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Die Gartenlaube (1859)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 38. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Theater und Schule.
Von L. R.
(Fortsetzung.)



VI.

Vor dem Schulhause hielt der Wagen. Vater und Sohn traten hinaus, begleitet von Rosa und Schnurr. Der Tag, wo sich Alle wiedersehen wollten, war, wie vieles Andere, bereits festgestellt. So nahm man jetzt getrost und fröhlich Abschied. Der Wagen rollte dahin, und unter den Grüßen, die man sich gegenseitig noch zuwarf, so lange der Wagen sichtbar war, tauchte ein heiliger Ernst empor in Aller Herzen. Man gedachte still der Wichtigkeit des nun niedersinkenden Tages, – der mächtigen Wendung des Schicksals, die er gebracht, der Zukunft, welche an ihn sich knüpfen sollte.

Als der Wagen verschwand, stand Rosa eine Weile noch gedankenvoll.

„Woran denkst Du, Rosa?“ fragte Schnurr.

„An meine Eltern,“ antwortete Rosa, „ich wünschte, sie hätten diesen Tag erlebt!“ Als wollte sie die wehmüthige Stimmung, welche sich ihrer zu bemeistern drohte, zurückdrängen, ergriff sie Schnurr’s Hand und fragte lächelnd: „Und Du, Oheim? Was würdest Du wünschen, wenn Du auf den vergangenen Tag blickst?“

„Daß ich kein alter Junggesell geblieben sein möchte!“ entgegnete Schnurr. „Ein Glück, wie es dieser Tag brachte, kann doch nur im Familienleben erwachsen.“

Er hatte dies mit einem Anfluge von Wehmuth gesprochen. Um dieselbe auch bei ihm zu verscheuchen, gab Rosa dem Gange der Rede und Gedanken eine andere Wendung. Sie erwähnte die ersten Frühstunden, die Anfänge des Tages, und kam somit schnell auf die ABC-Buchblätter und deren stattgehabte Anwendung. Ein heiterer Zug ging nun durch ihre Unterhaltung.

Der Schulrath und Theodor unterhielten sich auch. Und als der Wagen an den „schwarzen Bär“ kam, und der Wirth an der Hausthüre erschien, erinnerten sich Beide ebenfalls der Anfänge dieses Tages. Sie sprachen von ihrem Eintritte in das Wirthshaus, von dem Lachen der Bauern, welches ihnen laut entgegen geschallt.

Da gedachte Theodor plötzlich des Umstandes, daß ja auch in dem „Anzeiger“, welchen der Dorfrichter vorgelesen, von einem alten ABC-Buche die Rede gewesen sei. – Als junger Criminalbeamter, als täglicher Inquirent fühlte er augenblicklich eine Vermuthung in sich aufbrennen. Er griff in die Seitentasche seines Rockes, in welche er im Schulhause jene bekannten zwei Briefe sammt den ABC-Buchblättern willenlos und ohne Absicht gesteckt hatte. Er zog die ABC-Buchblätter hervor. Der Schulrath freute sich, daß sie da waren, weil er sie ja zu seinen Revisionscuriositäten legen wollte.

„Habe ich doch im Strudel der Ereignisse versäumt, zum Dorfkrämer zu schicken, um nachzufragen, ob er auch die übrigen Blätter des Büchleins mir ablassen könne,“ hob er an; „erinnere mich mit daran, daß ich das späterhin nachhole.“

„Sind diese Blätter vom Dorfkrämer?“ fragte Theodor, ohne daß der Vater weder eine Wichtigkeit dieser Frage noch eine aufkeimende Besorgniß im Herzen seines Sohnes dabei ahnte.

„Vom Dorfkrämer – so schien es.“

„Du weißt es nicht gewiß?“

„Nein.“

„Und Schnurr?“

„Der schien sie eben vom Dorfkrämer zu haben. Wenigstens behauptete er, es sei Packpapier.“

„Nicht sowohl eingepackt, mehr eingerollt muß Etwas in das Papier gewesen sein. Besonders das eine hier zeigt Narben, welche ausgeglättet sind.“

„Das bemerkte ich auch, und wahrscheinlich hat das Schnurr gethan, um sie in Gebrauch zu nehmen und dann aufzubewahren.“

Theodor ließ den Wagen anhalten. Er rief den Wirth herüber und bat ihn, das Blatt herauszubringen, welches der Dorfrichter heute früh vorgelesen. Der Wirth brachte das Blatt, Theodor las. Er erblaßte, – der Diebstahl von 200 Stück Louisd’or war bei demjenigen Theaterdirector verübt worden, bei welchem auch Rosa eine Zeit hindurch engagirt war, und dessen Spielorte die Städte in der Nähe von Berlin gewesen waren, während er zuweilen auch in Berlin selbst spielte, wo er ein Nebentheater hielt.

Als er den Wirth wieder fortgeschickt hatte, sagte Theodor: „Nach einer Stunde fährt hier die Post durch. Mit ihr werde ich nach Magdeburg kommen. Fahre Du immer voraus, Vater. Ich muß zurück zu Schnurr, ich muß wissen, woher er diese Blätter bekam.“

Der Vater sah lächelnd ihn an und fragte: „Zu Schnurr allein? Nicht auch zu Rosa?“ Als Theodor aber sinnend stand und nichts darauf antwortete, sprach der Schulrath befremdet weiter: „Du kommst mir verändert vor, was hast Du?“

„Hier, lies die Anzeige von dem Diebstahl,“ sagte bewegt der Sohn, während er aus dem Wagen stieg, „und wenn nur das leiseste Mißtrauen gegen – – o Vater, es ist ja nicht möglich!“

Der Vater las. Theodor ging unruhig am Wagen hin und her.

„Möglich ist Alles,“ sagte ernst der Vater, indem er dem Sohne das Blatt zurückgab. „Eine wahre, beglückende Liebe muß sich auf gegenseitiges Vertrauen gründen. Gehe hin, sprich offen mit ihr.“

[534] „Mit Rosa?“ fragte staunend und fast entrüstet Theodor.

„Hast Du denn schon einen unwürdigen Verdacht gegen sie?“

„Täuschest Du Dich nicht, so mußt Du gestehen, daß Du selbst Verdacht schöpftest. Willst Du, so bin ich bereit, mit ihr zu reden. Sie hat im Dorfe viel Geld ausgegeben – –“

„Vater, ich bitte Dich!“ fiel Theodor ihm in’s Wort, „schon solch ein Gedanke ist Verrath, ist Sünde und Schmach! – Nein, nein, Du darfst nicht mit ihr reden, Du gar nicht – auch ich –“ sprach er überlegend weiter, „auch ich darf jetzt nicht hin, – ich muß mit Schnurr sprechen, muß ihn allein haben! Fahre Du ruhig nach Hause. Alles wirst Du ja von mir hören, das verspreche ich Dir, Vater!“

Er reichte ihm die Hand. Er nöthigte, er drängte ihn zur Abreise. Ehe eine Minute verging, war der Schulrath hinweg.

Theodor rief den Wirth. Dieser mußte im Namen des Dorfrichters zum Schulmeister schicken mit dem Gesuch, derselbe möge sogleich zu einer wichtigen Gemeindeberathung in den „schwarzen Bär“ kommen, die Sache sei dringend.

Kaum war der Bote zurück, so sah man auch schon den Schulmeister herschreiten auf einem Feldwege. Der Wirth, der nicht ahnte, was es galt, stand doch neugierig. Er sprach von einer stillen Oberstube, und wie dieselbe geeignet sei, ungestört und ungesehen dort eine Verhandlung abzuhalten. Aber Theodor dankte ablehnend. Er empfahl sich und ging dem Kommenden entgegen. Als er ihn erreicht hatte, schlug er einen Weg mit ihm ein, der durch hohes Korn führte.

„Lassen Sie mich schnell zur Hauptsache kommen,“ sprach Theodor, nachdem er die Begrüßung des Verwunderten erwidert und ihm erklärt hatte, daß die Citation nicht vom Dorfrichter, sondern von ihm selbst ausgegangen sei. „Theilen Sie mir ohne Umschweife eine ehrliche Antwort mit auf einige Fragen, die ich jetzt an Sie richten muß.“

„Ohne Umschweife,“ entgegnete Schnurr, „aber ich kann mich nicht genug verwundern, daß der Herr Assessor nicht mit hin in mein Haus wollen.“

„Vielleicht gehe ich noch mit, nur geben Sie mir erst Antwort.“

„So fragen Sie denn. Ich bin mir keines Unrechtes bewußt. Ist etwas vorgefallen zwischen Ihnen und Dero Herrn Vater? Gibt’s etwas mit Rosa, mit meiner Schule?“

„Woher haben Sie diese Blätter?“ fragte Theodor, indem er die Blätter hervorzog und sie ihm hinwies.

Schnurr lächelte zwar, konnte aber seine Verlegenheit nicht verbergen. „Was ich Dero Herrn Vater davon sagte, kann ich auch Ihnen sagen,“ antwortete er dann. „Ich habe diese Blätter als Packpapier erhalten.“

„Sie wissen doch gewiß, von wem, lieber Herr Schmitt?“

„Weiter kann ich nicht gehen,“ versicherte Schnurr, „sonst müßte ich mehr erzählen, und das darf ich nicht, weil ich mein Wort gab, darüber zu schweigen gegen Jedermann. Freilich gegen Sie, Herr Assessor, gerade gegen Sie – aber als Jurist werden Sie mir Recht geben – Wort ist Wort – auch gegen Sie muß ich schweigen.“

„Sie haben diese Blätter von Rosa?“ fragte leise bebend Theodor.

„Wer hätte das gesagt? Aber Packpapier war’s – o, Sie wissen nicht, wie glücklich ich wurde!“

„Diese Papiere könnten Sie noch in große Verlegenheit bringen, darum reden Sie offen, Herr Schnurr. Seit wann sind diese Blätter in Ihren Händen?“

„In Verlegenheit? Das wolle Gott verhüten!“

„Seit wann haben Sie diese Blätter?“ wiederholte Theodor.

„Seit acht Tagen.“

„So steht es fest, Sie haben diese Blätter von Rosa!“ rief schmerzlich Theodor.

„Um Gott, warum sind der Herr Assessor so erschrocken?“ versetzte im eigenen Erschrockensein Schnurr. „Ihr Verhältniß mit Rosa – Sie sind ja mit ihr ein Herz und eine Seele – und ich werde meiner Nichte mittheilen, daß ich es Ihnen entdeckte – nur Ihnen, und nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit, damit Sie aus der Unruhe kommen, in welcher ich Sie sehe – und Gott, ich selbst bin ja unruhig!“

„Haben Sie gesehen, daß Gold in diese Blätter gepackt war?“ fragte kaum hörbar Theodor, „nahm Rosa Gold heraus, ehe sie die Papiere Ihnen gab? Reden Sie, wie war es? Sie sagten, daß Sie durch diese Blätter glücklich wurden. Da hat Rosa wohl einige Goldstücke für Sie darin gelassen, hat sie Ihnen geschenkt?“

„Das Ganze!“ antwortete Schnurr halb freudig, halb furchtsam. „Sie hat die Rolle gar nicht aufgemacht, sie hat mir dieselbe, gleich ganz gegeben. Der Herr Assessor sollen nun Alles wissen, fuhr er fort, und strich sich mit dem Tuche den Schweiß von der Stirn, „damit der Herr Assessor nur ruhig werden, und ich dazu, denn ich begreife doch nicht – was soll aber sein mit dem Gelte? Sie hat mir’s geschenkt, und das kann sie doch? – Als sie angekommen war und ihre Sachen auspackte, trat sie zu mir und sagte: „„Hier, Oheim, bringe ich Dir auch ein Andenken mit. Nimm es für Dein Alter. Für mich knüpft sich eine trübe Erinnerung an dieses Geld, – ich mag es nicht behalten. Dir wird es lieb sein für Dein Alter.““ Nun nahm ich es, Herr Assessor, und ich dachte, es wären etwa zwanzig bis dreißig Thaler. Aber denken Sie, als! ich die Rolle aufmachte, lagen hundert blanke Louisd’or darin! Da! staunte ich und meinte, das sei doch zu viel zum Wegschenken. Aber Sie wissen, wie sie ist. Sie lächelte, war heiter und guter Dinge und sprach: „„Du bist ganz starr vor Freude, Oheim, da wirst Du viel Lärm machen, viel rühmen, viel erzählen? Komm und versprich mir, daß Du keinem Menschen etwas davon sagen willst!““

Ich mußte es ihr mit der Hand versprechen. Und als ich sie dann fragte, ob sie vielleicht gewonnen, ob sie vielleicht das heillose Pharo gespielt, da lachte sie und antwortete: „„Nein, nur Lotterie.““ Und das glaube, ich auch. Der Herr Assessor werden wissen, daß die preußische Lotterie mit Gold auszahlt.“

Es war, als wollte bei dieser letzten Mittheilung ein Lichtschimmer in Theodor’s umnachtete Seele fallen. Aber sofort verschwand er wieder. Diebstahl, Theaterdirector. Blätter – sie stellten den nächtlichen Zusammenhang schnell wieder her. Selbst Rosas Aeußerung, daß eine trübe Erinnerung an dieses Geld sich knüpfe, daß sie dasselbe nicht behalten möge, – reihte ein neues, schwarzes Glied in das Ganze, und drückte schwer auf Theodor’s ahnendes Herz. Mit niedergeschlagenem Blicke stand er da. Was sollte er thun? Dem Schulmeister Alles mittheilen? Der konnte ihm nicht helfen, konnte nur ängstlicher werden, als er es schon war, und in dieser Angst die Verwirrung vermehren, den Weg der Besonnenheit und Vorsicht, der hier eingehalten werden mußte, nur störend durchkreuzen. Oder sollte er hin zu Rosa, wie sein Vater es angedeutet? Wie wollte er aber ihrem Engelsblicke gegenüber mit der innern Anklage ruhig erscheinen? Und noch kämpfte er ja selbst gegen eine innere Anklage – noch bemühete er sich ja, auch den Verdacht, auch die Ahnung niederzuschlagen; – jetzt nicht, heute nicht durfte er zu Rosa, das fühlte er tief. Oder sollte er zu seinem Vater? Auch das nicht. Der konnte die Verwirrung so gut vermehren, wie er dies von Schnurr befürchten mußte. Ja, er wußte, daß sein Vater in diesen zusammentreffenden Umständen die stärksten Verdachtsgründe finden, wohl gar von der Schuld völlig überzeugt sein würde.

Er dachte, er sann, während er stehen blieb und mit der Hand über die Kornähren hinstrich. Schnurr fragte seufzend nach der Ursache dieser traurigen Umwandlung, welche so plötzlich eingetreten war,

„Nur einen Weg gibt es, auf welchem ich vielleicht mehr Licht erhalten kann, ihn muß ich betreten!“ sagte Theodor still vor sich hin, ohne auf Schnurr’s Fragen zu achten.

Als sei er seines Planes sich jetzt vollkommen bewußt, als habe er denselben geprüft und gut befunden, wendete er sich dann scheinbar heiter an Schnurr und sprach: „Sie können ganz ruhig sein! Sie kommen weder in Verlegenheit, noch verlieren Sie Ihr Geld! Gehen Sie getrost nach Hause! Aber Eins müssen Sie mir versprechen!“

„Eins? Fordern Sie zehnerlei,“ antwortete Schnurr in seiner Freude, „und ich will Alles erfüllen, wenn sich’s verträgt mit meinem Gewissen! Mir ist nun ein Stein vom Herzen, und ich sehe, auch dem Herrn Assessor ist’s leichter. Also eine Irrung war’s? Nun haben Sie Licht? sind wieder ruhig?“

„Gewiß,“ entgegnete Theodor, dem Alles daran lag, daß Schnurr durch Wehmuth und Traurigkeit bei Rosa keinen Verdacht erwecke, „aber ich würde wieder sehr unruhig werden, und Rosa würde es zugleich mit mir werden, wenn Sie ein einziges Wort verriethen von dem, was wir jetzt zusammen verhandelten! Also schweigen sollen Sie. Rosa darf nicht wissen, daß wir uns jetzt sahen und sprachen. Geben Sie mir Ihr Wort, vollkommen darüber zu schweigen!“

„Gern, Herr Assessor! das läuft nicht gegen das Gewissen!“ versetzte Schnurr und gab ihm feierlich die Hand. „Bin ich doch [535] froh, daß dieses böse Wetter vorüberzog, daß auch der Herr Assessor wieder heiter sind! War ich doch erschrocken bis in’s Mark hinein! Und die ABC-Buchblätter nehme ich nun wohl auch mit zurück?“ fragte er vergnügt und streckte die Hand bittend darnach aus.

“Die brauche ich noch,“ entgegnete Theodor, „und nun gehen Sie, auch ich will fort! Also geschwiegen! kein Wort gegen Rosa! Späterhin werde ich Ihnen den Zusammenhang erzählen. Sie werden dann erkennen, wie Alles hätte verloren gehen müssen, wenn Sie geplaudert!“

„Der Herr Assessor haben mein Wort!“ betheuerte Schnurr, die Hand auf’s Herz legend. „Und gehen nun der Herr Assessor ein Weilchen mit in den „schwarzen Bär“? Bei heiterer Stimmung, die schnell auf eine trübe folgte, thut man das gern. Ich hätte Luft, ein Weilchen hinzugehen, wir sind in der Nähe.“

„Nein, nein, gehen Sie nicht dahin, auch ich gehe nicht!“ erwiderte Theodor und dachte an den geschwätzigen Wirth und an das Zeitungsblatt. „Gehen Sie überhaupt in den nächsten Tagen nicht in den „Bär“, versprechen Sie mir auch das! Es darf Sie nicht befremden. Ich habe meine Ursache, es gilt einen Scherz, eine freudige Ueberraschung für Rosa.“

„Ah, wenn das, mit Vergnügen, hier meine Hand darauf!“ sagte zufriedengestellt Schnurr. „Vielleicht auch ein kleiner Actus, wie Dero Herr Vater ihn simulirte. Gut, so gehe ich nun sogleich heim, gehe zur lieben Rosa. Und der Herr Assessor?“

„Ich erwarte die Post. Wie gern ich mit in’s Schulhaus ginge, wissen Sie, aber es darf nicht geschehen!“

„Ich glaube es!“ versicherte mit voller Herzlichkeit Jener, „sonst gingen Sie ja mit!“

„Einige Tage, und ich werde dann kommen! Bis dahin leben Sie wohl, mein lieber, künftiger Oheim!“ rief mit unterdrückter Bewegung Theodor und schüttelte treuherzig Schnurr’s Hand.

So schieden sie. Kaum war Schnurr verschwunden zwischen den hochragenden Kornfeldern, da sprach Theodor, wenigstens durch den Umstand etwas erleichtert, daß er sich jetzt nicht mehr zu verstellen brauchte, leise die Worte: „Ich will hin in ihre Nähe! ich will ihr meinen Abschied sagen, still und ohne daß sie es weiß und ahnt! still in Bekümmerniß und doch in unaussprechlicher Liebe!“

Er schlug einen andern Weg ein. Der Abend hatte nun in voller Sommerpracht sich niedergesenkt auf die Fluren. Am Himmel stand die schmale Mondsichel. Die Heimchen zirpten im Grase und Gebüsche. So schritt er hin durch die Felder, deren Halme und Aehren schon den ersten Abendthau ansetzten. Bald hatte er die Zäune des Obstgartens erreicht, der zum Schulhause gehörte. Er blickte hinein. Da blühte duftig die Rosenhecke, von welcher die Theuere in den Frühstunden dieses Tages die schönsten Blumen für ihn gebrochen. Da standen in der Laube noch die Stühle, auf denen heute die befreundete, glückliche Familie gesessen. Da hing vor einer Mauer die an einem Pfahl befestigte kleine, weiße Scheibe, nach welcher Rosa geschossen.

