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Die Gartenlaube (1858)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 12. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Das Schachtgespenst.
Von Ludwig Storch.
(Fortsetzung.)


V.
Der Obersteiger und sein Sohn.

Die Gold- und Silberbergwerke in Kremnitz sind alle uralt; die Jahrhunderte haben da Schächte und Stollen abgebaut und verödet liegen lassen und wieder andere in den Schooß der Berge getrieben, die endlich dasselbe Schicksal erfahren. Manche dieser alten Gruben hängen durch einen halbverschütteten unwegsamen Gang mit den vielverzweigten neuen Gruben zusammen, aber der Knappe von heute kennt meist diesen Zusammenhang nicht; er hat eine natürliche Scheu vor den vereinsamten unterirdischen Feldern der Thätigkeit seiner Vorfahren, und schauerliche Bergmannssagen verschreien sie als ungeheuer. Was hätte er auch dort zu suchen und zu schaffen? Edle Metalle, welchen er nachstrebt, sind ja dort nicht mehr zu finden; sie lohnen seinen Fleiß nur in den Gängen, die er selbst in das erzhaltige Gestein treibt. Was kümmert ihn, wie weit sich die Häuer früherer Jahrhunderte in die Berge gewühlt? Er wühlt sich am andern Ort hinein, und wo irgend so ein altes Stollenloch in einen neuen mündet, da verbaut er es mit Querhölzern, und läßt jenseit derselben die Gespenster früherer ungetreuer Bergleute ihr Wesen treiben. Daß solche Gespenster in den alten Schächten und Gruben umherirren, daran zu zweifeln wäre sündhafte Verwegenheit eines Knappen; denn wenigstens die des Mariahilfschachtes haben fast Alle das entsetzliche Schachtgespenst gesehen, obgleich eigentlich keiner weiß, wie es aussieht, weil, wenn es ihnen erschienen ist, ihnen die Augen meist den Dienst versagten. Und das ist nicht seit einigen Jahren geschehen: Viele sagen seit zwanzig Jahren, Andere, das sei wohl länger als hundert Jahre; denn ihre Väter und Großväter haben ihnen erzählt, daß auch sie es schon gesehen. Die seltsamsten und wunderlichsten Sagen sind von diesem Schachtgespenst in Umlauf. So war, um nur Eins zu erwähnen, die allgemeine stille Annahme, die man sich nur flüsternd und mehr mit ängstlichen Gebehrden und Mienen, als mit lauten Worten mittheilte, der alte Obersteiger Martin Ambrunn sei mit dem Schachtgespenst näher bekannt, als die andern Sterblichen, ja er übe einen gewissen vertraulichen Einfluß auf das Gespenst.

Aus welchen Thatsachen dieses seltsame Gerücht entstanden war, konnte eigentlich Niemand bestimmt angeben; die widersprechendsten und abenteuerlichsten Dinge wurden in dieser Hinsicht behauptet und erzählt, so daß ein halbweg vernünftiger Mensch sie alle auf Rechnung einer erhitzten und vom Leben in der Erde verdüsterten Volksphantasie setzen mußte. So viel stand inzwischen doch fest, daß der alte Obersteiger ein finsterer, grämlicher, schweigsamer Mann war, der mit den Leuten kaum das Allernothwendigste sprach, alle Vergnügungen mied, sich scheu in sein Haus zurückzog, wenn er nicht im Schachte arbeitete, und in diesem meist weit länger verweilte, als die andern Obern oder die Häuer. Das ganze Wesen dieses Mannes war unheimlich, und man konnte annehmen, daß dieser Umstand ihn in den Augen der Bergleute zum Kumpan des Schachtgespenstes gemacht habe. Uebrigens hatte er nicht nur von seinen Obern, sondern auch von der ganzen Knappschaft das Lob der strengsten Berufstreue und einer Thätigkeit, welche die aller Andern weit hinter sich ließ. Erholung schien er gar nicht zu kennen; er kannte nur Arbeit. Und wie uneigennützig er war, bewies er dadurch, daß er von seinem kärglichen Einkommen viel an Bedürftige wandte und alles wahrhaft Gute reichlich unterstützte. In seinem Hause sah es dagegen ärmlich aus, eben so war seine und seines Weibes Kleidung vernachlässigt, was doch mit seinem Stande als Obersteiger nicht harmoniren wollte. Ein feines Auge hätte sogar die Bemerkung machen müssen, daß diese Armuth eine ostensible Schaustellung sein möchte aus Zwecken, die sich freilich nicht errathen ließen.

Eines Sommermorgens – es war Montag – hatte sich der alte Obersteiger mit dem Beginne des Tages von seinem Lager erhoben und war eben damit beschäftigt, seinen Brodkorb voll zu packen (die Menge des Brodes, die er hineinsteckte, hätte einem Unbefangenen auffallen müssen, aber er schien dieses Geschäft gern jedem andern Auge zu verbergen), als er plötzlich seinen einzigen Sohn Leberecht, den Steiger, neben sich stehen sah, den er noch im tiefsten Schlafe vermuthet hatte. Verwundert sah der alte Mann an dem jungen empor und brummte:

„Schon?! Erst nach Mitternacht heim; kannst kaum ein Auge geschlossen haben.“

„Habe keins geschlossen,“ versetzte der Sohn eben so mürrisch wie der Vater. „Ich habe mich gestern Abend beim Tanz in der Tanne schwer geärgert.“

Der Alte antwortete darauf nichts und der Sohn schwieg ebenfalls verlegen. Er kämpfte mit sich selbst, aber er rang sich auf und platzte heraus:

„Vater, ich muß mit Euch reden. So kann’s nicht bleiben, ich gehe zu Grunde.“

Der Alte warf ihm einen eiskalten fragenden Blick zu.

„Ich hab’ Euch noch nichts davon gesagt, denn es ist mit Euch nicht gut von solchen Dingen reden; ich kann nicht leben ohne die Bergmeisters Lina. Wenn sie nicht bald mein Weib [158] wird, bin ich ein elender Mensch und sehe meinen Untergang vor Augen. Die Liebe zu ihr brennt mir wie Feuer im Herzen und in allen Gliedern und dörrt mir das Blut.“

„Bist ein Narr! Diese Traube hängt zu hoch für Dich. Such’ Dir eine andere, in die Du am Stocke beißen kannst.“

„Warum soll sie zu hoch für mich hängen? Ich kann sie mit der Hand erreichen und ich will und muß sie haben. Ihre Mutter ist eine slovakische Magd gewesen –“

„Aber ihr Vater war ein deutscher Edelmann und Bergmeister.“

„Was geht mich der deutsche Edelmann an? Ich will seine Tochter zur Frau. Was der ehemalige Bergmeister? Er ist todt und man weiß nicht, ist er als Schelm oder ehrlicher Mann gestorben. Ihr selbst habt schon gesagt, über dieser Sache ruhe ein Schleier, der wohl niemals gehoben werden würde. Das Mädchen ist arm; sie und ihre Mutter müssen sich ja schier von ihrer Hände Arbeit nähren; denn die paar Gulden Wittwengehalt reichen wahrlich nicht weit.“

„Junge, es gibt noch andere Dinge, um deren willen ich Dir befehle: schlag’ Dir das Mädchen aus dem Sinn. Sieh, das Weib, ihre Mutter, hat mir mein ganzes Leben verdorben. Ein böser Fluch ruht auf diesem Geschlecht. Das Weib hat schwere Sünden auf sich geladen und es steht im Worte Gottes geschrieben: die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern. Ich möchte nicht, daß Du auch solch’ ein unglücklicher Mensch würdest, wie ich gewesen und noch heute bin.“

„Vater, das hilft Alles nichts! Ich muß die Lina haben, sonst bin ich verloren. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie mir’s zu Muthe ist. Mir ist, als war’ ich vom Satan besessen. Ich beschwör’ Euch bei meinem zeitlichen und ewigen Heil, thut dazu, daß sie meine Frau wird. Sprecht mit ihrer Mutter, die mir abgeneigt ist.“

„Ich könnte die alte falsche Katze wohl zwingen,“ murmelte der alte Mann mehr in sich hinein, als dem Sohne zu. „Ein Wort und sie müßte.“

„So geht und sprecht das Wort!“ schrie Leberecht auf.

„Dummkopf! Weißt Du denn, ob das Mädchen Dich will?“

„Ach, darüber hab’ ich keine Sicherheit! Sie tanzt mit mir, wie mit unserm Feind Tomanek; sie läßt sich die Huldigungen des Oberbergmeisters gefallen. Seit Ihr den Proceß gegen Tomanek verloren habt, ist dieser bei der Alten Hahn im Korbe, und wenn Herr von Hammerstein Ernst machte, so hätte sie dieser. Ja, ich glaube, sie gäbe ihr Kind dem schlechten Theodoro, wenn er ein reicher Mann wäre, ohne zu fragen, wie er zum Reichthum gekommen.“

„Ich kenne sie; Du beurtheilst sie recht. So war sie stets, und weil sie schön war, wie eine Fee, so hat sie der Männer Herzen bethört und jammervoll unglücklich gemacht.“

„Mir hat sie gestern das Haus verboten und dunkle Worte fallen lassen, als wärt Ihr ein böser, der Hölle verfallener Mann.“

„Hat sie?!“ Die Augen des Alten funkelten unheimlich. „Sie wird dem Teufel auch nicht entgehen.“

„Und als hättet Ihr Umgang mit dem Schachtgespenst, das sich zuweilen in ihrem Hause zeigen und den Ring suchen soll. Sie sagt, Ihr hetztet den Geist auf sie und sie würde nicht unrecht thun, wenn sie Euch deshalb beim Priester verklagte.“

„Mag sie doch!“ lachte der Alte. „Aber sie wird nicht; sie wird Dir im Gegentheil ihre Tochter geben, wenn ich will. Aber es wird Dein Unglück sein.“

„Auf! Geht heute Abend zu ihr! Zwingt sie. Mein Unglück will ich selbst tragen.“




VI.
Die Heirathswerbungen.

Am Abend saß in einem hübschen, kleinen steinernen Hause ein liebliches Mägdlein sinnend am Fenster, eine alte Cither in der Hand, und schaute in das Thal unter ihr und auf die Berge, aus welchen eben die Bergknappen hervortraten. Ihr Auge ging ruhig über die Gegenstände hin und blieb an keinem verlangend haften. Sie selbst war eine ungemein reizende Gestalt. Plötzlich verdüsterten sich ihre reinen Züge. Sie sah einen Mann rasch den Bergpfad nach ihrem Hause heraufschreiten. Sobald sie ihn erkannt hatte, stand sie unwillig auf und verließ die Stube. Wenige Augenblicke später trat der Handelsmann Theodoro herein. Da er das Zimmer leer fand, so rief er auf die Hausflur: „Frau Kathinka!“

Eine ältliche Frau trat herein, die noch deutliche Spuren ehemaliger Schönheit verrieth. Beide grüßten einander vertraulich.

„Ich will Ihnen eine frohe Nachricht bringen,“ sagte er hastig. „Ich erbe ein großes Vermögen und bin in kurzer Zeit ein steinreicher Mann.“

„Von wem?“

„Mein Bruder Georg ist gestorben und hinterläßt es mir.“

„Wo?“ rief die Frau mit Leidenschaft.

„Das weiß ich noch nicht. Aber ich bin hierher gekommen, um meine Legitimationspapiere aufzutreiben. Dann wird mir mein Eigenthum ausgeliefert. Und jetzt bin ich da, um bei Ihnen um Lina’s Hand zu werben. Sie werden sie mir nicht versagen.“

„Wenn Du wirklich ein so gemachter Mann bist, sollst Du meine Tochter haben. Aber erst muß Dein Gerede zur Wahrheit geworden sein; dann seh’ ich Deine Verbindung mit ihr als eine Gerechtigkeit des Schicksals an.“

„Ich verstehe. Sie hätten meines Bruders Frau werden müssen.“

„Er ging und kehrte nicht wieder, untreu seinem mir gegebenen Worte.“

„Ich werde Alles wieder gut machen.“

„Du kannst mir meine Jugend nicht wieder geben.“

„Rufen Sie das Mädchen und sagen Sie ihr, daß sie meine Braut ist.“

„Heute noch nicht, erst muß ich sie vorbereiten; sie hat den halsstarrigen Sinn ihres Vaters. Du mußt Dich ihr erst sehr angenehm machen, eh’ sie Dich nimmt.“

„Wenn ich ihr den Tisch voll Goldstücke zähle, wird sie sich den Mann gefallen lassen.“

„Habe nur erst das Geld, für das Uebrige laß mich sorgen.“

Noch waren Beide im Gespräch begriffen, als ein bürgerlich gekleideter Mann hereintrat, welcher mit dem Griechen in gleichem Alter sein mochte und nach kurzem Gruße sich patzig niedersetzte, als sei er hier Herr im Hause. Hochmüthig warf er den Kopf zurück und sagte:

„Ich habe ein paar Worte mit Ihnen unter vier Augen zu reden, Frau von Schönebeck.“

Dabei sah er den Griechen verächtlich herausfordernd an. Die Frau verständigte sich mit diesem durch Blicke und er verließ die Stube.

„Was ist Ihnen gefällig, Herr von Tomanek?“ fragte die Frau kalt höflich.

