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Die Gartenlaube (1857)/Heft 52

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[709]

No. 52. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der verhängnißvolle Schatten.

Nach schriftlichen Mittheilungen von Ernst Willkomm.
(Schluß.)


„Sie geben demnach zu,“ fragte der Vorsitzende weiter, „daß Sie selbst, in eigener Person, um die bezeichnete Nachtstunde, mit einem brennenden Lichte in der Hand, nach dem Bibliothekzimmer gingen?“

Auch diese Frage bejahte Cesar Hornburg.

„Was veranlaßte Sie dazu?“

„Ich bedurfte eines Bündels Papiere, Käufe enthaltend, welche mein Vater vor seiner zweiten Vermählung abgeschlossen hatte. Mein Halbbruder Ottwald verlangte dieselben am nächsten Tage zu sehen und durchzulesen, da er angeblich nichts von deren Existenz wußte.“

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Hornburg,“ bemerkte der Vorsitzende, „daß Sie bei der Anwesenheit der Untersuchungs-Commission in Ihrer Besitzung das Bibliothekzimmer derselben nicht sogleich erschlossen, weil Sie den Schlüssel dazu nicht besitzen wollten. Aus welchem Grunde verheimlichten Sie, daß Sie denselben besaßen und vor so kurzer Zeit erst in jenem Zimmer gewesen waren?“

Mit lächelnder Miene und freimüthig umherblickend versetzte Cesar: „Es war unüberlegt, daß ich dies that, aber ich kann ja gern sagen, was mich dazu veranlaßte. Von Gerichtspersonen sein Eigenthum durchstöbern zu sehen, ist unter allen Umständen höchst störend. Man hat kein Recht, sich ihnen zu widersetzen, ihnen zu wehren, daß sie im Amtseifer möglicherweise auch ihre Befugnisse überschreiten. Der plötzliche Tod meines armen Bruders konnte ja die Commission leicht veranlassen, auch unsere Papiere näher einzusehen. Dies hielt ich für unnöthig und, um dieser Möglichkeit vorzubeugen, die ich wahrscheinlich nicht ohne Weiteres gestattet haben würde, stellte ich mich, als sei erwähntes Zimmer seit Jahr und Tag weder von mir noch von sonst Jemand betreten worden.“

Cesar Hornburg sprach so unbefangen und sorglos, daß seine Worte offenbar einen guten Eindruck auf das Publicum machten. Ob die Gerichtspersonen ebenfalls davon befriedigt wurden, ließ sich nicht erkennen.

„Hatten Sie einen besondern Grund,“ fuhr der Präsident fort, „der Sie veranlaßte, den Weg nach der Bibliothek durch die Zimmerreihe und nicht durch den Corridor zu nehmen?“

„Auf dem Corridor hätte der Bruder meine Schritte leicht hören können,“ erwiderte Cesar. „Nur um ihn nicht in seiner Nachtruhe zu stören, durchschritt ich die Zimmer.“

„Wie lange hielten Sie sich im Bibliothekzimmer auf?“

„Ich habe meine Uhr darüber nicht zu Rathe gezogen, glaube aber wohl, daß vielleicht eine Viertelstunde verstrichen sein kann, denn ich fand das Gesuchte nicht sogleich.“

„Wo stellten Sie das Licht während des Suchens hin?“

„Da es keinen leeren Tisch noch Sessel im Zimmer gab, mußte ich es wohl auf die Diele setzen.“

„Können Sie die Stelle, wo es stand, genau angeben?“

„Ich bin nicht so anmaßend, mich dessen rühmen zu wollen, denn offen gestanden habe ich gar nicht darauf geachtet, weil ich es wirklich für unwichtig hielt. Möglich aber ist es, daß es eine Zeit lang gerade da gestanden hat, wo die scharfsichtige Untersuchungs-Commission die Flecke bemerkte.“

„Fanden Sie das Gesuchte?“

Cesar Hornburg bejahte diese Frage, aber so unsicher, als denke er an etwas Anderes.

„Gingen Sie genau auf demselben Wege wieder zurück, den Sie gekommen waren?“

„Ohne mich im Geringsten zu verweilen.“

„Sie traten also nicht noch einmal in das Zimmer, wo Ihr Halbbruder krank lag?“

„Nein!“

„Wie erklären Sie dann das Licht, das genau in der Zeit, wo Sie im Bibliothekzimmer sich aufhielten, von diesem in das Gemach Ihres kranken Bruders drang?“

„Dafür habe ich keine Erklärung und – Sie gestatten, daß ich meine Meinung offen ausspreche – ich glaube nicht an diesen Lichtschimmer. Niemand hat ihn gesehen, als der Mühlenpachter Caspar. Es ist bekannt, daß in jener Nacht der Mond schien. Wie leicht kann auch ein scharfes Auge durch Mondlicht getäuscht werden! Es gibt der Fenster viele in meinem Schlosse; eins liegt dem andern gegenüber. Ist da nicht anzunehmen, daß auf irgend eine Weise, die sich freilich nicht so leicht nachahmen läßt, weil uns die Gesetze der Strahlenbrechung gerade bei der Stellung des nächtlichen Gestirnes nicht bekannt sind, das Licht des Mondes sich auf dem Fenster des Gemaches widerspiegelte, das meinen unglücklichen Bruder beherbergte? Oder Caspar konnte sich auch täuschen in der dämmerigen Nacht. Was er für einen von innen heraus gegen das Fenster sich bewegenden Schatten hielt, trat von außen, vielleicht als ein vom dunstenden Thale aufsteigender Nebel, vor das Fenster. Soviel ich weiß, lassen sich fest gemauerte Wände nicht beliebig verschieben, eine feste, Jahrhunderte [710] alte Wand aber scheidet die Bibliothek von dem Zimmer, in welchem zu unser aller Betrübniß mein unvergeßlicher Bruder einsam verstarb.“

Cesar Hornburg’s Vortrag erregte Sensation bei einem Theile des nicht bestechlichen Publicums. Die leise Ironie, die aus seinen Antworten herausklang, verfehlte nicht ihre Wirkung, und die Zuversicht, mit welcher er auf die Möglichkeit hinwies, eine fest stehende Wand von der Stelle zu rücken, war ein argumentum ad hominem, vor welchem das Zeugniß Caspar’s von selbst zusammenfiel.

In diesem Augenblicke erschien ein Gerichtsdiener in dem nur spärlich erleuchteten, menschenerfüllten Saale. Er näherte sich in Eile dem Präsidenten, wechselte leise Worte mit diesem und überreichte ihm einen Brief und eine sorgfältig versiegelte Schachtel.

Cesar Hornburg stand noch auf dem Zeugenplatze, da sein Verhör von dem Präsidenten noch nicht für beendigt erklärt war. Es schien ihm die Zeit lang zu werden, denn er zog, während der Vorsitzende den Brief las, dann die Siegel von der erhaltenen Schachtel löste und einen schnellen Blick in dieselbe that, seine Uhr und musterte dabei die Reihen der aufmerksam lauschenden Zuhörer. Die Stimme des Präsidenten, die jetzt einen schärferen, harten Klang hatte, der Cesar’s verwöhntes Ohr höchst unangenehm berührte, störte ihn in dieser Musterung.

„Sie haben sich bemüht, Herr Hornburg, die Aussagen des Mühlenpachters Caspar als irrige zu bezeichnen,“ hob der Vorsitzende abermals an. „Was Caspar gesehen haben will, erklären Sie einfach als eine Augentäuschung. Könnten Sie diese Erklärung auch beweisen, so würden wir Ihrer Ansicht vielleicht beizutreten genöthigt werden. Das aber vermögen Sie nicht. Sie haben ferner bemerkt, eine feste Wand, die Jahrhunderte überdauert habe, lasse sich nicht von der Stelle bewegen. Gegen dies Argument hat gewiß Niemand etwas zu erinnern. Indeß wird Ihnen bekannt sein, daß alte Baulichkeiten, namentlich aber alte Feudalschlösser, oft Vorrichtungen enthalten, um auf geheimen Wegen darin nach Belieben umherwandern oder ein- und ausgehen zu können. Sollte es nun nicht denkbar sein, daß auch auf Ihrem Besitze von Alters her derartige verborgene Gänge oder versteckte Thüren sich vorfänden?“

Cesar verschlang gierig jedes Wort des ruhig, aber mit strenger Miene Sprechenden. Die Hitze im Saale schien ihn zu peinigen; er zog abermals das Taschentuch, um die perlenden Schweißtropfen auf seiner Stirn zu trocknen. Dann sagte er:

„Mir ist nichts davon bekannt geworden.“

„Dann haben Andere ein schärferes Auge und eine glücklichere Hand für verborgene Federn,“ fuhr der Präsident fort, „denn soeben meldet mir die heute Morgen dahin abgesandte Commission, daß es derselben nach langem Suchen gelungen ist, im Bibliothekzimmer eine Feder zu entdecken, durch deren Druck ein Theil der Wand zurückweicht und einen Eingang in das Zimmer öffnet, wo Ihr Halbbruder todt auf seinem Lager gefunden ward.“

Cesar Hornburg hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Seine Gesichtsmuskeln zuckten krampfhaft, seine Hand zitterte. Als könne er die hundert und aber hundert auf ihn gerichteten Blicke nicht ertragen, oder als blende ihn der Schein der jetzt wieder hüllenlos dastehenden Lichter, hielt er das Taschentuch vor die Augen.

„War Ihnen diese geheime Thür, welche ein Bücherbord verdeckt, unbekannt?“ fragte der Präsident schärfer.

„Ich sah dieselbe nie,“ versetzte Cesar mit gepreßter Stimme.

Der Präsident griff nach der empfangenen Schachtel, entnahm derselben einen glänzenden Gegenstand und zeigte diesen dem Schloßbesitzer.