Plötzlich hörte er Musik. Rosa spielte einige gehaltvolle Gänge. Dann war es still. Ein Lichtschein fiel durch die Fenster nach dem Garten heraus, und Theodor bückte sich hinter den Zaun. An dem einen Fenster aber erschien Rosa, das Licht in der Hand. Sie wendete den Kopf nach der Stube und rief den Oheim herbei, Dieser kam.

„Ist’s richtig so?“ hob sie an, „liegt nicht gerade hier hinein Magdeburg?“

Schnurr bestätigte es.

„Gute Nacht, mein lieber, lieber Theodor!“ rief sie leise nach der bezeichneten Gegend hinein.

Alles war still. Nur Käfer summten durch den Garten. Es war, als halte Rosa kurze Abendandacht. Durch Theodor’s Herz zog’s wie Sonnenglanz und Gewitterschauer.

„Und nun komm, nun spielen wir vierhändig, Oheim’,“ hob Rosa wieder an. „Wie wunderbar ordnen sich doch die Sterne unsers Schicksals! Als mein Pater starb, versprach ich ihm, Dich, wie er es wünschte, aufzusuchen in Deinem Dörflein. Jahre vergingen, ohne daß ich es that. Da lerne ich vor zwei Monaten meinen Theodor kennen. Ich habe keine Ahnung davon, daß er in deiner Nachbarschaft wohnt, und kaum ist er abgereist, da fügt sich’s, daß ich mein Engagement aufgebe, und mir kommt der Gedanke, Dich aufzusuchen, eine Zeit lang in ländlicher Einsamkeit zu verleben. Und in Deinem Hause werde ich so glücklich!“

„Alles vom Himmel, Alles!“ antwortete Schnurr, „und auch ich wurde glücklich, in doppelter Hinsicht glücklich. Nicht nur, daß ich Dich kennen lernte, Du hast mich auch so reichlich –“

„Still, Oheim, Du sollst dieses Geld nicht erwähnen!“ fiel sie rasch und fast unwillig ein, „nun hast Du augenblicklich meine Stimmung getrübt! Komm, wir wollen spielen!“ Sie nahm das Licht vom Fenster. Nach einigen Augenblicken erklang das Spiel.

„Rosa, Rosa!“ sagte seufzend Theodor, indem er leise am Zaune vorbeischritt und die Hand auf’s Herz drückte, „o hättest Du sie nicht geredet, diese letzten Worte!“ Dann stand er wieder still. Auf und ab wogten die Gedanken und Gefühle in seinem Innern. Er blickte nach den Fenstern, ohne dem Gange der Musik zu folgen. Da ertönte in der Ferne das Posthorn, „Auch Dir, o Rosa, eine gute Nacht! Rosa, schlaf’ wohl! schlaf’ ohne Schuld! Der Himmel gebe uns ein glückliches Wiedersehn!“ rief er leise und preßte die Hände fester auf die Brust. Und doch konnte er, so fest er auch die Hände auf die Brust drückte, das Drama nicht zerstören, welches in seinem Herzen spielte. Er schritt durch die Sommernacht hinüber nach der Straße. Auf ihr war es öde und still. Weich wallte die Luft um feine Schläfe. Vom Schulhause her klang leise noch die Musik. Die Post kam an, er stieg ein.

Nach einer Stunde gelangte man in die Nähe der Eisenbahn. Da stieg er aus und schritt nach dem nächsten Anhaltspunkte. Er ließ sich ein Billet nach Berlin geben. Dann schrieb er folgenden Brief:

„Mein theurer Vater!

„Nur an Ort und Stelle kann Licht, vielleicht auch Lösung in das Räthsel kommen. Darum reise ich nach Berlin. Thue nichts, auch gar nichts in der bewußten Angelegenheit, bis ich Dir Nachricht gebe oder selbst komme. Das vergiß nicht, das halte genau, lieber Vater! Sollte ich in Berlin Geld brauchen, so werde ich es von unserm dortigen Bankhause nehmen.

„Dein Sohn Theodor.“     

Kaum hatte er den Brief in den Kasten geschoben, da kam der Zug, der nach Berlin ging. Nach wenigen Minuten ertönte das Signal zur Abfahrt. Theodor stieg ein. Kein Schlaf schloß seine Augen, der Gutenachtwunsch, den Rosa liebend für ihn ausgesprochen, erfüllte sich nicht.



VII.

Noch früh am Morgen war es, als Theodor, den Berliner Adreßkalender in der Hand, in der Restauration des Bahnhofes stand. Er blätterte und suchte. Er legte unwillig das Buch auf den Tisch.

„Mein Herr, Sie finden nicht, was Sie suchen?“ fragte der Kellner. „Dürfte ich bitten? Vielleicht vermöchte ich Auskunft zu geben.“

Theodor fragte nun nach dem Schauspieldirector Liebing.

„Der steht nicht im Kalender, seine Gesellschaft spielt nur zuweilen in einer hiesigen Vorstadt, dann geht sie wieder in eine Nachbarstadt, gegenwärtig spielt sie in Luckenwalde.“

Mit dem nächsten Zuge fuhr Theodor nach Luckenwalde, Ehe eine Stunde verging, stand er vor der Thüre des Schauspieldirectors, hörte im Zimmer eine Kaffeetasse klirren und klopfte leise an.

Eine sonore Stimme rief zum Eintreten. In demselben Augenblicke überschritt Theodor die Schwelle. Der Director erhob sich von seinem Kaffeetische, Theodor stellte sich vor.

„Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu reden, Herr Director,“ begann jetzt Theodor, „sind wir allein?“

Der Director versicherte es, und rückte einen Stuhl zurecht.

„Eine wunderbare Verkettung der Umstände,“ hob Theodor an, indem er sich setzte, „läßt mich ein warmes Interesse nehmen an dem Gange der Untersuchung, betreffend den Diebstahl, der bei Ihnen verübt ward. Darf ich fragen, wie weit die Untersuchung vorwärtsschritt und was sich in derselben ergab?“

„In der letzten Zeit ist nichts darin geschehen,“ gab der Director zur Antwort, „ein besonderes Resultat ward auch nicht gewonnen. Derjenige, auf den sich Verdacht warf, mußte auf Handgelöbniß seiner Haft entlassen werden, weil die vorliegenden Indicien während der Untersuchung sich abschwächten. Gestern soll er wieder im Verhör gewesen sein. Das wäre so ohngefähr das Hauptsächlichste. Mein Geld ist weg, ich werde es nicht wieder erlangen.“

[536] „Das fragt sich noch sehr, möglich, daß Sie es sogar durch mich ersetzt bekommen,“ antwortete nicht ohne Bewegung Theodor.

„Wie, mein Herr? ersetzt? durch Sie?“ rief der Director erfreut und staunend, „o, wenn Sie wahr redeten!“

„Ich rede wahr. Eine wunderbare Verkettung der Umstände erwähnte ich schon. Diese liegt hier vor. Es gibt zuweilen Verhältnisse, wo man Ersatz leistet, um die Schande eines Andern zuzudecken.“

„O wenn das wäre! wenn ich mein Geld wieder bekäme, Alles möchte dann zugedeckt werden!“ erklärte heiter der Director. „Ich würde die Anzeige machen, mein Geld habe sich wiedergefunden, es sei ein Irrthum gewesen, ich ließe die Sache niederschlagen! Wollen Sie wirklich Ersatz leisten?“

„Ruhig, Herr Director, es wird vielleicht nöthig werden,“ entgegnete Theodor. „Vor allen Dingen, auf wem ruhte Verdacht? wer wurde verhaftet und dann wieder entlassen auf Handgelöbniß?“

„Der Schauspieler Rauschenbach.“

„Rauschenbach?“ rief erschrocken Theodor.

„Sie kennen ihn?“

„Lassen wir das jetzt. Geben Sie mir –“

„Mein Herr, wenn Sie ihn kennen, wenn er es ist, der Ihnen nahe steht, dann, ja dann – ich muß gestehen, der Ersatz dürfte reif werden – nach meiner moralischen Ueberzeugung hat er das Geld!“

„Rauschenbach steht mir nicht nahe. Geben Sie mir nur ruhig Antwort, wie ich ruhig Sie frage. Wie war es mit dem ABC-Buch, das mit in dem Geldkasten lag, hat sich dasselbe wiedergefunden?“

„Der Theaterdiener wollte es am Tage nach dem verübten Diebstahle bei Rauschenbach gesehen haben, wußte es aber nicht gewiß, konnte es nicht beschwören.“

„Und die Haussuchung bei Rauschenbach?“

„Ergab nichts. Ueberdies lag das ABC-Buch einige Zeit später in einem finstern Winkel des Hauses, das ich bewohne. Hier fand es die Magd. Mit ihr legte ich es nieder vor Gericht.“

„Es war ein Buch aus früherer Zeit? mit Bildern und Versen, die sich immer auf einen Initialbuchstaben bezogen?“

„Ganz recht.“

„Und das Buch war vollständig, als die Magd es wiederfand im Winkel? Es fehlte nichts darin?“

„Ich weiß nicht, ob es vor den, Diebstahle vollständig war. Nach diesem Umstände fragte mich der Untersuchungsrichter sofort, als ich mit der Magd das Buch deponirte.“

„Und warum fragte der Untersuchungsrichter nach diesem Umstände?“

„Weil in dem Buche zwei Blätter fehlen.“

Theodor stand auf. Er trat schweigend an’s Fenster. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um ruhig zu erscheinen im Aeußern, so unruhig er auch war in seinem Innern. Nur dadurch, daß er selbst angehender Criminalbeamter war, wurde es ihm möglich, den Kampf, der in ihm tobte, zu beherrschen. Sprach er sie auch noch frei von der Hauptschuld, Rosa stand doch als Mitwisserin vor ihm. Allem Anschein nach mußte sie in das Vergehen verflochten sein.

„Leicht möglich, daß die zwei Blätter schon vor dem Diebstahl gefehlt haben,“ fuhr der Schauspieldirector fort, „wer will das wissen? Darauf kommt auch am Ende nichts an. Anders freilich wäre es, hätte man die zwei Blätter bei Rauschenbach gefunden, da würde der Umstand einen bedeutenden Beweis abgeben. Und dennoch – mag es sein mit diesen Blättern wie es wolle – Rauschenbach, Rauschenbach!“ schloß er kopfschüttelnd, „ich glaube steif und fest, daß er das Geld hat!“

„Und gegen eine andere Person brauchten Sie keinen Verdacht zu fassen? durchaus gegen keine andere Person?“

„Anfangs that ich’s, wie das so geht, aber dann und bis heute durchaus nicht mehr.“

„Und wer waren die Personen?“ fragte mit bebenden Lippen und mit weggewendetem Gesicht Theodor, „gegen welche Sie anfangs noch Verdacht hatten?“

Der Director nannte den Zettelträger, ein Dienstmädchen, einen Markthelfer, der mit in dem Hause gewohnt hatte.

Theodor athmete freier. Ein Schimmer der Hoffnung zuckte durch seine Seele.

„Und ist nicht Fräulein Rosa Schnurr, genannt Rosa Brandes, bei Ihnen engagirt?“ fragte er dann.

„Sie war es, ist jetzt abgegangen, hatte bedeutende Offerten vom Theater in Frankfurt und Breslau; ein großer Verlust für mich, daß sie von mir ging!“

„Und ist nun in einer jener Städte?“

„Weder da, noch dort, sie ging nach Hamburg, dann, soviel ich weiß, zu einem Oheim auf’s Land, um einige Wochen oder Monate sich selbst zu leben. Auch dieser Verlust kommt mir eigentlich durch Rauschenbach,“ sprach der Director aufgebracht weiter, „dieses Menschen wegen ging sie weg von hier.“

„Erzählen Sie mir,“ bat Theodor, der ja nur Weniges und nur das Hauptsächlichste darüber gestern von Rosa gehört hatte. Und that es seinem Herzen doch unendlich wohl, denken zu dürfen, der Hoffnungsschimmer, welcher seit einigen Minuten in ihm aufgestiegen war, werde sich dadurch vielleicht vermehren.

„Da Sie Herrn Rauschenbach zu kennen scheinen,“ fuhr Jener fort, „so werden Sie wissen, daß er ein geistreicher Mann, aber ein Glücksritter, ein Spieler, ein vollkommener Roné ist. Das wußte er freilich vor Fräulein Rosa, die in jeder Beziehung und bis auf die kleinsten Verhältnisse herab höchst nobel und ehrenwerth dasteht, geschickt zu verdecken. So wurde er mit ihr bekannt; ich muß bemerken, nicht im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes – Rosa’s Ruf blieb unantastbar.“

„Und wie lange dauerte diese Bekanntschaft?“ fragte ermuthigt Theodor.

„Ein Vierteljahr vielleicht. Dann ist das Verhältniß gelockert worden. Fräulein Rosa hat gemerkt, hat tiefer geblickt. Man sagt auch, sie habe in der Lotterie gewonnen, das Geld in Rauschenbach’s Hände gegeben, um es zu verleihen oder Staatspapiere zu kaufen, und dieser habe das Geld verspielt. Ich weiß nicht, ob das gegründet sein dürfte. Aber gewiß soll es sein, daß Fräulein Rosa vor einigen Monaten die Bekanntschaft eines interessanten jungen Mannes machte. Das Verhältniß mit Rauschenbach war schon gelockert. Neue, schlimme Erfahrungen über ihn mochten hinzukommen, und so zog sich Rosa unter völligem Bruch mit Rauschenbach still zurück von mir und meiner Gesellschaft, sie kündigte, spielte nicht mehr.“

„Und Rauschenbach?“

„Wüstete nun offener, ungenirter.“

„Und wann reiste Rosa ab, vor oder nach dem Diebstahl?“

„Ich denke, einen oder zwei Tage nach dem Diebstahl.“

Zerstreut, verdunstet lag der aufgestiegene Schimmer von Freude und Hoffnung, finsterer wieder ward es in Theodor’s Seele. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus, Alles erwog und bedachte er.

„Wo hält sich Rauschenbach auf?“ fragte er dann schnell und schloß das Fenster.

„In Berlin, wo die That geschah und die Untersuchung geführt wird,“ antwortete der Director.

„Wir müssen zu ihm, Sie müssen mich begleiten!“

Der Director stand befremdet, machte Einwendungen, wies in höflicher, aber in ziemlich entschiedener Weise das Gesuch Theodor’s zurück.

„Wohl denn, so muß ich Ihnen Alles offenbaren. Sie werden sehen, warum ich nicht geradezu vor Gericht gehe, warum ich die schonenden Umwege betrete, warum ich gerade Ersatz leisten will, Alles werden Sie erkennen, Herr Director, und ich weiß es im Voraus, Sie begleiten mich dann zu Rauschenbach! – Was sagen Sie zu diesen zwei Blättern?“ fragte er und zog die uns bekannten Fragmente jenes ABC-Buches hervor.

Der Director stand wie versteinert.

„Nun hören Sie den Zusammenhang,“ fuhr Theodor fort und erzählte.

Verwundert folgte der Director jedem Worte, und öfters rief er am Schlusse der Erzählung aus: „Fräulein Rosa ist unschuldig, ist nicht einmal Mitwisserin! das werden wir ja sehen, wenn Alles sich enthüllt! Sie haben Recht, wir müssen zu Rauschenbach!“

Und höher und freudiger wieder schlug Theodor’s Herz unter den so zuversichtlichen Behauptungen von Rosa’s völliger Unschuld. Aber weder er, noch der Director vermochten die Einsprüche und Anzeichen umzustoßen, welche verdächtigend noch gegen Rosa sich aufrecht erhielten. Schlag acht Uhr waren sie in Berlin.


(Schluß folgt.)
[537]
Die Brotteröder.
Ein Stücklein aus der Franzosenzeit.

Eine herzerquickende Erscheinung für den Touristen ist ein kräftiges, naturwüchsiges Völkchen. Ein solches sind die Bewohner des kurhessischen Landfleckens Brotterode am westlichen Fuße des Inselsberges, in einer Höhe von 1800–1900 Fuß über der Meeresfläche gelegen, mit 2700 Einwohnern in 368 Wohnhäusern. Diese ziehen sich bei dem wechselnden rauhen Terrain in einer Hauptstraße mit einigen Nebengassen fast eine halbe Stunde von einem Ende des Ortes bis zum andern hin, und bilden ein sehr verschiedenes Gemisch von Wohlhabenheit und Armuth, je nachdem ihr Aeußeres das Gepräge der Fabrikherren oder der ärmeren Feuerarbeiter trägt. Wohl nirgends spricht sich der Volkscharakter eigenthümlicher aus, als hier. An dieser merkwürdigen Erscheinung wirken verschiedene, in den örtlichen Verhältnissen begründete Umstände zusammen. Die alte Zunftordnung der Schnallenschmiede zur Verfertigung aller möglichen Metallarbeiten zu Pferdegeschirren und Wagen erbt als ein Privilegium von Geschlecht zu Geschlecht, bindet an den eigenen Heerd in der Familie, indem sie dem jungen Arbeiter das Wandern nicht auferlegt, so daß Mancher von ihnen nicht weit über die Gipfel seiner nahen Berge hinauskommt, und mit dem Handwerk die alten Gebräuche und Liebhabereien vom Vater ererbt.

Der Markt in Brotterode.

Der Brotteröder ist einfach in Sitte und Tracht, fleißig und genügsam, hämmert und feilt in rußiger Werkstatt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Seine Mundart ist, ähnlich der Ruhlaer, ein ganz besonderes Idiom und für ein ungeübtes Ohr schwer verständlich. Auch der gebildetere Theil spricht dieselbe fast immer auf dem heimathlichen Boden, und auf Messen erregen die Brotteröder Kaufleute, wenn sie unter einander plaudern, nicht selten die Verwunderung der deutschen Landsleute, als wenn sie von einem fremden Menschenschlag abstammten.

Die kernige Constitution der Brotteröder ist größtentheils in localen Verhältnissen begründet. Nicht blos die frische Luft mit ihrem Reichthum an Sauerstoff und ihrem geringeren Luftdrucke in der beträchtlichen Thalweitung, in der Höhe von 1800–1900 Fuß, am Fuße des Inselsberges, sondern auch das herrliche krystallhelle, fast chemisch reine, überall aus Granit zu Tage gehende und daher immer kühle Quellwasser tragen viel zu einer dauerhaften Gesundheit der Bewohner bei. Hierzu kommt noch der auffallend erscheinende Umstand, daß in Brotterode die Tuberkelschwindsucht angeboren nicht vorkommt, daß diese Krankheit bei Fremden im dasigen Orte in ihrem weiteren Verlaufe aufgehalten wurde, sodaß ein wissenschaftlich gebildeter, sehr tüchtiger Arzt die Behauptung aufstellte, ein Schwindsüchtiger sei in Brotterode weit besser aufgehoben als in Nizza. Wegen dieser gesammten klimatischen Verhältnisse ist dort bereits eine Badeanstalt nicht blos für alle möglichen kalten Bäder, sondern auch für Fichtennadeldampfbäder eingerichtet worden. Für solche, die blos eine Molkencur zu brauchen beabsichtigen, ist hier die Milch der auf den kräuterreichen Bergen weidenden zahlreichen Ziegen vorhanden, und deshalb dem Gedeihen der Curanstalt mit Zuversicht entgegen zu sehen.