„Es ist Ihnen wahrscheinlich schon bekannt, daß ich den langjährigen Proceß gegen den Obersteiger Ambrunn durch alle Instanzen gewonnen habe. Die Grundstücke sowohl, als die Silbergrube „Heiligensegen“ sind nun mein völliges Eigenthum und die Revenuen, die seit fünfundzwanzig Jahren deponirt wurden, sind mir zugefallen, so daß ich, erst schon ein reicher Mann, nun ein noch weit reicherer geworden bin. Nachdem nun Gott mir meine Ehefrau durch den Tod entrissen hat, bin ich gesonnen, mich anderweit zu verehelichen und meine Wahl ist auf Ihre Tochter Caroline gefallen. Ich habe gestern Abend mit ihr in der Tanne getanzt und mich überzeugt, daß sie mir nicht abgeneigt ist, also bin ich gekommen, bei Ihnen geziemend um Lina’s Hand anzuhalten.“’

„Herr von Tomanek, ich danke Ihnen sehr für die Ehre, die Sie mir und meinem Kinde zugedacht haben und ich würde ohne Zaudern Ihr Anerbieten annehmen, wenn ich daran nicht durch ganz besondere Umstände im Augenblick verhindert wäre, was mir absonderlich leid thut. Seien Sie übrigens versichert, daß der gezwungene Anstand sich durchaus nicht auf Ihre Person bezieht und daß, wenn derselbe gehoben, Ihre Wünsche wohl erfüllt werden dürften.“

„Ist der Anstand mit Geld zu beseitigen,“ sagte Tomanek mit einer unverschämten Gebehrde und klapperte dazu mit harten Silberstücken in der Hosentasche, „so nennen Sie mir die nöthige Summe, damit ich sie Ihnen heute noch überliefere.“

„Schönsten Dank, Herr von Tomanek,“ antwortete die Wittwe freundlich, wie ein Kätzchen. „Mit Geld ist die Sache nicht abgethan; [159] es sind eben Familienangelegenheiten, die uns zwingen, daß Caroline noch eine kurze Zeit im ledigen Stande verbleibe.“

„Ich will nicht hoffen, daß Herr von Hammerstein im Spiele ist und Ihnen und Ihrer Tochter irgend etwas weißgemacht hat. Der hat keine rechtlichen Absichten, wie ich. Er schmunzelt nur um das Mädchen herum.“

„Der Herr Oberbergmeister hat weder mit mir noch mit meiner Tochter von seinen Absichten gesprochen.“

„Oder etwa gar der Laffe, der Steiger Leberecht Ambrunn? Ich weiß, er ist vernarrt in Lina; aber Sie werden sich doch nicht mit einem solchen Hause verbinden wollen?“

„Ich weiß, was ich mir und meinem Kinde schuldig bin,“ versetzte die Frau angesäuert.

„Also schlagen Sie ein! Wozu warten? Es könnte mich wieder gereuen.“

„Das steht bei Ihnen. Ich kann Ihnen nichts versprechen.“

Der Mann stand ärgerlich auf. Die hereingebrochene Dämmerung überschleierte den Grimm in seinen Zügen. In der Haustür begegnete ihm ein Mensch, in welchem er den alten Obersteiger Ambrunn erkannte. Er trat also an das niedrige Fenster und horchte.

Die Frau brachte Licht.

„Das ist ein seltener Vogel in diesem Hause,“ sagte sie nach der Begrüßung verlegen.

„Ein weißer Rabe, aber doch ein Rabe!“ krächzte der Alte rabenmäßig. „Ich will’s kurz machen, Kathi. Mein Junge will Dein Mädchen heirathen. Es ist mir gar nicht recht, aber er besteht darauf und ist ein Starrkopf, ein Tollerjan. Also wirst Du ihm die Lina zur Frau geben.“

„Ich werde aber nicht!“ versetzte die Frau trotzig.

„Du wirst müssen.“

„Wer will mich zwingen?“

“Ich“

„Aus welchem Grunde?“

„Weil Du einst meine verlobte Braut gewesen und mir untreu geworden bist.“

„Das kann mich zu nichts zwingen.“

„Nein, aber andere Dinge.“

„Welche?“

„Zum Beispiel der Ring, den Du Deinem Manne gestohlen und dem Georg Theodoro, Deinem Buhlen, gegeben hast, und das Rattengift, das Dir Theodoro für den Ring gab und womit Du Deinem Manne vom Leben geholfen hast. Meinst Du, ich wüßte nicht Alles?! Spreize Dich nur und ich schicke Dir den Geist des Gemordeten auf den Hals, der den Ring von Dir verlangt. Nicht vergebens sagen die Leute, ich habe Umgang mit dem Schachtgespenst. Weißt Du etwa nicht, wer das Schachtgespenst ist? Hat es nicht schon den Ring von Dir begehrt? Heult es nicht durch die alten Schächte nach dem Ringe? Der Geist Deines von Dir vergifteten Mannes ist’s. Verweigere mir nur die Tochter und ich schicke das Gespenst noch diese Nacht.“

„Da Du doch so viel von mir weißt, mein alter Schatz,“ sagte das Weib höhnisch, „so will ich Dir auch etwas sagen. Wer half denn dem Theodoro beim Gebrauche des Ringes? Du warst’s, Martin Ambrunn! Und warum thatest Du so große Sünde, Du jetzt so frommer Mann? Rächen wolltest Du Dich heimlich an Deinem Vorgesetzten, weil er Dir die Braut genommen. Stehst Du wirklich mit dem Schachtgespenst im Bunde, so kann’s nicht der Geist meines Mannes sein; denn Du warst sein ärgster und grimmigster Feind. Nun geh’! Deinem Sohne geb’ ich meine Tochter nicht.“

Der Streit in der Stube wurde durch einen andern vor den Fenstern unterbrochen oder beendigt. Leberecht Ambrunn war gekommen, um zu horchen, was sein Vater ausrichte, und hatte den horchenden Tomanek getroffen. Im Nu waren sie an einander und prügelten sich aus Leibeskräften ab. Der alte Obersteiger rannte fluchend fort.




VII.
Der ehemalige Verlobte.

Einige Tage später hielt ein Reisewagen vor dem ersten Gasthause in Kremnitz, aus welchem Dr. Liebheld mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, Eduard Kahlert und Elise Wellschütz stiegen. Kaum hatten sie Zimmer bezogen, als der Advocat schon eine Karte zum Oberbergmeister von Hammerstein schickte. Dieser ließ antworten, daß er sogleich selbst kommen werde. Alle sahen mit Spannung dem Eintritte des Mannes entgegen, welcher einst Frau Aureliens Verlobter gewesen war und den Doctor im Duell schwer verwundet hatte. Niemand war auf sein Erscheinen neugieriger, als Lieschen; denn sie wußte aus dem Munde ihrer Freundin sehr viel Interessantes von ihm und hatte sich in ihrem kleinen Kopfe ein schönes romantisches Bild von ihm gemacht. Sie und Eduard Kahlert waren sehr angenehm überrascht, einen wohlgebildeten, gewandten, ja sogar liebenswürdigen Mann eintreten zu sehen, der nur mit einer beängstigenden Haft und Ueberstürzung sprach und sich bewegte und dadurch die Besorgniß wach rief, daß er sehr leidenschaftlich sei. Mit der Gewandtheit eines Weltmannes grüßte er unbefangen die kleine Gesellschaft auf eine Weise, daß jedes sogleich über alle Befangenheit hinaus war.

„Es hätte nicht des kaiserlichen Befehls bedurft,“ sagte er zu Liebheld gewandt, „um mich zu vermögen, daß ich Ihnen jeden Freundschaftsdienst leiste; denn Ihre Ankunft in dieser Bergstadt erfüllt einen meiner heißesten Wünsche: gegen Sie begangene Übereilungen nach Kräften wieder gut zu machen. Lassen wir die Thorheiten eines Brausekopfs ruhen, wo sie begraben liegen, und Sie, werthe Frau, genehmigen Sie das geläuterte Gefühl von Hochachtung, welches ich für Sie hege, daß Sie fest und muthig der Stimme des Herzens folgten, und sich nicht der Macht eines alten eigensinnigen Mannes und den Zudringlichkeiten eines jungen leichtsinnigen beugten. Sie sind, wie ich weiß, eine sehr glückliche Frau; es steht zu bezweifeln, daß Sie das im Bunde mit mir geworden wären. Wer weiß, wie und wo auch mir ein schönes Eheglück blüht.“

„Sie sind noch nicht vermählt, Herr von Hammerstein?“ fragte Aurelie teilnehmend.

„In der Erinnerung an Sie hätte ich mein Herz fast an ein zweites Fräulein von Schönebeck verloren, aber – sie ist ja Ihre Schwester, und ich sehe jetzt schärfer. Auch sie verrieth keine Anlage, daß sie mich lieben könnte, und – Sie verzeihen – ihre Mutter ist eine böse Zugabe.“

„Wir kennen die Schwester noch nicht.“

„Sie sieht Ihnen ähnlich und ist auch musikalisch. Das ist für unser einen verführerisch.“

„Wer kann wissen, wie nah Ihnen das Glück steht!“ sagte Aurelie bedeutungsvoll, und Liebheld stellte Kahlert und Lieschen, die Letztere als seine Tochter vor.

„Ihre Tochter?“ fragte der Oberbergmeister erstaunt.

„Dem Herzen nach ist sie unser Kind, und sobald wir in’s Vaterland zurückgekehrt sein werden, wird sie durch einen gerichtlichen Act unsere Adoptivtochter werden; aber auch Freund Kahlert wird sich bei dieser Adoption betheiligen. Wir wollen durchaus beide Väter dieser guten Tochter sein.“

Hammerstein wandte sich an Lieschen und ließ, während er sprach, sein Auge auf ihren reinen edlen Zügen haften: „Glückliches Kind, das so viel Liebe genießt! Welch einen Schatz von Liebe müssen Sie selbst besitzen! Möchte ich nicht diesen beiden Herren zurufen: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte!““

„Wer weiß, was geschieht!“ drohte Aurelie mit dem Finger. „Auch unsere Elise ist musikalisch.“

„Sind Sie es auch, Herr Kahlert?“

„Wenigstens kann ich die zweite Geige spielen.“

„So laßt uns doch gleich ein Concert einstudiren. Wir nehmen Fräulein Lina auch dazu. So bilden wir gleichsam eine Künstlerfamilie.“

Hammerstein war ungemein heiter und riß die Andern mit fort. Er liebkoste die Kinder und tanzte mit ihnen; er wollte mit Lieschen gleich ein Duett singen, als ihn Liebheld erinnerte, daß sie zuvor sich über die Angelegenheit besprechen möchten, welche die Familie nach Kremnitz geführt. Die Frauen zogen sich auf seinen Wink in ein anderes Zimmer zurück.

„Ich bin über die Hauptsachen bereits von Wien aus unterrichtet,“ nahm der Oberbergmeister das Wort. „Eine köstliche Schickung hat uns vor einigen Tagen bereits die Teilnehmer des Verbrechens verrathen. Ihre Aufforderung an den Griechen Philipp [160] Theodoro hat diesen veranlaßt, sich mit der Bitte an das hiesige Berggericht zu wenden, es möge ihm – da er nicht wisse, wo er geboren sei, und seine Jugend mit seinem Bruder hier verlebt habe – bescheinigen, daß Georg Theodoro sein Bruder gewesen. Auf Befragen, zu welchem Zweck, hat er angegeben, um die Hinterlassenschaft seines Bruders als Erbe zu heben. Dabei hat sich dieser Schlaukopf in Widersprüche verwickelt, und da wir bereits die nöthige Aufklärung von Wien hatten, so ist es nicht schwer gewesen, ihn in der Haft zu Geständnissen zu bringen, welche die Wittwe Schönebeck graviren. Aber noch besser: vor einigen Abenden hat ein Zank zwischen dieser gemeinen Frau und einem alten Obersteiger, der ihre Tochter für seinen Sohn begehrte, in ihrem Hause statt gefunden, belauscht von einem hiesigen Grundbesitzer, Namens Tomanek, welcher ebenfalls um die Tochter freit. Tomanek hat höchst wichtige Aeußerungen der beiden Streitenden zur Anzeige gebracht, aus welchen hervorgeht, daß die Frau den Ring der Königin, in dessen Besitz Sie jetzt sind, gestohlen und dem Georg Theodoro gegeben hat. Denn nur mit dem Ringe konnte er den Diebstahl ausführen. Ja, der Obersteiger Ambrunn, einst ihr Verlobter, hat ihr sogar vorgeworfen, daß sie ihren Gatten vergiftet habe. Sie dagegen hat ihn beschuldigt, daß er dem Griechen behülflich gewesen. Jedenfalls haben wir die Complicen. So wie Sie dem Gerichte die Beweisstücke übergeben haben, wird die Verhaftung dieser beiden Personen erfolgen, und die Untersuchung beginnen, die jetzt bessere Resultate liefern wird, als vor zwanzig Jahren, wo man stets auf falscher Spur war.“

„Haben Sie die Güte, uns zum Gericht zu führen! Wir werden das corpus delicti überliefern.“

Kahlert trug eine kleine elegante, aber schwere Kiste herbei; Liebheld legte den Reisepaß und den Ring auf den Tisch, Hammerstein nahm den letztern und betrachtete ihn genau.