„Nach der Aussage Ihrer Halbschwester, Fräulein Cornelie Hornburg,“ sprach er weiter, „pflegte deren verstorbener Bruder bis zu dem Tage, wo dieselbe ihn verließ, einen Ring zu tragen, den er von seiner Mutter ererbt hatte. An dem Finger des Todten vermißte man diesen Ring. An der Stelle, wo zwischen Bücherbord und Wand die Feder verborgen ist, welche den verdeckten Eingang zu beiden Zimmern erschließt, fand man diesen Ring. Fräulein Cornelie Hornburg wird aufgefordert zu erklären, ob es derselbe ist, den ihr verstorbener Bruder trug und niemals ablegte?“

Cornelie’s Antwort lautete bejahend.

Der Präsident wandte sich abermals zu Cesar.

„Wie kam dies Kleinod neben die verborgene Feder?“ fragte er den unruhigen Herrn des Schlosses.

„Ich kann darauf keine Antwort geben,“ lautete dessen Erwiderung.

Der Präsident öffnete zum zweiten Male die Schachtel. Diesmal enthüllte er ein zusammengefaltetes Papier. Es war ein Briefbogen, welcher am oberen Ende den Stempel von Cesar’s Namenszuge trug.

„Bei Oeffnung der geheimen Thür entdeckte man ferner diese Papierhülse,“ fuhr er fort. „Dieselbe enthält den Ueberrest eines Pulvers. Der hier anwesende Gerichtsarzt wird uns sagen können, woraus dieses Pulver besteht.“

Der Gerichtsarzt erklärte es für weißen Arsenik.

Der Vorsitzende fuhr fort: „Es ist durch die Section der Leiche Ottwald Hornburg’s erwiesen, daß der Genuß einer starken Dosis Arsenik ihm das Leben geraubt hat. Die Auffindung einer mit gleichem Gift bestreuten Kruke jenes Himbeer-Gelées, aus welchem die Haushälterin des älteren Hornburg dem Kranken am Abend vor seinem Tode das kühlende Getränk bereitete, mußte den Verdacht auf diese Person richten, und hatte deren Verhaftung und, da sie sich durch ihre Aussagen nicht zu reinigen vermochte, ihre spätere Versetzung in Anklagestand zur Folge. Die neu erhaltenen Aufschlüsse leiten auf andere Spuren. Der verborgene Eingang aus der Bibliothek in das Zimmer, wo Ottwald Hornburg krank lag, erklärt den Schatten, welchen der Mühlenpachter Caspar gegen Mitternacht sich gegen das Fenster bewegen sah. Genau um diese Zeit hatte, seinem eigenen freien Geständniß nach, Cesar Hornburg das Bibliothekzimmer betreten, angeblich, um Papiere daselbst zu suchen. Es ist erwiesen, daß Niemand von allen Bewohnern des Schlosses mit dem Geheimniß jener verborgenen Thür vertraut war. Auch Cesar Hornburg leugnet, dieselbe zu kennen. Dagegen mehren seine Anwesenheit in der Bibliothek zu der Nachtstunde, wo Caspar Licht in beiden Zimmern und den seltsamen Schatten beobachtete, ferner der gefundene Ring, welcher der Leiche fehlte, endlich das Papier mit dem Giftrest den Verdacht, er wisse um den Tod seines Halbbruders, und sei dabei schwer betheiligt. Auf Grund dieses Verdachtes hin befehle ich, Cesar Hornburg zu verhaften.“

Diese unerwartete Wendung der Verhandlungen hatte Niemand vermuthet. Hielten auch die Meisten, und vor allen die Gerichtsbeisitzer, die Angeklagte selbst für schuldlos, so setzte man bei derselben doch eine unbewußte Theilnahme voraus. Auch diese Annahme war nach den gemachten Funden kaum mehr haltbar. Indeß konnte dies erst durch die weitere Fortführung des Processes festgestellt werden.

Cesar Hornburg gab keinen Laut von sich, die giftigen Blicke aber, die er bald dem Präsidenten des Gerichtes, bald Caspar zuschleuderte, dessen Aussagen ihm offenbar ganz allein so verderblich geworden waren, ließen kaum einen Zweifel seiner Schuld zu. Finster folgte er dem Gefangenwärter. Er verließ den Gerichtssaal, ohne der Schwester, die im Verein mit Caspar der tief erschütterten Anna sich zuwendete, einen Blick oder Abschiedsgruß zu gönnen.



IX.

Noch am Abend desselben Tages eilten sämmtliche Gerichtspersonen nach dem Schlosse der Familie Hornburg. Die trauernde Cornelie und der Mühlenpachter Caspar befanden sich in ihrer Begleitung. Es handelte sich um die Feststellung der Aussagen des Pachters. Dazu eignete sich Tag und Wetter vortrefflich. Der Himmel war klar, der Vollmond stieg glänzend auf über den Berggipfeln. Ein silberner Duft lag über Thal, Bergstrom, Wald und Schloß, als die Reisenden vor dessen alterthümlicher Eingangspforte hielten. Es war gerade ein Jahr verflossen seit Ottwald Hornburg’s Tode.

Kurz vor Mitternacht führte Caspar die Fremden an den Mühlbach, und wies ihnen hier den Platz an, von dem aus er die Bewegung von Licht und Schatten im gegenüber liegenden Schlosse beobachtet hatte.

Alsbald blinkte ein flackernder Lichtschimmer in der Zimmerreihe des Neubaues auf; er irrte von Gemach zu Gemach. Dann verschwand er auf kurze Zeit, um gleich darauf das Eckzimmer im alten Schlosse, das die Bibliothek enthielt, matt zu erhellen. Ein ungestalter Schatten lief an dem hohen, dem Thale zugekehrten Fenster hin, das im hellen Mondscheine wie mit Silberfunken überstreut war. Jetzt erhellte sich auch das Nebenzimmer. Es [711] war ein Gemisch von Lichtschimmer und Mondenglanz, der es erfüllte. Diese Helligkeit nahm man aber nur kurze Zeit wahr; denn langsam schob sich ein breiter Schatten zwischen Fenster und Licht, bis ersteres fast ganz davon bedeckt ward, und das Innere des Zimmers von Dunkel erfüllt sich zeigte. Das Bibliothekzimmer dagegen flimmerte fortwährend in derselben Beleuchtung, wie zuvor. Dies währte einige Minuten, dann verschwand der Schatten wieder langsam, und im Bibliothekzimmer ward abermals ein unförmliches Schattenbild sichtbar. Hierauf erlosch das Licht, um nach wenigen Secunden rückwärts durch die Flucht der Zimmer des neuen Schloßbaues zu gleiten.

„Es ist genau die Erscheinung der Nacht, in welcher Ottwald Hornburg sich den Tod trank,“ betheuerte Caspar abermals.

Mit Absicht überließ man Cesar Hornburg einige Tage der Einsamkeit und stillem Nachdenken. In dieser Zeit war man nicht müßig, um die bereits gegen ihn zeugenden schweren Thatsachen noch durch Ermittelung neuer zu vermehren. Worauf man bei Eröffnung des Processes wenig geachtet hatte, die Jahre lang zwischen dem älteren Hornburg und seinen jüngeren Halbgeschwistern bestandene heftige Feindschaft, der Proceß um die Erbschaft, welcher von allen Instanzen zu Ungunsten Cesar’s entschieden worden war, die nunmehr plötzlich zur Schau getragene Freundlichkeit des Letzteren, die mit einer gänzlichen und, wie es schien, auch redlich gemeinten Versöhnung schloß; endlich die seltsamen Ereignisse auf der Jagd, die jetzt abermals zur Sprache kamen, und das auf dieselbe folgende Erkranken Ottwald’s, das mit Erbrechen begann: dies Alles waren schwere Indicien, die Cesar eines wohl überdachten Mordes an dem ungeliebten Bruder laut anklagten. Auch das Benehmen gegen Cornelie, das mit einem abermaligen Bruche zwischen beiden Halbgeschwistern endigte, konnte nicht zur Verminderung des Verdachtes, der auf Cesar lastete, beitragen. Es ging vielmehr aus Allem hervor, daß Cesar Hornburg, erbittert über die seinen Händen entschlüpfte reiche Erbschaft, für deren alleinigen rechtmäßigen Besitzer er sich in seinem habsüchtigen Eigendünkel hielt, zum Morde seine Zuflucht genommen hatte, um sich doch zum Theil in den Besitz der Güter zu setzen, die er allein beanspruchte.

Die Verhöre, welche der Gefangene zu bestehen hatte, führten zu keinem Resultate. Er hüllte sich in ein so hartnäckiges Schweigen, daß kaum die einsilbigsten Antworten von ihm zu erlangen waren. Weder die Vorstellungen des Untersuchungsrichters, noch das Vorhalten der Verdachtsgründe, die ihn vor jeder Jury verurtheilt haben würden, änderten etwas in dem Benehmen des starrsinnigen Mannes.

So vergingen einige Wochen. In dieser Zeit war die Voruntersuchung, oder vielmehr das zur Eröffnung des neuen Processes vorhandene reiche Material so weit geordnet, daß die Verhandlungen vor dem Geschwornengericht beginnen konnten. Da der Gefangene sich entschieden weigerte, selbst einen Vertheidiger sich zu wählen, so ward ihm einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten als solcher von Staatswegen zugewiesen.

Mit scheinbarer Gleichgiltigkeit sah Cäsar Hornburg diesen Vorbereitungen zu. Er ließ geschehen, was er nicht hindern konnte. Dagegen trat er in allen Dingen, wo sein eigener Wille den Ausschlag zu geben hatte, mit einer Schroffheit auf, die seinen unversöhnlichen, finstern, versteckten und rachsüchtigen Charakter nur zu deutlich verrieth. Er weigerte sich entschieden, seine Halbschwester Cornelie zu sehen und zu sprechen. Sein Auge funkelte vor Ingrimm, so oft man ihren Namen in seiner Gegenwart nannte.