Die Fremde hat für den Brotteröder im Allgemeinen etwas Verächtliches, deshalb nimmt er selten eine „Fremde“, auswärts Geborne zur Frau, noch weniger aber will er einen fremden Mann in der Gemeinde haben. Ein Jude, deren es nicht weit davon in Massen gibt, darf unter keiner Bedingung in dieselbe aufgenommen [538] werden, ja früher soll nicht einmal ein Jude im Orte haben übernachten dürfen. Der Brotterode ist kühn, kurz angebunden zum Streit; ja, nicht selten ließ er in der Hitze schon Blut fließen, denn schnell blitzte sonst der scharfe Schnitzer in der nervigen Faust. Seine alten Ortsrechte, die Kaiser Karl V. mit Verleihung einer Fahne (die Fune von Karles Quintes genannt) einst dem Dorfe schenkte oder vielleicht nur erneuerte, ist er stets bereit, zu vertheidigen, besonders das heilige Symbol von der Väter Sitte selbst, die theure Fahne mit den Emblemen des Bergbaues, des früheren Gewerbes, und mit einer darüber stehenden Kaiserkrone und den Anfangsbuchstaben des kaiserlichen Gebers C. V. geziert.

Dabei ist er von Charakter im Allgemeinen gutmüthig, leicht aufgesetzt zu munterem Scherz, Musik und Tanz und allerlei Kurzweil, denn er ist rasch in seinen Bewegungen und führt eine geläufige Zunge, worin sich namentlich der weibliche Theil auszeichnet. Einige Brotterode Weiber im lebhaften Gespräch ihre Mundart sprechen zu hören, ist für einen Fremden eine Komödie.

Um die Leute in ihrer ganzen Volkseigenthümlichkeit zu sehen, beschloß ich, ihre Kirchweih zu besuchen, die zu Ende des Monats Juli fällt; heute war der Haupttag. Der Postwagen hatte auf der Landstraße von Schmalkalden her die südlich gelegene Anhöhe erreicht und rollte bergein dem Orte zu, der unter dem schönsten Himmelsblau sich ausbreitete, während er sonst häufig einen großen Theil des Jahres in dicke Nebel eingehüllt ist, die der Sturm vom nahen Inselsberg herabwälzt.

Zuerst suchte mein Blick die berühmte Fahne unter der Thurmkuppel, denn heute war ihr Ehrentag. Sie wehete hoch oben in der Luft, zum Zeichen, daß heute Brotterode noch in seinem alten Rechte sei, erst morgen früh sollte sie unter Glockengeläute und Musik wieder abgenommen werden, wie sie nach altem Branche unter gleichen Feierlichkeiten aufgesteckt worden. Der glänzende Thurmkopf erinnerte mich an die Worte, die auf einem Pergament in dem alten Knauf enthalten waren, und so recht die Zähigkeit der Brotteröder am Altherkömmlichen und ihre Kampfeslust für dasselbe bekunden. Sie lauteten: „Diese Kirche ist angefangen worden zu bauen, als ein Mönch, Namens Lutherus, wider die Papisten angefangen zu schreiben, dem aber das Maul bald gestopfet werden soll.“

Unter diesen und ähnlichen Betrachtungen über die Volkssitten zog ich im festlichen Orte ein und gelangte auf den Markt, wo eben eine Abtheilung Kirmsebursche mit ihren Mädchen den jubelnden Umzug hielt. Ich hatte manches Beispiel von der Kampfeslust der Brotteröder aus alter Zeit gehört, so daß sie vor vielen anderen einzig in ihrer Art dastehen. Einen interessanten Beleg hierzu liefert unter Anderem die Vertheidigung der genannten Fahne und noch mancher Beweis von kühner Entschlossenheit und Tapferkeit für das Vaterland gegen die Franzosenherrschaft. Ein Augenzeuge jener Ereignisse aus seiner Jugendzeit, ein alter Herr mit schneeweißem Haar, erzählte mir „auf der Höh", wie das Casino der Kaufleute schlechtweg genannt wird, mit großer Gefälligkeit die merkwürdigsten Begebenheiten aus Brotterode’s Geschichte.

„Es war auf dem Kirchweihfeste des Jahres 1805 oder 1806," erzählte er, „als uns die Schmalkälder die Fahne entführen wollten, in der Meinung, daß mit dem Verluste derselben auch die dem Ort durch dieselbe zuständigen Rechte verloren gingen. Die Bürger der Stadt Schmalkalden waren auf uns schon seit Jahren wegen des raschen Aufschwungs unseres Handels eifersüchtig, sie schienen es uns im Fleiße nicht gleich thun zu können, denn es herrschte damals, in der Zopf- und Haarbeutelzeit, bei ihnen das Sprüchwort: „Wenn wir uns des Morgens beim Anzuge noch pudern, haben sich die Brotteröder schon halb todt gearbeitet.“ Besonders war ihnen die Fahne von Karl V. ein Dorn im Auge, denn die Brotteröder steiften sich oft den Schmalkälder Behörden gegenüber auf ihre durch jene erhaltenen Rechte, als da sind: acht Tage Kirmes ohne obrigkeitliche Erlaubniß, acht Tage freie Fischerei und zuweilen etwas zu freier Gebrauch von dem großen Gemeindewald. Man hätte sich daher die Fahne, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, gern längst geholt, aber man kannte die Verehrung für dieses Panier und fürchtete sich deshalb vor unsern harten Fäusten. Da vermaß sich, gerade zu jener Kirmes 1806, zu Schmalkalden der Unteramtsschultheiß Becker in einem Gespräch mit seinen Vorgesetzen voll Groll über die Brotteröder, er wolle ihnen ohne Weiteres die Fahne vom Thurme nehmen, wenn er zu seiner Bedeckung eine kleine Escorte Militair erhielt. Es wurde um das Wagestück gewettet, und Becker zog mit seinen Feldjägern nach Brotterode ab, durch eine Seitengasse ein. hin nach dem Kirchplatz, während fast alle Leute fröhlich auf dem (damaligen) Schützenhofe beim Tanze waren. Er hatte gerade eine nagelneue gelbe Hose an und sich den Zopf recht schlank gedreht. Im Pfarrhofe sah ihn zufällig eine Botenfrau, als er an seinen Raub nach dem Thurme ging, erkannte ihn und seine Absicht, und bat ihn: „Ach, Herr Amtsschulz, thun Sie doch das nicht, da wird ja das ganze Dorf aufsässig.“ Er aber holte die Fahne. Unterdessen hatten sich einige neugierige Frauen eingefunden, als er mit der Fahne herabkam; unter diesen ein altes beherztes Weib, die sogenannte schwarze Margreth Christine, Wittwe eines Schnallenschmiedes, Namens Jüng, und eine andere, genannt Hühne Krette (Margarethe Huhn). Die alte Schwarze den Schmalkälder Unteramtsschulzen mit der Fahne in der Hand sehen, ihn an der Kirchenthür vermittelst einer Kartoffelhacke im Rockkragen einhaken, an sich ziehen, seinen Zopf fassen und ihn so zur Erde reißen, war das Werk einiger Augenblicke. Triumphirend hob sie mit der einen Hand den schön gewichsten Zopf, den sie dem Räuber ausgerissen hatte, in die Höhe, mit der andern hatte sie unter Beistand und „Zuschlag“ der Hühne Krette die Fahne gefaßt. Andere Weiber hatten die Feldjäger in „Beschlag“ genommen und die Schläge auf sie nicht gezählt. Die übrige Bevölkerung hatte die Schreckenskunde von dem Raube schnell herbeigezogen, aber die Männer fanden fast nichts mehr zu thun, die Weiber waren Sieger. Man ließ die Schmalkälder Sippschaft unter heller Verhöhnung laufen, und steckte unter lautem Jubel und Schalle der Musik die Fahne sofort wieder auf.“

Die Sache kam, wie ich von dem Erzähler weiter erfuhr, vor die Behörden von Schmalkalden, obgleich diese die Urheberin des Scandals selbst gewesen war, und der erboste Unteramtsschulze scheint dieselbe so zu seinem Vortheile dargestellt zu haben, daß die ihm für die Wette erfahrene Unbill hart bestraft wurde. Die schwarze Margreth Christine und Hühne Krette kamen mehrere Monate in’s Zuchthaus zu Kassel und einige Andere mußten geringer büßen. Doch die Rache der Brotteröder gegen den Schulzen Becker schlief nicht lange, dann bei einer anderen Gelegenheit, die das Resultat ihres kühnsten Patriotismus war, sollte sie von Neuem erwachen und ohne Rückhalt geübt werden.

Als gegen Ende des Jahres 1806 der Kurfürst von Hessen durch Napoleon verjagt und sein Land zu dem Königreich Westphalen unter Jerome Bonaparte geschlagen wurde, waren die Brotteröder von dem wüthendensten Hasse gegen das Franzosenthum erfüllt. Zu dieser Zeit war im Ort als französischer Maire – denn Schultheiß hieß es nun nicht mehr — ein gewisser Eichhorn, ein Mensch, der sich trefflich zu dem französischen Spionirsystem eignete und durch seinen Eifer auf seinem Posten einen weit höheren zu erschnappen hoffte. Der Haß gegen diesen war außerordentlich, überhaupt der Haß gegen die westphälische Herrschaft so groß, daß sich die jungen Militairpflichtigen durch die Flucht dem Dienste in der französischen Armee zu entziehen suchten und zu ihrem Aufenthalte die verstecktesten Schluchten und Winkel des Waldes aufzufinden wußten, wo sie Monate, ja, man sagt, Jahre lang von ihren Freunden mit Nahrung versorgt wurden. Nur auf diese Weise gelang es dem Maire Eichhorn nicht, sie auszuliefern, denn ein Brotteröder gab sich nicht zum Angeber her. Aber wahrlich nicht aus Feigheit, aus Scheu vor dem Kriegsdienste, nein aus Scheu davor, gegen die deutschen Brüder die Waffen tragen zu müssen, unterzogen sich die kühnen Söhne der Berge den Gefahren, denn beim ersten Erwachen der deutschen Begeisterung stellten sich Viele derselben sogar freiwillig unter die Fahnen des zurückgekehrten Landesherrn. Der Haß gegen den Maire Eichhorn brach jetzt, noch zur Zeit der westphälischen Regierung, fast zusammenfallend mit den Schlachttagen bei Leipzig, furchtbar hervor. Für die Brotteröder hatte er sein elendes Leben verwirkt; der Tod war ihm geschworen. Noch spät in der Nacht wollte man sich seiner bemächtigen, schon glaubte man seiner in seinem Bette gewiß zu sein, als er sich durch die Flucht zu retten wußte, ohne Zeit zu haben, seine Kleider anzulegen. Nur im Hemde, durch einen kühnen Sprung aus dem Fenster, entkam er mit Mühe und fand Zuflucht in Schmalkalden. Sogleich aber wurde sein Haus der Erde gleich gemacht, obschon man des Sieges der deutschen Waffen noch nicht ganz sicher war. Als zwei Tage darauf mehrere Brotteröder mit dem frohen Botschaft „die Kosaken kommen“ nach längerer Zeit zurückkehrten, fügten sie dieser Kunde sogleich mit freudestrahlenden Gesichtern und geballten Fäusten die Aufforderung hinzu: „Nun wollen wir dem [539] Maire das Haus demoliren!“ Da lachten die Andern sie aus mit den Worten: „Das haben wir schon vor zwei Tagen besorgt.“ Der Platz, auf dem das Haus gestanden, ist, trotz des Mangels an Bauplätzen mitten im Ort, bis heute noch nicht wieder bebaut, sondern scheint für alle Zeiten geächtet.

Doch wir haben der Schilderung von der Kühnheit der Brotteröder im Jahre 1806 vorgegriffen und kehren deshalb zum Anfang der westphälischen Regierung zu der genannten Zeit zurück, um auch dem Fahnendieb Becker wieder zu begegnen.

In Schmalkalden lag zu Ende des Jahres eine kleine Abteilung der französischen Armee, aus Fürst-Primas-Truppen bestehend. Sie hatten einen Transport von erbeuteten preußischen Kanonen aus der unglücklichen Schlacht bei Jena mit sich, von denen eine bespannt war und zwölf andere auf sechs Wagen sich befanden, um nach Mainz escortirt zu werden. Nachdem zu Brotterode schon am Christheiligabend (24. Decbr.) Volksaufläufe und heimliche Besprechungen statt gefunden, rottete sich am ersten Weihnachtsabend eine beträchtliche Anzahl Männer, größtentheils gewesene althessische Soldaten, unter Anführung des Kaufmannssohnes Andreas Ritter, eines wilden Raufboldes, zusammen; doch die Seele des Aufstandes war ein Schnallenschmied von der Classe der Sporer, Caspar Scheidler, später Ortsschultheiß, ein kühner, aber besonnener Mann. So zog der Insurgentenhaufen aus, über die Dörfer Kleinschmalkalden, Seligenthal, nach dem Dorfe Floh, überall Verstärkungen, sowohl von entlassenen Soldaten als Landleuten, an sich ziehend. Sogar Beamte, z. B. der Brotteröder Förster Leo, wie es scheint einer der Anstifter, befanden sich im Zug, Außer Andreas Ritter waren zwei Anführer der frühere Gardist Moritz Peter aus Floh und Gottlieb Ulrich aus Seligenthal, Vogellips genannt. So suchte sich das Volk auf eigene Faust zu helfen, da es vergebens auf den Beistand der hessischen Prinzen zu ihrem eigenen Vortheil gerechnet hatte, denn schon vor Ausbruch des Aufstandes ging der Förster Leo damit um, die entlassenen hessischen unzufriedenen Soldaten zu sammeln, begab sich aber erst nach Philippsthal, um sich bei den dort residirenden Prinzen Verhaltungsbefehle zu holen; allein diese hatten ihn eines Anderen belehrt.

In der Dunkelheit des Morgens vom zweiten Weihnachtstag kamen die Insurgenten vor der Stadt Schmalkalden an, erzwangen die Eröffnung des Weidebrunner Thores und zogen sogleich vor die Hauptwache. Nachdem hier ein Theil der französischen Soldaten (Italiener) verwundet und zwei gefangen genommen worden, auch die Hauptwache erstürmt war, suchten die übrigen das Weite. Hierauf bewaffnete sich die Schaar mit den von den Einwohnern abgelieferten Büchsen und sonstigen Waffen, die sich theils auf dem Rathhause, dem Oberamte und der Renterei befanden, um vor allen Dingen die franzosenfreundlichen Beamten zu züchtigen. Als solche galten besondes der Obereinnehmer Koch und der frühere Amtsschultheiß, jetzt Cantonsmaire Becker. Beiden wurden die Häuser demolirt, wobei Letzterem noch einmal auf eine handgreifliche Art von dem Schnallenschmied Caspar Schmauch der verfluchte Fahnenraub in’s Gedächtniß zurückgerufen wurde. „Damiet Dau weißt vun wäm Dau se kregt hahst die Mullschälle, ihch heiß Kopp[1] Schmuhch uhn bihn aus Brottero, Dau Kirmesdieb, Dau!“ Becker machte sich aber so schnell wie möglich aus dem Staube, da noch Mehrere Schmauch’s Beispiel nachzuahmen suchten. Die erbeuteten Kanonen wurden im Triumph nach Kleinschmalkalden, einem halb gothaischen und halb hessischen Ort, zunächst an Brotterode auf der Straße nach Stadtschmalkalden gelegen, gebracht und hier sogar ein Stück auf einen steilen Berg gefahren, um damit die Gegend beherrschen zu können, die andern vor dem Wirthshause auf hessischer Seite aufgefahren und von Posten in althessischen Uniformen bewacht. – Am dritten Weihnachtstag erscholl das Gerücht, die Franzosen kämen die Laudenbach (Ludemich in der Volkssprache), das Thal südwestlich unterhalb Brotterode, herauf, um an dem Ort Rache zu nehmen. Da wurde schnell die Sturmglocke gezogen und Alt und Jung, Männer und Weiber, gutwillig oder gezwungen, zogen das Thal hinab, mit allerhand improvisirten Waffen, Dreschflegeln, Aexten, Hacken, vor Allem mit den erbeuteten Gewehren, bis zum Drusenthale bei dem Dorfe Herges, einem wildromantischen Grunde, abwechselnd von hohen Felsen zu beiden Seiten gebildet. Auf diese kletterte man und faßte Posto, um durch Herabschleudern von Felsstücken den heranrückenden Feind zu vernichten. Doch dieser blieb aus; das Gerücht schien unbegründet, und Abends kehrte die kriegerische Schaar heim nach Brotterode.

Dem Gerichtsamtmann Reichard daselbst, einem sehr wackern und geachteten Mann, schien der tollkühne Aufstand gegen die französische Regierung denn doch zu gewagt, und auf seinen Rath wurden die Kanonen wieder nach Schmalkalden gebracht, von wo sie nach Meiningen geführt werden sollten, was aber erst am 1. Januar 1807 gelang, da man sich auf dem Wege nach Herrenbreitungen an der Werra derselben noch einmal bemächtigt hatte.

Bald aber kam die Kehrseite.

Am 6. Januar verlangte der französische General die Auslieferung der Rebellenführer bis zum 10. des Monats nach Hersfeld und Wiederablieferung der Waffen. Beiden Forderungen konnte die Behörde zu Schmalkalden nicht sogleich genügen, auch der Versuch einer Deputation von drei Schmalkaldern, die erst nach Cassel und dann nach Braunschweig zu dem Generalgouverneur Lagrange ging, um das Unheil abzuwenden, mißlang, denn es rückten Anfangs Februar einige Tausend Mann, zwei Regimenter Piemontesen, in der Herrschaft Schmalkalden ein, und eines schönen Morgens 3 Uhr war Brotterode von einem Bataillon Infanterie nebst Artillerie umzingelt. Nur den eifrigen Bemühungen des braven Amtmann Reichard gelang es, daß dem Orte, der leicht mit Feuer und Schwert hätte vernichtet werden können, eine schonendere Behandlung zu Theil wurde. Vier der Rädelsführer aber wurden mit weggeführt, Andreas Ritter, Caspar Schmauch, Caspar Kürschner und Caspar Scheidler. Schon am folgenden Tage wurde der Letztere mit einem gleichfalls weggeführten Färbergesellen zu Schmalkalden entlassen; ebenso nach einiger Zeit Caspar Kürschner. Ritter und Schmauch wurden nach Mainz, dann nach Metz und endlich nach Besannen geführt, ersterer auch zum Tode verurtheilt, aber noch begnadigt. Der schlaue Vogellips (Gottlieb Ulrich) aus Seligenthal rettete sich vor der Gefangennahme, als die damit beauftragten Italiener seine Wohnung umstellten und durchsuchten, dadurch, daß er rasch die Kleider seiner Schwester anzog, sich ganz unbefangen auf den Melkschemel unter die Kuh setzte und so lang melkte, bis er den günstigen Zeitpunkt ersah, über mehrere Dächer zu entkommen.