„Ist Ihnen die Bedeutung und Geschichte dieses Ringes bekannt, der in diesem bösen Handel eine so wichtige Rolle zu spielen scheint?“ fragte der Advocat den Bergbeamten. „Sie nannten ihn den Ring der Königin. Woher dieser auffallende Name?“

„Ich kann Sie vollständig über das Geheimniß dieses allerdings wichtigen Pretiosen aufklären. Die Königin Maria von Ungarn, die Gemahlin jenes unreifen Königs Ludwig, der in der unseligen Türkenschlacht bei Mohacs 1526 im Sumpfe erstickte, und die Schwester des deutschen Kaisers Karl des Fünften, war eine der holdesten und liebenswürdigsten Damen ihrer Zeit. Sie besuchte unsere Gold- und Silberbergwerke einige Male, welche damals im Besitz der reichen und speculativen Fugger von Augsburg waren. Ein junger Adliger aus der alten Familie der Thurzo war damals Oberbergmeister und Münzwardein und mit einer Tochter des Hauses Fugger vermählt. Als Verwandter wurde er Theilnehmer und als solcher Begründer des großen Reichthums und der Macht des später so angesehenen Hauses der Thurzo, von welchen Einer sogar Palatin von Ungarn wurde. Merkwürdiger Weise knüpfte man das außerordentliche Glück dieses Hauses an diesen Ring, welcher im Laufe der Jahrhunderte Gegenstand eines wunderlichen Cultus oder vielmehr Aberglaubens wurde. Die Königin Maria zeigte jenem jungen Thurzo, der die unterirdischen Schätze so trefflich zu heben verstand, wie noch nie ein ungarischer Edelmann, und der zugleich ein feiner, wohlgebildeter Hofmann gewesen sein soll, ganz besondere Gnade, und als sie nach dem Tode ihres Gatten von ihrem kaiserlichen Bruder zur Statthalterin der Niederlande erhoben worden war, schenkte sie dem ritterlichen Bergmeister diesen Ring. Er trägt als Emblem einen weiblichen Arm mit einem gekrönten Schwerte. Ein Wappen ist es nicht, auch konnte sie kein solches verleihen. Das Bild ist nur Symbol. Der Ring ist aus dem Golde dieser Berge geschmiedet; der Karneol ist ebenfalls ungarisches Product. Thurzo bediente sich des Ringes zum Versiegeln der Erz- und Schatzkammer, und so erhielt er als Petschier die zweite Wichtigkeit. Als solcher hat er sich erhalten. Er vererbte nämlich immer auf dasjenige Glied der Familie, welches dem Bergwesen hier vorstand, und ging auf die weibliche Descendenz über. Man kam endlich dahin, das Glück des hiesigen Bergwesens überhaupt von dem Besitze des Ringes abhängig zu glauben; der Ring wurde zum Talisman, zum Glückbringer, zum Goldbescherer, wenigstens bei den gemeinen Bergleuten. Er war auch im Besitz des Herrn Oberbergmeisters von Holdrat, und gerade[WS 1] dieser legte ihm eine ungemeine Wichtigkeit bei. Man sagt, er habe ihn seinem Sohne verweigert, und dieser habe sich deshalb todt gehärmt. Deshalb habe der strenge Herr ihn nachher dem Gemahl seiner Tochter, Herrn Bergmeister von Schönebeck, übergeben, als diese von ihm so heißgeliebte Tochter, welcher er keine Bitte abschlagen konnte, ihn darum gebeten. Herr von Holdrat hatte vom Charakter und der Sinnesart des Herrn von Schönebeck keine vortheilhafte Meinung, und war mit der Herzenswahl seines Kindes keineswegs zufrieden. Aber wie gesagt, der sonst so strenge Herr vermochte seinem ihm aus einer glücklichen Ehe allein übrig gebliebenen holden Kinde nicht wehe zu thun. Daß er sich nicht in Herrn von Schönebeck geirrt, bewies dessen Benehmen gegen seine junge schöne Gemahlin. Er fing eine strafwürdige Liebelei mit einem in seinem Dienste stehenden, freilich verführerisch schönen Slovakenmädchen an. Die junge Ehefrau, welche ihren Gatten schwärmerisch liebte, kam hinter die Untreue desselben und grämte sich so sehr darüber, daß sie starb, als sie einem Töchterlein das Leben gegeben. Dieses Kind ist uns wohlbekannt. Herr von Holdrat wandte ihm seine ganze Liebe zu. Dagegen wirf er auf den Vater desselben einen eben so starken, unversöhnlichen Haß, welcher das Motiv zur Zurückforderung des Ringes wurde. Der daraus entsprungene Streit wurde noch heftiger, als der Oberbergmeister auch die kleine Enkelin forderte, und Herr von Schönebeck die Auslieferung sowohl des Ringes als des Kindes verweigerte. Als er aber den gemeinen, obgleich reizenden Gegenstand seiner Liebeswünsche heirathete, wußte der alte Herr es nach einem mehrjährigen Rechtsstreit endlich durchzusetzen, daß ihm das Kind ausgeantwortet wurde. In diesem Proceß waren böse Dinge zur Sprache gekommen.

„Bald darauf verschwand Herr von Schönebeck auf eine unerklärliche Weise. Er hatte mitten in der Nacht sein Haus im Bergmannskleid verlassen. Als er nach einigen Tagen nicht zurückkehrte, und nirgend aufgefunden werden konnte, nahm man an, er sei in einem der alten Schächte verunglückt. Seine Leiche ist niemals aufgefunden worden. Jetzt stellte sich heraus, daß in der Schatzkammer, die er zu verwalten, zu verschließen und zu versiegeln hatte, ein ungeheurer Defect war. Es fehlten Goldbarren für einige hunderttausend Gulden. Wohin das Metall gebracht worden, wer es entwendet, darüber konnte keine haltbare Andeutung beigebracht werden. Weder die Schlösser noch die Siegel waren verletzt. Der doppelte Wachtposten hatte nichts wahrgenommen. Erst war man geneigt, zu glauben, Herr von Schönebeck habe das edle Metall veruntreut und sei geflohen. Die Untersuchung stellte diese Annahme als Irrthum fest. Man suchte nach dem Ringe, er fand sich nicht. Da gab es Leute, welche behaupteten, Herr von Holdrat habe sich von Haß und Golddurst zu dieser That hinreißen lassen. Es gelang ihm in der Untersuchung, seine Unschuld klar darzuthun, aber er fühlte sich so gekränkt, daß er sein Amt niederlegte und mit seiner Enkeltochter nach Wien zog. Was man auch aufbot, um eine Spur zu entdecken: es war Alles vergebens. Seltsamer Weise muß man an diesen Georg Theodoro gar nicht gedacht haben. Dieser schlaue und gewandte Mensch war eine Reihe von Jahren Diener und vertrautes Factotum Holdrat’s und hatte seinen jüngeren Bruder, einen Knaben, bei sich, den er erzog. Er stand beim alten Herrn in großer Gunst, übergab aber, als er ein halbes Jahr vor der Katastrophe den Dienst um einer geringfügigen Ursache verließ, diesen seinen Bruder der Frau von Schönebeck zur Beköstigung. Er selbst verschwand und blieb verschollen. Deshalb dachte Niemand an ihn, als das Verbrechen sich herausstellte. Nun wird es einleuchtend, daß er mit Hülfe der Frau von Schönebeck und des Steigers Ambrunn sich eine kurze Zeit heimlich hier aufgehalten und den Diebstahl verübt hat. Den Ring hat er, wie wir bereits wissen, durch die treulose Frau erhalten und damit die Siegel neu hergestellt. Die nähern Umstände des Verbrechens wird hoffentlich die erneute Untersuchung ermitteln.“

„Und was halten Sie von diesem seltsamen Schachtgespenst?“ fragte Kahlert.

„Ich bin wirklich um eine Antwort verlegen. Ich selber habe nie etwas in den Schächten gesehen, das wie ein Gespenst aussieht. Aber unerschrockene, ehrenwerthe Bergleute, junge und alte und wahrlich keine geringe Zahl, haben zu verschiedenen Zeiten eine unnatürliche gräßliche Gestalt in abgelegenen Gängen; die mit verlassenen Bauten zusammenhängen, gesehen, jedoch nie während der Arbeitsstunden, und sie beschreiben es so gleichmäßig, daß man doch nicht ohne Weiteres ihnen widersprechen kann. Eine [161] spindeldürre lange Gestalt von erdfahlem Ansehen, mit langem grauen Haar und in einen Knappenkittel der gewöhnlichsten Art gekleidet, zeigt sich plötzlich in der Ferne und verschwindet im Nu, oder flattert gespenstisch schnell an ihnen vorüber. Die Erscheinung trägt ein matt brennendes Grubenlicht, und ein eisgrauer Hauch geht von ihr aus. Da sie zuweilen bald mit leiser, unheimlicher Stimme den Ring fordern, bald schauerlich heulend danach verlangen soll, ja, da sogar behauptet wird, der Geist Schönebeck’s habe sich mehr als einmal Nachts in seinem Hause gezeigt, und von der Frau den Ring geheischt, so ließe sich annehmen, das berüchtigte Schachtgespenst sei Schönebeck selbst, nicht sein Geist, sondern der lebende Mann, zumal, wie ich Ihnen vorhin schon bemerkte, seine Leiche nie aufgefunden worden ist. Dem aber steht entgegen: wie sollte sich ein Mensch zwanzig Jahre lang in diesen alten, dumpfen, feuchten, ungesunden Bergbauten aufzuhalten vermögen? und er muß doch essen und trinken, Kleider haben; ja ein vornehmer Mann, wie Herr von Schönebeck, hat noch eine Menge anderer Bedürfnisse. Woher hätte ihm eine so lange Zeit die Befriedigung derselben kommen sollen? Hier sind überall schwere unauflösbar scheinende Räthsel, wohin wir uns auch wenden. Hoffen wir, daß die nächste Zeit sie dennoch lös’t.“

(Schluß folgt.)




Ein Besuch in Hubertusburg.
Zweiter Artikel.
Eintritt in das Erziehungsinstitut für Schwach- und Blödsinnige. – Erste Eindrücke. – – Innere und äußere Einrichtung der Anstalt. – Der Gang des Lehrverfahrens. – Erziehung der Blödsinnigen von der ersten Uebung der Sinne bis zum Schulunterricht. – Oberlehrer Gläsche. – Ein Leichenzug.

Der Friedenssaal, jetzt bewohnt von Hospitaliten.

Wir traten in das Institut ein. – Dem Leiter desselben, Herrn Oberlehrer Gläsche, vorgestellt, lernte ich in ihm einen ebenso liebenswürdigen, wie für seinen Beruf hochbegeisterten Mann kennen. Ohne Weiteres führte er mich in das Aufenthaltszimmer der Kinder, an welche soeben das Frühstück vertheilt wurde. Ein erschütternder Anblick, die Menschennatur in ihrer tiefsten Verkommenheit zu sehen. Da saßen oder standen etwa vierzig der unglücklichsten aller Kinder. Die meisten zeigten einen fast thierischen Appetit, gierig verschlangen sie ihr Butterbrod; einige versuchten sogar, nachdem sie ihre Portion verschlungen, ihren langsamer essenden Nachbarn das Brod zu entreißen. Auf einem Fenster lag ein Stück Seife, plötzlich ergriff es ein Knabe und verzehrte es, ehe er daran verhindert werden konnte, mit dem größten Behagen.

Herr Oberlehrer Gläsche theilte mir mit, daß der Appetit mancher seiner Zöglinge oft ein so abnormer sei, daß sie Alles, was ihnen vorkäme, selbst die ekelerregendsten Sachen, mit demselben Wohlgefallen verzehrten, wie genießbare, wohlschmeckende Gegenstände. Mein fremdes Gesicht hatte die Aufmerksamkeit der Meisten erregt. Viele kamen auf uns zu, liebkosten ihren Lehrer, zu dem sie eine rührende Anhänglichkeit zeigten, und fragten mich auch, wie ich heiße und woher ich komme. Besonders erregten meine Brille und glänzende Uhrkette ihre Aufmerksamkeit. Die Stumpfsinnigsten unter ihnen zeigten dagegen auch nicht den entferntesten [162] Antheil an unserer Gegenwart. Ich rief sie, griff sie an, gab ihnen Zucker zu essen – sie glotzten mich mit stierem Auge an oder gaben thierähnliche Töne von sich. Eigentümlich sind die Kopfbildungen dieser armen Kinder. Während einige Kinder ungemein große Kopfe, sogenannte Wasserköpfe haben, zeichnen sich die anderer durch ungemeine Kleinheit aus. So war ein etwa zehnjähriger Knabe zugegen, dessen Kopf nicht größer, als der eines einjährigen Kindes war und ungemeine Ähnlichkeit mit einem Vogelkopfe hatte. Der Kopf eines andern Knaben glich einem Todtenkopfe, so tief lagen die Augen darin und so wenig trat die Nase hervor. Fast Alle hatten etwas Abnormes an sich; ich bemerkte dies nicht nur an der Kopfbildung, sondern auch an der übrigen Körperbeschaffenheit. Wie der Geist, so war auch der Leib schlaff. Stiere Augen, dicke, schwulstige Lippen, lange, entweder unförmlich dicke oder ganz schwache Arme, aufgetriebene Bäuche, verkrüppelte Füße bemerkte ich bei vielen dieser unglücklichen Geschöpfe. Die Meisten hatte ein stark scrophulöses Aussehen. Ein einziger Blick auf diese Armen ließ die ungeheuere Aufgabe ahnen, die sich hier die Erziehung gestellt hat. Vortheilhaft zeichneten sich die Kinder aus, die schon längere Zeit den Segen dieser Anstalt genossen hatten. Das körperliche Aussehen war frischer; die Augen hatten den stumpfsinnigen Ausdruck verloren, es sprach Leben aus ihnen. Die Kinder waren sich des Gebrauchs ihrer Glieder bewußt, die Sprache war verständlich, der Gedankenkreis zwar beschränkt, aber die Kinder zeigten, daß die Anstalt bald ihren Zweck an ihnen erreicht haben würde. Das Frühstück war beendet. Die Kinder eilten in den Turngarten hinab, um ein Weilchen in frischer Luft herumzuspringen. Wir folgten ihnen und traten auf einen großen, geräumigen, theils mit Rasen, theils mit Sand bedeckten Turnplatz. Während sich hier die Kinder unter Aufsicht der Lehrer und Wärter herumtummelten, erzählte mir Herr Oberlehrer Gläsche Einiges aus der Geschichte des Institutes. Ein Menschenfreund, der Bezirksarzt Hr. Dr. Ettmüller in Freiberg, behandelte in der 1843 abgehaltenen Versammlung sächsischer Aerzte die Sache der Blödsinnigen-Erziehung in einem längern Vortrage und lenkte die Aufmerksamkeit der Regierung auf diesen Gegenstand. Auf dem Landtage 1846 kam diese Sache wieder zur Sprache und noch im Laufe desselben Jahres begründete die Regierung diese Anstalt. Der Grund, warum man diese Anstalt in Hubertusburg einrichtete, lag darin, daß hier die Räumlichkeiten schon vorhanden und die andern nothwendigen Einrichtungen in Betreff der Bäder, Kost, Verpflegung u. s. w. am leichtesten getroffen werden konnten. Die Anstalt wuchs mehr und mehr, es wurden neue Lehrkräfte gewonnen und während bisher nur Knaben in dieselbe aufgenommen wurden, hat man neuerdings angefangen, auch blödsinnige Mädchen in das Institut aufzunehmen. Auch Ausländer, d. h. Nichtsachsen, werden jetzt gegen entsprechendes Honorar aufgenommen, Gegenwärtig zählt die Anstalt etwa vierzig Pfleglinge, welche von drei Lehrern erzogen werden. Zur speciellen Beaufsichtigung der Kinder sind ein Wärter und drei Wärterinnen da.