Am Vorabende des Gerichtstages, der über Cesar Hornburg’s Schicksal entscheiden sollte, ließ Cornelie den Bruder noch einmal um eine kurze Unterredung bitten. Auch diese letzte Bitte blieb erfolglos. Niedergeschlagen ging das bedauernswerthe Mädchen, dem ein grausames Geschick auch den zweiten Bruder rauben sollte, von dannen. Cesar Hornburg begehrte allein zu sein. Er bat um Schreibmaterialien, da er noch Einiges zu notiren habe. Gern erfüllte man ihm diesen Wunsch.

Der Gefangenwärter hörte ihn lange noch in seiner Zelle auf- und abgehen. Auch vernahm er einige Male dumpfes Gemurmel und schwere Seufzer. Dann ward es still.

Am nächsten Morgen fand man Cesar Hornburg todt auf seinem Lager. Er hatte verborgen gehaltenes Gift genommen. In einem an den Präsidenten des Gerichtes adressirten Briefe bekannte er sich des Mordes schuldig, ohne jedoch eine Spur von Reue zu zeigen.

„Ich war ein unüberlegter Thor,“ hieß es in dem Schreiben, „daß ich die Wirkungen des Lichtes nicht berechnete. Ohne den verhängnißvollen Schatten würde der Verdacht nie auf mich gefallen sein. Da ich nun voraussehe, daß die Geschworenen bei der Wucht der gegen mich zeugenden Verdachtsgründe ihr „Schuldig“ über mich aussprechen werden, und ich demnach einer Verurtheilung nicht entgehen kann, ziehe ich einen freiwilligen Tod dem vom Gesetz dictirten vor.“

Anna erhielt an demselben Tage ihre Freiheit. Cornelie stattete sie reich aus, als sie einige Monate später dem Knappen ihre Hand reichte, und schenkte ihr die Sägemühle im Thale.

Caspar widmete sich von Stund’ an ganz der Architektur, erhielt zu diesem Behufe freigebig Unterstützung von Cornelie, und später den Auftrag, eine Aenderung im Schloßbau vorzunehmen.

Die verborgene Thür ward entfernt, und die Bibliothek mit Ottwald’s Sterbezimmer in eins verbunden.

Hier lebte Cornelie unter Büchern, mit Verwaltung ihrer Güter beschäftigt, lange Jahre, zurückgezogen von der Welt, und stets in Trauerkleidung gehüllt. Sie zeichnete sich durch Milde und Wohlthätigkeit aus, die sie in so ausgedehntem Maße übte, daß es schon nach wenigen Jahren auf ihren Besitzungen keinen Armen mehr gab.




Skizzen von der Ostküste Afrika’s (Zanguebar).

Von Ernst Lechner.[1]
1. Der Untergang eines französischen Kauffahrteischiffes und ein französischer Kriegszug.

Noch waren Meer und Land von den dunklen Schatten der Nacht umhüllt, als von einem einförmigen Gesang begleitet sich das tactmäßige „Tik-Tak“ des Spills vernehmen ließ, welches den zweiten Anker des französischen Kauffahrteischiffes „Jacques Laffitte“ dem Meeresgrunde enthob.

Die über dem Lande stehenden Nebelmassen färbten sich gelber und immer greller, und plötzlich erschien die Sonnenscheibe, noch umschleiert von den Morgendünsten, am Horizont. Wie gewöhnlich in tropischen Breiten, erhob sich auch heute mit Erscheinen der Sonne ein leichter Morgenwind, der die Nachtdünste hinwegjagte, so daß bald die ganze Scene von unumflortem Lichte umstrahlt war. Mittlerweile hatte die Bemannung des „Jacques Laffitte“ nicht geruht; sämmtliche Segel waren gelöst und bereit gehißt zu werden, und der letzte Anker enthob sich dem Grunde. Mit den Producten der Küste beladen, wollte sich das Schiff den heimischen Gestaden zuwenden, und der am Verschiffungsplatze lebende französische Agent und ich beabsichtigten, den Capitain des absegelnden Schiffes bis in freie See zu geleiten, um dann in Booten nach unserm Aufenthaltsort L. zurückzukehren. Der Agent hatte dem Capitain M. einen einheimischen Piloten mitgegeben, um das Schiff bis in freie See zu lootsen, der in arabischer Sprache die letzten Befehle zum Lichten, ertheilte.

Die gefahrvolle, von Klippen und Untiefen besäete Straße war meist passirt, und schon breitete sich die offene See vor unsern Augen aus, da rief plötzlich der Capitain M. mit herzzerreißender Stimme: je touche! ò mon dieu, je touche! – Nichts ist schrecklicher für den Seemann, als zu fühlen, wie der Kiel berührt und [712] das ganze Fahrzeug von der unheilvollen Berührung bis in die Spitzen der Masten erzittert.

Das arme Schiff „Jacques Laffitte“ war allerdings, trotz der Leitung des Lootsen (vielleicht in Folge derselben!), auf eine Untiefe gerathen, und wurde durch die stark nach dieser hinwärts strömende Fluth immer fester auf das Felsenriff aufgewühlt. Die Anker wurden geworfen, die Segel wieder festgemacht und einige Versuche unternommen, das Schiff abzuwinden – doch Alles vergeblich. Botschafter, Hülfe von der Stadt zu holen, gingen ab, und die Besatzung flüchtete nach einer nahegelegenen, kleinen Insel, da das festsitzende Schiff von der immer höher steigenden Fluth überschwemmt wurde.

Ein anderer Morgen brach an; wir Alle hatten, in unsere Mäntel gehüllt, eine von traurigen Gedanken umwiegte Nacht auf der kleinen, sandigen Insel verlebt, denn die Ahnung des Unterganges des armen „Jacques Laffitte“ übte einen betrübenden Einfluß auf alle Gemüther, ähnlich den Gefühlen, die wir empfinden beim Anblick eines sterbenden Freundes.

Der Capitain M., in dessen wettergebräunten Zügen sich Verzweiflung spiegelte, bestieg mit seiner niedergeschlagenen Mannschaft sein Boot und der Agent und ich folgten, von unsern Negern gerudert, in einem andern Boote ihm nach, um in einem zweiten Versuch zu sehen, ob dem trotzenden Meere sein Opfer nicht zu entringen sei. Auch heute wurde den ganzen Tag gearbeitet, doch das Schiff war trotz einigen Hundert arabischen Handarbeitern, die wir gemiethet hatten, dennoch nicht einen Zoll breit abzubringen, und in dumpfem Schweigen fuhren wir des Abends zurück nach der kleinen Insel, die, belebt durch unsere zahlreichen Hülfsmannschaften, bald ein buntes Gemälde darbot. Die bronzefarbenen kräftigen Gestalten kauerten, in ihre braunen, kameelhaarenen Mäntel gehüllt, um kleine Feuer, angezündet, die Nachtkühle zu verscheuchen und um dabei das einfache Mahl, Reis und Wurzeln (mhogo), zu bereiten, wobei hier und da die eigenthümlich weichen Gesänge der Araber, bald einzeln, bald im Chöre erschallten. Unter diese Klänge mischten sich auch zuweilen fern herkommende Töne von der etwa eine Stunde entfernten festen Küste Afrika’s, und beobachtete man die braunen Kinder des Landes genau, während solche Töne laut wurden, so konnte man leicht an dem unwillkührlich erschreckten Lauschen erkennen, welcher gefürchteten Kehle sie entquollen. Zu Alle dem bildete das majestätische Rollen des Meeres den ehrfurchtgebietenden Grundton, und phantastische Träume lebten auf, während die Umgebung stiller und stiller ward.

Der Morgen des folgenden Tages warf uns stürmend einen unfreundlichen Ermunterungsruf entgegen; das Meer, gestern so ruhig und gleichförmig seine Wogen dahinrollend, warf heute ungestüm seine Wassermassen zu Bergen empor, und die Felsenriffe, die zahlreich in diesem Meerbusen sich zeigen, waren von tobender Brandung umbraust.

Trotzdem sollte auch heute ein Versuch gewagt werden, den trauernd seine Masten gen Himmel streckenden „Jacques Laffitte“ zu retten. Capitain M., der Agent und ich bestiegen unser Boot, um unsern Arabern und der Mannschaft voraus an Bord zu fahren In die Nähe des Schiffes gekommen, fanden wir dasselbe von Kisweli’s (Eingeborenen) wimmeln, eifrig beschäftigt die Ladung zu rauben und in Landesfahrzeugen fortzuschaffen. So wie wir uns mehr näherten, wurde uns mit wildem Geschrei mitgetheilt, jeder Weiße, der versuchen wolle, an Bord zu kommen, solle geköpft werden, denn das Schiff sei ihrem Strandrecht verfallen. Ein jauchzender Verzweiflungsschrei entfuhr dem Capitain, als wir ihm diese Nachricht übersetzten, und mit wilder Freude rief er: allons, poussons à bord! Nur mit Gewalt konnten wir den verzweifelten, fast wahnsinnigen Capitain bewegen, der Uebermacht zu weichen, und stets mit demselben ringend, umbraust von den empörten Wogen, jeden Augenblick in Gefahr auf den spitzen Felsenriffen zerschmettert zu werden, gewannen wir nach unendlichen Anstrengungen wieder unser kleines Asyl.