So endigte der tollkühne Aufstand der Brotteröder um Weihnachten des Jahres 1806. Auch die Dornbergische Insurrection 1809 hatte hier ihre Anhänger und besonders an einigen Kaufleuten Unterstützung gefunden, jedoch der verfrühte Ausbruch derselben in Ober- und Niederhessen hielt hier die weitere Bewegung gänzlich nieder. Das schlichte Bergvölkchen der Brotteröder aber hat gezeigt, zu welchem kühnen Muthe echte Vaterlandsliebe begeistern kann.




Post hoc, – ergo propter hoc;
weil’s darauf kommt, – darum’s auch daraus kommt oder: weil darnach, – also auch darum.
(Fortsetzung.)

Die Heilkunst (d. i. das Gewerbe zum Curiren von Kranken, und ja nicht etwa mit der Heilkunde, d. i. die medicinische Wissenschaft, zu verwechseln) – sie würde sicherlich zur Zeit einen weit höhern Standpunkt einnehmen, wenn nicht die meisten Heilkünstler, verführt durch das Post hoc, ergo propter hoc, in ihrer Eitelkeit und in dem Glauben an ihre Heilmacht, Alles was sich während ihrer Behandlung einer Krankheit im Kranken Gutes zuträgt, den von ihnen verordneten Arzneien und Behandlungsweisen zuschrieben, dagegen alles Schlimme der Natur in die Schuhe schöben, obschon es sich in den allermeisten Fällen gerade umgekehrt verhält.

Und warum thun sie dies? Sie kennen die Naturheilungsprocesse (s. Gartenlaube 1855, Nr. 25) nicht, von welchen in fast allen Krankheiten die Aenderungen in den Erscheinungen abhängig sind, und wollen sie auch gar nicht kennen lernen. Weil sie niemals eine Krankheit sich selbst überlassen, ohne Arzneien und nur diätisch behandelt [540] verlaufen sahen, so wissen sie gar nicht, was die Natur in Krankheiten wirklich zu beschaffen im Stande ist. Der ihnen von Haus aus eingeimpfte Glaube an die Wirksamkeit der unzähligen Arzneimittel, die noch aus dem grauen dummen Alterthume (wo die Menschen noch gar nicht richtig beobachten konnten) stammen, die im ärztlichen Examen nach allen ihren Eigenschaften genau gekannt und in den Apotheken stets in bester Qualität vorräthig sein müssen (obschon nur äußerst wenige von ihnen wirklich gebraucht werden), dieser Glaube, sowie die sichere Ueberzeugung von der Wahrheit dessen, was man ärztliche Erfahrung nennt (die aber zum größten Theile auch von alten Aerzten mit vorgefaßter Meinung herrührt und eine Folge vom Post hoc, ergo propter hoc ist), läßt es ihnen geradezu als Verbrechen erscheinen, jene Wirksamkeit und diese Erfahrungen anzuzweifeln. Wer dies thut, über den zucken sie mitleidig die Achseln und schelten ihn einen Krakeler, der die medicinische Wissenschaft und ihre Heroen herabsetzen will. Die Kurzsichtigen! Sie bekommen auf ihrer Arzneijagd und bei ihrem starren Festhalten an dem Post hoc, ergo propter hoc gar keinen Begriff von dem, was eigentlich die Medicin leisten könnte und leisten sollte. Sie trachten nur nach der Entdeckung ganz bestimmter Mittel gegen gewisse Krankheitszustände, während die Wissenschaft Krankheiten zu verhüten oder in ihrem naturgemäßem Verlaufe, vorzugsweise durch diätetische Hülfsmittel, zu unterstützen sucht.

Freilich bringt es einem Arzte weit mehr Ruhm und Gold ein, wenn er sich mit wichtiger Miene in die Brust wirft, und dabei merken läßt: weil nach diesem, von mir mit Scharfsinn gewählten Mittel (post hoc) die Besserung und Heilung eintrat, darum (ergo propter hoc) bin ich und mein Mittel schuld an der Heilung, – als wenn er in seiner Bescheidenheit die Heilung dem Naturheilungsprocesse zuschreibt. Auffällig ist es, wie der aus dem Post hoc, ergo propter hoc hervorgegangene Aberglaube der Aerzte an ihre Heilmacht diese Herren nicht selten so demoralisirt, daß sie in ihrer Arroganz alle Rücksichten der Humanität gegen die Kranken vergessen, zumal wenn diese nicht gut zahlen. Man glaube mir, daß hinter solchen gesuchten Heilkünstlern, die ihre Patienten stunden- und tagelang antichambriren lassen, dann bagatellmäßig behandeln und schließlich (ohne gründliche Untersuchung) mit einem Recepte kurz abfertigen, nichts Tüchtiges steckt; weder im Kopfe noch im Herzen steckt da Was.

Wenn die Homöopathen wissenschaftlich gebildete und wahrheitsliebende Menschen wären (ich sage nicht Männer, weil unter ihnen auch eine Menge curirender alter Weiber sich befinden), sie könnten, da ihre sogen. Heilmittel doch = 0 (Nichts) sind, den andern Heilkünstlern insofern außerordentlich nützen, als sie dieselben mit dem naturgemäßen, nicht durch Arzneien gestörten Verlaufe der Krankheiten bekannt machen könnten. So nehmen sie aber – gerade wie die mittelsüchtigsten Allopathen und Quacksalber – jede vom Naturheilungsprocesse veranlaßte Umänderung eines Uebels zum Guten für ihre (Nichts-) Mittel in Anspruch, während sie natürlich jede Verschlimmerung von sich ab- und auf den Krankheitsproceß wälzen.

In der Homöopathie zeigt sich’s ferner recht deutlich, zu welchem lächerlichen Aberglauben das Post hoc, ergo propter hoc unwissenschaftliche Menschen führen kann. Denn wenn die Homöopathen bei Prüfung ihrer Arzneimittel (in großen Gaben) Alles, auch das komischste Zeug, was nach Einnehmen einer Arznei (post hoc) am und im Körper und Geiste des Probesubjects, und zwar nur ein oder einige Male, bemerkt wurde, als Wirkung jenes Mittels (ergo propter hoc) annehmen, so ist das wahrlich nicht anders, als wenn Jemand einer alten Frau mit rothen Augen (einer Hexe) das Fallen des Viehs zuschreibt, oder einem Freitage eine unglückliche Reise u. s. f. Weil Einer z. B. Camille einnahm, und es zeigte sich dann bei ihm (nach Hahnemann) freudenlose Stumpfsinnigkeit mit Schläfrigkeit, heftiger Appetit auf rohes Sauerkraut, zänkisch-ärgerlicher Traum, Knacken und Knarren in der linken Hirnhälfte, Nichtaufhören über alte ärgerliche Sachen zu reden, öfteres Versprechen und Gewissensscrupel über Alles, darum ist die Camille Schuld daran. Weil Jemand Helleborus einnahm, darum kleidet er sich unschicklich, wird beim Anblick eines Unglücklichen wehmüthig und hat Heimweh. Ipecacuanha macht mürrisches Wesen, was Alles verachtet und will, daß auch Andere nichts achten und schätzen sollen, Aufgelegtsein zum Bösewerden, Unbehülflichkeit und Ungeschicklichkeit, sodaß man an Alles stößt.

Wie schwer es ist, Menschen von einem Aberglauben, und wäre er auch noch so unvernünftig, frei zu machen und zu einer vernünftigen Ansicht von Ursache und Wirkung zu bringen, sieht man ebenfalls bei der Homöopathie recht deutlich. Es wäre so leicht, daß sich jeder Anhänger dieser Heilmethode von der Haltlosigkeit und Unwahrheit derselben überzeugte, indem er das Experiment, auf welches die Homöopathie gegründet ist, nachmachte, allein dazu und zum Vernünftigwerden ist die abergläubische Menschheit nicht zu bringen, Chinarinde, welche das kalte Fieber curirt, soll nämlich einen dem Wechselfieberanfall ähnlichen Zustand erzeugen, und deshalb stellte Hahnemann den Grundsatz auf: „Aehnliches heilt Aehnliches.“ Nun erzeugt aber China einen solchen Zustand nun und nimmermehr, wie eine große Menge von Versuchen dargethan haben und wie auch Jeder, der über die Homöopathie in’s Klare kommen will, an sich selbst erproben kann; und doch glauben noch eine Menge Menschen an jene Lüge. Oder fürchtet man für seinen Leib und hält die China für ein zu eingreifendes Mittel, nun so stelle man doch mit den indifferentesten, aber in der Homöopathie als ausgezeichnete Heilmittel gerühmten Dingen, wie mit Holzkohle, Graphit, Gold, Bärlapp u. dergl. Proben an sich an und man wird finden, daß von der angegebenen Wirkung dieser Dinge keine Spur zu entdecken ist. Oder man prüfe an Thieren; man fabricire doch einmal einem gesunden Pferde folgende krankheitsähnliche Zustände: durch Schwefel die Purzelseuche oder Piephacke, durch Bärlapp die Brustwassersucht und Gallen, durch Sepia den Samenkoller oder eine Hufspalte. – Also! Wer hören und verstehen kann, der höre: daß das Aehnlichkeitsgesetz, auf welches die homöopathische Heilkünstelei gegründet ist, ganz und gar auf Unwahrheit beruht, und daß Alles, was in einer Krankheit Gutes oder Schlimmes passirt, niemals Wirkung der dargereichten homöopathischen Arzneien ist (denn das sind Nichtse), sondern stets nur Erscheinungen der im kranken Körper naturgemäß vor sich gehenden Processe. Allerdings lassen manche der Herren Homöopathen beim Selbstdarreichen ihrer Medicamente (was, obschon es bei uns zu Lande streng verboten ist, doch von den meisten Homöopathen geschieht) eine stärkere Gabe eines allopathischen Mittels (wie Opium, Quecksilber, China) als homöopathisches mit unterlaufen, und dann freilich kann man dem Laien, der eine solche medicinische Taschenspielerei nicht vermuthet, sein Erstaunen über die enorme Wirksamkeit der homöopathischen Gaben und Mittel verzeihen. Wie diese Mittel, wenn sie von reellen Homöopathen gegeben oder aus der Apotheke geholt werden, durch sich auch gar Nichts wirken können, zeigen die Fälle, wo es gilt, eine baldige und augenscheinliche Wirkung hervorzubringen, wie Brechen, Durchfall, Schlaf, Schmerzlosigkeit etc.

Wie die Homöopathen nach ihren Nichtsen (post hoc), so sehen auch die meisten allopathischen Heilkünstler nach ihren Arzneien jede Verbesserung in einer Krankheit als Wirkung dieser Arzneien (ergo propter hoc) an. Daß bei Behandlung ein und derselben Krankheit die verschiedenartigsten Mittel und Heilmethoden, sowie daß dabei Nichts und der lächerlichste Hokuspokus zu ganz demselben Ziele führt; daß ferner in ihren Arzneimittellehren ein und dasselbe Mittel gegen eine große Menge der verschiedenartigsten Krankheiten empfohlen wird; daß dasselbe Arzneimittel von einem Theile der Aerzte wegen seiner ausgezeichneten Wirksamkeit zum Himmel erhoben, von einem andern dagegen als unwirksam in den Winkel gestellt wird; daß, wo mehrere Aerzte über einen Krankheitsfall berathen, jeder derselben ein anderes Lieblingsmittel oder Bad zu empfehlen hat und durchzusetzen sich bestrebt, – das Alles macht den guten Praktikus nicht stutzig, der denkt (oder denkt vielmehr gar nicht) und sagt: „es wird doch so fort curirt,“ und die abergläubische Menschheit, die nur immer Arznei schlucken will, hilft ihm treulich dabei. Wenn nur wenigstens den ärmeren Leuten von mittelsüchtigen Heilkünstlern bei unheilbaren oder leichten Krankheitsfällen nicht das Geld, was besser zum täglichen Brode verwendet werden könnte, für ganz unnütze Arzneien entzogen würde, der kranke Reiche mag meinetwegen, wenn er ohne Arznei nicht zu gesunden aberglaubt, seine Groschens in die Apotheke tragen.

So lange die Laien ebenso wie die Heilkünstler, verrannt in das Post hoc, ergo propter hoc, in dem falschen Wahne leben, als ob es der Heilkunst möglich wäre, durch Arzneistoffe Gesundheit und Kraft wieder geben, sowie die Folgen vernachlässigter Erziehung, Verweichlichung und Unmäßigkeit durch gelehrte Recepte wegzaubern zu können, so lange wird die Menschheit sich auch nicht zu einem vernünftigen und naturgemäßen Leben entschließen. Erst dann kann das Wirken des wissenschaftlich gebildeten Arztes wirklich ein segensreiches [541] werden, sobald das Publicum den Glauben an medicinische Wunder vollständig aufgegeben hat und zu der Ueberzeugung gekommen ist, daß auch im menschlichen Körper Alles nach unabänderlichen Gesetzen vor sich geht, welche nie und unter keinen Umständen umgestoßen werden können. Zur Zeit, wo immer noch Charlatanerie und Betrug in allen Gestalten auf den Geldbeutel der kranken Menschheit Jagd und alle Auswüchse der Heilkunst Propaganda unter dem Laienpublicum machen, da muß durchaus im Interesse des allgemeinen Besten die Medicin vom delphischen Orakel herabsteigen, sich in die Karten sehen und gefallen lassen, daß man ihre Blöße aufdeckt. Die Zeit ist hin, wo irgend eine Wissenschaft das ausschließliche Eigenthum einer gewissen Kaste bleiben kann, und es muß endlich die Zeit einmal kommen, wo man nicht mehr glaubt, sondern weiß.

Schließlich mag zur Unterstützung des Gesagten noch einiger Aussprüche von bekannten Männern der Wissenschaft gedacht werden. Wunderlich (mit dem Ausspruche: wo die Receptensucht aufhört, fängt die Therapie an) sagt: „Es gibt keine Krankheitsform, die nicht ohne sogenannte Medicamente geheilt werden kann, und bei welcher dieselben durch tausend andere Hülfsmittel, welche dem rationellen Arzte zu Gebote stehen, ersetzt werden könnten, und in der Mehrzahl der Fälle ist die Verordnung von Medicamenten geradezu Nebensache, in einer nicht kleinen Zahl entschieden nutzlos und bloße Concession, welche bei dem Aberglauben des Patienten und zur Befestigung seines Vertrauens oft unerläßlich ist.“ – Oesterlen (mit dem Ausspruche: an die Stelle des Heilkünstlers von altem Schlag muß mehr und mehr der Prophylaktiker treten) schreibt: „So lange wir in Arzneistoffen oder Heilmitteln, die bei einem Kranken in Anwendung gekommen, die wesentliche, fast zureichende Ursache seiner Heilung gesehen, ließ sich nicht leicht erklären, warum diese Heilung so häufig ausgeblieben, trotz der Anwendung jener Mittel, oder warum Heilung oft genug zu Stande kam, obgleich keine solche Mittel angewendet wurden, und warum dieselbe Krankheit beim Gebrauch der verschiedenartigsten Mittel gleich schnell und gleich sicher heilen konnte. Dies Alles würden wir aber leicht begreiflich finden, sobald wir uns einmal davon überzeugt hätten, daß die sogenannte spontane Heilungstendenz unter Mitwirkung günstiger Lebensverhältnisse bei den meisten Kranken die eigentliche und nächste Bedingung ihres Genesens ist.“ – Günsburg bezeichnet die Aufgabe der Medicin so: „Die Medicin ist bestimmt, für die Grundübel der menschlichen Gesellschaft Hülfe zu suchen; die Reform des Sanitätswesens ist ihr höchster Beruf. Die physiologische geregelte Erziehung der Jugend ist das größte Präservativ künftiger Generationen; die Regelung der Arbeit, die Hinwegräumung der angewöhnten, aber entfernbaren, krankmachenden Einflüsse in den verschiedenen Zweigen der Beschäftigung, die Läuterung der herrschenden Begriffe über die Würdigkeit und Bedeutung des menschlichen Individuums, sowie über die Verpflichtung der menschlichen Gattung für die Erhaltung und Wiederherstellung des Einzellebens werden von der wissenschaftlichen Medicin dem Gesammtstaate auferlegt. Ihr letzter Zweck ist es, die Gesetze der öffentlichen Gesundheit, die Lebensdiätetik der Staatsbürger durch Untersuchung der krankhaften Producte der jedesmal vorhandenen geselligen Verhältnisse aufzufinden und mit der Allmacht der Wahrheit zum Eigenthum der Gesammtheit zu machen.“ – Richter (mit dem Ausspruche: die Heilkunde verjüngt sich heutzutage durch Naturwissenschaft und Volksvernunft, um dereinst eine neue, höhere Stellung zu dem gesammten Staatsleben einzunehmen) spricht sich ebenfalls dahin aus, daß es die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Heilkunde ist, sowie überhaupt eines Jeden, dem das Wohl seiner Mitbürger am Herzen liegt, die öffentliche Gesundheitspflege auf dem Wege der Gesetzgebung und Verwaltung, sowie hauptsächlich auch durch naturwissenschaftliche Bildung des Volks und Vertreibung jedweden Aberglaubens, in ausgedehntestem Maße zu fördern.

Da nun das Post hoc, ergo propter hoc in der Welt, ganz besonders aber in der Heilkunst, so schlimmen und unverständigen Aberglauben veranlaßt hat und täglich noch veranlaßt, so sei man nicht so voreilig mit der Erklärung eines Ereignisses durch das erste beste Vorangegangene, sondern mache sich mit den Naturgesetzen bekannt, um zu wissen und nicht zu aberglauben.

Bock.




Die Prairien.
Erlebnisse eines deutschen Flüchtlings von C. B.
(Fortsetzung.)


Gewiß verdiente Conanha Häuptling zu sein. Er war ein geistig reger Mensch, der seine Umgebungen übersah. Schweigend saßen wir und aßen, Jeder seinen Gedanken überlassen, als Dick die Annäherung eines Reitertrupps meldete.

„Was soll’s nun werden, Conanha?“ fragte Dick.

„Es sind meine Krieger. Sie wissen das Feuer der Prarie unschädlich zu machen. Ich sagte es!“

„Ist Dir zu trauen?“

„Conanha vertraut dem Zerbrecher und dem Neuntödter.“ Das waren die Namen Dick’s und Ben’s. Neun Indianer hatte Ben erschossen, weil sie seinen Freund scalpirt hatten. „Ist ihnen Conanha zu jung? Er führt die Krieger für seinen Vater, das Adlerauge, der bei den Berathungsfeuern sitzen geblieben, weil ihn das Fieber ergriffen hat.“

„Ich traue Dir, Conanha,“ sagte Harry, „und bist Du treu, so will ich Dir Deinen Vater heilen.“

„Daß mein Freund ein großer Häuptling war, wußte ich, denn keine Pferde, wie Deine, selbst die Conanha’s nicht ausgenommen, schreiten über die Prairie; nur einem hohen Häuptling konnten die besten Jäger und die gefürchtetsten Krieger, die von Niemand besiegt wurden und denen die Prairie gehört, in die Prairie folgen; aber daß Du ein Medicin-Mann seist, wußte ich nicht!“ erwiderte einfach Conanha.