Die Herren Lehrer hatten nun die Güte, mir ihre Pfleglinge in stufenweiser Reihenfolge vorzuführen. Muß irgendwo individualisirt werden, so ist dies bei der Erziehung der Blödsinnigen besonders am Orte, da jeder dieser Unglücklichen gleichsam eine Classe, eine Abtheilung für sich bildet und demnach eigens beobachtet und behandelt werden muß. Im Allgemeinen unterschieden die Herren drei Grade des Blödsinns.

Der erste oder geringste Grad könnte auch mit Schwachsinnigkeit oder Dummheit bezeichnet werden.[1] Die auf dieser Stufe sich befindenden Individuen unterscheiden Bilder, vermögen die ihnen bekannten Gegenstände nach Stoff, Farbe, Ort, Form zu beschreiben, haben Gefühl für Recht und Unrecht und sind befähigt für die Anfänge des gewöhnlichen Elementarunterrichts. Der Grund, warum diese die öffentliche Schule nicht mit Erfolg besuchen können, liegt oft lediglich darin, daß der Lehrer bei seiner zahlreichen Classe sie nicht genug berücksichtigen kann; er kann nicht genug individualisiren.

Der Blödsinnige zweiten oder mittleren Grades kennt auch noch die Dinge seiner Umgebung, vermag sie auch wohl zu nennen, aber unterscheidet nur wirkliche, nicht abgebildete Gegenstände. Nahenden Gefahren weicht er, wenn auch ungeschickt, aus. Er empfindet Freude und Schmerz, wird ängstlich in fremder Umgebung und fühlt sich unbehaglich, wenn er sich verunreinigt hat.

Die Sinne des auf letzter, tiefster Stufe Stehenden sind ganz ungeübt, er sieht und hört nicht, ihm gehen daher auch alle Vorstellungen ab. Er spricht nicht, sondern stößt nur unarticulirte Laute aus. Er flieht keine Gefahr. Herr Oberlehrer Gläsche erzählte mir hierbei, daß einer dieser Unglücklichen sich die Hand am Ofen verbrannt und dennoch in nächster Minute wieder den glühenden Ofen berührt habe. Diese Armen vermögen weder allein zu essen, noch sonst irgend ein Bedürfniß anzuzeigen. Freude kennen sie nicht. Ihr Gefühlsvermögen kann nur durch heftige äußere Eindrücke erregt, werden. Sie sind meiner Meinung nach als geistig todt zu betrachten. Die Grenzen dieser drei Grade lassen sich natürlich nicht haarscharf bestimmen. Die meisten Hubertusburger Pfleglinge stehen auf der ersten und zweiten Stufe, sie sind bildungsfähig, während die auf tiefster Stufe sich befindenden höchstens, man erlaube mir den Ausdruck, dressurfähig sind. Diesen tiefsten Grad des Blödsinns zu heben ist ein Problem, dessen Lösung meines Wissens bis heute noch nicht gelungen ist. Ich glaube daher, alle die Anstalten, die sich dieser hohen Sache widmen, würden ihre schöne Aufgabe, der Menschheit zu nützen, vollkommener erfüllen, wenn sie sich nur mit der Erziehung der auf erster und zweiter Stufe Stehenden befaßten, für die auf unterster Stufe sich Befindenden aber nur Pfleg- und Versorganstalt wären. Man rette zunächst die geistig Todtkranken und dann versuche man, die Todten zu erwecken.

Da Körper und Geist in genauester Wechselwirkung stehen und da bei vielen dieser unglücklichen Kinder der krankhafte Körper die Ursache des kranken Geistes ist, so ist es ganz natürlich, daß bei der Erziehung dieser Kinder Beides mit gleicher Wichtigkeit behandelt werden muß. In Hinsicht darauf ist die Hubertusburger Anstalt auf das Trefflichste bestellt. Vor Allem leiten tüchtige Männer das Erziehungswerk und wachen mit großer Treue über die Pflege ihrer Zöglinge. Mit größter Sorgfalt ist Alles in der Anstalt auf das Zweckmäßigste eingerichtet. Die Luft ist in allen Räumen gesund und rein, ich fand alle Zimmer mit den nöthigen Ventilatoren versehen. Die Zimmer selbst sind sehr geräumig und haben eine Höhe von 14 F. Sommer und Winter gehen die Kinder unter Aufsicht eines Lehrers und der Wärterinnen täglich wenigstens eine Stunde spazieren. Erlaubt dies die Witterung nicht, so bewegen sie sich auf den langen, breiten Corridors, die sich an die Wohnzimmer anschließen. Außerdem wird jeden Tag eine Stunde geturnt. Die Kleidung der Kinder ist zweckmäßig und nett, ohne uniformähnlich zu sein. In den Schlafsälen fand ich, ich wiederhole es nochmals, die größte Reinlichkeit und ungemein reine und frische Luft, Das Lager der Kinder besteht aus Matratze, Betttuch, wollenen mit leinenen Ueberzügen versehenen Decken. Betten fand ich sehr wenige und diese waren, wie mir Herr Oberlehrer Gläsche mittheilte, auf Anordnung des Arztes gegeben worden. In jedem Saale schläft zur Aufsicht eine Wärterin, bei den größeren Knaben schläft der Wärter. Dicht neben den Schlafsälen befindet sich die Wohnung des Oberlehrers und erleichtert diesem somit die Ueberwachung und Beobachtung seiner Pfleglinge während der Nacht. Eine solche immerwährende Beobachtung ist besonders deshalb wichtig, weil viele dieser Unglücklichen Neigung zur Onanie zeigen. Die Bettwäsche wird monatlich, die Leibwäsche wöchentlich zwei Mal gewechselt, bei unreinlichen Kindern so oft es nothwendig ist. Die Kinder baden wöchentlich ein Mal, in besonderen Fällen werden auf Anordnung des Arztes besondere Curbäder angewendet. Während des Sommers baden die größeren Knaben, natürlich unter sorgfältigster Aufsicht, in einem der benachbarten Teiche, da kein fließendes Wasser in der Nähe ist. Die Beköstigung ist sehr zweckmäßig und wird fortwährend vom Hausärzte überwacht. Des Morgens erhalten die Kinder Eichelkaffee mit Semmel, um 10 Uhr etwas Butterbrod. Des Mittags bekommen sie nahrhaftes Gemüse und wöchentlich drei Mal Fleisch, um 4 Uhr abermals Butterbrod oder eine leichte Mehlspeise. In besonderen Fällen, etwa bei Krankheiten, wird natürlich auch entsprechende [163] Nahrung gegeben. Das Trinkwasser fand ich gesund und wohlschmeckend. Alles ist vortrefflich, aber eins fiel mir auf, daß nämlich die Kinder, sobald sie einigermaßen unwohl oder krank sind, in eine andere Abtheilung, in das sogenannte Krankenhaus, gebracht werden, somit der Beobachtung ihrer Pfleger entzogen und der Beaufsichtigung fremder Wärter, die mit ihren Eigenthümlichkeiten nicht vertraut sind, allerdings unter Oberaufsicht des Arztes, übergeben werden. Gerade in diesen Fällen, meine ich, ist die Beobachtung dieser Kinder recht ergiebig, der Erzieher sollte sich daher dieser mit Sorgfalt unterziehen können. Die Schuld hierzu trägt die Verbindung dieser Anstalt mit den anderen Anstalten und es wäre wohl zu wünschen, daß dieses Institut, zumal wenn es sich weiter vergrößern sollte, von den übrigen Anstalten getrennt und gleich den Blinden- und Taubstummeninstituten für sich allein verwaltet würde. Bei der Wahl eines neuen Ortes könnte dann auch eine höher gelegene Gegend, die doch immer für diese Anstalten sehr wünschenswerth ist, ausgesucht werden. Sehr passend dürfte z. B. das Schloß Augustusburg hierzu sein.

Nachdem mich die Herren mit allen das somatische Heilverfahren betreffenden Einzelnheiten bekannt gemacht, hatten sie die Güte, mir den Gang ihres Lehrverfahrens in lebenden Bildern, d. h. indem sie mir ihre Schüler speciell vorführten, zu zeigen. Erziehungsgrundsatz Herrn Gläsche’s ist: „Wir suchen in unsern Pfleglingen so oft als möglich das Gefühl der Freude zu erregen, weil sie in solchen Augenblicken am empfänglichsten für unser Wirken sind.“ Ein Satz, der genugsam den Erziehungsgeist, welcher in dieser Anstalt herrscht, charakterisirt. Basis des Unterrichts ist stets und immer die Anschauung. Es gilt daher zuerst, ich erlaube mir hier Herrn Oberlehrer Gläsche wörtlich zu folgen, die Sinne des Kindes zu üben, damit es anschauen lerne, und zugleich den Thätigkeitstrieb, der auf dieser Stufe fast durchgängig als Nachahmungstrieb auftritt, einigermaßen anzuregen. Die Herren verfuhren hierbei auf folgende Weise. Es wurde einem auf dieser Stufe stehenden Individuum eine kleine, glänzende, hellklingende Glocke vorgehalten. Durch den Glanz und das Tönen derselben wurde das Auge und Ohr des Kindes, wenn auch nur auf wenige Augenblicke, gefesselt. Dasselbe Experiment wurde mit einer Repetiruhr, einem Glase wiederholt. Eine schwere Kugel und bunte Bälle wurden auf dem Boden hingerollt und das Kind veranlaßt, dasselbe nachzuahmen. Einfache Körperbewegungen, Aufstehen, Setzen, Legen, die Hand reichen, wurden vorgenommen. Auf der Violine und dem Pianoforte wurden einzelne Töne und stark in’s Gehör fallende Melodien angegeben. Bei alledem war die Sprache der Herren Lehrer kräftig markirt. Alles dies wurde vorgenommen, um das Gesicht und Gehör des Kindes zu fesseln und um seine Willensthätigkeit anzuregen. Am meisten wirkte die Musik auf diese Armen. Auch die Augen sehr tiefstehender Kinder verklärten sich, sie fanden sich veranlaßt, das Instrument, dem diese Töne entlockt wurden, zu suchen und zu betasten. Wie ich hörte, versucht man auf dem Abendberg in der Schweiz das Auge der Cretinen dadurch zu fesseln, daß man dieselben in ein dunkles Zimmer führt und vor ihren Augen mit Phosphor Figuren an die Wand malt.

Durch ähnliche Uebungen gelingt es nach vielen Mühen und längerem Zeitaufwande, wenigstens bei Einigen die Sinne und die Willensthätigkeit so weit zu wecken, daß das Kind durch wiederholtes Anschauen der Dinge zu Vorstellungen von denselben gelangen kann. Herr Oberlehrer Gläsche führte mir einige auf dieser zweiten Stufe stehende Kinder vor. Sie waren durch wiederholtes Anschauen der schon genannten Dinge im Stande, Uhr, Glas, Glocke, Kugel, Klavier etc. zu unterscheiden, und brachten diese Gegenstände auf mein Verlangen herbei. Den Erfahrungen der Herren Lehrer zufolge, lernen die Kinder auf dieser Stufe Vorstellungen von den Gegenständen ihrer nächsten Umgebung, ihres eigenen Körpers gewinnen. So gelangt das Kind zur dritten Stufe. Es wird fähig, die gewonnenen Vorstellungen zu combiniren, und gelangt dadurch zu Begriffen. Man zeigte den auf dieser Stufe stehenden Knaben Bälle, Kugeln, Tische etc. von verschiedener Größe, Farbe und Gestalt, um die Kinder das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu lassen. Die Knaben waren im Stande, Befehle auszuführen, wie: „Leg den Stab auf den Tisch! – Trag die Glocke auf das Fenster! – Stelle die Glocke an die Wand! – Trag die Bürste auf die Bank und bring’ den Ball her!“

Auf diese Weise, indem man den Kindern nach und nach drei- oder vierfache Befehle ertheilt, sucht man ihre Willensthätigkeit, ihre Auffassungskraft, ihr Gedächtnis; zu stärken und zu vervollkommnen. Leichte Turnübungen, die schon auf der ersten Stufe ihren Anfang genommen, wurden auf dieser Stufe eifrig fortgesetzt. Das Kind findet nun sich selbst, denn es versteht jetzt auch solche Aufträge, als: „Komm her! – Stell dich an die Thür!“ Es ist nunmehr im Stande, sein Ich von der Umgebung zu trennen. Welche Freude für den Erzieher, wenn er sein Werk so weit gefördert hat!

