in der Gruft wurden herausgeschaufelt, nach jener Grube transportirt und da wieder mit Erde bedeckt, und damit waren die letzten körperlichen Spuren von dem einstigen Dasein der im Cassengewölbe „standesgemäß“ Beigesetzten für immer verwischt.

Ein und zwanzig Jahre waren seit Schiller’s Beerdigung dahingegangen Es war im März 1826, als mein Vater, der seit sechs Jahren Bürgermeister von Weimar war, vernahm, daß ganz in Kurzem eine Aufräumung in der Todtengruft des Cassengewölbes vorgenommen werden solle, wozu bereits der Befehl vom Landschaftscollegium ertheilt worden sei. Da fiel es ihm schwer auf’s Herz, daß durch diese Aufräumung auch Schiller’s Gebeine spurlos und für alle Zeiten verloren gehen würden. Dies zu verhüten, begab er sich sofort zu dem Präsidenten des Landschaftscollegiums, Weyland, von dem er sich den Zutritt zum Cassengewölbe auswirkte, um darin Nachsuchungen nach Schiller’s Sarg anzustellen. Er sprach dabei seine Absicht aus, die Beisetzung der irdischen Ueberreste Schiller’s in einem auf dem seit acht Jahren angelegten neuen Gottesacker zu errichtenden Grabmonumente zu beantragen. Weyland gab gern seine Einwilligung und beauftragte zwei seiner Subalternen das Cassengewölbe für meinen Vater und diejenigen Personen, welche dieser zuziehen würde, zu öffnen.

Es fanden nun jene Nachforschungen nach Schiller’s Gebeinen statt, welche mit Eifer und Begeisterung begonnen, bald ihrer anscheinend völligen Hoffnungslosigkeit wegen wieder aufgegeben, dann aber wieder aufgenommen und endlich mit dem glücklichsten Erfolge gekrönt wurden.

Auf die Einladung meines Vaters fanden sich mit ihm sein Bruder, der Leibarzt Dr. Schwabe, der Oberbaudirector Coudray und der Kanzlist Rudolph, welcher letztere Schiller’s Bedienter in dessen letzten Lebensjahren gewesen war, nebst dem vom Landescollegium bestellten Inhaber des Schlüssels, Registrator Stötzer, am 13. März 1826 auf dem Kirchhof beim Cassengewölbe ein.

Bevor man in die Gruft hinabstieg, versicherten Rudolph und Stötzer, der Schiller’sche Sarg müsse einer der längsten unter den im Gewölbe befindlichen sein. Sodann wurde aus den mit zur Stelle gebrachten Landschaftscollegial-Acten „über Beisetzung von Leichen im Cassengewölbe“ das Verzeichniß derjenigen Personen vorgelesen, deren Leichen kurz vor und kurz nach Schiller beigesetzt worden waren.

Die Hoffnung, sich auf diese Weise die Nachforschung zu erleichtern, wurde sehr durch die Bemerkung des mit anwesenden Todtengräbers Bilke geschwächt, nach welcher die Särge keineswegs mehr in der Ordnung, in welcher sie beigesetzt waren, standen; namentlich waren sie bei den letzten Beisetzungen sehr durcheinander gestellt worden.

Man stieg nun mit einigen Laternen auf der vorhandenen [672] Leiter hinab in die Todtengruft, wo man die von der Fäulniß noch nicht zerstörten Särge in wilder Unordnung durch- und aufeinander stehen sah. Einer von denen, die zu gleicher Erde standen, schien die übrigen an Länge zu übertreffen. Der Todtengräber und sein Gehülfe sollten die auf demselben stehenden Särge vorsichtig herunterheben, aber sowie sie den Versuch dazu machten, brachen die vom Moder völlig zerfressenen Särge in sich zusammen und bildeten einen Haufen von halbverfaulten Bretern, Moder und menschlichen Gebeinen.


Schiller’s Eltern.


Noch waren einige besser erhaltene Särge in der Gruft vorhanden, und man beschloß, um die Untersuchung derselben mit mehr Erfolg vornehmen zu können, sie hinauf in den der Erdoberfläche gleichliegenden Raum des Cassengewölbes, an das Licht den Tages, bringen zu lassen. Die Sargtrümmer in der Gruft wurden beim Laternenlicht sorgfältig durchsucht, wobei man es namentlich auf die metallenen Schilder abgesehen hatte, die man mit der Bezeichnung des Namens und Todesjahrs an die Särge zu befestigen pflegte. Man fand in der That einige solche Schilder, die jedoch dem zerstörenden Einfluß der dort herrschenden Feuchtigkeit dergestalt unterlegen waren, daß sie bei der bloßen Berührung in Stücke fielen. Nur an zweien waren noch einzelne Buchstaben und Zahlen zu erkennen, aus denen hervorging, daß sie zum Sarge Schiller’s nicht gehört haben konnten.

Nach dem Ausweis der Acten waren seit der letzten, 1789 stattgehabten Aufräumung dreiundzwanzig Leichen in das Cassengewölbe beigesetzt worden. Man fand aber nur noch sechs Särge vor, die soweit erhalten waren, daß sie an Seilen aus der Gruft herauf an’s Tageslicht gebracht werden konnten.

Diese sechs Särge wurden nun sorgfältig untersucht; die mit dickem Rost überzogenen Blechschilder mit der Namensinschrift wurden vorsichtig abgenommen, und man konnte nun die Inschriften auf der weniger verrosteten Rückseite deutlich durch einen Spiegel lesen. Doch der Name Schiller fand sich nicht darunter.