„Wir lernen Alles,“ entgegnete Harry. „Mein junger Freund kommt von jenseits des großen Wassers, er kann Dir aber sagen, was in unsern Gebirgen ist, er kennt, was in der Erde schläft.“ Auch ich sollte in der Meinung des ComancheKursiver Text Geltung bekommen. „Er kennt die Sprache der Völker, die nicht mehr sind, und kann Dir sagen, daß ich Deinen Vater heilen werde, sieben Tage nach Deiner Heimkehr, wenn Du treu und wahr bist. Wir fürchten Dich nicht, aber Du weißt, wir fürchten uns unnütz Blut zu vergießen.“

„Conanha ist treu und wahr! Seine Seele ist ohne Falsch!“ rief der Wilde. „Laß meine Krieger kommen!“

„Wenn Adlerauge sein Vater ist, gilt Conanha’s Wort,“ sagte Ben. „Adlerauge war der beste unter den Dieben,“ fügte Dick leise hinzu, „sonst traute ich auch diesem nicht.“

So wurde der Vertrag abgeschlossen, und uns selbst rührte die Freude, mit welcher die Krieger ihren Häuptling begrüßten. Mit wenigen Worten hatte er ihnen seine Schicksale mitgetheilt, und wir erkannten, daß wir nicht wenig galten, als er uns ihnen in seiner Weise geschildert hatte.

Dick und Ben hatten viel heimliche Zwiesprache. Dick war mit einem Pferde eines der Krieger beritten gemacht, denn ich hatte mich entschieden geweigert, von Conanha das Pferd jetzt anzunehmen, so lange er krank war, und der schlaue Wilde war um so erfreuter darüber, da er doch wohl die Einzelheiten des Kampfes seinen Kriegern verschwiegen haben mochte; und ich war froh, meinen Fuchs tummeln zu können.

Wir ritten scharf aus, ich mit den Hunden voraus, dann folgten Dick und Ben, Harry und Conanha sprachen viel mit einander, und die Krieger bildeten den Schluß. Bald stieß ein neuer Haufen zu uns, ein anderer gegen Abend, sodaß über 100 Krieger hinter uns waren. Blieb aber Conanha treu, so war keine Gefahr zu fürchten, denn wir erkannten bald, in welchem unbegrenzten Ansehen er stand.

Die Sonne neigte sich dem Untergange zu, als sich vor uns ein Thal von unbeschreiblicher Lieblichkeit öffnete.

Unser Weg hatte sich zwischen dem Nord- und Süd-Canadian (Colorado) hingezogen. Die kleinen Flüsse, welche wir bis dahin überschritten hatten, waren Zuflüsse des Nord-Canadian gewesen, und ihre Thäler hatten sich nach N. O. geöffnet. Dies Thal öffnete sich nach S. O. und war gegen den Nord-Wind durch die Höhen vor ihm geschützt. Sein Wasser ergoß sich in den Colorado [542] oder Süd-Canadian. Bedenkt man, daß wir uns unter dem 36. Breitengrade und ungefähr 77 Längengrade befanden, unter demselben Breitengrade, unter welchem Candia liegt; bedenkt man, daß dieses Thal, durch seine Lage gegen die kalten Nordwinde und die von den Felsengebirgen herabstürmenden Westwinde geschützt, nur dem warmen Süd und Südost zugänglich war, so wird man von seiner paradiesischen Schöne nicht überrascht sein.

An der stolzen Sykamore kletterten die Schlingpflanzen hinauf, der Bocksbart mit seinen wunderlichen Formen hing von ihnen hernieder, und Hunderte von Orchideen mit ihren seltsamen Blüthenbüscheln hatten sich auf den Bäumen angesiedelt. Zwischen den Blättern schlüpften Vögel von den schönsten Farben, und am Abend hörte ich zum ersten Male den Whippoorwill sein Lied anstimmen. Die von der Sonne gerötheten Ränder des Thales spiegelten sich mit Blume und Baum in einem kleinen See, aus dem der Bach als kleiner Wasserfall herniederrauschte. Zum ersten Mal grüßte mich der Süden mit all seiner Schöne. Der Duft der Blumen berauschte mich fast, und die Pracht der Magnolien, in die ich hineinreiten mußte, übertraf alle meine Erwartungen.

Plötzlich schlugen meine Hunde an. Ich ritt zu ihnen hin und sah mit Entsetzen auf einer kleinen Blöße einen todten Weißen liegen. Die Aasgeier, welche sich nur bis in die nächsten Büsche über ihm erhoben hatten, waren schon bei ihm beschäftigt gewesen und hatten ihm die Augen ausgehackt. Es war ein entsetzlicher Anblick. Mein Ruf brachte Dick und Ben zu mir, Harry und Conanha folgten. Der Letztere mußte unsere Gedanken errathen haben. Ein Ruf von ihm brachte einen von den im Thal Zurückgebliebenen an seine Seite. In unserer Gegenwart berichtete dieser, es sei einer der Gefangenen. Er habe nicht allein entfliehen wollen, sondern vorher gestohlen und diese gestohlenen Sachen in einer Höhle versteckt, die mit Fellen und andern Sachen angefüllt gewesen wäre. Vergebens habe man ihn nach seiner Flucht gesucht, endlich die Höhle entdeckt, und bei seiner Flucht aus dieser habe ein Wurf mit dem Lasso seinem Leben ein Ende gemacht. Man habe den Dieb liegen lassen.

Die Wahrheit dieser Erzählung konnten wir nicht bezweifeln, aber ebenso wenig ein unheimliches Gefühl bemeistern. Dick unterbrach unser Schweigen.

„Es ist ein Christenmensch, wenn auch ein Dieb,“ sagte er, indem er vom Pferde sprang. Er sollte den schönsten Lohn dafür haben.

Ich folgte ihm, und auch Ben und Harry. Als die Indianer sahen, daß wir anfingen, mit unsern Messern die Erde aufzuwühlen, erkannten sie unsere Absicht und ritten schweigend voraus.

Wir hatten halb ein Grab gegraben, und ich ging mit auf die Leiche zu, nur sie hineinzulegen. Wie von einer Schlange gestochen, fuhr ich zurück. Mein Erschrecken, mein todtblasses Gesicht ließ meine Gefährten mich mit Fragen bestürmen, aber ich war sprachlos. Endlich fasste ich mich etwas. Aber ich mußte Gewißheit haben. Ich kniete zur Leiche hin, schlug den Rock zurück - auf der entblößten Brust der Leiche, breit, wie meine liebe Mutter ihn mit eigener Hand in meine Hemden gestickt hatte, lag mein Namenszug; Rock und Weste war mein Eigenthum, vielleicht die Beinkleider und Stiefeln auch – ja sogar den Hut erkannte ich als den meinigen, als wir ihn einige Schritte von der Leiche entdeckten. Ich dachte nicht an meine Freunde, die mein Benehmen nicht zu erklären wußten, ergriff mein Messer und trennte die Weste mit einem Schnitt auf.

„Hier ist er, Dick, hier ist er!“ rief ich. „Ob Dieb oder nicht, er hat den Brief tragen müssen, der Bote sein müssen, bis ich Dich gefunden!“

Ich stand auf. Dick war auf die Kniee gesunken. Die Thränen strömten ihm aus den Augen. Endlich faßte auch er sich. Er hatte die Aufschrift an den Verstorbenen – das wollte der Dietrich Friedemann sein – er hatte die Hand der Todtgeglaubten erkannt.

„Nein, hier nicht!“ sagte er, indem er aufstand und den Brief zu sich steckte. Wir hatten die Leiche bald in die Grube gelegt, sie mit Erde beworfen und einen Steinhaufen aufgehäuft; dann sprachen wir ein stilles Gebet und bestiegen unsere Rosse. Wir hatten nicht bemerkt, daß Conanha in unserer Nähe geblieben war. Mit wenigen Worten ward auch er davon in Kenntniß gesetzt, daß ich gleich bei meiner Ankunft um meine Habe gekommen und Überreste davon an der Leiche erkannt hätte. Schwerer hielt es, ihm zu erklären, daß meine Tante, in dem festen Glauben, ich würde ihren alten Freund in Amerika finden, mir einen Brief in die von ihr gestickte Weste genäht mit der Bitte, sie stets zu tragen. Ich hatte diese Bitte unbeachtet gelassen, wenn auch nur einen Tag, und die Weste war verloren; als die Hoffnung der Tante sich bewahrheitete, war die Erfüllung ihres Wunsches mir unmöglich geworden.

War der Todte der Mensch, um dessen willen ich hatte in das Hospital wandern und Monate lang leiden müssen, aber doch nur vielleicht etwas früher, denn wenigen Auswanderern, unerfahren und gemüthskrank wie ich, wird die Leidenszeit erspart – war er es: ich hatte ihm vergeben, längst vergeben! Hatte ich doch Harry kennen gelernt, Dick gefunden und war gesundet an Leib und Seele. Und sollte ich jetzt auch wieder allein und mittellos auf amerikanischem Boden stehen, ich fühlte mich stark genug, mich durchzuringen. Der Abend war hereingebrochen, Dick ritt nicht von meiner Seite.

„Mein Junge, Du mußt deutsch zu mir sprechen!“ sagte er. „Ich habe immer die Deutschen gemieden und habe meine liebe Muttersprache verlernt. Ich hatte sie zu lieb! Aber sieh, die Deutschen hier im Lande verderben sie. So mochte ich sie nicht sprechen hören. Sie hätten bayersch oder schwäbisch sprechen mögen, aber sie müssen jedes neugelernte Wort anbringen, sie möchten um alles in der Welt rasch ihre Sprache verlernen und englisch reden. Und nun –“ jetzt kam er zur Hauptsache, das erkannte ich an dem Ansatze, den er nahm. „Und nun, mein Junge, morgen in der Frühe, da gehen wir auf den Berg, und wenn die Sonne aufgeht, dann liest Du mir den Brief vor. Du mußt aber schon mich hinein sehen lassen, und darauf achten, wenn einem alten Mann das Wasser in die Augen tritt. Ich dachte, ich hätte das Weinen verlernt!“

Von diesem Augenblicke an redete ich nur deutsch zu Dick, dem alten Demagogen, und spaßhaft war es, wie die Indianer, namentlich Conanha, diesen ihnen neuen Lauten zuhorchten. Harry sprach sehr gut deutsch, und unser beiderseitiges Ansehen wuchs, um so mehr, da Harry in das Idiom der Comanches eingeweiht war, und auch mir es nicht schwer wurde, einige Redensarten anzuwenden.

Wir kamen bald im Thale an. Die Indianer hatten schon ihre Pferde angebunden und sich um die verschiedenen Feuer gelagert. Ich schätzte sie auf mindestens 500. Dick meinte, ich hätte sie nicht überschätzt, und glaubte, daß der ganze Kriegerhaufen beisammen sei. Im Schatten der Bäume bemerkten wir eine aus Büffelhäuten und Zweigen improvisierte Hütte, von der aber ziemlich entfernt Conanha uns unsern Lagerplatz anwies. Ich schlief bald ein. Wie im Traume kam es mir vor, als hörte ich singen, eine liebliche Mädchenstimme. Am Morgen weckte mich Dick. Ich erzählte ihm meinen Traum, und er sagte ernst, daß ich nicht geträumt habe.

Ich übergehe die Stunden, welche ich mit Dick auf der Höhe zubrachte.

Dick hatte von jetzt an viel zu fragen. Ihn interessirten die politischen Verhältnisse Deutschlands und auch meine persönlichen wieder; der Halbwilde nahm Cultur an. Als ich ihm erzählte, daß viele seiner damaligem Gefährten Schergendienste an uns geleistet – da söhnte er sich mit seinem Leben in der Wildniß aus.

„Junge, Du gehst nicht wieder nach Deutschland!“ rief er, und von da an machte er keine Versuche, selbst deutsch zu sprechen, obgleich er mich gern in den heimathlichen Lauten reden hörte. „Jeder will dort seine Freiheit, die Anderer muß in den Kerker!“

„So ist es!“ setzte ich hinzu.

Wir fanden Harry im ernsten Gespräch mit Conanha. Harry hatte auch den Gesang gehört und war entschlossen, die Sängerin kennen zu lernen. Nur seiner Zähigkeit und Schlauheit gelang es, den listigen und argwöhnischen Häuptling zu einem Geständnisse zu bringen. Endlich erfuhr er, indem Dick und Ben durch ihre Nachforschungen ihn unterstützten, daß die Comanchen eine ganze Karawane, wahrscheinlich durch Verrath des Gemordeten, den wir bestattet, aufgehoben hatten. Der Zug war ein so außerordentlich reicher gewesen, daß sie die Jagd aufgegeben hatten, und nur an seine Sicherung dachten. Daher kamen die starken Recognoscirungen. Wir hörten die Maulthiere im Gebüsch und sahen unter denselben das Gepäck liegen.

Schon als wir am ersten Morgen den Abhang bestiegen, waren uns Wachen entgegengetreten, durch Dick zwar in gehöriger Entfernung gehalten, uns aber doch gefolgt. Weil meine Gefährten die Sitten der indianischen Krieger, ihr Mißtrauen zu gut kannten, so vermieden wir alles Auffällige, dennoch begegnete es Ben und Dick bei ihren Recognoscirungen, daß sie von Wachen zurückgewiesen [543] wurden. Wir sahen, daß Conanha schon seine Geständnisse bereute und unsere Kenntniß fürchtete. Er glaubte uns vielleicht auch in seiner Hand, umgeben von seinen Hunderten, bestimmt durch den Beirath der andern Häuptlinge.

„Wir müssen die Sache zu Ende bringen!“ sagte Harry. „Nach meiner Meinung sind dort in der Hütte christliche Frauen, die der Heide in seinen Wigwam schleppen will, wir werden das nicht dulden!“

Unsere Lage konnten wir leicht übersehen, im Kampfe mindestens Einer gegen Hundert. Ich war der Unerfahrenste; man denke nur daran, daß wenig mehr als eine Woche verstrichen war, seitdem ich sicher zu Pferde sitzen konnte. Ich sage aber nur die einfache Wahrheit, wenn ich berichte, daß ich auch keinen Augenblick Furcht hatte, obgleich ich die Gefahr vollständig übersah. Es ward dieser Muth wohl getragen von dem Bewußtsein, einer höheren Race anzugehören, ähnlich dem Muthe, den die wenigen tausend Engländer den Hunderttausenden gegenüber zeigten, als sie den Aufruhr der Sepoys niederschlugen; bei mir noch von dem edlen Zwecke. Für eine gerechte Sache eintreten, das gibt den wahren Muth. Ich überließ es meinen Gefährten, die Mittel zu berathen, wie wir unsern Zweck erreichen möchten.

„Wir haben mit den Dieben noch eine besondere Rechnung, mein Junge,“ sagte Dick zu mir, „die wollen wir erst abmachen. Vielleicht ist sie kürzer, als wir denken. Ueberdenkt, wie Ihr’s anfangt, Ben geht mit mir!“ wandte er sich zu Harry und Ben; und Beide schritten thalaufwärts hinter uns in das Gebüsch hinein.

„Was sollen wir machen?“ eröffnete ich die Berathung, in der ich nur eine Null sein konnte, denn ich hatte auch nicht einen Gedanken, keinen Plan.

„Weiß ich’s?“ sagte Harry ernst. „Hattest Du, Willy, einen Plan, als Du meine Schwester Ella aus dem Wasser zogst?“ wandte er sich rasch zu mir. „Machte nicht Alles der Augenblick?“

„Ich – Ella?“ rief ich.

„Und Du hast es wirklich nicht gewußt?“

„Nur einmal in der Prairie schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Gerettete Ella ähnlich gesehen –“

„Sie ist’s wirklich gewesen. Die Augenblicke sind zu ernst und gezählt. So höre denn. Ella war ohnmächtig, doch nicht besinnungslos. In diesem Starrkrampfe hätte sie rettungslos untergehen müssen. Sie sah Deine Bemühungen und gelobte sich, Dir ihr Leben zu opfern, wie Du das Deinige wagtest. Verkenne nicht Ella’s hochherzige, edle Natur! Sie wurde von mir selbst aus dem Wasser geholt, und ich hielt ihre Erzählung für eine Einbildung, da ich trotz aller Nachforschung nichts von Dir erfahren konnte. Du wirst Ella’s Gelübde noch höher schätzen, wenn Du erwägst, daß sie Dich für geisteskrank hielt. Du warst es in einer Art. Als Dich Ella mir zeigte –“

„Dort im Wagen?“

„Ganz recht! – mußte ich Vaterstelle bei ihr vertreten. Ich wollte Dir gern die Hälfte meines Vermögens abtreten. Bei Ella – sie war auch an den Folgen erkrankt, Du fandest sie noch leidend – war ihre Dankbarkeit fast Gemüthsleiden geworden. Brachte ich Euch Beide zusammen, bei ihrer nervösen Aufgeregtheit war Alles zu fürchten. Unsere Sitten sind andere, der Umgang zwischen den Geschlechtern ist freier – verdenke es mir nicht, wenn ich Dich erst gesund ihr gegenüberstellen wollte. Du thust es nicht, Willy? Sieh, ich bin Dein Bruder geworden!“

Harry sprach das Letztere so weich und lieb, daß ich ihm Alles verziehen hätte, und doch hatte ich ihm nur zu danken. Ich reichte ihm die Hand und sagte: „Wie sollte ich –“

„Sei Du mir Freund und Bruder!“ fiel Harry ein. „Es ist möglich, daß einer von uns hier fällt, denn die Sache ist ernst. Ella wird uns betrauern, aber nicht bedauern. Sollte ich aber bleiben, versprich mir, meine Stelle bei ihr einzunehmen! Lernt Ihr Euch lieben, meinen Segen habt Ihr, Ihr seid Euer werth. Jetzt müssen alle Bedenklichkeiten fallen, denn wir stehen am Rande des Grabes!“

Ich reichte ihm stumm die Hand. Was sollte ich erwidern? Gewiß hatte Ella einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, aber ich hatte in der letzten Zeit nur ihr spöttisches Lächeln gesehen. Ich hatte schon als Mann in Deutschland gestritten, wenn auch mit Wort und Schrift. Aber ich hatte mich den Volkshaufen entgegengeworfen, als viele Männer vor ihrer Wuth zitterten, und sie gebändigt. Freilich war ich dafür eingefangen und für meine Meinung verurtheilt worden, die nichts mit Umsturzplänen und Verbindungen dazu zu thun hatte. Mich hatte wirklich Ella’s Spott in meinem Stolze verletzt. Ich fühlte das Kindische und sagte zu Harry: „Wir werden Beide zurückkehren, und dann wird uns das Leben mit seinen Wegen nicht auseinander reißen, das weiß ich. Ella und Du, Ihr könnt auf mich rechnen!“

„Du bist mein Bruder im eigentlichsten Sinne des Wortes!“ sagte Harry, „und nun ist es gut. Wir wollen nun berathen. – Dort in der Hütte sind Frauen, wahrscheinlich Creolen, die nach dem Süden wollten. Conanha ist bei ihnen und hat sie zum Schweigen gezwungen. Das Einfachste wäre, wir ritten auf die Hütte zu und holten sie heraus. Morgen ist es schon zu spät, und so nahe, wie jetzt, kommen wir ihnen erst nach dem blutigsten Kampfe und der heftigsten, langwierigsten Verfolgung, Ich hasse auch das Blutvergießen. Blut will wieder Blut.“

„Das ist auch meine Meinung. Doch sehe ich kein anderes Mittel, als uns auf die Pferde zu verlassen. Wissen wir aber, wie viele Frauen darin sind? Mehr als vier können wir nicht tragen. Und mit den Frauen vor uns auf den Pferden können wir nicht kämpfen, sind unsere Pferde denen der Wilden nicht überlegen.“

„So ist es leider!“ sagte Harry, „und wir opfern sie und uns gewiß. Denn haben die Wilden Blut gekostet, sind sie unersättlich.“

„Könnten wir nicht die Expedition aus dem Fort benachrichtigen?“

„Ehe wir die im Osten gefunden haben, sind diese Hunde auf dem geraden Wege schon in Sicherheit. Aber Eins können wir, wir können diesen Gedanken als Drohung benutzen! Hier siehst Du den Wilden in seiner wahren Gestalt,“ fuhr Harry fort, „hinterlistig, wortbrüchig; auf eine Leidenschaft setze ich noch meine Hoffnung – auf die Habsucht. Du hast Dich wohl zum letzten Male von einem Wilden täuschen lassen. Ich und die Andern waren nicht zu täuschen, aber wir wollten seiner Teufelei auf die Spur kommen, indem wir auf seine Feigheit bauten. Denn glaube nur, wir haben von diesen Hunderten nichts zu fürchtest, so lange die Pferde unter unsern Beinen und die Waffen in unserer Hand. Haben wir ein Gebüsch zur Deckung, so würde nur die höchste Raserei sie zum Angriff bringen, denn sie wissen, daß wir ihnen auch an physischer Kraft überlegen sind, und so gefürchtete Jäger, wie Ben und Dick, das wissen sie, können sie mit ihren Künsten nicht locken.“

„Aber warum nahm uns Conanha in sein Lager?“

„Weil er uns auf dem Wege sah. Er wollte uns durch sein Vertrauen kirren. – Wenn nur ein Versteck in der Nähe wäre, das uns zum Rückhalt diente!“

Ben und Dick traten aus dem Gebüsche. Beide trugen Packete in der Hand, die sie an die Erde warfen.