Auf der vierten Stufe lernt das Kind abstrahiren. Herr Gläsche brachte eine Anzahl gut colorirter Bilderbücher herbei. Die auf dieser Stufe stehenden Individuen waren im Stande, das erst in Wirklichkeit Angeschaute auch im Bilde unterscheiden zu können. Sie zeigten mir auf den Abbildungen Stuhl, Tisch, Uhr, Glas etc., versuchten dies auch nachzumalen und fingen an, die Buchstaben, die doch nur gemalte Laute sind, kennen und schreiben zu lernen. So bereiten sich Lese-, Zeichen-, und Schreibeunterricht vor.

Nun verwenden die Herren alle Mühe darauf, daß das Kind sprechen lerne. Die auf dieser fünften Stufe vorgenommenen Uebungen ähneln denen, die in den Kindergärten mit vollsinnigen Kindern ausgeführt werden. Schon bei den vorhergehenden Uebungen fand ich, daß Herr Gläsche die Kinder zum Nennen der Gegenstände anleitete. Jetzt war dies Hauptsache. Die Knaben müssen einfache Sätze: das ist ein Tisch – der Tisch ist rund et. aussprechen. Da vielen dieser Kinder das Sprechen schwer fällt, manche sogar stumm zu sein scheinen und zum Theil auch wirklich sind in Folge mangelhafter oder gelähmter Sprachwerkzeuge, so hat sich Herr Gläsche einige Zeit sowohl im Dresdner, als auch im Leipziger Taubstummeninstitute aufgehalten, um die dortigen Unterrichtsweisen kennen zu lernen und dieselben für seine Zwecke benutzen zu können.

Das Kind ist nun nach vielen Mühen und nachdem es manchen seiner Genossen zurückgelassen hat, zur sechsten Stufe gelangt. Es wird nun fähig, mit Nutzen am Elementarunterricht der Volksschule Theil nehmen zu können. Herr Oberlehrer Gläsche hielt mit den auf dieser Stufe stehenden Knaben kleine Unterredungen über verschiedene, theils in Wirklichkeit, theils im Bilde vorhandene Gegenstände. Die Knaben vermochten in einfachen Sätzen dieselben nach Stoff, Ort, Theilen, Farbe, Gebrauch zu beschreiben. Der Unterricht in der Naturgeschichte, in der Geographie bereitet sich hier vor, eben so der im Rechnen, indem die Kinder die Zahl der Augen, der Füße des gezeigten Thieres etc. angeben. Als Gedächtnißübungen hatte man mit den Kindern kleine verständliche Verschen und Liederchen mit ihren Melodieen eingeübt. Hierbei wurden besonders die Fröbel’schen Spiellieder benutzt. Diese Gesanges- und Spielübungen bilden nach Herrn Gläsche’s Ausdruck „die Lichtblicke in seinem Unterrichtsleben.“ Da thaut Herz und Seele seiner Zöglinge auf. Die Armen fühlen ihr Unglück nicht, sie singen fröhlichen Sinnes, wie vollsinnige Kinder: „Freut euch des Lebens.“ Die Willenskraft sucht man durch fortgesetztes Turnen zu steigern, und nun tritt auch der nächste Zweck der Anstalt, die Kinder erwerbsfähig zu machen, mehr hervor. Man benutzte die Kinder zu leichten Hausarbeiten, zum Holzmachen, zu Gartenarbeiten; auch verfertigten sie hübsche Pappsachen, und hatten durch einen geschickten Meister wöchentlich mehrere Male Anleitung zur Korbmachern. Ich freute mich über die Geschicklichkeit, die viele der größeren Knaben bei dieser Beschäftigung zeigten. Nach jahrelangen Mühen und Arbeiten haben die Lehrer das Kind so weit geführt, daß sie ihrem Bildungswerke die Krone aufsetzen können, indem sie seine religiös sittliche Bildung genauer in’s Auge fassen. Zwar hat die Bildung des sittlichen Gefühls schon längst begonnen. Die sorgsamen Lehrer haben alle Gelegenheiten, die das Zusammenleben der Kinder, das Weihnachtsfest, Geburtstage, Spaziergänge, Erscheinungen in der Natur (Sonnenauf- und Niedergang, Gewitter) u. s. w. darbieten, benutzt, um das Gemüthsleben der Kinder zu wecken und ihnen Freude an der schönen Natur, Dank gegen den guten Gott und gegen die Menschen, Gefühl für Recht und Unrecht einzupflanzen. Nun aber beginnt der eigentliche Religionsunterricht. Dieser gründet sich, wie schon aus dem Vorhergesagten folgt, auf [164] Naturanschauung, biblische Geschichte und Ereignisse aus dem einfachen Leben der Kinder. Er ist deshalb einfach und praktisch und den Kindern leicht verständlich. Hören wir hier Herrn Gläsche selbst reden: „Wo, wie hier, die Erzieher und Pfleger mit den Zöglingen gleichsam eine große Familie bilden, wo jedes Leid, das den Einzelnen trifft, und jede Freude von Allen getheilt wird; wo Alle in Gemeinschaft essen und trinken, lernen und spielen, aufstehen, schlafen gehen und beten; da kann es an geeigneten Anknüpfungspunkten nicht fehlen. Ein Religionsunterricht aber, der sich – sei er auch noch so einfach – auf die Erscheinungen des alltäglichen Lebens gründet, der gleichsam aus dem Leben herauswächst, muß auch wiederum in den Kindern lebendig werden und sicherlich mehr in das Leben eingreifen, als ein zu abstract gehaltener oder mit Begriffserklärungen sich herumwerfender. – Je größer die Schwäche des Denkvermögens bei dem Blödsinnigen ist, desto mehr muß man durch den Religionsunterricht auf das Gemüth desselben zu wirken suchen, damit dieses ersetze, was ihm dort gebricht.“

Die Hochachtung, die man vor einem solchen Erzieher, wie Herr Oberlehrer Gläsche ist, empfindet, wird noch mehr gesteigert, wenn man erwägt, daß er sich sein Erziehungssystem selbst, ohne fremde Hülfe geschaffen, da zur Zeit, als er sein Werk begann, weder praktische Erfahrungen noch literarische Hülfsmittel ihm zur Seite standen. Sein im Jahre 1854 erschienener erster Bericht[2] war das erste literarische Erzeugniß, das in einem ausführlichen Plane den pädagogischen Theil der Erziehung Schwach- und Blödsinniger darlegt. Es ist ein Werk, das fern von aller Charlatanerie Zeugniß gibt sowohl von der Bescheidenheit des Verfassers, als von seiner Humanität und Tüchtigkeit. Das hat auch die Kritik Sachverständiger, mit unbedeutenden Ausnahmen, allgemein anerkannt. Wie ich gehört habe, wird in nächster Zeit ein neuer Bericht Herrn Gläsche’s erscheinen, auf den ich im Voraus die verehrten Leser der Gartenlaube aufmerksam mache. Er wird neues Zeugniß über die Wohlthätigkeit dieser Anstalt geben, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens bereits eine ziemliche Anzahl geistig verkrüppelter Kinder zu brauchbaren Menschen herangebildet hat. Der Segen Gottes ruht auf dieser Anstalt. Möge sie fort und fort zum Heile der ärmsten aller Kinder wachsen und gedeihen.


Mein Besuch war beendet; eben wollte ich Hubertusburg verlassen, da bewegte sich ein prunkloser Leichenzug über den Schloßhof. Man trug einen Hospitaliten, einen Veteran der altnapoleonischen Kaiserzeit, hinaus. Ich begleitete den Zug bis auf den Gottesacker der Anstalt. Früher, zur Zeit der Glanzperiode Hubertusburgs, war hier der Operngarten. Prachtvolle Statuen hatten an dieser Stelle gestanden, zärtliche Rendez-vous waren hier abgehalten worden. Jetzt ist gleichsam die Zeit der Buße für das stolze Schloß gekommen, und da begräbt es hier seine Todten. Mancher Blutstropfen mag an dem Golde gehangen haben, das Hubertusburg in seinem Glanze verschlungen. – Die Schuld ist gesühnt. – Es ist zur Friedensstätte für körperliches und geistiges Elend geworden.

Die doppelten Thore öffneten sich mir wieder, ich trat hinaus, und bald war das Schloß meinen Blicken entschwunden.


Der Canal von Suez.
(Schluß.)

Ehe wir an die Auseinanderlegung des Projectes schreiten, so wie dieses durch die internationale Commission modificirt worden ist, glauben wir, der Verständlichkeit halber eine kurze Beschreibung der Oertlichkeit voranschicken zu müssen.

Der Isthmus von Suez ist, wie unsere Leser wissen, jener schmale Erdstrich, welcher, während er Asien mit Afrika verknüpft und gleichsam eine Brücke von dem einen Welttheile nach dem andern bildet, das mittelländische von dem rothen Meere trennt. An der südlichen Seite des Isthmus, am Eingange in das rothe Meer oder den arabischen Golf, liegt die Hafenstadt Suez, von welcher die Benennung der Landenge herstammt. Die Nordseite wird von einer großen Bucht des Mittelmeeres bespült, die ihren Namen von dem nahen, jetzt in Trümmern liegenden Flecken Pelusium entlehnt. Eine leichte Senkung von Seite Egyptens sowohl als von asiatischer Seite bildet einen von Pelusium nach Suez fortlaufenden Thalweg. In der Mitte des 18 deutsche Meilen oder 30 französische Lieues breiten Landstreifens liegt der bereits erwähnte Timsah-See; weiter unten nach Suez zu trifft man die sogenannten, jetzt vertrockneten, bitteren Seen an. Beide Bassins tragen die Spuren oceanischen Ursprungs und sprechen für die Annahme, daß die Landenge einst einen natürlichen Bosporus vorstellte. Das salzige Wasser des Timsah, die Salzincrustationen und Seemuscheln der bitteren Seen lassen hierüber keinem Zweifel Raum. Nördlich vom Timsah-See erstreckt sich der See Manzaleh. Derselbe steht mit dem Mittelmeere in Verbindung und ist von diesem nur durch eine schmale, hier und da durchbrochene Sandzunge geschieden. Die Bodenerhöhung des Isthmus ist mit geringen Ausnahmen eine ganz unbedeutende. Sie beträgt im Durchschnitt nicht über einen bis drei Meter und der höchste Punkt, die Schwelle El-Guisr, steigt nicht über sechzehn Meter über den Meeresspiegel. So heißt jenes Sandplateau, welches zwischen dem See Manzaleh und jenem von Timsah eingeschoben ist. Letzteren scheidet von den bitteren Seen die Schwelle von Serapeum, von den Resten eines dem Serapis-Dienste gewidmeten Tempels so benannt. Was die Beschaffenheit des Terrains anlangt, so ist der Isthmus im Ganzen eine unwirthsame, nur mit Wüstenvegetation fixirte Sandsteppe, obschon nicht ohne Spuren ehemaligen Culturlebens. Bewegliche Dünenhügel trifft man nur östlich der Schwelle El-Guisr in der Richtung des pelusischen Meerbusens. Auf Felsen, ja selbst auf Steinmassen ist der Bohrer nirgends gestoßen.

In staatlicher Beziehung gehört die Erdenge zu Egypten, dessen äußerste östliche Grenze sie bildet und wo sie an Syrien und Arabien, dem Sultan mehr oder minder unterwürfige Provinzen, stößt. Topographisch hängt der Isthmus mit dem bevölkerten Theile Egyptens durch zwei Transversalthäler zusammen. Das südlichere derselben beginnt bei der Hauptstadt Kairo und erstreckt sich bis gegen die Hafenstadt Suez. Die Karavanenzüge bewegen sich auf dieser Linie, wo sie von Distanz zu Distanz willkommene Ruheplätze und erquickende Oasen antreffen. Auch die ihrer Vollendung entgegeneilende Eisenbahn verfolgt denselben Thalweg. Nördlich von dieser Bodendepression, in der Mitte des Isthmus, läuft, dem ersteren beinahe parallel, ein zweites Thal, Wadi-Tumilat, welches, vom Timsah-See ausgehend, sich gegen Belbeys am pelusischen Nilarme ausdehnt. Diesen Thalgrund, das Gosen der Bibel, welches einst den Juden zum Wohnsitz diente, entlang, führt ein jetzt vernachlässigter und verfallener Canal, welcher vor Zeiten den Nil durch den Timsah und die bitteren Seen mit dem rothen Meere in Verbindung setzte.

Von dem Pharao Necho gegen Ende des siebenten Jahrhunderts[WS 2] v. Chr. begonnen und von Darius Hystaspis († 485 v. Chr.) fortgesetzt, wurde das Riesenwerk unter den Ptolemäern vollendet. Nach Eroberung Egyptens durch den Khalifen Omar unternahm sein Statthalter Amru zum letzten Male die Restauration des großen Canals; hundert Jahre später ordnete aber einer seiner Nachfolger, Mansur, aus Eifersucht gegen den aufständischen Hassan in Medina, die Verschüttung dieses Communicationsmittels an.