Es gelang meinem Vater, den Tischlermeister zu ermitteln, welcher Schiller’s Sarg verfertigt hatte. Mit ihm begab er sich abermals in das Cassengewölbe. Weder unter den sechs heraufgezogenen, noch unter zwei in der Gruft stehenden Särgen war einer, den der Meister als seine Arbeit anerkannte. Der Mann erinnerte sich noch wohl, daß er Schiller’s Sarg verfertigt und die Leiche selbst mit eingelegt hatte; auch führte er an, die Beerdigung habe, wie er noch genau wisse, wegen des Verwesungszustandes der Leiche sehr schnell geschehen müssen. Dabei sei Alles mit möglichster Kostenersparniß geschehen, und daher habe er einen sehr einfachen Sarg verfertigen müssen, auf den nicht einmal ein Schild gekommen sei. Ein solcher leicht gearbeiteter Sarg habe jedenfalls der im Gewölbe herrschenden Fäulniß nicht lange widerstehen können.

Das niederschlagende Resultat dieser Nachforschungen bestand also darin, daß die Ueberreste Schiller’s sich in keinem der acht nothdürftig erhaltenen Särge, sondern unter den wirr durcheinander liegenden Sargtrümmern und Gebeinen der übrigen funfzehn Begrabenen befanden.

Betrübten Herzens gab mein Vater die Hoffnung auf, die irdischen Ueberreste des geliebten Dichters vor dem nahe bevorstehenden spurlosen Verschwinden zu retten, wie er so sehnlich gewünscht hatte. Zu diesem Kummer gesellte sich noch ein unerwarteter Verdruß. Obgleich jene Nachsuchungen in möglichster Stille angestellt worden waren, hatte sich doch die Kunde davon schnell in der guten Stadt Weimar verbreitet. Man wußte, welchem Zwecke sie galten, und doch – wer sollte es glauben? – entstand ein vielstimmiges Geschrei der Entrüstung darüber, daß man die Ruhe der Todten frevelhaft gestört habe. Und diese laut sich erhebenden Stimmen gehörten keineswegs blos den Classen an, bei denen man Pietät für die Uebereste des großen Dichters und somit bereitwillige Zustimmung oder doch Entschuldigung für jenes Unternehmen weniger zu erwarten berechtigt war; nein, auch hochstehende und hochgebildete Männer sprachen ihre Mißbilligung in bitterer Weise aus. Daß aber von Zeit zu Zeit die in dem Cassengewölbe aufgehäuften Gebeine und Verwesungstrümmer zusammengeschaufelt und ohne Weiteres in eine gemeinschaftliche Grube in einer Ecke des Kirchhofes eingescharrt wurden, fand man ganz in der Ordnung. Vorurtheil, dein Name ist Publicum!


(Schluß folgt.)

[673]

Schiller’s Triumph in Leipzig
nach Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ am 17. September 1801.[2]
Originalzeichnung von W. Camphausen in Düsseldorf.

Zu hehrem Schauspiel reihten sich vor Jahren,
Dicht Bank an Bank und Sitz an Sitz gedrängt,
Erwartungsvoll der Hörer bunte Schaaren
Im Tempel, der Thalien’s Kunst umfängt
Rings Alles still – kein Athemzug – es lauschte
Das durst’ge Ohr der Dichtung heil’gem Klang,
Der freudelodernd von der Bühne rauschte
Und mild versöhnend in die Herzen drang.

Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!
Der Vorhang fällt – Entzücken faßt das Haus;
Des Dichters herzerschütternd Siegsgeläute:
Der Beifall bricht in stürm’schen Jubel aus!
Endlos erklingt’s – es stirbt des Dankes Rufen
Nur in des Jauchzens wonnetrunknem Schall;
Doch plötzlich drängt und treibt es nach den Stufen,
Nach dem Portal der Menge dichten Schwall.

Was geht durchs Volk für eine fromme Kunde?
Es fragt geheim, es flüstert andachtbang!
Und immer weiter fliegt’s von Mund zu Munde
Und schwillt zum feierlichen Donnerklang
„Hoch! Schiller, hoch!“ – es fällt ein grüner Regen
Von Lorbeerkränzen, weiße Tücher wehn;
Die Kinder hebt man jubelnd ihm entgegen,
Das Kind auch soll den größten Dichter sehn!

Und draußen harrt zur würdevollen Weihe
Mit blankem Schläger der Studenten Schaar,
Ein Hurrah! dröhnt es durch die lange Reihe,
Wo Fackel flammt an Fackel feurigklar.
Und tief gerührt, frei jetzt von Erdenschmerzen
In dem Triumph des schönsten Säulengangs,
Des Säulengangs, gebaut aus Menschenherzen,
Geht Schiller, der Gesalbte des Gesangs.

Adolf Böttger.
[674]
Garnison- und Parade-Bilder.
Nr. 3. Ein Tag bei dem „Alten“.
(Schluß.)

Der Kanonier richtete sich sichtbar unter dem Eindruck dieser Worte auf. Er schüttelte die Furcht, die bisher jede seiner Bewegungen lähmte, von sich ab, trat dreist bis auf drei Schritte an den Alten heran und meldete, daß er der Sattler K. von der zwölfpfündigen Batterie No. X. sei und von seinem Capitain für den Vormittag beurlaubt wäre, um seine Braut auf einem der benachbarten Höfe zu besuchen.