Daselbst zurückgekommen, trafen wir ein wildes buntes Treiben an; gegen 30 kleine Fahrzeuge hatten hier angelegt, nachdem sie vorher von ihren schwarzen Besitzern mit den Gütern des gestrandeten „Jacques Laffitte“ gefüllt worden waren; und mit der größten Gemüthlichkeit ruhten nun diese Räuber neben uns aus, wartend bis der Sturm erlauben würde, die Rettung(!) des Wrack’s fortzusetzen. Dabei unterhielten sie sich mit uns sehr naiv über den ganzen Vorfall, indem sie versicherten, es sei nun schon viele Jahre her, daß sie mit einem ähnlichen Geschenk gesegnet worden seien; andere verhandelten allerlei Gegenstände, die wohl nie bestimmt waren, solchen Besitzern zu dienen. Einer, der einen Fenstervorhang statt Turban um den Kopf gewunden hatte, klagte, dieser Stoff sei doch gar zu kurz und unzureichend, und fragte, ob wir nicht mit einem Stück ähnlichen Stoffes ihm dienen könnten. Ein Anderer hatte einige nautische Instrumente, und da er gar nicht wußte, was damit beginnen, so bot er dieselben mit liebenswürdiger Freimüthigkeit zum Kauf an, uns bei unserer Ehrlichkeit beschwörend, ihn nicht zu übervortheilen, da er nicht genau wisse, wie viel dies Spielwerk werth sei. Unsere geringe Anzahl zwang uns, zu alle dem gute Miene zu machen, um so mehr, da die arabischen Arbeiter, die wir gemiethet hatten, sich immer mehr minderten und zu den Kisweli’s überliefen, um an deren schönen Geschäften Theil zu nehmen.

So wie das Wetter es erlaubte, brachen wir auf, nach der gegen 4 Stunden entfernten Stadt L., um bei dem dortigen arabischen Gouverneur (eingesetzt vom Imaun von Maskat) Hülfe zu suchen. Nach Anhören unserer Berichte versicherte er uns seines Beileids und brach noch denselben Tag mit seinen sämmtlichen 500 Soldaten auf, zu versuchen, den Räubern ihre Beute streitig zu machen. Er eröffnete den kriegerischen Zug, in einem elenden Canoe stehend, und seinen Streitern die Schlachtmelodieen intonirend, worauf dann das gesammte Heer in wildem, brüllendem Chöre einstimmte, dabei gar grimmig die zweischneidigen Schwerter schwingend, oder die bis zur Mündung geladenen Flinten in die Luft abschießend.

Die Mannschaften waren während dieser kriegerischen Scene sämmtlich auf zwei Fahrzeugen untergebracht, und folgten nun ihrem schon greisen Anführer. Wir Zurückgebliebenen malten uns schon die gräßlichsten Kampfscenen aus, siehe, da kam noch denselben Tag das Heer zurück, noch immer gar kriegerisch lärmend, singend und schießend, und in Kurzem wurde uns die Kunde, daß es nach tapferen – Gegenreden habe der Uebermacht weichen müssen. Uebrigens brachten die Streiter, um sich über das verunglückte Unternehmen zu trösten, gar manche hübsche Kleinigkeit mit, die noch vor wenig Stunden an Bord des armen „Jacques Laffitte“ gewesen war, der nun mit unglaublicher Schnelligkeit stückweise die verschiedensten Besitzer bekam, so daß wenige Tage danach vom Schiffe Nichts mehr das Wasser überragte, und nur durch Tauchen die Fundgrube weiter auszubeuten war.

Als einige solcher Taucher an Nägeln unter Wasser hängen blieben und ertranken, behaupteten die Kisweli’s, nun sei genug ausgeführt worden, und Gott wolle den Rest des Schiffes selbst behalten, und Keiner wagte von da an, das Plündern des Wrack’s fortzusetzen.

Kurze Zeit darauf kam eine kleine spanische Brigg in L. an, mit welcher der Capitain und die Mannschaft des gebliebenen Schiffes nach Zanzibar abreisten. Bei dem dortigen französischen Consul beklagte sich der Capitain, und der Consul erhielt vom Gouverneur der Insel und Stadt Zanzibar, Seyd Madjid, (Sohn des alten Imaun’s von Maskat, Seyd Seyd) ein arabisches Kriegsschiff und unbedingte Vollmacht, in L. Gerechtigkeit über die Räuber zu üben.

So kamen denn der Consul und der Capitain M. auf dem kleinen Man of war, voll der besten Hoffnungen, in L. an, vielleicht gar den kühnen Gedanken hegend, die geraubten Güter wieder zu erlangen. Die zwölf ältesten Kisweli’s, die eine Art entscheidende Autorität in L. besitzen, kamen dem Consul entgegengefahren und führten ihn voller Freundlichkeit in L. ein, wo bei seiner Ankunft nicht enden wollende Freudenschüsse die Luft erzittern machten. Des Abends führten ihm zu Ehren gegen fünfzig junge Leute einen großen Fechttanz auf, und der Consul, der sein Quartier bei dem in L. residirenden französischen Agenten aufgeschlagen hatte (woselbst er sogleich eine prunkende französische Flagge aufpflanzen ließ), schien durch diesen freundlichen Empfang überzeugt, durch das Ansehen seiner schönen Uniform und hinter den Kanonen seines kleinen Kriegsschiffes auf dem besten Wege zu sein, sich unsterbliche Lorbeeren zu erringen.

In L. steht ein kleines Fort, das gleichzeitig als Festung und als Gefängniß dient und vor Jahrhunderten von Portugiesen erbaut wurde, die zu jenen Zeiten bedeutende Handelsgeschäfte mit den Eingeborenen hier betrieben; in dieses Fort steckte der Consul einige Rädelsführer der Räuber, die ihm bezeichnet worden waren,

[713]
Ein Dichter-Grab.




Ein schmucklos Grab: ein Stein und eine Eiche,
Ein stiller Frieden, der darüber liegt,
Gebettet unten eines Dichters Leiche,
Vom Blätterrauschen in den Schlaf gewiegt.

Ein müder Wandrer, krank und aufgerieben
Von rauhen Wegen und von bitt’rer Noth,
Zur Quelle kam er, und ist dort geblieben,
Er suchte Heilung und genas – im Tod.

Daß Deinem Schlummer nicht die Ruhe fehle,
Die stets geflohen Deines Lebens Pein,
Ließ Deiner Freundin zarte Dichterseele[2]
Der Eiche Zweige schatten Deinen Stein.

Verlassen bist Du Armer nun nicht länger,
Die Eiche hütet treulich Deinen Traum,
Du warst es werth: es darf der deutsche Sänger
Wohl Frieden finden bei dem deutschen Baum.

Schlaf’, Seume, sanft! Im Grund die Wurzeln schlingen
Sich um Dein Haupt, wie einer Mutter Arm,
Und Vöglein oben in dem Wipfel singen
Ein Lied, wie Deines innig zart und warm.

Albert Traeger.

[714] und war dann nicht wenig in Verlegenheit, was nun mit diesen Leuten anzufangen sei! So manche Berathung wurde darüber abgehalten. Der Eine wollte ein Exempel statuiren und sämmtliche Räuber köpfen, damit die Einwohner der Stadt aus Furcht alle geraubten Güter herausgeben sollten, der Andere rief besorgt: „Wenn sie sich es nur gefallen lassen,“ und nach vielem Hin- und Herreden wurde beschlossen, die Rädelsführer nach Zanzibar führen und dort als Bürgen zu behalten, damit in Zukunft die Kisweli’s sich nicht wieder ähnliche Freiheiten erlauben möchten.

Dieser Beschluß war kaum ruchbar in der Stadt geworden, als eines Tages plötzlich alle männliche Bevölkerung verschwunden war. Durch unsere schwarzen Diener erfuhren wir alsdann, die Kisweli’s haben in einer großen Berathung beschlossen, sämmtliche Weiße zu tödten, falls dieselben Miene machen würden, die Gefangenen aus L. zu entführen. Der Consul gerieth beim Anhören dieser Nachricht in eine eigenthümliche Aufregung, die sonderbar mit dem gewaltigen Muthe contrastirte, der wenige Stunden vorher durch seine Unterhaltung hindurchleuchtete.

Während dem wurden die Straßen L.’s immer belebter; die wieder zur Stadt gekommenen Kisweli’s standen gruppenweise umher, leise Gespräche mit ungemein vielen Gesticulationen führend, tiefschwarze Sclaven, nur mit einem Tuche schurzähnlich bekleidet und mit Pfeil und Spieß bewaffnet, erschienen, erst seit kurzer Zeit in L. angekommen, hierher (wie man leise erzählte) durch ihre Herren, die Kisweli’s, gerufen, die auf der nur eine Stunde entfernten Küste Afrika’s bedeutende Pflanzungen haben, die sie durch zahlreiche Sclaven bearbeiten lassen.

Zu dieser Zeit lagen ein deutscher und drei französische Kauffahrer im Hafen und der Consul rief von jedem Schiffe die halbe Besatzung an’s Land, ließ auch einige Kanonen auffahren, und diese Streitkräfte wurden dann in das Haus des französischen Agenten und in das meine vertheilt, so daß ein energisches Auftreten fest beschlossen schien. Unsere Häuser, steinerne, einstöckige Gebäude mit flachen Dächern, auf denen letzteren ein zweites Dach von Cocosblättern aufsteht, da das schlechte Kalkdach nie wasserdicht ist, wurden so viel als möglich befestigt, während im Innern alle Vorbereitungen zu einem Kampfe zu sehen waren. Da wurden Kugeln gegossen, Kardusen gefertigt, Flinten gereinigt, alte Schiffs-Enterschwerter geschliffen etc. etc., wobei deutsche und südfranzösische Gesänge weit in den krystallklaren Nachthimmel, durchwoben von Milliarden funkelnder Sterne, hinausschallten. Da bis Mitternacht die Stadt in gewöhnlicher Ruhe verblieb, wurden Wachen aufgestellt und die Uebrigen gingen zur Ruhe, nachdem vorher Lärmsignale bestimmt waren, um im Falle eines Angriffes uns gegenseitig zu warnen, was sehr gut ausführbar war, da das Haus des Agenten von dem meinen nur durch vier Strohhütten getrennt war. Kaum eine Stunde war vergangen, so erscholl der Grauenruf morto, morto! (Feuer!) und ohne noch das Feuer zu sehen, hörte man schon das Prasseln und Zischen brennender, trockener Cocosblätter. Ein schrecklich schöner Anblick bot sich mir dar, als ich auf dem Dache meines Hauses anlangte.