„Einen alten Jäger überlisten die Diebe doch nicht,“ sagte lachend Ben. „Sie sind richtig eingekehrt in unser Winterquartier und haben unser Vorrathshaus ausgeräumt, aber in unsere Schatzkammer sind sie nicht eingedrungen.“

„Nun, was habt Ihr denn da, Ben?“ fragte ich neugierig.

„Wollen’s lieber mitnehmen, das nächste Mal würden sie besser nachsehen und möchten’s finden. ’s ist besser aufgehoben unter Christenmenschen. Was es ist? Das Schießgeld, kein gesuchtes Gold, sondern sauer verdient in langen Jahren. Dick und ich haben’s nie verbraucht.“

Es konnte ein hübsches Sümmchen in dem langgestrecktem Beutel stecken. Unmöglich konnte aber Dick’s Packet lauter Gold enthalten. Auf meinen fragenden Blick antwortete er ernst: „’s ist eine Arbeit von zwanzig Wintern, die ich hier in diesem Thale verlebte, erst allein, dann mit Ben. Ueber dreißig Jahre meines Lebens sind hier aufgezeichnet.“

Er breitete vor uns eine Büffelhaut aus. Alle seine Jagdzüge durch die Prairien, von Nord nach Süd, von Ost nach West waren darauf verzeichnet. Was ihr aber unschätzbaren Werth gab, das waren die Flußnetze, die Erhebungen, welche er als stetige Marken seiner Wege sauber angeführt hatte. Es war eine Arbeit, die zwanzig Jahre erfordert hätte, bei allen Hülfsmitteln; dieser Mann hatte sie in zwanzig Wintern geleistet mit den unscheinbarsten Werkzeugen, unterstützt von einer ausgebildeten Beobachtungsgabe. Mit mathematischer Genauigkeit hatte sein Auge die Höhen gemessen, die Entfernungen berechnet. Wir fanden das später, ahnten es aber schon, als wir unsern Weg auf der Karte verfolgten.

Der Entwurf war einfach. Die Oberfläche der Büffelhaut [544] war die höchste Erhebung, die zugleich den Rand bildete. Nach Süden war der Kopf genommen. Je nach ihrer Tiefe waren die Flußthäler und die Ebenen eingeschnitten. Wo am Rande der Thäler Gestein zu Tage trat, war es mit der entsprechenden Farbe treu angedeutet.

Dick freute sich wie ein Kind über unser Erstaunen und hatte keine Ahnung, welchen Schatz er vor uns ausgebreitet hatte.

„Schon gut, schon gut!“ mit diesen Worten setzte er unseren Lobeserhebungen Schranken. „Schon gut, daß Ihr einen alten Mann nicht auslacht. Und nun ist es genug! Ihr wißt doch nicht, was sie mir werth ist. Und was soll’s nun?“

„Wenn wir nur in der Nähe ein Versteck hätten, einen Ort, von dem sich in Sicherheit unterhandeln ließe!“

„Kinder, Ihr seid ja im Bau des Dachses!“ lachte Dick. „Jetzt können sie alle Schliche erfahren, Ben und ich kehren nicht wieder. Was ist’s denn?“

Wir theilten ihm mit, daß wir nicht wüßten, wie viel Frauen gefangen wären.

„Eine, höchstens zwei!“ rief Ben. „In der Hütte sind nicht mehr, In einem Theile liegt Conanha, im andern müssen die armen Frauen sein, wenn’s zwei sind. Ich glaub’s aber nicht. Es ist ein armes Mädchen, das dem Hunde gefallen hat, die andern hat er sausen lassen, oder – wie den dort oben. Glaubt nur den Lügen nicht. Er mag erst betrogen, gestohlen und verrathen haben, dann hat er aber gesehen, daß er hier an die Rechten gekommen ist, hat Reißaus nehmen wollen, und darauf haben die nur gewartet, um ihm den Garaus zu machen.“

„Schlimm sind sie, aber mach sie nicht schlechter, als sie sind!“ sagte ernst Harry. „Wir mischen uns eigentlich in Angelegenheiten, die uns, nach ihrer Meinung, nichts angehen. Thäten wir das nicht, so würden wir uns über sie nicht zu beklagen haben. Wir schaffen uns selbst Recht, und das ist auch ein Unrecht! Ich will’s in Güte versuchen. Wo liegt das Versteck?“

„Wir reiten hier in das dichte Gebüsch hinein, Dahinter liegt ein kleiner Abhang, den wir hinauf sprengen müssen. Wir haben dann vor uns eine Höhle, hinter der eine zweite, größere liegt. In jeder von beiden haben wir mit den Pferden Platz.“

„Gut! Wir machen unbemerkt die Pferde fertig, und Ihr haltet Euch bereit. Von hier aus könnt Ihr alles beobachten und mir zu Hülfe kommen, wenn mir Gefahr droht.“

Nachdem wir unsere Pferde gesattelt und gezäumt hatten, steckte Harry seinen Revolver ein und ging auf die Hütte zu. Den Ausgang und Eingang des Thales versperrten die Lager der Indianer. Wir nahmen die eine Seite, die Hütte die andere Seite ein. Zwischen der Hütte und uns floß der Bach. Harry übersprang ihn und ging eilig auf die Hütte zu. Ich muß noch bemerken, daß wir absichtlich unsern Lagerplatz so unter den Bäumen genommen hatten, daß wir nur von der Umgebung der Hütte aus, nicht von den Lagern der Krieger beobachtet werden konnten. Die Hütte lag noch etwas versteckter, so daß selbst Vorgänge ihrer unmittelbaren Nähe den Indianern im Lager nicht bemerkbar waren. Wir hatten zu unserm Glück den günstigsten, wie wir bald erfahren sollten, den letzten Augenblick gewählt – am andern Morgen wären die Comanchen auf und davon gewesen. Wenn auch in der Stille, aber um so eifriger waren Alle mit der Abreise beschäftigt.

Kaum hatte Harry den Bach überschritten, und sein Vorsatz die Hütte zu besuchen, war unverkennbar, als ihn der wachhabende Indianer zurückwies. Harry ließ seine Zeichen unbeachtet; aber er mußte die gemessensten Befehle haben, denn er wagte es, ihn zurückhalten zu wollen. Harry schleuderte ihn zur Seite; ohne seine Schritte zu beseitigen, verfolgte er seinen Weg. Sich aufraffend, ergriff der wüthende Comanche seinen Tomahawk und wollte auf Harry losspringen. Aber wir hatten jede seiner Bewegungen beobachtet, Dicks Büchse lag schon an der Backe, ein scharfer Knall, und der Wilde lag am Boden. Wir hatten nur Sinn für das, was vor uns geschah, sonst hätten wir auch wohl dem herrlichen Echo gelauscht, das den Büchsenschuß als Donner zurückwarf und von einer Thalwindung zur andern fort trug. Unser Unternehmen begünstigte dieser Zufall, denn die Indianer waren durch Schuß und Wiederhall überrascht, so daß wir einige Minuten gewannen, eine lange Zeit, wenn Alles an Augenblicken hängt.

Nach dem Schusse war keine Zeit zu verlieren. Wir saßen zu Pferde; ich mit Harry’s Pferde voran, flogen wir über den Thalgrund. Der Schuß wäre ganz unnötig gewesen. Wir hätten von Harry’s Klugheit erwarten können, daß er sich von einem hinterlistigen Indianer nicht überraschen lassen würde. An der Erde lag der Indianer, und über ihm stand Harry’s Hund. Nicht weit von ihm stand Harry, und hielt ein wunderbar schönes Mädchen in seinen Armen. Ihre schwarzen, langen Locken flogen in Unordnung um ihren Kopf.

Ehe Harry nach dem Schusse, der ihn unangenehm überrascht hatte, da er alle seine Pläne durchkreuzte, seine Schritte beschleunigen konnte, hatte sich der Vorhang der Hütte geöffnet, und das junge Mädchen war herausgestürzt und ihm in die Arme geflogen.

„Misericordias, misericordias!“ rief sie ihn umklammernd.

Harry war ganz überrascht und versunken in ihre Erscheinung. Es war sein Glück, daß ich erschien, denn er schien Alles um sich vergessen zu haben. Ich hatte nur noch Zeit, meinen treuen Caro auf Conanha zu hetzen, den er zu Boden warf, aber nicht früher, bis dieser sein Kriegsgeschrei ausgestoßen, dann griff ich vom Pferde herunter nach dem jungen Mädchen, das aber Harry zu fest umschlungen hielt.

(Schluß folgt.)




Die Ahnengruft der Hohenzollern.

Von dem alten Onolsbach (Ansbach) in Mittelfranken führt in nordöstlicher Richtung durch eine anmuthige Gegend die Straße zu dem nahgelegenen Marktflecken Heilsbronn mit seiner herrlichen Klosterkirche, in welcher die Ahnen des preußischen Königshauses begraben liegen. Der älteste Theil dieses ehemaligen Klosters ist die sog. Heideckercapelle mit einem kleinen romanischen Chörchen, welche ihre Erbauung einem Ritter von Heideck verdankt, dessen Stammschloß in der Nähe lag. Der Tradition zufolge fand einstmals dieser Heideck, von heftigem Fieber befallen, im wilden Walde einen erfrischenden Born. Nach einem brünstigen Gebete um Linderung seiner Schmerzen trank er in vollen Zügen aus der Quelle, und genas alsobald. Aus dankbarem und gläubigem Herzen errichtete er über diesem Heilbrunnen eine Capelle. Im Volke wurde nun in kurzer Zeit die Heilkraft dieses Wassers bekannt, es wuchs die Zahl der Wallfahrer von Jahr zu Jahr, und bald wurde dieser wunderthätige Ort in allen deutschen Gauen hochberühmt. Neben der kleinen schlichten Capelle erbauten nun die Brüder Rupert und Conrad von Abenberg ein Cistercienserkloster, welches der Apostel von Pommern, Otto der Heilige, im Jahre 1132 einweihete.

Von Kaiser Ludwig dem Bayer sehr begünstigt, wurde es der Begräbnißort der Burggrafen von Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern, der Stammväter des jetzigen Königs von Preußen. Dieselben waren auch zugleich die Schutz- und Schirmherrn von Heilsbronn. Durch den schnellen Eingang, welchen die Reformation in Franken fand, sank rasch der Ruhm dieses Klosters; zuletzt aufgelöst, wurde die imposante Kirche für den protestantischen Gottesdienst der Ortsbewohner eingerichtet. Man zimmerte in die Mitte dieses großen Baues einen barocken Verschlag, damit die Predigt des Geistlichen besser zu hören war. Durch diesen Vandalismus wurde denn nun der erhabene Eindruck, den die Kirche auf den Besuchenden machte, gänzlich zerstört. Bis Mitte dieses Jahrhunderts ist sie so vernachlässigt worden, daß es die höchste Zeit war, sie dem Ruin zu [545] entreißen. Die preußische Regierung offerirte bereits vor mehreren Jahren dem König von Bayern, auf ihre Kosten die ganze Kirche mit allem Zubehör in den Zustand wiederherstellen zu lassen, wie sie vor mehreren Jahrhunderten in ihrer Pracht dagestanden, unter der Bedingung freilich, daß dem Könige von Preußen das Patronat Heilsbronns zufalle. Die bayerische Regierung glaubte darauf nicht eingehen zu können, befahl dagegen, die Kirche zu restauriren, was denn auch seit einigen Jahren geschieht.

Glücklicher Weise ist nun aller Zopfplunder, der die Harmonie des Ganzen so beeinträchtigte, zum Theil schon durch eine umfassende Restauration auf Kosten der bayerischen Regierung unter besonderer Leitung von Oberbaurath Voit und A. Kreling, Director der Kunst- und Gewerbeschule in Nürnberg etc., entfernt worden, und der Fremde wird in einigen Jahren die Kirche in dem Zustande begrüßen können, wie sie vor mehreren hundert Jahren dem andächtigen Wallfahrer vor Augen stand.


Die Klosterkirche in Heilsbronn.


Von besonderer Schönheit ist der frühgothische Chor, im reinen und edlen Styl erbaut; man fühlt in ihm noch deutlich die Nachklänge romanischer Elemente. Von ihm sticht das Mittelschiff in dem uralten Basilikencharakter mit seinen gedrungenen Säulen und spärlich einfallendem Lichte grell ab. In diesem befinden sich prächtige Sarkophage, theils in Stein gehauen, theils in Erz gegossen, herrliche Altäre mit Schnitzereien aus der besten Zeit und Malereien aus der Wohlgemuth’schen Schule, sowie ein Sacramentshäuschen, von dem berühmten Meister Ad. Kraft zierlich in Stein ausgeführt, und ein wunderschönes Crucifix von Veit Stoß. Ueberall begegnet man dem zoller’schen Wappen mit seinem silber und schwarz geviertheilten Schilde und dem brandenburger Adler, theils gemalt, theils plastisch. Durch den Erdboden der Kirche, welcher früher mit Mosaikplatten aus gebranntem Thon geziert war, wühlten sich einige Quellen hindurch, die die Gräber zerstörten und unterminirten; ihr Gemurmel in der öden Kirche macht einen eigenthümlichen Eindruck. Außer vielen Merkwürdigkeiten ist hauptsächlich noch der zierlich durchbrochene Dachreiter zu erwähnen, welcher sich über dem Mittelschiff erhebt.

Eine Perle der Baukunst ist eine gegenüber gelegene Capelle, welche aber leider schon seit langer Zeit als – Brauhaus benutzt wird; an ihr ist ein Portal, welches sich den schönsten seines Zeitalters in Deutschland an die Seite stellen darf. Darüber ist ein Holzschuppen gebaut, um Bierfässer darin aufzubewahren, wodurch dieses herrliche Bauwerk nichts weniger als geschont werden kann. Möge jeder Freund altehrwürdiger Bauten, wenn er einmal Mittelfranken bereist, nicht vergessen, dem interessanten Heilsbronn, schlechtweg in der Umgebung nur „zum Kloster“ genannt, einen Besuch abzustatten.




[546]
Blätter und Blüthen.

Die unterbrochene Jagdpartie am Cap der guten Hoffnung. Was ist aus den deutschen Fremdenlegionen am Cap der guten Hoffnung geworden? Einige wurden nach Indien gebracht, wo sie theils umkamen, theils neuerdings wieder auf ihr Cap zurückgebracht wurden. Wie’s ihnen dort geht, ist noch nicht bekannt. Wir können’s uns aber denken, wenn wir folgendes Jagd- und Lebensbild uns angesehen haben.

Ich wanderte vor etwa drei Jahren aus, erzählt uns ein Engländer, und zwar nach dem Cap, wo mir die Regierung eine „schöne Farm“ versprochen hatte. Die schöne Farm bestand in einem Stück absoluter Wildniß, die noch von keiner civilisirenden Hand berührt worden war. Aber durch Fleiß, Ausdauer und einige Hottentotten brachte ich ein Haus und mich selbst empor und Felder und Gärten darum herum. Ochsen und Schafe, die ich gekauft, zierten meine Wildnisse mit ihren Vließen und Farben, und ich träumte schon von Ruhe unter dem Schatten meiner Reben und Feigenbäume. So waren zwei Jahre ohne einen einzigen Ruhe- und Rasttag vergangen. Deshalb nahm ich mit Freuden die Einladung mehrerer Nachbarn zu einer Jagdpartie an. Sie holten mich ab, da meine Farm die letzte an der Kaffern- und Wildnißgrenze war. Wir ritten heiter und kräftig hinein in die herrenlose Herrlichkeit durch überwucherte Hohlwege und Meere duftigen Jasmins, wilden Geraniums und blühender Lorbeerwäldchen, durch kleine reißende Flüßchen und über felsige Abgründe, wo Hunderte von Affen heulend und zähnefletschend von einer Kante und Spitze zur andern sprangen, und uns wüthend mit Steinregen bombardirten. Endlich erreichten wir die große wellige Prairie, etwa dreißig Meilen von unserer Niederlassung, den „Blauen Lilien“, um uns frische, würzige Winde, über uns den heitersten Himmel, vor uns bunte, springende Heerden von Antilopen, einsame Büffel oder Gnu’s und Heerden schreckenbeflügelter Strauße.