Der Wohlstand Egyptens hängt mit dessen Wassersystem unzertrennlich zusammen. Unterhalb Kairo spaltet sich der Nil in zwei, eigentlich drei Hauptarme. Der erste läuft in nordwestlicher Richtung, fällt bei Rosette in das Mittelmeer und entsendet zu seiner Linken[WS 3] den Mahmudieh-Canal nach Alexandria. Der zweite fließt gegen Nordost und ergießt sich ebenfalls in’s mittelländische Meer unweit Damiette. Der dritte Arm endlich, noch mehr östlich gerichtet, mündet in den Manzaleh-See. Nur der [165] inmitten dieses Dreizacks befindliche Theil Egyptens, das Nildelta genannt, ist zum Ackerbau geeignet. Rechts und links jenseits der Stromgabeln dehnen sich öde Sandwüsten aus. Die periodischen Ueberschwemmungen des Nils befruchten den Boden des Delta und machen diese Gegend zu einer reichen Kornkammer. Wohin die Fluthen des Stromes nicht reichen, hat Menschenfleiß künstliche Leitungen gezogen, zur Bewässerung und zugleich zur Schifffahrt bestimmt. Das einst von blühenden Colonien besäete, jetzt unbewohnte Wadi-Tumilat verdankte seinen Flor dem ptolemäischen Canal. Das Vorproject stellt, wie wir wissen, die Erneuerung der alten Wasserlinie vor. Indeß, so namhaft die Vortheile sein mögen, welche aus der Wiederherstellung der Verbindungslinie mit dem arabischen Golf für Egypten erwachsen müssen: für den Weltverkehr liegt nur in einer directen Verbindung des mittelländischen mit dem rothen Meere Heil.

Der maritime Canal soll dem durch die internationale Commission festgesetzten Plane gemäß vom Hafen von Suez auslaufen und der zwischen Arabien und Egypten bestehenden Senkung entlang durch die Becken der bitteren Seen in den Timsah, aus diesem aber in und durch den See Manzaleh in den Golf von Pelusium führen. Die Gleichheit des Terrains macht alle Schleußen überflüssig. Eine Erweiterung des Hafens von Suez ist jedoch in Anbetracht des zu erwartenden Verkehrs unvermeidlich; es soll überdies ein zweiter im Timsah-See erbaut und zur Aufnahme von 500 Fahrzeugen eingerichtet werden. Am nördlichen Ende des Canals, im Meerbusen von Pelusium, muß die Kunst den Mangel eines natürlichen Hafens ersetzen. Zwei beiläufig parallel laufende Steindämme (jetées), deren einer an seiner nördlichen Spitze eine leichte Krümmung erhält, werden den Schiffen Schutz und Ankergrund gewähren. Die Länge dieser Bauten beträgt nach dem Voranschlage 2500 Meter für den einen und 3500 für den zweiten Damm. Aehnliche Werke von 1800 bis 2000 Meter Länge sollen das Ein- und Auslaufen in Suez erleichtern.

Rücksichten für die unmittelbaren Interessen Egyptens, so wie die Nothwendigkeit, die Arbeiter und später die Ansiedler an dem maritimen Canal mit Süßwasser zu versehen, gebieten außerdem das Graben eines Nilcanals. Dieser soll unterhalb Kairo seinen Anfang nehmen, das Wadi-Tumilat durchziehen und in dem Timsah-See enden. Vor seiner Mündung wird derselbe zwei Arme, den einen nach Nord in den pelusischen Nilarm, den anderen nach Süd in den arabischen Golf entsenden.

Die Dauer der Arbeit bis zur Eröffnung des maritimen Canals ist auf fünf Jahre berechnet. Man soll mit der Süßwasserleitung den Anfang machen. Saïd-Pascha verspricht in der Concessionsurkunde, die nöthigen Arbeitskräfte gegen einen den Localverhältnissen angemessenen Lohn (1 Fr. per Tag) zu stellen. Die Fellah’s oder Landbewohner Egyptens sind fleißige Leute und zu ähnlichen Arbeiten überaus geschickt. Die zahlreichen hydraulischen Bauten der Vorzeit sowohl als der Gegenwart legen hierfür ein sprechendes Zeugniß ab.

Betreffend die Kosten des Gesammtbaues finden wir diese auf 162 Millionen und mit Einschluß der Zinsen während der Ausführung in runder Zahl auf 200 Millionen Franken angesetzt.

Für die Einträglichkeit des Unternehmens stellt das Project nachstehende Schätzung an: der Gesammtverkehr Europa’s und Amerika’s mit den jenseit des Vorgebirges der guten Hoffnung und des Cap Horn gelegenen Ländern kann auf 2½ Milliarden Fr. oder, zu 600 Fr. die Tonne, auf 6,000,000 Tonnen geschätzt werden. Nimmt man an, daß von dieser Quantität nur die Hälfte den kürzeren Weg über den Isthmus wählen wird – und man könnte zuversichtlich ein größeres Verhältniß voraussetzen – so erhält man

an Passagegeld per 10 Fr. die Tonne 30,000,000 Fr.
an Ankergeld zu 1 Fr. die Tonne im Timsah-Hafen, blos von der Hälfte der Durchfuhr gerechnet (1,500,000 Tonnen) 1,500,000 Fr.
an Passagegeld auf dem Nilcanal 1,560,000 Fr.
an Ertrag des Culturlandes, Eigenthum der Gesellschaft 6,996,000 Fr.
Zusammen       40,056,000 Fr.

Schlägt man die Verwaltungskosten auch noch so hoch an, so bleibt für die Unternehmer immer eine höchst einladende Dividende zurück. Der Gewinn wird indeß die Voraussicht eher übersteigen, als unter derselben bleiben. Die bei allen Schienenwegen gemachte Erfahrung lehrt, daß die Anlage eines kürzeren und wohlfeileren Communicationsmittels den Verkehr auf überraschende Weise vermehrt.

Der Weg zwischen den westeuropäischen und amerikanischen Häfen und den indisch-oceanischen Küsten um’s Cap der guten Hoffnung beträgt durchschnittlich 6000 Lieues oder 3800 deutsche Meilen, während die Straße über’s rothe Meer nur 3000 Lieues oder 1900 deutsche Meilen, somit die Hälfte ausmachen würde. Die beigefügte Tabelle vergegenwärtigt diese Aufstellung in genauerer Weise:

Zwischen Bombay und      deutsche Meilen
über Suez. um’s Cap.
Constantinopel 1080 3660
Malta 1237 3480
Triest 1404 3576
Marseille 1424 3390
Cadiz 1378 3120
Lissabon 1500 3210
Bordeaux 1680 3390
Havre 1694 3480
London 1860 3570
Liverpool 1830 3540
Amsterdam 1860 3570
Petersburg 2220 3930
New-York 2257 3720
New-Orleans 2234 3870

Die mittleren Fahrten gewöhnlicher Segelschiffe um’s Vorgebirge der guten Hoffnung erfordern für die Hinreise nach Indien 110 bis 120, für die Rückkunft 130 Tage. Eine volle Reise dauert hiernach im Durchschnitt acht, und mit dem Frachtsuchen, Laden u. s. w. zehn Monate. Die Fahrt durch den Isthmus wird hingegen nur sechzig Tage, also für Hin- und Herreise vier und mit dem Aufenthalte sechs Monate verlangen.

Die Frachtkosten auf der Caproute, das Schiff zu 500 Tonnen (also 1000 Tonnen hin und zurück) genommen, steigen auf 120,000 Fr., also 120 Fr. für die Tonne. Ueber Suez werden diese Kosten nur 72,000 oder per Tonne nur 72 Fr. ausmachen. Die Differenz zu Gunsten letzteren Weges beträgt mithin 48 Fr. für die Tonne.

Die Vortheile, welche die Benutzung des Canals verspricht, sind somit auf das Unzweideutigste erwiesen. Gegen die Ausführbarkeit lassen sich ebenfalls keine stichhaltigen Argumente anführen.

Die Spiegel der beiden zu verbindenden Gewässer weichen nur ganz unbedeutend von einander ab. Das Niveau des rothen Meeres steht nur 68 Centimeter höher, als jenes des mittelländischen. Die Ueberfluthung gehört somit in das Reich der Chimären. – Der Boden des Isthmus ist eben, besteht aus Kies und Sand, und bietet folglich dem Spaten kein Hinderniß dar. – Eine Verschüttung des Canals durch Flugsand steht nicht zu besorgen. Die Becken der Seen und theilweise das Bett der seit vielen Jahrhunderten, ja Tausenden von Jahren bestehenden Canäle müßten sonst längst versandet und spurlos verschwunden sein. Die Sandhügel sind größtentheils durch Wüstenvegetation fixirt, und sollen durch Anbau von Wäldern völlig unschädlich, ja fruchtbringend gemacht werden, so wie auch jene beweglichen Dünen, welche eine Strecke des Canals von El-Guisr aufwärts begleiten. Nicht besser begründet ist die Furcht vor den Stürmen und Klippen des rothen Meeres. Eine langjährige Bekanntschaft vieler und ausgezeichneter Seeleute mit diesen Gewässern hat das aus der Vorzeit überlieferte Vorurtheil vollkommen entkräftet. Selbst die in dem indischen Ocean und im arabischen Golf herrschenden periodischen Winde (Monsun) verlieren ihre Bedeutung, wenn man bedenkt, daß die Dampfkraft von Jahr zu Jahr eine größere Anwendung findet, und daß die im rothen Meere aufzustellenden Remorqueurs im Nothfall die Segelschiffe in’s Schlepptau nehmen können.

Da nun die Möglichkeit einer Canalisirung erwiesen, die Vortheile aber so mannichfaltig, allgemein und einleuchtend sind, so [166] fragt sich der unbefangene Leser, wie es komme, daß man nicht schon längst Hand an’s Werk gelegt habe. Die Störrigkeit der englischen Regierung allein steht der Erfüllung des allgemeinen Wunsches im Wege. Die Einstimmigkeit der Völker und Regierungen Europa’s und Amerika’s, die unzweifelhaftesten Manifestationen der britischen und ostindischen Handelswelt sind bis jetzt an dem Starrsinn Lord Palmerstons und Stratford de Redcliffe’s gescheitert. Die Einwendungen dieser Staatsmänner, nachdem sie die Unternehmung von technischer Seite nicht länger beanstanden können, beruhen auf Rücksichten für den commerciellen und politischen Bestand ihres Landes und der Türkei.

Wie einst Venedig in Folge der Entdeckung der Fahrstraße um das Cap der guten Hoffnung zu Gunsten der oceanischen Nationen, so würde, meinen die Widersacher des Projects, England durch den Durchstich der Landenge von Suez zu Gunsten der mittelländischen Häfen in Verfall gerathen. Der Vorsprung, welchen Triest, Genua, Marseille u. s. w. vor London und Liverpool hätten, müßte über kurz oder lang den Ruin der britischen Industrie und des britischen Handels herbeiführen.

Hierauf entgegnete Herr von Lesseps und die übrigen Fürsprecher der Unternehmung, der edle Lord scheine ob dieses Vorsprungs in der Entfernung jene Ueberlegenheit zu vergessen, deren sich England in Bezug auf Industrie, Capitalien, Marine, Verbindungen und Unternehmungsgeist vor allen Völkern Europa’s und, mit Ausnahme der letzteren Eigenschaft, Amerika’s erfreut. So lange die englische Nation im Besitze dieser Vortheile bleibt, habe sie einen Wettstreit mit keinem Volke der Erde zu scheuen. Weder Oesterreich, noch Frankreich, noch Amerika können ihre Manufacte zu so billigen Preisen herstellen, wie die Fabrikanten Großbritanniens. Nur mit hohen, wohl zu hohen Schutzzöllen, ja mitunter mit gänzlicher Prohibition glauben sie gegen die Uebermacht der Engländer bestehen zu können. Die Energie der anglo-sächsischen Race bürge dafür, daß sie die einmal eroberte Stellung nicht aufgeben wird. Endlich biete der Orient, zumal wenn China zugänglich gemacht, Australien sammt der übrigen Inselwelt, so wie Ostafrika und die am arabischen Golf gelegenen Länder volkreicher und gesitteter werden, der Industrie und dem Handel aller Staaten der Welt ein ungeheures sich immer erweiterndes Feld.

Von politischer Seite betrachtet, fuhr der ängstliche Premier fort, liege in der Durchbohrung des Isthmus offenbar Gefahr für England sowohl als für die Türkei.

Durch Handel bereichert und gekräftigt, werde es eines Tages dem Pascha von Egypten einfallen, sich von dem Verbande mit dem türkischen Reiche loszureißen, und so werde die Schwächung, wo nicht die Auflösung des letzteren durch eigenes Zuthun der Westmächte erfolgen. Mit Hinblick auf England walten noch erheblichere Bedenklichkeiten vor. Der Canal von Suez, den größten Kriegsschiffen zugänglich, würde die am Mittelmeer gelegenen großen Militairstaaten fortwährend zu einem Angriff auf Ostindien einladen. Das Unternehmen des Generals Bonaparte stehe als warnendes Beispiel da.

Angenommen, daß Egyptens Aufblühen mit einer definitiven Losreißung enden müsse – was eine immerhin bestrittene Voraussetzung bleibt – so sehen wir in dieser eventuellen Sachlage keinen Grund zu einer wirklichen Schwächung des Mutterlandes. Vasall oder unabhängiger Regent, wird der Beherrscher Egyptens aus religiösen Motiven nicht minder, als aus Rücksichten für seine Herrscheransprüche stets ein treuer, weil natürlicher, Verbündeter des Sultans bleiben. Fiele Constantinopel in russische Hände – und von dieser Seite allein kann man vernünftigermaßen Besorgniß hegen – dann wäre es auch um die Selbstständigkeit Egyptens geschehen. Die Bereitwilligkeit, mit welcher Saïd-Pascha seinem bedrohten Suzerain im letzten Kriege gegen Rußland mit Geld, Truppen und Schiffen Beistand leistete, enthebt uns aller weiteren Begründung dieser Ansicht. Endlich aber haben der Sultan und sein Großvezir Reschid Pascha das Unternehmen für ein nützliches erklärt, und nur des englischen Gesandten Widerstand halte die Pforte ab, dem Project die Sanction zu ertheilen.