Die Kisweli’s hatten einige ihrer eigenen Strohhäuser angezündet, so daß der Wind das Feuer unsern Häusern zuführen sollte; plötzlich blies derselbe aber einige Stöße in anderer Richtung, als der berechneten, und im Nu stand fast die halbe Stadt in Flammen. Der ungemein brennbare Stoff, der das Material der meisten Hütten bildet, qab dem wüthenden Elemente die herrlichste Nahrung, so daß die hochauflodernden Flammen fast Tageshelle verbreiteten. Aber nicht lange blieb mir Zeit, das großartige Schauspiel zu betrachten, plötzlich loderte in meiner unmittelbaren Nachbarschaft eine zweite Feuergarbe gen Himmel empor, zischende Funken wie einen Feuerregen umher schleudernd. So schnell als möglich zertrümmerte ich mit Hülfe meiner Leute mein schon brennendes Strohdach, um dasselbe dann in die Straße hinab zu werfen, die einzige Art, um das darunter stehende Haus vor dem Zerplatzen und Auseinanderstürzen zu wahren. Der Platz um mein Haus füllte sich mit Tausenden von Kisweli’s, die mit schauderhaften Gesängen einen gräulichen Tanz begleiteten, zu dem die Flammen meines Hauses ihnen leuchteten. Eigene Empfindungen waren es, auf dem Dache mit dem Feuer zu ringen und unten diese teuflischen Gestalten zu sehen, die in einem grotesken Fechttanz sich vorzubereiten schienen, später noch viel grauenvollere Scenen aufzuführen. Endlich gelang es uns, das Strohdach, jetzt ein großer, brennender Trümmerhaufen, vom Hause zu lösen und hinab in die Straße zu stoßen, was uns wenigstens aus der Feuersgefahr rettete.

Gellendes Wuthgeschrei empfing unten diese Dachtrümmer; sicher hatten die Kisweli’s gehofft, sich durch das Feuer in Besitz meines Hauses zu setzen, was ihnen wieder ein reichliches Feld zu rauben und zu plündern geboten haben würde und sie für den Verlust einiger Hundert elender Strohhütten sehr schön entschädigt hätte. Reichlich gespendete Feuerbrände und Steinwürfe ließen es uns gerathen erscheinen, das Dach zu verlassen; als wir aber zeitweilig einige blinde Schüsse durch die Fenster abfeuerten, zog sich die Versammlung unten immer mehr zurück und das alsbald anbrechende Tageslicht zeigte uns die rauchenden Trümmer der Stadt, die jetzt wieder wie ausgestorben still dalag. Ganz ähnliche Scenen waren während der Nacht im Hause des französischen Agenten vor sich gegangen; auch hier hatte das Zertrümmern des Strohdaches das Steinhaus gerettet und diese beiden Häuser, das Fort und wenige Steinhäuser, hier und da in der Stadt zerstreut, waren die einzigen bewohnbaren Ueberreste von L. Bald begann überall wieder reges Leben, die Sclaven brachten grüne Dachgeflechte von Cocosblättern aus den Wäldern und in wenig Stunden war die Stadt durch die rege Arbeit vieler Tausend Sclaven neu aufgebaut. Die Erlebnisse der Nacht hatten entschiedenen Einfluß auf das Gemüth des Consuls gehabt; die fieberhafte Aufregung von gestern war einem fest ausgeprägten Schrecken gewichen und ruhelos lief er in der Stube auf und ab, als suche er den Weg, wo es sich am besten davonliefe. Während dieses Tages war geheimer Rath unter den Franzosen und das Resultat war wirklich glorreich! Es wurde eine große Ceremonie im Fort veranstaltet, die zwölf Alten der Stadt wurden dahin geladen, inmitten thronte der Consul und zu diesem kam, der Verabredung gemäß, der Capitain des verlorenen Schiffes und bat sehr gutherzig für die armen gefangenen Räuber um Gnade und Freiheit; dieselben seien durch die harte Gefangenschaft schon hinlänglich bestraft und er sei überzeugt, sie würden in einem ähnlichen Falle gewiß nicht wieder so unfreundlich sein, zu plündern.

Die alten Kisweli’s waren förmlich gerührt, als ihnen die Rede des Capitains übersetzt ward, und der Consul versicherte, auch sein Grimm habe sich gelegt und er wolle diesmal Gnade üben; als die Gefangenen befreit wurden und unten im Volke erschienen, da kannte der Jubel keine Grenzen. Freudengebrüll und Geschieße ohne Ende ertönte, Gesänge von französischer Großherzigkeit in der bilderreichen Sprache der Kisweli’s wurden improvisirt und der Heimweg des Consuls vom Fort nach dem Hause war ein Triumphzug, wie kaum die Geschichte einen ähnlichen wird liefern können. Um der Versöhnungsscene die Krone aufzusetzen, gebot der Consnuer ein großartiges Diner zu Ehren der zwölf alten Kisweli’s und als ewigen Erinnerungstag an die glorreiche Art und Weise, einer so brennenden Gefahr entlaufen zu sein. Das Diner fand statt; donnernde Salven begrüßten die afrikanischen Gäste, kurz vorher noch Räuber genannt, und unter unendlichen Höflichkeiten führte der Consul die schwarzbraunen Herren zur Tafel. Die Kisweli’s waren in ihre gewöhnliche Tracht gekleidet: langes, weißes Hemd, umgürtet mit einer gestickten Schärpe, die den krummen Dolch birgt, und auf dem kahl rasirten Schädel den griechischen Feß vom Tueban umwunden, der gewöhnlich Briefe und andere Papiere enthält. Die lange, auf dem Deck aufgeschlagene Tafel, umprangt von den Flaggen aller Nationen, wurde so besetzt, daß abwechselnd ein Weißer und ein Kisweli an derselben Platz nahm, wobei wir Weißen tüchtig zu thun hatten, unsere dunklen Tischgenossen essen zu machen, da der für sie fremde Gebrauch der Messer und Gabeln ewige Schwierigkeiten herbeiführte, und oft, ehe man Einhalt thun konnte, fuhr eine braune Hand in die Suppenschüssel, ein mit dem Messer nicht erwischtes Klößchen auf diese Weise sicherer zu fassen.

Mit diesem vielfältigen Genuß bietenden Feste endete im vorigen Jahre ein Kriegszug an der afrikanischen Küste, der trotz der schönen Aussichten, die sich im Anfang boten, statt Orden doch nur Brand- und andere Flecken auf schöner Uniform zurückließ.

Des andern Morgens segelte der Consul mit seinem Kriegsschiffe zurück nach Zanzibar, uns Andere unserem fernern Schicksale allein überlassend.



[715]

Heimgegangene.
Von Herrm. Marggraff.
Nr. 2. Dichterleben in Berlin: Sallet, Gaudy, Chamisso, Heinrich Stieglitz, Franz Horn.

Wenig später, nachdem ich nach Leipzig gegangen war, ging Sallet nach Breslau, von wo er mich im Jahre 1839 zu Beiträgen für ein Blatt aufforderte, das er dort herauszugeben beabsichtigte. In diesem Briefe schrieb er mir unter Anderm: „Ich trete jetzt vor Dich in einer nagelneuen Qualität, nämlich der eines angehenden Redacteurs:

Ach, wer sagt, ob’s mich erfreuen
Oder mich betrüben soll?

Du siehst ein, daß einem solchen nothwendig ein Mühlrad im Kopfe herum gehen muß, daß er folglich nur confuse Briefe schreiben kann. Ich habe nämlich im October des vorigen Jahres den Dienst quittirt, um mich ganz und getrost der Literatur in die Arme zu werfen, und meinen Aufenthalt vorläufig in Breslau genommen.“

Das Journal, welches er zu redigiren beabsichtigte, und für das er bereits einen Verleger gefunden zu haben glaubte, sollte den Titel „Silesia“ führen, sich von aller Cliquenkritik frei halten, und zugleich „heiter und doch ernst, unterhaltend und doch gediegen, für’s Publicum genießbar und doch auch den Eingeweihten befriedigend werden.“ Er bezweckte mit diesem Blatt seine Heimathsprovinz, das gemüthliche Schlesien, „von der literarischen Schmach zu retten, daß es bisher keine einzige honette, auch für’s übrige Deutschland lesenswerthe Zeitschrift hatte.“ Er bat mich, den vorzugsweise als Kritiker Bekannten, nicht um literarische Besprechungen, da er sich dieses Fach möglichst selbst vorzubehalten wünschte, sondern um Novellen, Balladen und „fröhliche“ Lieder, die aber frei von socialer Polemik sein müßten, weil er diese (ohne Zweifel wegen der damaligen Censurverhältnisse) ganz von seinem Blatte auszuschließen gedenke.

Das Blatt kam nicht zu Stande, aus Gründen, die ich nicht kenne. Wenige Jahre später, 1843, starb Sallet, der mir immer eine zarte Körperconstitution zu haben schien, in Folge eines Brustleidens, nachdem er kurze Zeit das Glück der Ehe genossen hatte. Seine sterblichen Reste wurden auf dem seiner Schwiegermutter zugehörigen Rittergute Reichau in der Familiengruft beigesetzt. Von prosaischen Aufsätzen Sallet’s ist mir nur einer bekannt, die Humoreske „die entdeckten Spitzbuben“, welcher im Jahrgang 1836 des „Berliner Conversationsblattes“ mitgetheilt ist.