Als wir in eine von Gras und Blumen überwucherte Gegend mit einzelnen Bäumen gekommen waren, entzückte mich nichts so sehr, als eine gigantische schneeweiße Kronleuchterlilie, so daß ich sofort an’s Werk ging, mir Zwiebeln davon auszugraben. Während ich emsig scharrte, bewegte sich das im Winde wehende, blumige hohe Gras etwas ungewöhnlich an einer Stelle neben mir. Knieend neben meiner bald ausgegrabenen Wurzel, beobachtete ich das seltsame Wehen und Wogen, bis plötzlich eine ungeheuere Schlange daraus hervorsprang, sich vor mir aufbäumte und mit ihren teuflischen, feurigen Augen, ihrer zitternden Kamm-Kapuze, ihrem offenen Rachen und dem leisen, nie zu vergessenden Gezisch, das in allen Windungen ihres Körpers mit zu zischen und zu zittern schien, mich in den Todesschrecken der Lähmung versetzte, den solche Scheusale auf Thiere und Menschen ausüben. Wir starrten uns gegenseitig an; ich war nicht im Stande, einen Finger zu bewegen. Selbst mein Herz stand still versteinert von dem Zauber ihrer entsetzlichen Schönheit. Endlich sprang ein wilder Schrei aus mir heraus, mit welchem ich auf, die Füße kam, die mich beinahe bewußtlos weit in die Ebene schleuderten. Der Schrei rief meine Gefährten zurück, aber sie starrten vor einem zweiten gellen Geächze zurück. Sie und ich sahen mein armes Pferd umwunden an Fuß und Hals von der scheußlichen Cobra da capello. Drei unserer Kugeln tödteten sie, ohne das Pferd zu treffen. Wir lösten das arme Thier aus dem Gewinde, aber eine Wunde an seiner Lippe gab ihm den Tod. Während wir mit Wasser und Waschungen, durch Streicheln und Liebkosen seinen zitternden Angstschweiß zu lindern suchten, stürzte es nieder und ächzte und wand sich und zuckte auf eine herzzerreißende Weise. Es starb unter entsetzlichen Qualen und Zuckungen, das getreue Thier, das mich so oft durch Sturm, Nacht und Gefahr, Hitze und Hunger getragen.

Während wir die Schlange ausstreckten, um sie zu messen, hörten wir von fern ein schwaches Stöhnen. Bei unsern erschütterten Nerven erschreckte dies uns ungewöhnlich, so daß wir schon nach einer zweiten Schlange suchten. Aber das zweite Gestöhn kam unzweifelhaft aus einem etwas abgelegenen Dickicht von Unterholz, und klang wie sterbendes Wehgeklage. Wir suchten vorsichtig und lange vergebens, bis einer meiner Genossen triumphirend einen starken, muskulösen, dunkelgelbbraunen Kaffer unter den offen liegenden Wurzeln hervorzog. Er schien bewußtlos, sterbend an einer blutenden Wunde und einer hochgeschwollenen Brause am Kopf. Wir verbanden und erquickten ihn, so daß er wieder zu sich kam und wir uns in einem Gemisch von Kafferisch und Holländisch mit ihm verständigen konnten. Die Wuth verzerrte seine Züge, er fletschte seine Zähne und sprühte Feuer aus seinen Augen, als er erzählte, daß sein eigener Häuptling, mit dem er auf einem Raubzuge in Wortwechsel gerathen, ihn so zugerichtet. „Wenn Ihr Euch beeilt,“ setzte er hinzu, „könnt Ihr vielleicht diesen Teufel Ketanun fangen, ehe er die „Blauen Lilien“ erreicht.“

„Blaue Lilien!“ Unsere Colonie! Ein Schrei des Entsetzens rang sich aus meiner Brust. Meine Farm war an der äußersten Grenze. Ich hatte Frau und zwei kleine Kinder ohne Schutz zurückgelassen. Mit einem Satze war ich im Sattel des nächsten Pferdes, doch ehe ich davonjagte, hatte ich Besinnung genug, meinem Freunde Thornton zuzurufen, daß er auf dem zweiten Pferde nach der nächsten Militairstation lagen sollte, während ich dem Dritten von uns, der nun kein Pferd hatte, empfahl, alle Jäger, Holländer oder Deutsche, die er zu Gesicht bekommen könne, zum Beistande zusammenzurufen. Wie der Wind flog mein Pferd über die ebene Prairie, aber noch ehe ich ein Drittel des Weges hinter mich gebracht, tauchte sich die Sonne in die Hügel des Westens und verschwand. Durch Nacht und Grauen, über riesige Ameisenhügel und durch sumpfige Gewässer trug mich stark und zuversichtlich mein muthiges, wenn auch keuchendes Thier, selbst einen steilen Abhang hinunter durch die dichten Speere harter Aloes, unter den Zweigen riesiger Euphorbias hin, durch Dschungels und Elephanten- oder Rhinoceros-Pfade bis zum Flusse Krnumbie. Die Mondessichel warf einen mattbläulichen Silberschleier über Berg und Thal und den sanft dahin gleitenden Fluß, der bescheiden und schmal zwischen steilen Felsenufern, dichten Dornbäumen und hohem Röhricht sich hinwand. Ich mußte außerhalb entlang reiten, um einen Durchbruch und „Ford“ zum Uebersetzen ausfindig zu machen. Dabei fing ein ungewöhnliches dumpfes Getöse an, die Stille umher zu unterbrechen. Nicht ein Lufthauch rührte sich; die Vögel waren eingeschlafen und die wilden Thiers noch nicht erstanden aus ihren Höhlen. Und doch dieses wilde, dumpfe Getöse, lauter und lauter. Könnte es von dem Kaffernangriff auf unsere Colonie herüberbringen? Aber noch manche Meilen lagen dazwischen, so daß ich dies kaum für möglich hielt. Kurz darauf kam ich in eine Biegung und übersah den ganzen, mondbeleuchteten Fluß, auch den gesuchten Uebergangspunkt, an welchem eben zwei schwarze Gestalten mit ihren Pferden überzuschwimmen begannen. Sie waren lustig dabei und lachten weitschallend durch die Nacht. Doch es erstarb plötzlich durch donnerndes Getöse, krachende Bäume, heulende Thiere und durch ihr eigenes schrilles Angstgeschrei, als sie eine hohe, brausende Mauer von Wasser den Fluß hinab aus sie zustürzen sahen, die sie sofort mit sich riß und in ihren wüthenden Wallungen begrub. Ich stand starr und bewegungslos vor Entsetzen, als die wüthenden Wassermassen donnernd, schäumend, zischend vor mir vorbei Bäume, Felsenstücke, todte und noch kämpfende Thiere mit sich fortrissen. Ich hatte öfter von diesen berüchtigten, furchtbaren „Freshets“ oder Wasserstürzen gehört, aber noch niemals einen gesehen. Sie kommen unverhofft aus heftigen Regengüssen in den Berggegenden, wo die Flüsse entspringen, oder ausgesprengten natürlichen Reservoirs.

Der Wassersturz, der jetzt hochschäumende, Tod und Verderben mit sich führende, eben noch so stille, liebliche Fluß war nun eine Mauer zwischen mir und den Meinigen, stärker als Eisen. Der tollkühne Versuch, hinüber zu kommen, war gleich Selbstmord. So brachte ich die ganze Nacht in der furchtbarsten Qual am diesseitigen Ufer zu, von Vorstellungen gepeinigt, welche mir Weib und Kinder in den Händen der Cannibalen zeigten, erschreckt vom hysterischen Gelächter der Hyäne, dem wehklagenden Gebell des Schakals, dem Gebrüll des Leoparden, dem Angstgekreisch von Thieren, die, von der Wasserwuth ergriffen, noch vergebens mit ihr rangen.

Ich mußte bis zum Morgen warten, warten vom Morgen bis zum Abend, ehe sich die Wuth des Wassern zu besänftigen begann. Mein Pferd war frisch von Ruhe und Weide. Es tauchte muthig mit mir in den noch reißenden Strom und schlug tapfer aus, um das entgegengesetzte Ufer zu erreichen. Zwei- oder dreimal verlor es die noble Geistesgegenwart im wilden Kampfe der Wogen, die es mit sich fortrissen, aber mit kühner, sicherer Hand und sanfter, bittender Stimme bracht’ ich’s wieder zu sich, so daß es kühn mit dem höher gehaltenen Kopfe und sträubender Mähne wilder zuschlug, bis es Grund unter den Füßen fühlte und wild keuchend emporsprang. Wir jagten beide athemlos nach unserer Heimathstätte, die als rauchender Aschenhaufen vor mir lag. Wie ein alter gebrechlicher Greis stieg ich langsam ab, und sank auf die Erde. Endlich besann ich mich, daß schwache Töne zu mir herklangen. Ich erhob mich, und sah Licht aus einer Hottentotten-Ruine. Es waren die Trümmer unseres Hirtenhauses. In ihr saßen meine Frau und die Kinder um ein Feuer. Kein Wort über meine beinahe wahnsinnig machende Freude. Der Hottentotthirt hatte die Kaffernbande von einem Hügel aus der Ferne herankommen sehen, war zu uns gelaufen und so der Retter meiner Lieben geworden, die mit ihm in Waldesdickicht geflohen und nicht eher wiedergekommen waren, als nach Abzug der Kaffern mit unsern Heerden. Thornton hatte sie mit einigen Truppen aus der Militairstation noch zu rechter Zeit erhascht, da sie am Krnumbien Flusse wegen des Wassersturzes aufgehalten worden waren, und ihnen alle Beute wieder abgenommen. Unter den Brandtrümmern unserer Colonie war große Freude, denn wir hatten unsere Lieben und unsere Heerden wieder. Haus und Hof standen nach einigen Monaten wieder, und werden jetzt durch den Kranz deutscher, militairisch starker Ansiedler geschützt.




Der photographirte Mond. Es ist bekannt, welche große Hoffnungen und Erwartungen man an Daguerre’s Erfindung, Lichtbilder zu fixiren, auch für die Astronomie knüpfte. Wiederholt wurde die Ansicht ausgesprochen, daß, wenn man das Bild eines Himmelskörpers auf der Silberfläche fixirt habe, dieses dann, durch stark vergrößerte Mikroskope betrachtet, zu großen Entdeckungen führen müsse. Namentlich versprach man sich in dieser Richtung hin sehr viel von wichtigen Aufschlüssen über die Beschaffenheit des uns am nächsten befindlichen Planeten, des Mondes. Die Hoffnungen sind nicht erfüllt worden und konnten nicht erfüllt werden, denn es war natürlich, daß, wenn man ein solches Daguerreotyp des Mondes unter dem Mikroskop beobachtete, in gleichem Maße, wie sich das Bild vergrößerte, auch das Material, auf welchem sich das Bild befindet, vergrößert werden mußte. Die Unebenheit der Silberfläche, die Risse und Grübchen in derselben, die Amalgamkügelchen, durch welche das Bild erst sichtbar gemacht worden war, traten, auch selbst bei mäßiger Vergrößerung, so merkbar hervor, daß das Bild selbst dadurch ganz undeutlich erschien. Es sind solcher Monddaguerreotypen mehrere dargestellt worden, aber sie haben fast alle geringen Werth. Eines der besten besitzt die Königsberger Sternwarte, welches Dr. Wichmann durch Berkowsky fixiren ließ. Die Herstellung eines solchen Mondbildes ist nicht so leicht, als es Manchem erscheinen mag. Der Mond namentlich verändert ziemlich rasch seine Stellung gegen die Platte, auf welcher sein Bild fixirt werden soll, und man würde daher ein sehr mangelhaftes Bild von ihm erhalten, wenn der Daguerre’sche Apparat auf die gewöhnliche Weise aufgestellt würde, da in der Zeit, welche zur Hervorrufung des Bildes erforderlich ist, die scheinbare Bewegung des Mondes groß genug ist, um die Herstellung eines klaren Bildes zu verhindern. Da wir die Macht Josua’s nicht besitzen, der Sonne und Mond still stehen lassen konnte, so bleibt nichts übrig, als dem Apparat selbst eine Bewegung zu geben, durch welche das Bild des Mondes auf ein und derselben Stelle der Platte, auf welcher es fixirt werden soll, erhalten wird. Die meisten Sternwarten besitzen ein solches Mittel, es sind dies Triebwerke, welche mit einem Fernrohre so verbunden sind, daß letzteres [547] den Gestirnen gleichsam in ihrem täglichen, scheinbaren Laufe folgt und daher ein einmal in das Gesichtsfeld gebrachter Stern in demselben bleibt, so lange er über dem Horizont steht. Ein solches Triebwerk, verbunden mit einem achtfüßigen, sogenannten Heliometer, besitzt auch die Königsberger Sternwarte, und an die Drehungsaxe dieses Instrumentes wurde der Daguerre’sche Apparat so befestigt, daß das Mondbild während der zu seiner Aufnahme erforderlichen Zeit auf ein und derselben Stelle der vorbereiteten Silberplatte sich erhielt. Das Bild hat etwa 2 Zoll im Durchmesser, ist klar und deutlich, zeigt die sehr feinen Lichtunterschiede der Mondscheibe, so daß es, mehr als eine Zeichnung im Stande wäre, den Charakter des Vollmondes treu wieder gibt Die Betrachtung des Bildes unter dem Mikroskope führt eben zu keinen Resultaten, denn schon eine schwache Vergrößerung zeigt die Unebenheiten der Platte. Könnte man solche Bilder von größerem Durchmesser herstellen, so würden sie allerdings von Nutzen sein, aber die Mittel, über welche wir jetzt zu gebieten haben, gestatten dies nicht. Zwar haben schon wiederholt unsere Tagesblätter Nachrichten gebracht, daß es gelungen sei, solche große Mondbilder mit Hülfe der Photographie zu erzeugen, aber die Nachrichten bestätigten sich niemals. So wurde vor einigen Jahren mitgetheilt, daß die Gesellschaft der englischen Naturforscher Photographien vom Vollmonde hätte aufnehmen lassen, welche 6 Fuß im Durchmesser hätten. Andere zeigten einzelne Gebirgstheile in noch größerem Maßstabe. Auf diesen treuen Nachbildungen, heißt es in jenen Mittheilungen weiter, bemerkt man, daß die ganze Mondscheibe von langen, schmalen und glänzenden Streifen durchzogen ist, welche in ununterbrochener Folge über die Höhen, Thäler, Berge und Krater gehen und die man noch nicht zu erklären und zu deuten weiß. Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß auch diese Nachricht jeder Wahrheit entbehrt. Viel Aufsehen erregten die Photographien, welche durch Secchi in Rom, Director der Sternwarte des Collegio Romano, zuerst nach Deutschland kamen. Sie stellten die Ringgebirge des Copernikus im Monde dar, und zwar in bedeutender Vergrößerung. Man behauptete, es seien unmittelbar vom Monde aufgenommene Photographien, später stellte es sich aber heraus, daß es Photographien nach einer Handzeichnung waren, welche mit großer Genauigkeit auf der Sternwarte in Rom, mit Benutzung eines 31/2füßigen Refractors, bei 1000maliger Vergrößerung aufgenommen worden war.

In neuester Zeit ist die Aufmerksamkeit von Neuem auf die Mondphotographien gelenkt worden. Es kommen nämlich jetzt solche Photographien auf Glasplatten vor, welche letztere mit einer dünnen Collodiumschicht versehen sind, auf welcher das Bild fixirt ist. Auf jeder Glasplatte befinden sich zwei solcher Mondbilder in gewisser Entfernung von einander, da sie für das Stereoskop bestimmt sind. Sie stellen den Vollmond dar und haben nicht ganz zwei Zoll Durchmesser. Im Juliheft des Dingler’schen Journals theilt der bekannte Verfasser des Müller-Pouillet’schen Lehrbuchs der Physik, Dr. Joh. Müller in Freiburg, unter der Ueberschrift: „Stereoskopische Mondphotographie“ Folgendes mit: „Dieser Tage kamen mir für das Stereoskop bestimmte Ansichten des Vollmondes zu Gesicht, welche bei etwas starken Contrasten zwischen Hell und Dunkel im Stereoskop einen ausgezeichneten plastischen Effect gaben. Dieser Umstand erregte mir Zweifel, ob diese aus Paris stammenden Bilder wirklich Photographien des Mondes seien. Um darüber zur Gewißheit zu gelangen, verglich ich die beiden Bilder und fand sogleich die auffallendsten Verschiedenheiten, welche eben den stereoskopischen Effect bedingen. Ein Gebirgsring z. B., von welchem strahlenförmig weiße Streifen ausgehen, war in dem einen Bilde ohngefähr um einen Centimeter weiter vom Mondrande entfernt als im andern. Da uns aber der Mond stets dieselbe Seite zukehrt, so können zwei wirkliche Mondphotographien nie eine so bedeutende Differenz zeigen; die beiden fraglichen Photographien sind also gar keine Mondphotographien, was auch die Untersuchung mit der Loupe aus das Unzweifelhafteste bestätigt. Wahrscheinlich sind diese Photographien nach einer Kugel gemacht, welche dem Vollmond ähnlich angemalt war.“

Wenn Dr. Joh. Müller keinen andern Grund hat, die erwähnten Photographien als nicht wirkliche Mondphotographien zu bezeichnen, als den angeführten, so ist dies ein Irrthum. Auf jenen Bildern ist der Unterschied in der Entfernung der einzelnen Flecken von dem Mondrande allerdings vorhanden, trotzdem sind es aber doch wirkliche Mondphotographien. Die Originalbilder, sogenannte negative Bilder auf Glas, wurden mit Hülfe eines Spiegelteleskopes in London von dem Secretair der astronomischen Gesellschaft, de la Rue, daselbst aufgenommen. Die ursprünglich kleinern Bilder wurden mit Benutzung des photographischen Apparates vergrößert und als positive Bilder hergestellt von dem Photographen Robert Howlett in London. Die meisten dieser positiven Bilder sind dann von Paris aus verbreitet worden, gewöhnlich von kleinen Mondkärtchen begleitet, auf welchen die Namen der bedeutenderen Mondflecken verzeichnet sind. Eine in englischer Sprache abgefaßte Notiz, mit der Ueberschrift „Stereograph vom Monde“, enthält die sehr überflüssigen Bemerkungen, daß, wie das Bild nachweise, der Mond kugelförmig sei, daß er keine Atmosphäre, kein Wasser, noch lebende Wesen besitze etc. Von dem, was dem Bilde Werth gibt, ist eine Notiz nicht vorhanden. Die verschiedenen Bilder, welche ich sah, und von denen auch Exemplare auf der Messe in Leipzig ausgeboten wurden, stammen, wie es deutlich erkennbar ist, alle von einem Originalexemplar.

Als Bilder des Mondes haben diese Photographien eigentlich wenig Werth, die feineren Abstufungen zwischen Licht und Schatten fehlen, und man erhält im Stereoskop durchaus kein den Charakter des Vollmondes gebendes Bild, wohl aber ist der plastische Effect ein vollständiger, man sieht vollkommen deutlich den Mond als einen sphärischen Körper. Es ist dies aber auch ganz begreiflich, denn die beiden Bilder stellen wirklich etwas von einander verschiedene Kugelhälften des Mondes dar. Wie konnten diese aber erhalten werden, da, wie Dr. Joh. Müller richtig bemerkt, der Mond uns stets nur seine eine Hälfte zukehrt? Wir wollen dies kurz erörtern.