Ohne auf die Neutralisirung des Canals übergroßes Gewicht zu legen, könne die Befürchtung der Invasion Indiens nach der Ueberzeugung der Freunde des Projects, einer ernsten Discussion ebenfalls nicht widerstehen. Offenbar habe der Premier Frankreich im Auge, denn weder Oesterreich mit seinen paar Schiffen, noch Rußland, zur Ohnmacht im Euxin verdammt, können dem ersten Minister Großbritanniens als gefährliche Gegner erscheinen. Frankreich aber sei zur Erkenntniß gelangt, daß seine Interessen als leitende europäische Großmacht mit jenen Englands auf das Glücklichste übereinstimmen. Im Bunde mit England und von wenigstens verhältnißmäßig liberalem Geiste in seiner auswärtigen Politik geleitet, schreibe Frankreich Europa, so zu sagen, Gesetze vor, wohingegen ein Bruch mit dem großen Inselvolke bis jetzt noch immer einen verderblichen Ausgang nahm. Sollte indeß zwischen beiden Nationen ein Krieg ausbrechen, so gibt den Engländern außer dem Besitz von Malta, Corfu und Aden – Festungen und Arsenale, deren jedes zu Asien näher liegt, als Toulon – ihrer unüberwundenen Kriegsflotte die Mittel an die Hand, ihre Besitzungen im indischen Ocean glorreich zu behaupten. Dieser allein sei es auch bisher zu verdanken gewesen, daß Großbritannien seine Colonien wirksam zu schützen wußte. Der Mangel einer Durchfahrt durch den Isthmus von Suez habe Frankreich in den früheren Zeiten nicht verhindert, in den asiatischen Gewässern zu erscheinen; Brest sei auch jetzt dem Cap der guten Hoffnung und somit Ostindien näher gelegen, als Plymouth oder sonst ein Kriegshafen der Manche; dennoch fürchte England einen Angriff von dieser Seite nicht, weil die Erfahrung seine Uebermacht zur See häufig bestätigt hat.

Dem sei nun so oder anders, was immer auch der Vortheil Englands erheischen möge, die Canalisirung der Erdenge von Suez liegt im Interesse aller übrigen Völker der Erde, und der Sondervortheil des Einzelnen wird endlich dem Wohl der Gesammtheit weichen müssen. Weder die Eisenbahn durch Egypten, noch der aus Eifersucht wider den Canal vorgeschlagene Schienenweg über Syrien nach dem persischen Meerbusen können die directe maritime Verbindung Europa’s mit Asien ersetzen. Beide versprechen beachtenswerthe Ergänzungen zu werden: einen Ersatz für den Seecanal bieten sie nicht. Die Beharrlichkeit des Herrn von Lesseps im Bunde mit der öffentlichen Meinung der Völker, und bald vielleicht auf diplomatischem Wege unterstützt, wird ehelang über das Vorurtheil, ja den Eigensinn der Staatsmänner Englands den Sieg davon tragen.

Das nöthige Capital, wozu Saïd-Pascha allein 32 Millionen beizusteuern versprach, ist bis auf 30 Millionen, welche die Gründer den englischen Plätzen vorbehalten, gezeichnet. Sollte England auf seinem Widerstande noch lange beharren, so dürfte man am Ende seine Zustimmung für entbehrlich erachten. Hoffen wir indeß, daß Englands jetzige Staatsmänner zur Erkenntniß der wahren Interessen ihres Landes gelangen, und keinen offenen Zwiespalt hervorrufen werden in einer Frage, deren Lösung die Einigung und das Wohl aller Nationen bezweckt.


Amerikanische Skizzen.
Von B. Dalei.
Zwei deutsche Mädchen.

Es war im Jahre 1853, als bei der Kunst- und Industrieausstellung im Krystallpalaste zu New-York unter den ausgestellten Stickereiarbeiten des Hauses Wank, Bennett u. Comp. am Broadway ein prachtvoll gestickter Shawl unter den Besuchern, namentlich dem weiblichen Theile des Publicums, ein besonderes Aufsehen erregte. Man erkundigte sich mit Interesse nach der Urheberschaft dieser kunst- und geschmackvollen Arbeit und erfuhr, daß es ein Werk deutscher Frauenhände sei, zum nicht geringen Staunen der Amerikaner, wie mit stolzfreudigem Antheil jener Deutschen, bei denen das Nationalgefühl noch nicht völlig erstorben ist.

Die Verfertigerinnen waren zwei Schwestern, die zwei Jahre [167] später, wie öffentliche Blätter die Nachricht brachten, im September 1855 ihr Leben durch Selbstmord beschlossen und auf dem Gottesacker von Randolf’s Island, einem der Todtenfelder des verzweifelten Elends und der geldlosen Armuth, zur Ruhe bestattet sind. Aus Allem, was über den tragischen Fall Näheres bekannt wurde, geht hervor, daß bittere Noth in Folge plötzlicher Arbeitslosigkeit und verrathene Liebe ihnen das Herz gebrochen, sie zum letzten blutigen Schritte gedrängt hat. Die ersten Anfänge der traurigen Verwickelung fallen mehrere Jahre rückwärts, wohin wir nun die Blicke unserer Leser wenden wollen, damit ihnen die Grundfäden des düsteren Gewebes nicht verborgen bleiben.

Im Jahre 1848 wohnte eine Familie in Berlin, Namens St…, bestehend aus Vater, Mutter, zwei Knaben und drei Töchtern, die beiden ältesten der letzteren Cäcilie und Wanda mit Namen. Die Mutter soll leichtfertigen Charakters und aus diesem Grunde durchaus kein erbauliches Muster für die Sittenstrenge ihrer Töchter gewesen sein. So war Cäcilie die Frucht eines Nebenverhältnisses mit dem polnischen Fürsten Radziwill. Die zweite Tochter, Wanda, war zur Zeit des Aufenthaltes in Berlin ein Mädchenbild von ausgezeichneter Schönheit, in einem Alter von kaum sechzehn Jahren.

Ein gewisser Eduard Grenier, französischer Gesandtschaftssecretair unter Cavaignac, wurde von Wanda’s Reizen dermaßen gefesselt, daß sich ein förmliches Liebesverhältniß zwischen Beiden entspann, das bei der Leichtigkeit, mit der sich Beide sehen und sprechen konnten, bald traurige Folgen hatte. Die Frucht dieses vertrauten Umganges war im September 1849 die Entbindung Wanda’s von einem gesunden Knaben, der in der Taufe den Namen seines Vaters, Eduard, erhielt. –

Später entlud sich in Frankreich das bekannte staatsstreichliche Gewitter vom 2. December, in Folge dessen die ganze französische Republik, wie auch deren diplomatische Corps nach allen Winden auseinander stoben.

Auch Wanda’s Geliebter suchte den Flüchtlingsschutz in der Schweiz, setzte aber das Verhältniß mit dem Mädchen, der Mutter seines Kindes, in fleißigen Correspondenzen auf so entschiedene Weise fort, daß sich Wanda, die mit der ganzen Gluth einer ersten Jugendliebe an dem geliebten Manne hing, gar leicht überreden ließ, ihm in die Schweiz zu folgen, und das um so mehr, weil seine Briefe das wiederholte heiligste Versprechen enthielten, sie sofort durch Heirath zum Rang seiner Gemahlin zu erheben und dem Kinde öffentlich seinen Vater zu geben.

Auf das Wort des Geliebten, wie auf eine Stimme vom Himmel vertrauend und bauend, folgte sie sammt ihrem Kinde der Einladung in die Schweiz. – Kaum war sie aber angekommen, so erhob Eduard aus Grund von mancherlei Rücksichten, die er anders nicht zu beseitigen wüßte, Schwierigkeiten wegen sofortiger Heirath und setzte als letzte Bedingung: er könne diesen Schritt nur dann für sich, wie für Mutter und Kind mit gutem Gewissen und bester Aussicht wagen, wenn sie vom Protestantismus zum Katholicismus übertreten würde.

Auch dieses Opfer brachte das liebende Weib. – Im Drange einer nöthigen Reise auf einige Zeit zur endgültigen Ordnung seiner Familienangelegenheiten, versorgte er Mutter und Kind einstweilig in einem – „Kloster“ in Kolmar.

Nachdem die Arme ein volles Jahr in der qualvollsten Schwebe zwischen Hoffnung und Furcht auf seine Rückkehr vergeblich gewartet, reiste sie endlich, in einem Zustande der Verzweiflung an Gott und Menschen, sammt ihrem Kinde wieder in die deutsche Heimath zurück.

Doch in Berlin mochte sie nicht länger leben, und wie bei so vielen Unglücklichen dieselbe Hoffnung tröstlich erscheint, so stieg auch ihr, in Taggedanken wie in Träumen, das ferne „freie Amerika“ noch als einzige Rettungsinsel in ihrem schiffbrüchigen Leben, eine zauberisch lockende Fata Morgana aus der dunkeln Trümmerwüste empor, und rasch war der Entschluß zum ewigen Verlassen der deutschen Erde gefaßt, um jenseits des Meeres ein Heilkraut für ihr wundes Herz, vielleicht wohl noch ein neues, still bescheidenes Lebensglück zu finden. Nebenbei wirkte auch noch mitbestimmend zum letzten Schritt über’s Meer die Aussicht, dort einen nahen Verwandten, ihren Vetter, Namens Ludwig May, zu treffen, der, soviel sie wußte, in New-York wohnte und sie für die erste Zeit wohl recht gern mit dem nöthigen Schutz und der unentbehrlichen Anleitung unterstützen würde.

So reisten sie denn an einem lieblichen Sommertage ab von Berlin, Wanda, ihr Knabe und die Stiefschwester Cäcilie. Die neue Hoffnungswiege, das Auswandererschiff, wie stark auch mitunter das sanfte Schaukeln in derbes Schütteln und Rütteln überschlug, brachte sie doch Alle glücklich an’s Gestade der neuen Welt und die Weltstadt New-York öffnete ihnen zuerst in ihren zahllosen Straßen ein recht augenscheinliches Beispiel ebenso zahlloser Pfade und Wege zur Verfolgung eines noch unbestimmten Glücks für die vielen Tausende von Einwanderern, die in der günstigen Jahreszeit fast jede Woche hier landen und ihren letzten Glückswürfel versuchen wollen.

Ihren Vetter May hatten sie bald aufgefunden, der sie recht freundlich empfing, durch etwa zwei Monate sie beherbergte, bis er ihnen in Mottstreet eine Wohnung ausgemittelt und, was noch das Erfreulichste, ihnen zugleich eine entsprechende Beschäftigung, feine und gut gezahlte Arbeit im Stickerei-Geschäft von Bennett u. Comp, im Broadway verschafft hatte, und zwar Arbeit auf’s Stück, die einen geschickten und emsigen Arbeiter immer besser lohnt, als Stunden- oder Tagesarbeit.

Es währte nicht lange, so hatten die äußerst fleißigen, mit neuem Lebensmuth beseelten Mädchen 150 Dollars in redlicher Arbeit sich erworben, und nun wollten sie sogleich zur Ausführung eines längst gehegten Lieblingswunsches schreiten, nämlich: 50 Dollars von dem Ersparten ihrem Bruder Ludwig nach Berlin übersenden, damit auch er im Stande wäre, die Reise nach Amerika anzutreten und möglicherweise sich glücklicher zu stellen, als in der Heimath.

Allein der Bruder zeigte keine Lust und wollte sich zu diesem Schritte erst dann entschließen, wenn es möglich gemacht sei, daß nicht nur er allein, sondern die ganze Familie mitreisen könne.

Die augenblickliche Unmöglichkeit, den Wunsch des Bruders in seiner Weise zu erfüllen, drückte ziemlich schwer auf die Gemüther der Schwestern und sie arbeiteten nun noch angestrengter als je, so daß ihre Gesundheit darunter zu leiden anfing. Anscheinend waren sie nicht unzufrieden mit ihrem Loos; sie hatten doch das Glück der gut gezahlten Arbeit, das zeitweise Tausende nicht haben.

Uebrigens lebten sie äußerst ein- und zurückgezogen, und benahmen sich fast bei jeder Veranlassung, wo sie eine nähere Berührung mit Menschen nicht vermeiden konnten, wie verschüchterte Tauben, die sich schon vor dem Schatten des Geiers fürchten und flüchten. – Wanda konnte noch immer, trotz ihres heimlichen Leidens, für eine interessante Schönheit gelten. Ihre sanfte Schwermuth, ihr tiefsinniges Auge gab ihr jenen eigenthümlichen Reiz, der bei wirklich schönen Frauen nicht selten viel anziehender wirkt, als die ewige Lachmiene einer alltäglichen, oberflächlichen Lebenslust.

Was Wanda’s Schwermuth natürlich vermehrte, war die unbesonnene Aeußerung eines jener im „freien Amerika“ so unzähligen Pseudo-Doctoren, die schon an und für sich selber, ohne die übrigen Epidemien, als eine stehende Pest zu betrachten sind. Ein solcher sagte ihr nämlich bei einer gelegentlichen Berathung, daß sie sich gefaßt machen dürfe, kaum noch ein Jahr zu leben.