Gaudy stand unserm Dichterkreise ferner, obschon er ein oder das andere Mal in unsern Zusammenkünften hospitirte. An Gelegenheit zu sarkastischen Bemerkungen, zu denen er aufgelegt war, wird es ihm dabei schwerlich gefehlt haben. An ihn erinnert mich ein kleines Billet, worin er sich unter Anderm darüber entschuldigt, daß er mich bei einem Besuche zwischen Thür und Angel quasi abgefertigt habe. „In meiner Stube,“ schreibt er, „war eben der Teufel, und zwar ein ganz hübscher, und ich beschwöre nur unter vier Augen.“ Das Billet war, wie alle seine Briefe, schwarz gesiegelt. Wie man erzählt, hatte er diese Gewohnheit seit einem verzweifelten Augenblick, als er nahe daran war, seinem Leben ein Ende zu machen. Später sah ich ihn öfter bei Wein und Bier, namentlich Maitrank oder „Hohenstaufen“, einem von ihm erfundenen und so getauften mörderischen Getränk aus heißem Wasser, Burgunder und Rum. Der Umgang mit ihm war interessant, aber nicht eben erheiternd. Es lag etwas Trübes und Düsteres auf seinem Gemüth, und seine kurzen Bemerkungen waren meist bitterer Art. Sein Antlitz war nicht blos durch seinen langen martialischen Schunrrbart beschattet. Zum letzten Mal sah ich Gaudy 1838 in Leipzig, auf seiner Durchreise nach Italien. Er hatte etwas von der Insel Buen Retiro gehört, die er sich wahrscheinlich ihres Namens wegen mit eigenthümlichen Naturreizen ausgestattet dachte, und so veranlaßte er mich, ihn dorthin zu führen. Der Unglückliche wußte nicht, daß derselbe Vergnügungsort auch „Schimmel’s Teich“ genannt wird. Seine Enttäuschung war daher auch nicht gering. Ueberhaupt hatte er eine entschiedene Abneigung gegen Leipzig und begriff nicht, wie ich daselbst existiren und mich behagen könne. Jetzt, wo der Charakter der Stadt noch viel mercantiler und materieller geworden, und der Schriftsteller wohl kaum noch dasselbe Ansehen genießt, wie damals, würde sein Urtheil wahrscheinlich noch bei weitem abfälliger lauten. Berlin zog er schon deshalb vor, weil der aus den verschiedensten Elementen gemischte Charakter und die Größe der Stadt dem Einzelnen mehr Spielraum gewähren, unbeachtet seinen Neigungen folgen zu können. Gaudy war übrigens bei aller Herbheit ein sehr offener und energischer Mensch, der namentlich alle gemachten, gezierten und blasirt überfirnißten Persönlichkeiten auf’s Gründlichste verachtete und floh. Mit Stolz nannte er sich einen „Freiherrn“, dieses Wort so verstehend, daß es seine Stellung als die eines an keine Rücksichten gebundenen „freien Herrn“ symbolisch ausdrücke.

Ganz unbedeutend ist ein Billet von Chamisso, das mich jedoch mit ihm in persönliche Berührung brachte. So poetisch und originell auch die Erscheinung dieses Dichters war, wenn er ernst und gemessen, in langem, herabfallendem, grauem Haar die Friedrichsstraße nach seiner Wohnung hinunterschritt, so kann ich doch nicht sagen, daß der Inhalt seines Gesprächs diesen Eindruck fortgesetzt oder gar gesteigert hätte. Vielleicht sah ich ihn zu selten; und warum sollte auch ein Dichter, Naturforscher und Weltumsegler von seinen Jahren und seinem Rufe sich einem jungen, angehenden Redacteur von der liebenswürdigen poetischen Seite zeigen?

Es handelte sich darum, ihn zu Beiträgen für das Berliner Conversationsblatt zu bewegen, aber er verweigerte selbst die Erlaubniß, daß sein Name unter den Mitarbeitern genannt würde. An Offenheit ließ er es dabei nicht fehlen. Er drückte seine Abneigung gegen alle Journalistik und Belletristik auf’s Unverblümteste aus. Er haßte überhaupt alle Schriftstellerei. Jeder Schriftsteller und Dichter sollte, nach seiner Ansicht, noch etwas nebenbei sein, falls das Glück ihn nicht in Stand gesetzt hätte, von seinen Renten zu leben. Hierzu kam vielleicht, daß man mich in dem verdienten oder unverdienten Verdacht hatte, dem literarischen jungen Deutschland anzugehören, und diese ziemlich willkürlich zusammengewürfelte Genossenschaft war in Chamisso’s und seiner Freunde Augen ein abscheuliches Monstrum, dem es recht geschehen, wenn ihm die Regierungen selbst die Bedingungen seiner Existenz genommen und zu schreiben verboten hätten. Strich doch zu der Zeit die Censur selbst den Namen irgend eines Genossen dieses jungen Deutschlands, wenn er auch nur gelegentlich angeführt wurde. Was mich betrifft, so war von mir bekannt, daß ich an dem gefürchteten, inzwischen unterdrückten „Zodiacus“ mitgearbeitet hatte und mit dessen wackerm Redacteur, Theodor Mundt, persönlich verkehrte. Dies reichte hin, auch mich in den Augen gewisser Personen als einen, wenn nicht gefährlichen, doch jedenfalls verdächtigen Menschen erscheinen zu lassen. Es nahm mich nur Wunder, daß auch Chamisso, ein geborner Franzose, der in manchen Gedichten eine freie Gesinnung bekundet hatte, so gut wie Steffens, welcher selbst in seinen Collegien gegen die Schriftstellerei eiferte, sich in diesem Punkte so beschränkt, engherzig und übertrieben ängstlich zeigte. Namentlich war bei einem Naturforscher, der doch für das organisch nothwendige Werden der Dinge einen Blick haben sollte, die Beschränktheit auffallend, womit er nicht einsehen mochte, daß seit der mächtigen, unaufhaltbar fortschreitenden Entwickelung der Journalistik und des Zeitungswesens, des Buchhandels und der gesammten nach Verallgemeinerung strebenden Bildung die Schriftstellerei ein mit vollster Nothwendigkeit aus den Verhältnissen sich ergebender Zeitfactor ist, der nur um so mehr an Macht und Einfluß gewinnt, je mehr man ihm Widerstand leistet. Ich war mir bewußt, bei der Uebernahme des genannten Blattes die besten Absichten zu haben, ich war ein großer Verehrer Chamisso’s und seiner Muse, und so kann man sich wohl vorstellen, wie tief mich diese Unterredung mit dem berühmten Dichter verstimmte, Ich glaubte, mit einem freigesinnten französischen Edelmanne und einem großsinnigen Poeten zu thun zu haben, und ich fand, daß Chamisso in diesem Punkte ziemlich eingephilistert war.

Indem ich unter meinen Briefschaften weiter krame, fällt mein Blick auf ein Convolut von Briefen des Dichters Heinrich Stieglitz aus Berlin, Breslau, München und Venedig. [716] Da taucht eine andere Gruppe von Dichtern und Schriftstellern vor mir auf. Es war im Sommer 1835, als sich ein Kreis von Dichtern und Schriftstellern zusammenfand, die sich verabredeten, von Zeit zu Zeit in die Umgegend Berlins Ausflüge zu machen. Zu diesem Kreise gehörten Theodor Mundt, Heinrich Stieglitz, der verstorbene Guhrauer, Leopold Schweizer, wir beiden Brüder und Andere. Man fuhr zu Wagen nach Weißensee u. s. w. oder zu Kahn nach dem Eierhäuschen jenseit Treptow, wo sich an den Ufern der hier klarer als innerhalb der Mauern Berlins fließenden Spree stille Wälder ausbreiten, über denen der Geist einer friedlichen Einsamkeit schwebt, welche die Nähe einer großen berühmten Hauptstadt nicht vermuthen läßt. So trat ich in nähere Beziehungen mit Heinrich Stieglitz, der sich uns Brüdern mit großer Wärme anschloß. Unglücklich und zerrissen, wie damals in Folge der tragischen Katastrophe, die ihn so schwer betroffen hatte, der Dichter war, durfte er wohl auf Sympathie und Bedauern Anspruch machen. Er erschien, bei tieferm Eindringen in sein Wesen, als eine grundgute, aber selbstquälerische Natur; er zeigte sich leicht erregt und namentlich für die Ideen der Zeit begeistert und seinen Freunden mit unverwüstlicher Treue ergeben. Aber seine Begeisterung nahm immer die Form einer nicht sehr wohlthuenden Excentricität an. Er hätte vielleicht ein tüchtiger Gelehrter werden können, aber er strebte nach hohem Dichterruhm, und da ihm zu einem großen Dichter ebensowohl künstlerisches Gleichmaß als Naivetät und originelle Gedankenfülle fehlten, suchte er diesen ihm vielleicht selbst nicht recht klar zum Bewußtsein gekommenen Mangel durch übertriebene Rhetorik zu ersetzen. Von sich selbst behauptete er, daß in ihm der wahrhaft christliche Dichter auferstanden sei, und sein Herz nannte er gelegentlich ein „blutiges Tintenfaß.“ Alles, auch das unbedeutendste Gedicht wollte er mit seinem „Herzblut“ geschrieben haben, eine Phrase, die überhaupt damals unter den Dichtern in Brauch kam. Freilich machte ihm das Blut, das in heißen Wellen nach seinem Kopfe strömte, viel zu schaffen. So kam er eines Tages zu mir, zeigte mir eine kreisrunde entblößte Stelle auf seinem Scheitel und versicherte, daß ihm hier das Haar in vergangener Nacht unter schrecklichen Beängstigungen durch das andrängende Blut abgesengt sei. Er erzählte dies, indem er ein Stück Brod und einige Aepfel aus der Tasche zog und zu verspeisen anfing, mit der Erklärung, daß dies sein gewöhnliches Mittagsbrod sei. Die Wahrnehmung, daß die Welt nicht anerkennen wollte, wie sehr er es verdient, daß sich seine Gattin um ihn das Leben genommen, verursachte ihm wohl den größten Schmerz. Das zeigte sich ganz deutlich in seinen Gesprächen, die voll Enthüllungen über sein Verhältniß zu seiner unglücklichen Gattin waren und die ich ihrer zu großen Vertraulichkeit wegen nicht mittheilen möchte, wie in seinen spätern Briefen aus Venedig, auf die ich wohl noch später zurückkomme. Excentrischen Tons sind sie alle, obgleich aus ihnen auch stets eine gewisse, ihm angeborene Gutmüthigkeit hervorleuchtet. An diese Stelle gehört nur ein kleines Billet, womit er im Jahre 1835 ein Exemplar seiner Dichtung „das Dionysosfest“ begleitete, das er uns beiden Brüdern zusandte.