Der Mond dreht sich bekanntlich in derselben Zeit einmal um seine Axe, in welcher er seine Bahn um die Erde zurücklegt; diese Umdrehung ist eine ganz gleichförmige, seine Bewegung um die Erde dagegen sehr ungleichförmig. Wäre dieses nicht der Fall, wären beide Bewegungen ganz gleichförmig, so würden wir stets immer genau dieselbe Seite des Mondes sehen, aber bei den bestehenden Verhältnissen ist es anders, und obgleich uns allerdings der größere Theil der andern Mondhälfte stets verborgen bleibt, so sehen wir doch zeitweise einen kleineren Theil derselben. Da sich uns diese Erscheinung gleichsam als eine Verschiebung der Mondflecken bemerkbar macht, sodaß Flecken, welche man in der Mitte sah, nach einiger Zeit mehr nach Westen stehen, dann wieder nach der Mitte gehen und über diese nach Osten hin sich bewegen, so hat man diese Erscheinung die Libration oder Schwankung des Mondes genannt. Man unterscheidet die Libration in Länge, durch welche die Verschiebung der Flecken in der Richtung von Osten nach Westen geht, und eine Libration in Breite, durch welche eine Verschiebung der Flecken von Norden nach Süden und umgekehrt erfolgt. So sehen wir in Folge der Libration Flecken am östlichen Rande verschwinden, am westlichen neue zum Vorschein kommen, dann letztere wieder zurück und jene wieder hervortreten. Wir sehen zuweilen den Nordpol und den Südpol des Mondes im Rande liegen, bald den einen oder den andern uns etwas zugewendet und den entgegengesetzten Pol dann gar nicht. Ein Mondort kann so durch die Libration im äußersten Falle um 11 Grad von seinem mittleren Ort verschoben werden.

Von der Gesammtoberfläche des Mondes sind uns 3/7 beständig sichtbar, 3/7 bleiben uns beständig unsichtbar und 1/7 ist abwechselnd sichtbar und unsichtbar.

Hieraus geht also hervor, daß allerdings Mondphotographien dargestellt werden können, bei denen eine sehr verschiedene Lage der Flecken sich zeigt, freilich müssen sie zu verschiedenen Zeiten aufgenommen werden. Dies ist nun bei den besprochenen, für das Stereoskop bestimmten Mondphotographien wirklich der Fall: das eine der Bilder zeigt den Vollmond, wie er am 1. November 1857, das andere, wie er am 29. März 1858 war, und gerade dadurch kommt es, daß diese zu verschiedenen Zeiten aufgenommenen Bilder eine so plastische Erscheinung des Mondes im Stereoskop geben.

Die Untersuchung der fraglichen Bilder mit der Loupe zeigt übrigens ebenfalls sehr deutlich daß sie von einer „wie der Vollmond gemalten Kugel“ unbedingt nicht aufgenommen sein können, denn so unvollkommen diese Bilder auch sind, so läßt sich doch an ihnen erkennen, wie treu sie die Oberfläche des Mondes an einzelnen Stellen wiedergeben.

Eine genauere Kenntniß der Oberfläche des Mondes werden Bilder solcher Art freilich nicht verschaffen, und sie bieten für das Stereoskop eben auch keine merkenswerthe Bereicherung. Die Bilder scheinen aber doch von einer ganz andern Seite her der Astronomie einen wesentlichen Dienst zu leisten, den man wohl bis jetzt nicht ahnte.

Früher nahm man an, der Mond sei eine Kugel, die wohl Unebenheit habe wie die Erde, aber nicht wie diese an den Polen eine Abplattung. Wenigstens haben die genauesten Messungen eine solche Abplattung nicht nachweisen können. Später stellte man aus theoretischen Gründen die Behauptung auf, daß der Mond in der Richtung gegen unsere Erde eine etwas längliche Gestalt habe, also der ganze Mondkörper eiförmig sei. Hieraus will man auch die oben erwähnte Schwankung des Mondes in die Länge erklären. Die Angaben über die Größe dieser Erhöhung des Mondes nach unserer Erde hin sind verschieden; directe, beiläufig gesagt, sehr schwierige Messungen der Mondoberfläche haben noch zu keinen genügenden Resultaten geführt. Der berühmte Berechner der complicirten Mondbahn, Hofrath Hansen in Gotha, hat auf dem Wege der Theorie diese Erhöhung nahe an acht geographische Meilen gefunden. Die besprochenen stereoskopischen Mondbilder werden hier ganz unerwarteter Weise Aufschluß geben. Jeder, der diese Bilder im Stereoskop aufmerksam betrachtet, erkennt leicht, daß die uns hier sichtbare Mondhälfte nicht als eine Halbkugel erscheint, sondern in eiförmiger Gestalt. Diese ausfallende Erscheinung veranlaßte den jetzt in Gotha sich aufhaltenden talentvollen russischen Astronomen Gussew aus Wilna, an diesen Bildern Messungen vorzunehmen. Die höchst schwierige, difficile Arbeit ist noch nicht vollendet, hat aber doch bereits zu dem Ergebniß geführt, daß die Bogenlinien keiner Kugelfläche angehören, sondern einer eiförmigen. Nach einer vorläufigen Berechnung des genannten Astronomen, begründet auf die Messungen an den erwähnten Bildern, würde die Erhöhung des Mondkörpers nach unserer Erde hin bedeutender sein, als früher theoretisch festgestellt wurde, sie würde danach etwa 14 geographische Meilen betragen. Die Messungen gründen sich auf die durch die Libration bedingte Verschiedenheit der beiden Mondbilder, d. h. auf die verschiedene Lage der Mondflecken, und lassen bezüglich der erlangten Resultate keinen Zweifel zu. Herr Gussew wird nach Beendigung seiner Arbeit die Resultate derselben in einer astronomischen Zeitschrift veröffentlichen. So hat also die Photographie der Astronomie doch einen sehr erheblichen Nutzen gebracht, freilich einen gänzlich unerwarteten, ungeahnten.

Unerklärlich bleibt nur noch, woher es kommt, daß das Bild des Mondes, wie es sich hier im Stereoskop darstellt, die erwähnte Erhöhung der uns sichtbaren Halbkugel so merkbar zeigt. Der Durchmesser der Mondkugel ist 4681/2 geographische Meilen; man sollte glauben, daß der Unterschied von 14 Meilen, welche die Erhöhung nach unserer Erde betragen soll, nicht so sichtbar sein könnte, wie es bei dem stereoskopischen Bilde wirklich der Fall ist.

H. P.




Empfindungsvermögen der Pflanzen. Die neueren Forschungen der Wissenschaft scheinen den bekannten Linné’schen Satz: „Die Thiere fühlen und bewegen sich freiwillig, die Pflanzen haben dagegen weder Bewegungs- noch Gefühlsvermögen“, umzustoßen. Wenigstens lassen die Versuche des Dr. Bretonneau in Tours einige Zweifel an der Unempfindlichkeit der Pflanzenwelt aufkommen. Er gerieth auf den Gedanken, eine [548] Mimosa sensitiva (Sinnpflanze) den Einwirkungen des Chloroform auszusetzen. Alsbald verlor sie das Vermögen, ihre Blätter aufzurollen; man berührte, man irritirte sie, – sie blieben unbeweglich. Das Chloroform hatte sie für den Augenblick unempfindlich gemacht, wie es den Kranken gegen die Handhabungen des Operateurs unempfindlich macht. Dr. Baillon wiederholte diesen Versuch an den Staubfäden der Sparrmannia. Diese Staubfäden wenden sich, so wie man sie berührt, vom Mittelpunkt der Blume ab, um jedoch bald wieder in ihre frühere Stellung zurückzukehren, und entfernen sich bei fortgesetzter Störung stets von Neuem. Ein blühender Zweig dieser Pflanze wurde den Einwirkungen der Chloroformdämpfe ausgesetzt und in weniger als einer Minute verloren die Staubfäden ihre Beweglichkeit. Man berührte sie, und sie zeigten nicht das geringste Leben mehr. Hierauf brachte man den Zweig vier Minuten lang in freie Luft, die anästhesischen Dämpfe verflüchtigten sich, und die Blume erhielt ihre frühere Erregbarkeit wieder. Wenn die Pflanzen nun auch nicht mit wirklichem Empfindungsvermögen begabt sind, so muß man doch zugestehen, daß sie es zu haben scheinen. So behauptet wenigstens Dr. Ernst Faivre im vorjährigen Februarheft der Pariser „Revue contemporaine“, in welchem er die Fortschritte der Naturwissenschaften in der jüngsten Zeit bespricht.

E. B.




Der große Drache China’s. Einmal vor Alters war ein großer Drache. Der lebte in einem blumigen Lande. Er kam aus der bodenlosen Tiefe und war so groß, daß sein Körper sich ausdehnte von dem ewig gefrornen Norden bis zu den brennenden Tropen. Seine Klauen krallten sich über tausend Meilen weit aus, und sein Schweif lag an hundert Flüssen entlang. Jeden Tag fraß er so viele neugeborne Kinder, als ihm Mütter zum Opfer boten. Ueber dreißigtausend Kinder verzehrte der Drache jedes Jahr; aber Niemand wehklagte über sie, so lange er mit seinen Klauen Erwachsene schonte. Sie brachten ihm ihre Kinder und überließen sie ihm ohne eine Thräne. Und der Drache wurde alle Tage fetter, stärker und hungriger.

Und die Mütter? Sie weinten nicht, sie wehklagten nicht – nicht sie. Ihre Kinder, besonders Töchter, wären besser aufgehoben in des Drachen Wanste, sagten sie, statt zu leben das Leben, das sie, die Mütter, leben müßten. Besser, sagten sie, nicht zu sein, statt sich zu plagen und zu hungern, wie wir.

So lag der große Drache des Kindermordes überall in der Breite und in der Länge im Lande, und die zarten Neugebornen wurden auf öffentliche Wege und Straßen geworfen für die Fänge des scheußlichen Drachen oder in die schweigenden Betten der Flüsse, so in die Tiefe führen.

Lange sträubten sich die Herzen liebender Mütter im Abendlande, an diesen riesigen Fluch, der über einem Drittel der Menschheit im fernen Osten lagert, zu glauben. Hier ist das Zeugniß eines Mannes, der hoch im Leben und in der Wissenschaft stand und, nach Tausenden überstandener Gefahren zu Wasser und zu Lande auf seinen Reisen um die Erde, ein Opfer des Eisenbahn-Unglücks zwischen Paris und Versailles ward. „In China“, sagt Dumont d’Urville in seinen Malerischen Reisen um die Welt, „in China hat der Vater das Recht, sein Kind als Sclaven zu verkaufen, und aus Noth oder Verwahrlosung machen sich viele Väter dieses Recht zu Nutze. Am meisten wird mit Töchtern Handel getrieben. Humanität und Elternliebe sind den meisten Chinesen unbekannt. Die Dichtigkeit der Bevölkerung und die Kärglichkeit der Lebensmittel tödten Alles, mit Ausnahme des Selbsterhaltungstriebes. So erklärt sich auf eine einfache, aber entsprechende Weise die höchste Spitze des brutalsten Egoismus, der sich im Kindermorde, im „ländlich-sittlichen“, gebräuchlichen Kindermorde ausspricht.“

„Weit entfernt, diesen Cannibalismus zu bestrafen“, fährt Dumont d’Urville fort, „scheint die Regierung ihn nicht nur zu dulden, sondern beinahe zu autorisiren. Es gehört zu den Pflichten der Polizei in Peking, die über Nacht weggeworfenen Kinder jeden Morgen zu sammeln. Sie packen die unglücklichen Opfer, lebende und todte, unterschiedslos in einen gemeinen Schuttkarren und karren sie hinweg an die Oeffnung einer großen Cloake vor die Stadt, in welche sie wie ein Haufen Schutt abgeladen werden. Man hat die Zahl dieser Kindermorde auf jährlich 30,000 abgeschätzt. Die Chinesen, welche tausendweise auf schwimmenden Städten, auf Flüssen leben, binden einen hohlen Kürbis an den Nacken ihrer Neugebornen, ehe sie sie in den Fluß werfen, um den Kopf über Wasser zu halten. Es war ein alltäglicher Anblick, solche Kinderleichen den Fluß hinuntertreiben zu sehen. Die Fischer und Schiffer fahren so gleichgültig vorbei, wie vor todten Hunden. Die dunkeln Plätze der Erde sind voller Wohnungen für die Grausamkeit. Gibt es dieser entsetzlichsten aller Thatsachen gegenüber keinen mildernden Umstand? O ja, die Religion. Die Kindesmörderinnen sind nicht blos arm und verwahrlost, sondern auch sehr religiös. Sie glauben fest an Buddha’s Lehre von der Metempsychose oder Seelenwanderung, so daß sie in diesem Glauben ihre Kinder nicht tödten, sondern ihren Seelen blos Gelegenheit geben, sich eine andere, bessere Verkörperung zu suchen, als die eines chinesischen Mädchens, dessen Leben eine Schmach und Qual ist. Dies giebt der sonst unerklärlichen, unmenschlichen Grausamkeit wenigstens einen Platz in der Geschichte menschlicher Verirrungen und religiöser Dogmen – die in den verschiedensten Formen alter und neuer Zeit die höchsten Aufopferungen eigenen oder des Lebens unserer Lieben forderten oder heiligten.“

Die chinesischen Gesetze verbieten zwar den Kindermord, wie englische das Prügeln der Weiber, die dessenungeachtet alle Sonnabende dutzendweise zer- oder erschlagen werden. Ein Mandarinen-Edict lautet nach langer Vorrede so: „Wir bedauern, daß in unserer blumigen Provinz das Leben der Kinder nichts weniger als lang ist. Dies ist nicht gut. Man muß künftig darauf achten, daß das anders werde.“ (Wie fein und weich einem solchen Uebel gegenüber!)

Auch der Kaiser selbst erließ vor mehreren Jahren eine Cabinetsordre gegen den Kindermord. Er bittet die Eltern, ihre Kinder lieber in Asyle zu schicken, statt sie wilden Thieren vorzuwerfen oder in die Flüsse, und droht denen, die seinem Wunsche nicht genügen (in einem Lande, wo auf die kleinsten Vergehen oft Todesstrafe steht!) mit 60 Hieben für jedes weggeworfene Kind.

„So fraß der große Drache die kleinen Kinder und Niemand hinderte ihn.“

Erst Forbey Janson, Bischof von Nancy in Frankreich, ward zum heiligen Georg gegen dieses Ungethüm.

Der Preis eines neugebornen Kindes ist durchschnittlich in China 200 Sapecs, d. h. 10 Silbergroschen, nicht mehr und nicht weniger. Der Preis steigt jährlich um etwa denselben Betrag. So beschloß er, die Kinder am wohlfeilsten, d. h. neugeborne, zu kaufen und sie zu Menschen zu erziehen. Das war ein kühner Gedanke für einen einzigen Mann, der in Nancy wohnt und den Tausende von Meilen aufgeschwollenen Drachen im fernen China erlegen will. Aber er that’s. Es gelang ihm, wie dem schwachen Menschen mit Muth, Menschenliebe und edlem Herzen Unglaubliches, fast Alles gelingt. Er bat um Taschen- und Naschgeld kleiner und größerer Kinder in Frankreich. Der Gedanke war schon gut, nein, rührend Mutter- und Kinderherzen, wenn sie hörten, daß damit kleine Kinderchen dem großen Drachen abgekauft werden sollten. Außerdem ließ er mit Hülfe anderer Geistlichen Reden für den Zweck halten, Processionen anstellen, Messen lesen u. s. w. – beste Mittel, um in die Herzen der großen Massen einzudringen, die etwas für’s Auge, etwas Rührendes für’s Herz brauchen, um den Weg in die Tasche zu finden. Er selbst pilgerte nach Belgien und klopfte an die Palastthore und Kinderstubenthüren König Leopold’s. Diese und Andere gaben ihm 50,000 Francs, Andere auch ihre Scherflein, so daß er schon eine große Masse Civilisations-Truppen mit klingendem Spiel beisammen hatte, als er, Opfer seines Eifers, erkrankte und starb.

Sein Werk nicht mit ihm. Erzbischof Bonamie nahm es auf und gründete 1846 die Gesellschaft der ‚Sainte Enfance‘, welche bald „Truppen“ nach Macao und andern chinesischen Außenposten sandte und in kurzer Zeit für 190,000 Francs kleine Chinesen gekauft hatte, eine gute Zahl bei der Spottwohlfeilheit (in Dutzenden wahrscheinlich noch billiger).

Jetzt steht ein grandioses Kinder-Asyl am Gestade mit langen, langen, vielen Reihen von Wiegen und Krippen, aus denen es so lustig herausschreit, lacht und lallt, daß die 12 Pflegemütter, jungfräuliche barmherzige Schwestern, mehr Mutterfreuden genießen, als jemals die „zahlreichste Familienmutter“ mit einem Dutzend lebendigen Orgelpfeifen. Eine dieser barmherzigen Schwestern ist blos deshalb dort Pflegemutter geworden, um ihren als Missionär von Chinesen ermordeten Bruder zu rächen. Sie rettet dafür so und so viel kleine Chinesinnen für’s Leben.

Ein anderer Vater, père Werner, ein Deutscher von Geburt, hat neben einer schwimmenden und Uferstadt, Lut-kug, eine neue Anstalt gegründet, für welche er an manchem einzelnen Tage 50 Kinder à 3–10 Silbergroschen oder für ein kleines Crucifix oder sonst eine Kleinigkeit kaufte.

Im Jahre 1848 hatte die Gesellschaft schon 68,477 Kinder gekauft, getauft und in Erziehung und unterhielt nicht weniger als 62 Knaben- und 134 Mädchenschulen für lauter so gekaufte chinesische Kinder. Seitdem sind keine Specialberichte erschienen. Man weiß nur, daß dieser eigenthümliche Handel und dieser siegreiche Krieg gegen den großen Drachen sich fortwährend ausdehnt und viele Mütter und Eltern ihre Kleinen im Auge behalten und nicht selten als neue, civilisirte Menschen endlich lieben lernen. Die, welche dann in das chinesische Leben zurückkehren, werden endlich den Drachen gründlich todt machen.

In Frankreich stellt man alle Jahre Processionen an, um Taschengelder der Kinder für ihre kleinen chinesischen Brüder und Schwestern zu sammeln. In der Bretagne bei Quimper sieht man eine gute Menge blühender chinesischer Kinder dickbäckig und schlitzäugig umherspielen, Zöglinge einer reichen Dame.

Das Hauptquartier der europäischen Truppen gegen den großen chinesischen Drachen ist Rue Chanoinesse Nr. 4 in Paris, wo man die Kriegsmaterialien in großer Menge und Varietät beisammen sehen kann. Wenn einmal China geöffnet, civilisirt, für die Interessen und Segnungen des Westens und Abendlandes gewonnen werden soll, ist dieser Krieg gegen den großen Drachen, was man auch daran aussetzen mag, mindestens ein neunundneunzigtausend Mal besseres und kräftigeres Mittel, als englische Bombardements und Opiumkriege.




Im Interesse einer Familie, deren Glück von dem Resultate dieser Anfrage abhängt, werden wir um Aufnahme des nachfolgenden Inserats ersucht.

D. Red.
Hundert Speciesthaler

sichert eine Familie in Norwegen dem Geistlichen zu, welcher dem Unterzeichneten amtlich nachweist, an welchem Orte im Jahre 1777 Bent Seiferts Sohn, Johann Ludwig, geboren worden ist.

Waltersdorf bei Gera.

Karl Giebner, Pfarrer das.

Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Schulze (-Delitzsch), Vorschuß- und Kreditvereine als Volksbanken.
Praktische Anweisung zu deren Gründung und Einrichtung.
Zweite vermehrte und ganz umgearbeitete Auflage. – Preis 18 Ngr.

Verlag von Ernst Keil In Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Caspar.