Der Oberst nahm diese Meldung mit vieler Ruhe entgegen. Indem er den Säbel in die Scheide brachte, wandte er sich an den Adjutanten und sagte: „Denken Sie sich, Lieutenant W., es ist kein Chinese, es ist wirklich ein Kanonier von meiner Brigade, Na, ich werde dem Millionenkerl funfzig Eimer kaltes Wasser über den borstigen Schädel gießen lassen, das wird ihm das verrückte Gehirn wohl wieder in Ordnung bringen.“ Und indem sein Zorn sich in ein leises Brummen verlor, fuhr er fort: „Haben Sie gehört, daß dies Monstrum eine Braut hat? Na, die möchte ich kennen lernen. Wir wollen hoffen, daß der liebe Gott ein Einsehen haben und die Race sich nicht weiter ausbreiten lassen wird.“

Er begleitete diese Worte mit einem Lachen, von welchem die Gipfel der Bäume sich bewegten.

„Aber was machen wir denn eigentlich mit diesem hanswurstigen Millionenkerl?! hob er nach einigen Augenblicken wieder an. „Dem Capitain H. will ich doch auch die Freude gönnen, das Pflänzchen, welches er sich großgezogen hat, in diesem Ausputze zu sehen.“

Er dachte einige Augenblicke nach und fragte dann den Kanonier, der seinem Schicksale mit bewunderungswürdiger Resignation entgegensah: „Deine Braut erwartet Dich?“

„Zu Befehl, Herr Oberst.“

„Gut! meine Kanoniere sollen galant sein. Du begibst Dich jetzt zu der Dame Deines Herzens, verweilst dort eine Stunde und verfügst Dich dann auf den Schießplatz, wo Du Dich auf der Parkwache als Arrestant zu melden hast. An Deinem Anzuge änderst Du nicht das Geringste. Auf der Wache erscheinst Du mit dem chinesischen Sonnendache, Pfeife, Vatermörder etc. Wehe Dir, wenn an dem Blumenstrauße auch nur ein Blatt fehlt! Das Weitere wird sich finden. Und nun Kehrt! Marsch!“

Der arme Sattler ließ sich dies nicht zum zweiten Male sagen; er beeilte sich, aus der gefährlichen Nähe des Brigadiers zu verschwinden.

„Nun, Lieutenant W.,“ brummte der Alte, indem er sich den Schweiß von der Stirn trocknete, „ich hätte nicht geglaubt, daß solche Abscheulichkeiten noch in meiner Brigade vorkommen könnten. Aber wie der Herr, so der Diener. Der Hauptmann H. liebt solche Windbeuteleien. Ich muß einmal wieder dazwischen fahren, wie Ziethen aus dem Busch, sonst wird der Unfug doch zu arg.“

Sich nach der Ordonnanz umdrehend, fuhr er fort: „Um den Skandal zu verdauen, denke ich, trinken wir ein Glas. Mir liegt der Chinese wie ein Pfund Seife im Magen. Ordonnanz, eine Flasche und ein Glas!“

Der Kanonier überreichte das Geforderte. Der Alte trank ein volles Glas und gab hierauf die Flasche an den Adjutanten, dem der starke Madeira nicht zusagen mochte, denn er füllte sein Glas kaum bis zur Hälfte.

Hierauf bestiegen wir wieder unsere Pferde und eilten, um die verlorene Zeit einzubringen, im Galopp dem Kanonendonner entgegen, der uns einladend von den bereits in Thätigkeit begriffenen Batterien entgegenschallte.

Als wir den Schießplatz erreicht hatten, hielt der Oberst sein Pferd an, um in seiner Gesammtheit das Bild aufzufassen, das sich mit so vielen Abwechselungen vor seinen Augen entfaltete.

Die öde Haide bot an diesem Morgen einen sehr belebten Anblick dar. Im Vordergrunde und uns zunächst exercirte die gesammte reitende Artillerie unter dem Commando eines Stabsofficiers an den bespannten Geschützen. Von dorther tönten die schmetternden Trompeten-Signale und das Gerassel des über den harten Haideboden in der schnellsten Gangart dahinsausenden Fuhrwerks entgegen. Die schnelle Gangart, die Leichtigkeit und Sicherheit, mit welcher die verwickeltsten Bewegungen ausgeführt wurden, imponirte ungemein. Weiter zurück schoß ein Theil der Fußartillerie mit Kugeln und Kartätschen nach der Scheibe. Der Donner der Kanonen wechselte mit den Horn-Signalen ab, durch welche sowohl die verschiedenen Bewegungen als auch das Feuer geleitet wurden. Man hörte den dumpfen Schlag, mit welchem die Kanonenkugel beim Rollschuß mehrere Male, bevor sie die Scheibe traf, den Boden berührte, und sah, wir sich der Pulverdampf mit dem Staube mischte, den die hüpfende Kartätsche unter sich aufwirbelte. Im Hintergrunde wurde aus drei Batterien gegen ein Polygon gefeuert, welches in angegriffenem Front eine Festung vorstellte. Da zogen die Bomben und Granaten ihre feurigen Bogen und warfen Garben von Sand auf, wenn sie in dem getroffenen Werke crepirten. Es war ein effectvolles Bild, dessen Gesammteindruck der Oberst mit sichtbarer Freude in sich aufnahm.

In seiner stillen Betrachtung wurde er durch den Adjutanten gestört, der sich hier von ihm beurlaubte. Ich trat in diesem Augenblick in dessen Functionen und kam auch sogleich in Thätigkeit.

Der Alte schickte mich nach der Parkwache, Um dem Officier derselben mitzutheilen, daß sich der Sattler K. als Arrestant melden werde und daß dafür Sorge zu tragen sei, daß dessen Ausputz wohl conservirt bleibe.

Als ich mich mich einiger Zeit mit dem kurzen „Bestellt, Herr Oberst!“ zurückmeldete, befand er sich auf dem rechten Flügel der reitenden Artillerie, wo er soeben den Rapport des commandirenden Stabsofficiers entgegennahm und dann an der Front der Batterie hinunterritt. Er bemerkte jede Schnalle, die falsch lag, und fand auch die geringsten Fehler auf, die hinsichtlich der Beschirrung der Pferde oder in der Ausrüstung der Geschütze gemacht waren.