Ueberdies trat nun auf einmal, und zwar im nächsten Berührungskreise der armen Mädchen, eine der in den amerikanischen Verhältnissen sich so häufig ereignenden und unvorhergesehenen Katastrophen ein, die wie ein Blitz aus dem heitern Himmel schlugen, mancherlei Lebens-, Familien- und Geschäftsverhältnisse unsäglich verwirren, zerstören und verwüsten für kürzere oder längere Zeit, bei nicht wenigen für immer.

Eben diese manchmal so urplötzliche Veränderlichkeit in den Verhältnissen und Schicksalen hier zu Lande macht das Leben in einer und der andern Richtung für die meisten Menschen viel unsicherer, als in der alten Welt, wo überdies für den Einheimischen weit mehr Nothstützen in steter Bereitschaft sich finden, als es hier der Fall ist, namentlich für den „Fremden.“ Deswegen mag auch der Glücklichste, sobald er die Dinge um sich her in ihren nur allzu raschen Wandlungen mit Nachdenken betrachtet, seines augenblicklichen Glückes nimmer so recht froh werden, wie drüben auf dem festeren Boden der alten Heimath.

Die Katastrophe, die wir meinen, hier zunächst in Bezug auf Wanda und ihre Schwester, war der plötzlich ausgebrochene Bankerott der bisherigen Arbeitgeber für unsere armen Landsmänninnen, und in dessen Folge ihre augenblickliche Arbeits- und Verdienstlosigkeit. – Ein neues und günstiges Arbeitsverhältniß, [168] nach dem Zusammenbruch eines alten sich sobald wieder herzustellen, hält eben in der Wirklichkeit eines großen Stadtlebens, wo Hunderttausende sich bewerben, viel schwerer, als man sich in Deutschland gewöhnlich einbildet. Es kann unter Umständen Monate, ja Jahre gehen, bis man wieder festen Sitz hat – wer weiß, auf wie lange! –

Nun kam zur Kränklichkeit die Zeit der Trübsal und Thränen, das Heimweh, ja die bitterste Leibesnoth. Der gutmüthige Vetter zahlte mehrere Male den Miethzins für die Unglücklichen, unterstützte sie nach Kräften und über seine Kräfte, bis er endlich aus Pflichtsorge für die eigene Familie genöthigt war, seine Verwandten ihrem Schicksal zu überlassen.

Als der Zins für die monatliche Hausmiethe wieder verfallen war, und die ehrliche Zahlangst die Armen auf’s Bitterste bedrängte, begab sich Wanda zum Hauseigenthümer, Herrn Black, und entschuldigte sich auf’s Allerdemüthigste damit: sie würden erst andern Tags ihren Arbeitslohn in Empfang nehmen, er möchte sich deswegen gedulden, sie wollten ihn dann redlich bezahlen.

Unterdessen war dem Herrn May folgender Brief von seinen Cousinen zugekommen, der wörtlich also lautete:

          „Werther Herr!
„Da wir die Vereinigten Staaten für immer zu verlassen beabsichtigen, so senden wir Ihnen hiermit Ihr Bildniß zurück. Sie würden uns verpflichten, wenn Sie nach unserer Abreise einige unserer Effecten für uns nach Europa senden wollten. Unsere Absicht mag Ihnen auffallend erscheinen, obwohl nichts natürlicher ist. Wenn Sie uns jene Gefälligkeit erzeigen wollen, so geben Sie meiner Schwester Wanda ein Zeichen durch Oeffnen und Schließen Ihres Fensters. Dieselbe wird Sie um 12 Uhr in Franklinstreet, zwischen Broadway und Churchstreet, erwarten. Wenn Sie nicht da sind, dann leben Sie wohl auf ewig!
Cäcilie.“ 
New-York, 3. September 1855.

Zum Unglück gelangte der Brief nicht rechtzeitig an seine Adresse, daher es Herrn May nicht möglich gewesen war, an dem bezeichneten Orte mit Wanda zusammenzutreffen. Deswegen schrieb Herr May einen Entschuldigungsbrief an seine Cousinen, und weil der Knabe, der den Brief übergeben sollte, die Thüre fest verschlossen fand, so legte er, einen Ausgang der beiden Schwestern vermuthend, den Brief in die Spalte zwischen Thür und Schwelle, damit sie ihn bei der Rückkehr in’s Haus fänden.

Als Herr Black, der Hausbesitzer, ein paar Tage weder die Schwestern noch den Knaben gesehen hatte, überkam ihn eine bängliche Verwunderung, da er sich zugleich eines neulichen Gesprächs mit Wanda erinnerte, die ihm sagte: „Wenn die Arbeitsstockung noch einige Zeit so andauern sollte, dann wüßten sie keine andere Hülfe, als den Knaben zu seinem Vater nach Frankreich zurückzusenden, und ihrem eigenen Leben durch Gift ein Ziel zu setzen.“

Mit schreckhafter Ahnung eilte der Hausherr nun zur Zimmerthür der beiden Schwestern, die er fest verschlossen fand, von welcher aus aber bereits ein böser Geruch sich verbreitete. Mit Hülfe herbeigerufener Nachbarn stieß er die Thüre ein – und unbeschreiblich – zum Erstarren war der Anblick, der den Eindringenden sich darbot!

Wanda lag als Leiche auf dem Bett, aus ihrem Munde floß Blut und Schaum und benetzte ihre reichen und schönen Haare. Ein trübes Blauschwarz bedeckte ihr Antlitz, sowie ihre schön gerundeten Arme, die sich über die Brust gekreuzt hatten. Ihr todtes Knäblein lag an ihrer Seite, mit dem Gesicht gegen die Wand gewendet. Ihre Schwester Cäcilie lag unweit des Bettes der Mutter- und Kindesleiche auf dem bloßen Fußboden ausgestreckt; ein Stuhl war über sie gestürzt, den sie wahrscheinlich im Herabfallen vom gemeinschaftlichen Sterbebett und im Todeskampf mit sich niedergerissen hatte. Auf einem Tische nebenan standen noch Reste von zwei Fläschchen Blausäure.

Das ganze Zimmer verkündete schon in seinem Aeußern die bitterste Armuth – nur ein einziges Bett für drei Personen, eine elende, kümmerliche Lagerstätte – leere Ecken und öde Wände, schon längst durch Nothverkäufe, Pfandverleiher-Hülfe und derlei Tröster kahl gemacht und geplündert! – Wenige alte Bücher (wir bedauern, daß Titel und Inhalt nicht auch bekannt geworden sind) fanden sich im Zimmer, und ein Laib Brod, in dem noch das Messer steckte, zur Hälfte aufgegessen.

Die Gräber auf den Todtenfeldern der Armen und Verunglückten tragen keine Namen, blos Nummern, und wenn sich irgend ein Theilnehmender die betreffende Nummer nicht merkt, so hat er auch die Möglichkeit verloren, die Ruhestätte irgend eines Todten je wieder aufzufinden.




Blätter und Blüthen.


Eine seltsame Ahnengallerie. Die katholische Kirche von Szent-Ivanyi, einem Dörfchen in Nord-Ungarn, liegt in schmuckloser Einfachheit auf einem kleinen Hügel; ihr höchst verwittertes Aussehen, so wie der Umstand, daß sie mit einer hohen, dicken und kreisrunden Mauer umgeben ist, weisen darauf hin, daß sie zu den ältesten Gotteshäusern Ungarns gehört, und aus authentischen Dokumenten geht hervor, daß dieselbe schon unter der Regierung Andreas des Zweiten, 1205–1235, beraubt wurde; das eigentliche Jahr ihrer Erbauung ist unbekannt.

In jene das Gotteshaus umgebende Ringmauer ist auch ein thurmähnliches, feuerfestes Häuschen hineingezogen, welches der Familie Szent-Ivanyi, den Besitzern des Ortes – deren ehemalige Familiengruft diese Kirche enthält – von jeher als Archiv diente.

Innerhalb dieser Mauer und im Schatten derselben befindet sich der sogenannte Giftbrunnen. Ein rundes Becken, das einige Schuh im Durchmesser hat, enthält ein Wasser von dunkler Farbe – gleich einem fahlschwarzen Sumpfe. Blätter, Baumäste und andere Dinge, die darin herumschwimmen, sind mit einem schwarzen Schleime überzogen; fortwährend aus der Tiefe aufsteigende Blasen, welche an der Oberfläche des Wassers platzen und übelriechende Dämpfe verbreiten, erhalten den Spiegel in steter Bewegung. Die Tiefe des Brunnens beträgt nicht über zwei Schuh, und seine Ausströmungen sind bei längerem Verweilen schwindelerregend, jedoch an Stärke und Intensität nicht immer gleich; am kräftigsten vor Sonnenaufgang, es werden daher auch sehr oft des Morgens die Leichen kleiner Vögel im Brunnen schwimmend gefunden. Bemerkenswerth ist übrigens, daß einige Bewohner des Ortes das Wasser des Morgens zu trinken pflegen, und daß eine vor mehreren Jahren verstorbene Dame des Ortes, bei stetem Gebrauch desselben achtzig Jahre alt wurde. Schlicht und einfach, wie das Aeußere des Kirchleins, ist auch die innere Einrichtung, mit einem dem schmucklosen Altare gegenüberstehenden Chore und zwei Kirchstuhlreihen. Am Ende dieser Reihen, unter dem Chore, befindet sich das Grabgewölbe mit den unverwesten Leichen. Viele Lebende vom höchsten Range haben diese Todten schon besucht, unter andern auch der letztverstorbene Palatin von Ungarn. Die Erlaubniß dazu wird Personen, von denen zu erwarten steht, daß sie die geweihte Stätte mit andachtsvollem Ernste betreten, von dem Patron der Kirche und dem würdigen Pfarrer mit der rühmlichsten Bereitwilligkeit ertheilt, obwohl die Eröffnung der Gruft mit Mühe verbunden ist, da ein Theil der Kirchstühle weggeräumt, und der Boden aufgebrochen werden muß.

In einem dunkeln Grabgewölbe ohne Licht und Luft von außen stehen die Särge von Jahrhunderten bis an die Oeffnung des Eingangs aufgeschichtet. Die jüngste Leiche dieser ernsten Grabesstätte schläft sechzig Jahre in derselben, denn unter der Regierung des großen Kaisers Joseph II. erging ein Verbot, welches die fernere Bestattung von Leichen an diesem Orte untersagte, aus Gründen, die uns unbekannt sind.

Dieses Leichenhaus – mit seinen breternen Kammern, das die ihm anvertrauten todten Menschen auf so treue Weise bewacht, gewährt einen eigenthümlichen Anblick. Von den hölzernen Särgen hat die Zeit den Schmuck des umhüllenden Sammets größtentheils herabgerissen und nur einzelne Fetzen desselben flattern noch hernieder, festgehalten von den Messingnägeln, mit welchen der Name des todten Miethsmannes an der Außenseite seiner letzten Wohnung ausgeschlagen ist. Die Deckel liegen lose und leicht auf den Särgen und der Verfasser der „Nachtstücke in Callot’s Manier“ hätte sich bei diesem Anblicke kaum des Gedankens erwehrt, daß sich diese Todten um Mitternacht zuweilen zu einem feierlichen Familiencongreß in der Kirche über ihren Häuptern versammeln, wo ihre Wappentafeln von den Pfeilern auf sie herunterblicken. In dem ersten Sarge zunächst dem Eingänge schläft eine Ureltermutter der jetzigen erwachsenen Generation den Schlaf des Friedens. Die Leiche ist bis zur äußersten Magerkeit abgezehrt, aber nicht nur die Gesichtszüge, sondern selbst die Haare, Nägel, Augen vollkommen unverändert. Das Gesicht ist etwas dunkler, aber auffallend zart ist die Farbe der Haut an den gefalteten Händen geblieben, auch lassen sich die Glieder sämmtlicher Leichen in den Gelenken bewegen und sind daher nicht, wie an Mumien, zerbrechlich. Nicht nur diese erste Leiche, sondern auch ihr Anzug war vollkommen wohl erhalten, besonders an den seidenen Bändern nicht eine Spur von verbleichenden Farben oder moderndem Gewebe zu erblicken, während die wollenen und leinenen Stoffe dem Auge mehr angegriffen erschienen. Sie trug das moderne Nationalcostüm der damaligen Zeit, eine Haube mit blauseidenen Bändern, ein ungarisches Mieder mit Goldschnüren, ein grünseidenes Oberkleid mit Gold gestickt, und war in eine weiße gehäkelte Wollendecke, vielleicht ein letztes Andenken aus frommer Tochterhand, gehüllt. – Die zweite Leiche war die eines Kindes, zart, wie eine eben abgefallene Blüthe; dann kam ein junges Mädchen mit langem Haar und einem Blumenstrauße am todtwelken Busen, dessen einzelne Blumen vollkommen erkennbar sind; hierauf ein über sechs Fuß großer, stattlicher, alter Herr, mit langem grauen Schnurrbarte und unverändert freundlichen Gesichtszügen, in altungarischer Tracht. – Und so steht in langer Reihe Sarg an Sarg, Halm an Halm, die „Saat gesäet von Gott.“ W. B.     


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dummheit, Bornirtheit, das, was der Kladderadatsch „höheren Blödsinn“ nennt, ist leider, trotz unserer vielgerühmten Volksaufklärung, weiter verbreitet, als man denkt. Die letzte Kometenfurcht hat dies genugsam bewiesen, und Kladderadatsch hat ganz Recht, wenn er singt:

    „Wir bleiben frisch und munter,
    Der Blödsinn geht nicht unter.“

  2. Erster öffentlicher Bericht über die Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder zu Hubertusburg, von Karl Gläsche, Oberlehrer. Leipzig, 1854, bei Reclam sen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegerade
  2. Vorlage: Jahrhunhunderts
  3. Vorlage: Linien