„Da, werthen Freunde,“ schreibt er, „habt Ihr das versprochene Heidenkind. Laßt’s frisch und kräftig auf Euch wirken und gönnt ihm den Gegenklang, den es zu wecken vermag, mich ganz hinweg denkend. Am liebsten wäre es mir, es muthete Euch an, wie eine Pflanze, wurzelnd in dem alten Thracien, vom Orient herüberwuchernd, durch das spätere Griechenland sich durchziehend, in unsere Zeit hinüberrankend“ u. s. w. Mit diesen Phrasen war am Ende zur Charakteristik der Dichtung doch sehr wenig gesagt. Der Brief schließt: „So lange die Stränge dieses Leibes halten, und hoffentlich darüber hinaus, treu den Geistesverwandten!“ Polonius würde hierzu wahrscheinlich sagen: „So lange die Stränge dieses Leibes halten“ sei eine gute Redensart. Indeß Friede seiner Asche! Stieglitz hat seit der Selbstopferung seiner Gattin und auch schon vorher mehr durchgekämpft, als wir ahnen mögen. Wohin seine excentrische Natur führen mußte, wird man deutlicher erkennen, wenn die jedenfalls interessanten Briefe, die der Dichter an seine Charlotte, als sie noch seine Braut war, richtete, erschienen sein werden. Wenigstens hören wir, daß ihre Veröffentlichung vorbereitet werde.

Noch ein Billet fällt mir aus der Zeit meines Berliner Aufenthaltes in die Hände, das mich ebenfalls an einen Verstorbenen mahnt. Es ist unterzeichnet „Rosa Horn, geb. Gedike“ und enthält eine Einladung zu einer „Tasse Thee.“ Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß Rosa Horn die Gattin des bald darauf im Jahre 1837 verstorbenen Romanschriftstellers und jedenfalls nicht unverdienstlichen Literarhistorikers Franz Horn war, mit dem ich ebenfalls durch das Berliner Conversationsblatt in Verbindung kam. Die „Tasse Thee“, die mir zugesagt war, verwandelte sich Abends freilich in eine Tasse Gerstenschleim; denn da Franz Horn schon damals leidend war, wurde ihm vom Arzt das Trinken von Gerstenschleim verordnet und wir wenigen geladenen Gäste wurden, wahrscheinlich aus Rücksicht auch auf unsere Gesundheit, genöthigt, an diesem frugalen Getränk, dem ein halbes Glas Wein nebst dünnem Butterbrod folgte, Theil zu nehmen. Gerstenschleim ist zwar kein Dichtergetränk, aber es wurde durch die Vorlesung eines kurz vorher in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ erschienenen Artikels von Franz Horn gewürzt. Franz Horn war gewiß ein weicher, lieber, wohlwollender Mann, der auch namentlich um die Kenntniß der deutschen Literatur im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert seine unbestreitbaren Verdienste hat, aber es ist traurig für einen Schriftsteller, sein Bischen Ruhm zu überleben, wenn er nicht die Fähigkeit besitzt, sich mit der Zeit lebendig fortzuentwickeln oder im rechten Augenblick zu resigniren, was freilich aus rein pekuniären Gründen leider nicht immer angeht. Aber durchaus wohlthuend war der Eindruck, den das Verhältniß zwischen beiden Ehegatten und die in fast rührenden Zügen hervortretende Verehrung Rosa’s für ihren Gatten machte. Darin liegt auch Poesie; es ist, trotz Gerstenschleim, ein Dichterleben, das man in der großen Friedrichsstraße in Berlin eben so gut haben kann, als anderswo.




Streifereien in Nord- und Südamerika.
Aus den Tagbüchern eines früheren schleswig-holsteinischen Hauptmanns.
Mitgetheilt von Julius v. Wickede.
(Schluß.)
Die Reise über die Cordilleren. – Meine Hacienda. – Unbequeme Situation eines jungen Ehemannes. – Nutzen des preußischen Artilleriedienstes. – Einrichtung des Wohnhauses. – Erster Angriff von Indianern. – Kampf und Vertheidigung gegen einen größeren Indianerhaufen. – Der vormals preußische Lieutenant als Lustfeuerwerker und Viehzüchter. – Mein Leben und meine Zukunft.

Viel gefährlicher aber als Condors und andere Raubthiere, machen die schmalen und abschüssigen Felsenpfade einen Uebergang über die Cordilleren, besonders wenn, wie dies jetzt der Fall war, tiefer Schnee die meisten Pässe bedeckt. In der That, mir stand bisweilen der Angstschweiß im Gesicht, wenn ich mit meinem Maulesel auf einem solchen Felsenpfade, der kaum einige Fuß breit, auf der einen Seite das glatte Gestein, auf der anderen aber einen tiefen Abgrund hatte, oft mehrere hundert Schritte weit reiten mußte. Ein einziger falscher Tritt des Thieres, oder ein unter dessen Hufen abbröckelnder Stein, und man wäre rettungslos in den Abgrund gestürzt. Meine kleine liebliche Frau und ihre ebenso hübsche Freundin aber schienen dieser Gefahr nicht im Mindesten zu achten. Ganz unbekümmert saßen sie auf den Satteln ihrer Maulthiere und lachten und scherzten so unbefangen, als ritten sie auf der besten Chaussee der Welt. Noch gleichgültiger aber waren die Maulthiertreiber dagegen, und als ich einst einen derselben, der eben zurückgeblieben war, zu mir rief, zwang er sein Maulthier durch unbarmherzige Schläge mit der Peitsche zu einem schnellen Trabe, obgleich der Pfad ganz schmal und dabei ziemlich abschüssig war. Häufige Unglücksfälle kommen übrigens bei einer [717] solchen Passage im Winter doch vor, und wir selbst verloren ein Maulthier, welches mit seiner hohen Ladung ausglitt und einen Abhang hinunterstürzte. Mit vieler Mühe wurden die Waaren der Ladung an zusammengebundenen Lassos wieder heraufgezogen; das arme Thier aber, was ganz zerschunden war, mußte getödtet werden.

Leugnen kann ich nicht, daß ich eine aufrichtige Freude hatte, als endlich nach mehreren ungemein anstrengenden Tagemärschen das eigentliche Hochgebirge der Cordilleren passirt war, und wir mehr in die Vorberge und dann bald auch nach Mendoza kamen. Es ist dies ein ungemein freundlich gelegenes kleines Städtchen, ganz von üppigen Feldern und blühenden Gärten umgeben, was sowohl auf mich, wie auch auf meinen ehrlichen Hansen, der beim Ritt über die Cordilleren gerade nicht in der besten Laune gewesen war, sogleich einen sehr wohlthuenden Eindruck machte. Die Hacienda meines Schwiegervaters, die jetzt ganz die meine ist, lag an sieben deutsche Meilen von Mendoza entfernt, ebenfalls in einer sehr fruchtbaren, freilich aber nicht sonderlich angebauten Gegend, denn mehrere tausend Morgen Acker sind noch niemals vom Pfluge berührt worden, und dienen blos zur Weide für die zahlreichen Rinder- und Pferdeheerden.

Die Hacienda ist groß und kann sehr viel eintragen, befand sich aber damals, als ich dieselbe zuerst besah, in einem sehr verwüsteten Zustande und ist auch jetzt noch lange nicht so behaglich eingerichtet, wie ich dieselbe mit der Zeit zu sehen hoffe. Das Wohnhaus war damals von einer streifenden Indianerhorde niedergebrannt worden, und unser erstes Geschäft mußte daher sein, uns eine neue Behausung zu bauen. Meine Frau, die ich wegen der vielen vortrefflichen Eigenschaften ihres Herzens und ihres stets munteren Sinnes immer lieber gewann, wollte zwar so lange in einer Erdhütte mit mir wohnen, bis wieder ein Wohnhaus aufgebaut war, allein ich wollte sie den vielen Beschwerden und auch Gefahren dieses Aufenthaltes – denn umherschweifende Indianerbanden machten die Gegend der Hacienda noch immer unsicher – nicht aussetzen. Ich bestand darauf, daß sie vorerst mit ihrem Vater, der jetzt auch immer zu kränkeln anfing, in Mendoza ihre Wohnung aufschlagen sollte, bis unser Haus wenigstens einigermaßen fertig sei. Sieben Meilen von seiner hübschen Frau entfernt zu wohnen, ist zwar für einen jungen Ehemann eine sehr unangenehme Sache, doch hier zu Lande, wo man die besten und ausdauerndsten Pferde im Ueberfluß hat, betrachtet man dies kaum als eine Entfernung. Für fünf Thaler nach preußischem Gelde kann man hier ein junges zweijähriges Pferd im Durchschnittswerth schon immer kaufen, und für 25–40 Thaler bekommt man schon ein ganz besonders gutes Reitpferd. Ich hatte auf einer Hacienda, die gerade auf dem halben Wege zwischen unserer Besitzung und Mendoza lag, stets 6–8 gutgerittene Hengste (Stuten reitet man hier niemals) auf der Weide, wofür ich dem Eigenthümer eine sehr geringe Entschädigung zahlte, und so konnte ich stets mit den Pferden wechseln und immer in vollem Galopp fortreiten. Länger wie zwei Stunden habe ich auf diesen Weg, von Mendoza bis nach meiner Hacienda, wenn ich allein ritt, niemals gebraucht, und mitunter, wenn ich besondere Eile hatte, ging es auch wohl noch etwas schneller. So besuchte ich denn mein Weibchen durchschnittlich wohl dreimal in der Woche, und wenn gerade recht heller Mondschein war, galoppirte ich mitunter noch des Abends hin nach Mendoza, und am andern Morgen in der Frühe wieder zurück. Man wird das Reiten in diesen Gegenden so gewohnt, daß man es kaum noch als eine Anstrengung betrachtet, und täglich 12–14 Meilen im Sattel zurückzulegen ist eine solche Kleinigkeit, daß man es nicht der Mühe werth hält, nur ein Wort darüber zu sprechen. Auch meine Frau, die, wie alle Töchter des hiesigen Landes, eine sehr kühne und unermüdliche Reiterin ist, besuchte mich sehr häufig zu Pferd, und es gewährte uns dann ein großes Vergnügen, wenn wir Beide auf unseren schnaubenden Rossen in vollem Galopp auf dieser schönen weiten Fläche, deren Hintergrund von der hohen Bergkette der Cordilleren so malerisch geschlossen war, dahin sprengen konnten.