Vor dem zweiten Zuge der zweiten Batterie hielt der uns schon bekannte Fähnrich. Aus seiner Uniform hing eine goldene Uhrkette im koketten Bogen heraus, was den Alten zu indigniren schien.

„Stecken Sie die Baumelei weg, Herr Windbeutel!“ sagte er mit mehr Ruhe, als sich vermuthen ließ. „So was erinnert mich immer an die Syrupsjungen aus den Krämerläden, wenn sie des Sonntags mit gewichstem Kopf und ungewichsten Stiefeln auf den Promenaden herumlaufen und die Luft mit Heringsgeruch und Moschusgestank verpesten.“

„Dem Fähnrich stieg das Blut in das Gesicht, und er schien nicht übel Lust zu haben, irgend eine Entgegnung zu wagen. Der Oberst hatte sich aber schon von ihm weggewandt, indem er den Capitain v. R. rief.

„Wie sind Sie mit der dienstlichen Führung des Fähnrichs zufrieden?“ fragte er. „Verspricht der junge Mann ein guter tüchtiger Officier zu werden? ich meine einen solchen, der mit unwandelbarer Loyalität an dem Könige hängt, stets seinen Dienst thut, der Ordre gehorcht und nicht über seine Vorgesetzten raisonnirt; oder gehört er zu den mir wohlbekannten Demagogen der Brigade, die von Freiheit und Constitution faseln, weder Pflicht noch Gehorsam kennen und am liebsten mit der Majestät, ihrem obersten Kriegsherrn Arm in Arm auf dem Divan sitzen und mit ihm Cigarren rauchen möchten? Na, so lange diese gelehrten Systemmacher die Uniform meiner Brigade tragen, werde ich sie schon in der rechten Constitution zum Könige und zu ihren Pflichten zu erhalten wissen. Ich hoffe, sie wissen, daß ich T. heiße.“

Der Oberst hatte sich in eine bedeutende Aufregung hineingeredet,


es gelungen, den Allbewunderten zu sehen. Du kannst daher denken, wie nach Beendigung des Stückes Alles aus dem Hause strömte, um ihn zu erblicken. Der weite Platz von dem Schauspielhaus an bis hinab zu dem Ranstädter Thor stand dicht gedrängt voll Menschen. Jetzt trat er heraus, und im Nu war eine Gasse gebildet, Stimmen geboten, das Haupt zu entblößen, und so ging denn der Dichter durch eine Menge seiner Bewunderer, die alle mit entblößtem Haupte und schweigend dastanden, hindurch, während Väter und Mütter ihre Kinder in die Höhe hoben und riefen: „dieser ist es – das ist er!“ Mag ein Anderer davon halten, was er wolle, mir hat es Freudenthränen entlockt.“

Ein anderer Augenzeuge erzählt, daß sich besonders die Studenten sehr lebhaft an dieser Huldigung betheiligten und mit brennenden Fackeln und Kränzen den heraustretenden Dichter empfingen.
D. Red.

[675] geredet, die erst nachließ, als der Capitain die auf den Fähnrich Bezug habende Frage beantwortete.

„Der Fähnrich v. B,“ entgegnete der Hauptmann, „ist ein durchaus tüchtiger Soldat und wird einst der Officier-Uniform gewiß keine Schande machen.“

„Dann wollen wir sie ihm heute auch noch anziehen,“ sagte der Oberst lachend, und indem er sich mit einer gewissen Feierlichkeit nach dem Fähnrich zurückwandte und dabei salutirend die rechte Hand an den Federhut legte, sagte er: „Seine Majestät haben die Allerhöchste Gnade gehabt, Sie zum Lieutenant zu ernennen. Reiten Sie nach Hause, ziehen Sie die Uniform Ihres Grades an und beeilen Sie sich, sich dem Officier-Corps als neuer Camerad vorzustellen. Nehmen Sie meine Glückwünsche mit auf den Weg.“

Während der Glückliche im Galopp nach seinem Quartier jagte, um den Fähnrich auszuziehen und in die längst bereit gehaltene Officier-Uniform zu fahren, vollendete der Oberst die Ocular-Inspection seiner Lieblingswaffe, der reitenden Artillerie. Die Bewegungen, welche er ausführen ließ, beurtheilte er haarscharf und bis in die kleinsten Details, wobei er namentlich die Führung der Züge der schonungslosesten Kritik unterwarf. Die gespannteste Aufmerksamkeit konnte die Herren Officiere gegen die Rügen des sachkundigen Vorgesetzten nicht immer schützen. Dabei übersah derselbe aber auch die Fehler der Unterofficiere und Kanoniere nicht. Ein Stangenreiter, der bei den Kehrtwendungen das Handpferd nicht stark genug anziehen ließ, mußte absitzen und den Kantschu und das Scheuerleder, welches die Stangenreiter um den rechten Fuß tragen, um das Bein gegen die Reibung und die Stöße der Deichsel zu schützen, an ihn abgeben. Damit ausgerüstet bestieg der Oberst das Stangensattelpferd, ließ die getadelte Bewegung wiederholen und lenkte das Geschütz zur Instruction des Fahrers durch mehrere Minuten, wobei es freilich diverse „Millionenhunde“ regnete und der dicke Kantschu das Haupt des Unachtsamen vielfach bedrohte. Es war kein gewöhnlicher Anblick, den alten Herrn mit den schweren Epaulettes und dem schwankenden Federhut als Fahrer agiren zu sehen.

Die anstrengenden Exercitien wurden durch mehrere Stunden und bis zur vollständigen Ermüdung der Leute und Pferde fortgesetzt. Endlich schien der Oberst das Bedürfniß der Restauration an sich selbst zu fühlen. Er winkte die Ordonnanz heran und ließ sich die bekannte Flasche reichen.

„Lassen Sie Kehrt machen, Major B.,“ befahl er.

Nachdem diese Bewegung ausgeführt war und bevor er die Flasche an den Mund setzte, rief er mit seiner Donnerstimme, die auf der ganzen Front deutlich vernommen wurde: „Der Millionenkerl, der sich umsieht, dem drehe ich den Hals um!“ Er sog die Flüssigkeit mit langen Zügen ein, wobei seine Augen forschend über die lange Linie der Batterie glitten, um zu erspähen, ob es Jemand Wagen würde, sich gegen seinen Befehl nach ihm umzusehen.

„So, Herr Major, nun lassen Sie Front machen und dann rühren, damit die Leute frühstücken können.“

Die Inspicirung war hier zu Ende. Während die reitenden Artilleristen einen heftigen Angriff auf die vollen Körbe der zahlreichen Marketenderinnen machten, begab sich der Oberst nach der Aufstellung der drei zwölfpfündigen Batterien. Dieselben waren auf 1600 Schritt von der Scheibe, welche die Breite einer Bataillonsfront hatte, aufgestellt. Nach einer kurzen Besichtigung der zu einer Abtheilung zusammengezogenen achtzehn Geschütze stellte sich der Alte an dem rechten Flügel derselben auf, wo er weniger von dem Pulverdampfe belästigt wurde, der in dichten Wolken vor den Geschützen lagerte. Die Abtheilung feuerte mit einer seltnen Sicherheit. Schuß auf Schuß traf das Ziel, und nur selten setzte eine Kugel im flachen Bogen über die Scheibe hinweg. Als die durch Brigadebefehl festgestellten Schüsse auf dieser Distance abgegeben waren, ging die Abtheilung einige hundert Schritt vor und richtete ein lebhaftes directes Feuer gegen die Scheibe. Auch von hier aus wurde gut geschossen, so daß sich die Zufriedenheit des Alten mit jedem Schusse erhöhte. Man ging zuletzt in noch näherer Entfernung zum Kartätschenfeuer über, dessen Wirksamkeit sich aus den vielen Holzsplittern abnehmen ließ, welche die streifenden Kugeln von der Kugelwand losrissen. Als nach Beendigung dieses Schießens die Bedienungsmannschaften der Geschütze an die Scheibe geführt wurden, um ihnen das Resultat ihres heutigen Schießens zu zeigen, sprach der Oberst seine volle Zufriedenheit gegen die Officiere und Leute aus. Er schloß mit dem Befehle: die Fahrer mit den Pferden in die Quartiere zu entlassen, den übrigen Theil der Mannschaft nach der Parkwache zu führen, wo er denselben nach Schluß der heutigen Uebungen noch einen seltenen Vogel zu zeigen habe.

„Und nun wollen wir frühstücken. Herr Major, Sie sind mein Gast,“ sagte er zu dem Officier, der die Zwölfpfünder commandirt hatte. Und sich an mich wendend, setzte er hinzu: „Lassen Sie auskramen, was wir bei der Sorte haben. Die Sonne zeigt stark auf Mittag und mein Magen hängt gewaltig schief. Jener Faschinenhaufen kann als Tisch dienen.“

Die Ordonnanz schleppte eine Ledertasche herbei, deren Umfang die angenehme Vermuthung zuließ, daß sie einen reichlichen Vorrath an Speise und Trank enthalte. Wir öffneten dieselbe mit großer Eilfertigkeit, wobei ich meiner Galopinwürde nichts zu vergeben glaubte, wenn ich dabei hülfreiche Hand leistete.

Zuerst förderte ich einige saubere Damast Servietten, Gabel und Messer in mehreren Paaren, einige Weingläser, drei gekapselte Flaschen Bordeaux und eine Flasche Rum an’s Tageslicht, darauf folgte kaltes Geflügel, Sauerbraten, Schinken, Käse, Butter, Brod und mehrere Sorten Kuchen. Mit solchen Vorräthen ließ sich schon ein Tisch serviren. Ich ließ den Faschinenhaufen mit den Damasttüchern bedecken, deren Zipfel mit zehnpfündigen Granaten belastet wurden, die uns zahlreich zur Hand lagen. Zwischen diese richtete ich symmetrisch die Flaschen und Gläser ein und postirte zuletzt die genannten Speisen mit der möglichsten Koketterie auf die improvisirte Tafel. Endlich ließ ich noch zwei leere Pulvertonnen heranrollen, welche als Sessel dienen sollten, worauf ich melden konnte, daß angerichtet sei.

„Sieh, wie niedlich der Blitzjunge unser Frühstück arrangirt hat!“ bemerkte der Alte in der besten Laune. „Ich glaube, das Kind hat einige Talente.“

Dies unverdiente Lob, welches der Oberst mir spendete, konnte nicht den Appetit unterdrücken, mit welchem mein siebzehnjähriger Magen nach einem so langen Fasten nach leiblicher Nahrung verlangte.

„Na, treten Sie man auch heran,“ sagte der Alte in der freundlichsten Weise, nachdem er seinem Gaste vorgelegt hatte. „Bringen Sie für sich einen Teller und ein Glas her und langen Sie ungenirt zu. Schneiden Sie aber zuvor für die Ordonnanz ein tüchtiges Stück Brod ab, belegen Sie es mit einer doppelten Lage Schinken und schenken Sie ihr dazu aus der Rumflasche einen vollen Humpen ein, denn der arme Kerl ist gewiß so hungrig, daß er Kartätschen verschlingen und Schanzkörbe anfressen möchte.“

Ich entledigte mich schnell dieses Auftrages und versäumte es dann nicht, meinen Teller mit den verschiedenen Fleischsorten reichlich zu bepacken.

„Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten,
Und das Unglück schreitet schnell.“

Ich hatte mich kaum in aller Bescheidenheit aus der Nähe der beiden Officiere zurückgezogen, um die mächtige Collation, die ich mir vorgelegt, mit Ruhe und Gemüthlichkeit zu verzehren, als der Oberst von seinem Sitze aufsprang, nach der in unserer Nähe befindlichen Demontir-Batterie hinzeigte und mit Zorn und Aerger in der Stimme ausrief: „Ist das nicht zum Verrücktwerden? die verdammte Batterie trifft ja mit keinem einzigen Schuß das Polygon. Sehen Sie, Herr Major, schon wieder drüber weg, und wieder und wieder. Sind denn da lauter blinde Maulwürfe bei den Geschützen?“

Und sich an mich wendend, befahl er: „Reiten Sie schnell nach der Demontir-Batterie, die der Capitain F. mit seiner Compagnie besetzt hat, und sagen Sie demselben, ich ließe fragen, ob er glaube, daß die Munition, die er nutzlos verschwende, dem Könige kein Geld koste. Wenn seine Leute nicht richten könnten, so würde ich gleich zur Stelle sein, um sie und ihn ein Bischen auf meine Manier zu unterrichten.“

Ich schob noch schnell einen Rebhuhnflügel in den Mund, empfahl der Ordonnanz, auf meinen Teller Acht zu haben, sprang auf mein Pferd und jagte der unseligen Batterie zu.

Den Auftrag des Obersten richtete ich wörtlich aus. Der Capitain F., eine kleine untersetzte Figur mit tückischen Augen, sah mich wüthend an, als er entgegnete: „Sagen Sie dem Herrn Oberst, daß ich der Meinung sei, daß eine gute und genaue Richtung noch nicht immer einen Treffer bedingt. Den in Aussicht gestellten Unterricht im Richten würde ich mit pflichtmäßiger Achtung entgegennehmen. Dies meine Antwort!“

[676] Ich flog davon, erreicht den Oberst, der wieder gemüthlich auf der Pulvertonne Platz genommen hatte, in wenigen Minuten und rapportirte die Entgegnung des kleinen Capitains.

„Ho, ho!“ rief der Alte aufspringend, „den zungenfertigen Herrn werde ich in seine Stellung zurückweisen.“ Nach seinem Pferde fragend, setzte er hinzu: „Lassen Sie sich nicht stören, Herr Major. Sie müssen mich entschuldigen, ich bin da drüben durchaus nöthig, sonst nimmt der Unsinn überhand. Ich kenne den Mann, das ist ein Leuteschinder, aber auch weiter nichts.“

Noch einen Blick voll tiefer Wehmuth warf ich auf das für mich verlorene Frühstück hin, dann sprang ich mit Resignation in den Sattel, um dem eilig davonjagenden Brigadier zu folgen.

Als wir der Demontir-Batterie bis auf Gehörweite nahe gekommen waren, rief der Oberst dem Capitain F. ein vernehmbares „Halt“ zu. Das Feuer schwieg. Der Capitain trat meldend auf den Brigadier zu.

Dieser ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Hauptmann F.,“ fuhr er ihn an, „ Sie müssen die Geschütze mit Maulwürfen besetzt haben, sonst könnten Sie unmöglich mit solcher geschickter Ungeschicklichkeit das Polygon fehlen.“

Nachdem er vom Pferde gestiegen war, fuhr er fort: „Aber ich weiß schon, woran das liegt. Da richtet zuerst der Bombardier, dessen Richtung der Unterofficier mit den vom Branntwein gerötheten blöden Eulenaugen verbessert, dann hilft der Herr Lieutenant, obgleich er in Folge der vielen nächtlichen Studien ohne Gläser kaum zehn Schritte weit sehen kann, und endlich gibt der Herr Hauptmann den letzten Senf dazu, und dann geht die Kugel auch richtig haushoch über das Ziel hinweg. Viele Köche verderben den Brei! Lassen Sie den Mann, der dazu bestimmt ist, allein richten und Sie werden auch Treffer haben. Ich werde Ihnen den Beweis sogleich liefern. Lassen Sie laden. Aber daß sich Niemand einfallen läßt, die Richtung des Bombardiers verbessern zu wollen.“

Die Batterie chargirte und feuerte demnächst. Schuß auf Schuß traf das Ziel.

„Na, wer hat nun Recht?“ rief der Oberst triumphirend. „In den Tag hineinschwatzen kann jedes alte Weib, aber die Sache beim richtigen Ende anzufassen, versteht nicht ein Jeder. Die schlimmsten Raisonneure sind stets, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung, die unfähigsten und energielosesten Patrone.“

Der Capitain wollte eine Entgegnung wagen. „Schweigen Sie,“ rief der Alte mit einer Stimme, in welcher sich der heftigste Zorn aussprach. „Wenn Sie meinen, daß ich Ihnen zu viel gesagt habe, so steht Ihnen der Weg der Beschwerde offen; hier aber muß ich um Gehorsam bitten. So lange ich diese Epaulettes trage, werde ich meinem Grade Achtung zu verschaffen wissen, und wer es wagen wollte, sich dagegen zu vergehen, dem sollen Millionen Donnerwetter in den Magen fahren. – Lassen Sie laden.“

Der kleine Capitain bebte vor Zorn, wagte aber kein Wort der Erwiderung. Das Commando zum Laden wollte kaum aus der durch die gewaltige Erregung zusammengepreßten Kehle heraus und klang so heiser, wie das Bellen eines kleinen Hundes.

Die Batterie feuerte, und abermals wollte es der Zufall, daß ein jeder Schuß das Polygon traf. Der Capitain bebte vor Wuth. Er konnte diesen Zustand der fürchterlichsten Aufregung nicht länger ertragen, sondern zog es vor, sich krank zu melden, um dadurch für heute vom Dienste enthoben zu werden.

„Gehen Sie,“ sagte der Alte, „und lassen Sie sich eine tüchtige Dosis Brausepulver reichen, das soll gegen gewisse Zufälle ganz außerordentliche Dienste leisten.“

„Ich muß Sie bitten, Herr Oberst, Ihren ärztlichen Rath so lange zurückzuhalten, bis ich Sie darum ersuchen werde,“ bemerkte der kleine Mann mit Ingrimm, indem er sich mit militairischem Gruße verabschiedete.

Der Oberst übergab lachend das Commando an den Premier-Lieutenant und ließ das Schießen fortsetzen. Es wurden auch fernerhin gute Resultate erzielt. Der Alte, dessen Zorn sich nach der Entfernung des Capitains sichtbar abgekühlt hatte, äußerte darüber seine Zufriedenheit und setzte dabei auseinander, wie himmelweit Diensteifer und Pedanterie von einander unterschieden seien.

Nachdem die Batterie die ihr überwiesene Munition verschossen hatte, erhielt der Lieutenant den Befehl, die Leute zusammen zu ziehen und nach der Parkwache zu führen.

Der Alte wandte sich hierauf an mich und sagte: „Um das Frühstück sind wir gekommen, das hat die Ordonnanz gewiß bis auf den letzten Knochen verschlungen. Ich kenne den Appetit dieser münsterlandischen Jungens. Auch den Rum hat er ausgesoffen, aber es wäre immer möglich, daß er den Wein verschmäht hat. Der schmeckt „suer“, und was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht! Es verlohnte sich wohl der Mühe, einmal nachzusehen. Reiten Sie und versuchen Sie es, ob sich noch ein Tropfen für uns retten läßt.“

Ich warf mich mit der bereitwilligsten Eilfertigkeit auf das Pferd, forcirte es zur schnellsten Gangart und flog über die Haide dahin, als hätte ich die wichtigsten Befehle auszuführen.

Die Ordonnanz lag betrunken an dem Faschinenhaufen, die geleerte Rumflasche noch in der Hand haltend. Von den Fleischspeisen war der bei weitem größte Theil aufgezehrt; der Bordeaux war aber der allgemeinen Vernichtung entgangen; es waren noch ein und eine halbe Flasche vorhanden. Erst nach langer Anstrengung gelang es mir, den berauschten Menschen wieder auf die Beine zu bringen und ihn zu vermögen, das gebrauchte Geschirr einzupacken.

Mit dem geretteten Rothwein ritt ich vorsichtig nach der Demontir-Batterie zurück, wo der Alte auf einer Lafette saß und meiner Rückkehr sehnsüchtig entgegensah. Er forderte für sich die volle Flasche und überließ mir den Inhalt der halben, womit ich den Kuchen hinunterspülte, den der Westphale als „to söt“ verschmäht hatte.

Nach zehn Minuten war der Oberst mit seiner Flasche fertig. Er warf das leere Gefäß in den Graben und rief nach seinem Pferde.

„Na, nun noch die Geschichte mit dem Chinesen,“ brummte der Alte, während er sich in den Sattel hob.

Wir eilten nach der Parkwache, wo der Oberst von den Leuten, die an den heutigen Uebungen Theil gehabt hatten, bereits mit großer Sehnsucht erwartet wurde. Niemand wußte, warum die Mannschaft zurückbehalten wurde und nicht, wie dies sonst gebräuchlich, nach Beendigung der betreffenden Uebungen in die Quartiere entlassen worden sei. Dies Räthsel sollte sich bald lösen.

Von dem wachhabenden Officier empfing der Oberst die Meldung, daß der Sattler K. der zwölfpfündigen Batterie Nr. X. sich nach Befehl in Haft befinde. Der Oberst stieg langsam vom Pferde und befahl, den Arrestanten unter Begleitung von zwei Mann der Wache herauszubringen. Gleichzeitig ordnete er an, daß die Musik der Brigade vor der Wache zusammentreten sollte. Nachdem dies geschehen war, wurde der Sattler, eingeschlossen von zwei Mann mit gezogenen Seitengewehren, herausgeführt. Derselbe war noch ganz in dem Ausputze von heute Morgen. In der rechten Hand trug er den rothen Regenschirm, in der linken die lange Pfeife mit den gewichtigen Troddeln, der ungeheure Blumenstrauß prangte zwischen Uniform und Weste und die ungeknickten Vatermörder ragten in tadelloser Steifheit handhoch über den Kragen der Uniform heraus. Der ganze Ausputz war mit sichtbarer Sorgfalt conservirt.

Nachdem der Oberst dies mit Wohlgefallen bemerkt hatte, ließ er den Arrestanten mit aufgespanntem chinesischem Sonnendach, wie er den harmlosen Regenschirm noch immer nannte, unter Vortritt der Musik an der langen Front der erstaunten Artilleristen hinabführen. Die monströse Figur wurde mit schallendem Gelächter empfangen und mit lautem Hohngeschrei begleitet. Nach diesem Golgathagange wurde der arme Sattler vor die Mitte seiner Compagnie zurückgebracht. Die Musik mußte hier schweigen, und der Oberst stellte dies saubere Pflänzchen ihrer militairischen Erziehung, wie er sich auszudrücken beliebte, dem Capitain und den Compagnie-Officieren vor. Der Empfang war sehr warm. Der Aermste wurde mit Vorwürfen und Drohungen überschüttet, die er mit fatalistischer Gleichgültigkeit hinnahm. Hieraus ließ der Oberst die Brigade zum Kreise schwenken und setzte den Leuten das in seinen Augen unverantwortliche Verbrechen des Sattlers auseinander.

„Ich müßte den siebenfachen Millionenhund jetzt eigentlich krumm schließen und in das tiefste Loch zu seinen Vettern und Cousinen, den Kröten und Molchen, einsperren lassen,“ schloß er seine geharnischte Rede, „aber ich bedenke dabei, daß dieser chinesische Spinnenfresser eine gar herrliche Stimme hat, die in der unterirdischen Wohnung wahrscheinlich stark leiden möchte. Und das will ich denn doch nicht, denn der Kerl kann singen, daß einem vor Vergnügen das Herz im Leibe hüpft. Ihr werdet hören.“

Und sich an den Gefangenen wendend rief er: „Singe, Hanswurst! in Deiner Kehle liegt Deine Rettung.“

Der Sattler ließ sich dies nicht zum zweiten Male lagen; er stellte sich in Positur und intonirte mit unbefangener, klarer und schöner Stimme das Reiterlied aus den Wallensteinern. Schon beim ersten Refrain fielen mehrere Stimmen mit ein, und beim Schluß des zweiten Verses sang Alles mit, was nur einen Ton in der Kehle halte. Selbst der Oberst brummte mit, endlich fiel auch die Musik ein und begleitete die sich immer kräftiger erhebende Stimme des Arrestanten bis zur letzten Strophe des viel beliebten Soldatenliedes.

Der Oberst rieb sich vor Vergnügen die Hände. Der Zorn war verraucht und erstarb gänzlich in der allgemeinen Fröhlichkeit, mit welcher die Leute den singenden Chinesen umtanzten.

„Na, ist es nicht eine Schande,“ ließ sich der Alte zum Schluß noch einmal vernehmen, „daß ein Mensch, dem der liebe Gott eine solche Kehle gegeben hat, sich zum hanswurstigen Chinesen herabwürdigt und unsere einfache, schöne Uniform durch Troddeln, Lappen und Blumen zum Harlekinkleide macht?“

Sich an den Gefangenen wendend, setzte er gutmüthig hinzu: „Dies Mal sollst Du mit einem blauen Auge davon kommen. Herr Hauptmann H., schicken Sie ihn drei Tage in Mittelarrest. Wenn er diese Strafe überstanden hat, soll Alles vergeben und vergessen sein; kein Nachtragen, keine Neckereien mehr, das bitte ich mir aus. Und nun entlassen die Herren Hauptleute die Leute in die Quartiere. Es ist uns heute etwas spät geworden.“

Auch ich wurde hierauf von dem Alten gnädig verabschiedet und meinem Capitain als ein „kluges, talentvolles Kind“ zur väterlichen Ueberwachung empfohlen. In dem Kreise der mir befreundeten Cameraden hieß ich seit dieser Zeit „der Brigade-Adjutant“. Der Sattler K. wurde, so lange er in der Brigade diente, „der Chinese“ genannt.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unter allen Berichterstattern über den letzten Gang und die sterblichen Reste unsern großen Dichters ist unbedingt Herr Dr. Schwabe die einzige authentische Autorität. Sein Vater war es, der Deutschland von der großen Schmach rettete, den Liebling der Nation von bezahlten Miethlingen, zu Grabe getragen zu sehen, und den mündlichen und schriftlichen Mittheilungen dieses wackern Mannes ist auch die obige Schilderung entnommen, für die uns die Leser der Gartenlaube sicher dankbar sein werden.
    D. Red.
  2. Ein Augenzeuge schreibt über die Scene, die unser Dichter poetisch schön einen „Säulengang, gebaut aus Menschenherzen“ nennt:
    „Das Haus war, ungeachtet des heißen Tages, zum Erdrücken voll, die Aufmerksamkeit die gespannteste. Kaum rauschte aber, nach dem ersten Act der Vorhang nieder, als ein tausendstimmiges „es lebe Friedrich Schiller“ wie aus einem Munde erscholl, in welchem allgemeinen Jubelruf die Pauken wirbelten, die Trompeten schmetterten. Der bescheidene Dichter dankte aus seiner Loge mit einer Verbeugung, aber nicht Allen war [674] es gelungen, den Allbewunderten zu sehen. Du kannst daher denken, wie nach Beendigung des Stückes Alles aus dem Hause strömte, um ihn zu erblicken. Der weite Platz von dem Schauspielhaus an bis hinab zu dem Ranstädter Thor stand dicht gedrängt voll Menschen. Jetzt trat er heraus, und im Nu war eine Gasse gebildet, Stimmen geboten, das Haupt zu entblößen, und so ging denn der Dichter durch eine Menge seiner Bewunderer, die alle mit entblößtem Haupte und schweigend dastanden, hindurch, während Väter und Mütter ihre Kinder in die Höhe hoben und riefen: „dieser ist es – das ist er!“ Mag ein Anderer davon halten, was er wolle, mir hat es Freudenthränen entlockt.“ Ein anderer Augenzeuge erzählt, daß sich besonders die Studenten sehr lebhaft an dieser Huldigung betheiligten und mit brennenden Fackeln und Kränzen den heraustretenden Dichter empfingen.
    D. Red.