Uebrigens war ich mit meinem Hansen ungemein thätig, und wir sparten wahrlich den Schweiß nicht, bis erst das neue Wohnhaus nothdürftig fertig stand. Wenn man an neun Jahre königlicher preußischer Artillerieofficier gewesen und während dieser Zeit auch ein Jahr bei den Pionieren Dienst gethan, wie es bei mir der Fall, so hat man Gelegenheit gehabt, gar manche nützliche Dinge zu erlernen, die einem auch als Besitzer einer Hacienda in Südamerika sehr zu statten kommen.

So hatte ich zufällig bei dem Bau eines Schuppens in der Festung Wesel die Fabrikation von Luft- oder Lehmziegeln gesehen, und da ein gutes Thonlager auf meiner Besitzung war, beschloß ich mein Haus von solchen Lehmsteinen, die an der Sonne getrocknet werden, zu erbauen. Die Sache ging anfänglich zwar schwierig, aber doch besser, als ich selbst gedacht hatte. Mein Hansen, seines Handwerkes ursprünglich ein gelernter Zimmermann, dabei aber so eine Art von Tausendkünstler, der in alle mögliche Handwerke hinein pfuschte, zimmerte Formen für die Lehmsteine; für Geld und gute Worte gelang es mir, in Mendoza einige 20–30 zwar sehr faule, dabei aber doch im Grunde gutwillige Arbeiter zu bekommen, ich schonte die Haut meiner Hände auch nicht, und so war denn bald eine förmliche Lehmfabrikation bei uns im Gange, und da die hiesige Sonne rasch trocknet, hatten wir in wenigen Wochen einen genügenden Vorrath ganz tauglicher und für das trockne Klima, das hier im Allgemeinen herrscht, passender Steine beisammen. Jetzt ward denn Hand an die Errichtung des Hauses gelegt, einige Maurer- und Zimmerleute kamen ebenfalls aus Mendoza, und innerhalb vier Wochen stand das ganze Gebäude fertig da. Es hatte nur ein Stockwerk, und glich von Außen mehr einem langen Stall, wie einem Landhause, genügte aber, wenigstens vor der Hand, für unsere Zwecke vollkommen; es war in den fünf von einander abgeschlossenen Zimmern, die es enthielt, auch geräumig genug, um meine Frau, deren Freundin, meinen Schwiegervater, Hansen und mich aufzunehmen. Viel Ansprüche an häusliche Bequemlichkeiten darf ich freilich noch nicht machen, und obschon ich der Besitzer zahlreicher Heerden bin, besteht das sämmtliche Mobiliar in allen unsern Zimmern nur aus glatt abgehobelten rohen Holztischen, Bänken und Schränken in der Art, wie es in Deutschland ein halbwegs geschickter Dorfzimmermann auch verfertigen kann. Zuerst das Nothwendige und dann das Schöne, ist mein Grundsatz, und verfolgt mich das Unglück nicht allzusehr, so hoffe ich schon in zehn Jahren ein Haus zu besitzen, das auch von außen und innen einem verwöhnten europäischen Auge genügen kann. Jetzt ist mein Haus noch mit Ochsenfellen gedeckt und auch die Wetterseite desselben ist zum Schutz mit großen Ochsenfellen überzogen, wie auch der Fußboden nur aus hartgeschlagenem Lehm besteht. Daß meine eingeborenen Leute, ungefähr 20 Gauchos, zum Theil mit Frauen und Kindern, noch viel schlechter wohnen, und ihre Häuser ganz den Bivouachütten, wie sich solche unsere Soldaten in Schleswig-Holstein erbauten, gleichen, ist eine Sache, die man hier zu Lande gar nicht anders kennt.

Da meine Hacienda den Angriffen der umherstreifenden Indianerbanden sehr ausgesetzt liegt, so umgab ich sogleich das Haus und einige Ställe, Schuppen und Hirtenhütten mit einem Erdwall von 6 Fuß Höhe und einem mit Pallisaden besetzten Graben. Ein Sebastopol habe ich zwar dadurch nicht errichtet, aber gegen diese berittenen Indianerbanden, die sehr wenige Feuergewehre besitzen, genügen diese Anstalten vollkommen und ich kann mich doch jetzt der Beruhigung hingeben, daß meine Frau und meine beiden Buben (zwei prächtige Zwillinge, die soeben jetzt mir an den Beinen hinaufkriechen wollen) nicht so ohne Weiteres der Mordlust dieser indianischen Banden preisgegeben sind. Zwei Mal habe ich bereits blutige Zusammentreffen mit denselben gehabt, das letzte Mal ihnen aber einen so kräftigen Empfang gegeben, daß die Lust zum Wiederkommen dem Gesindel hoffentlich für immer vergangen sein wird. Das erste Mal griffen mich 6–7 berittene Indianer an, als ich eines Tages ganz allein auf der äußersten Seite meiner weitausgedehnten Felder ritt, um nach einigen entlaufenen Rindern zu sehen. Es waren sehr stattliche Burschen, die auf ihren behenden Rossen wie angegossen saßen und mit ihren langen Lanzen, die sie sie sehr geschickt zu führen wissen, ganz gefährliche Feinde abgeben. Sicherlich wäre es mir auch schlecht ergangen, wenn ich nicht zufällig an diesem Tage mein bestes Roß, einen wegen seiner Schnelligkeit allgemein berühmten Hengst, geritten hätte.

So ließ ich denn mein Pferd ausstreichen, was es nur laufen konnte, und nur zwei der Indianer ritten so gute Thiere, daß sie wohl auf 30–40 Schritte weit in meine Nähe kamen. Jetzt warf Einer derselben mit der Lanze nach mir und verwundete mich mit der scharfen Spitze derselben ganz leicht am Schenkel. Diese [718] Wunde brachte mich in Zorn, ich warf meinen Hengst herum und schoß dem vordersten Indianer einen Schuß aus der gezogenen doppelläufigen Pistole, die ich bei mir führte, gerade in das Gesicht, so daß er zu Boden stürzte. Das Pferd des zweiten, der schon mit der Lanze zum Stoß nach mir ausholte, erhielt den zweiten Schuß in die Brust, so daß es wildschnaubend sich umdrehte und von seinem Reiter nicht mehr gebändigt werden konnte. Ich jagte nun wieder fort und bevor die vier bis fünf übrigen Indianer mich erreichen konnten, war ich in der Nähe von sechs meiner Gauchos, die mit ihren riesigen Wolfshunden, deren ich wohl an 12–14 Stück besitze, hier die Pferde hüteten. Die Indianer warteten nun unseren Angriff nicht ab, sondern wandten ihre Rosse und jagten über die Steppe zurück.

Der zweite Angriff war ungleich ernsthafter und geschah einige Monate, nachdem meine Frau schon die Hacienda mit mir bezogen hatte. Ich war aber jetzt schon mehr auf solche ungebetene Gaste vorbereitet und gab ihnen einen tüchtigen Empfang. Da es mein Grundsatz ist, wenn man einmal Ernst anwenden muß, dies auch gleich gehörig zu thun, so verfuhr ich gegen diese Indianer auch sehr entschieden, und hierbei kamen mir meine früheren artilleristischen Kenntnisse und Geschicklichkeiten wieder vortrefflich zu statten. Ich hatte mir nämlich um schweres Geld in Mendoza zwei kleine, alte Mörser, wie sie dort bei den häufigen Kirchenfesten gebraucht werden, und einige hundert Pfund Pulver, Schwefel, Salpeter und noch einige ähnliche Ingredienzien erkauft. Diese beiden Mörser stellte ich in passender Weise an meiner Verschanzung auf, und lud sie mit einer Art von Kartätschen, die ich nur, mühsam genug, aus alten Blechkesseln, Flintenkugeln und geschmolzenem Schwefel verfertigt hatte. Sebastopol hätte ich zwar mit diesen Geschossen nicht zusammenschießen können, gegen Indianer waren dieselben aber von großer Wirkung. Außerdem verfertigte ich mit Hülfe von Hansen, der ja auch früher einige Jahre bei der Artillerie gedient hatte, eine Art von großen Brandraketen, welche, besonders zwischen die Pferde geworfen, eine furchtbare Wirkung haben mußten.

Auf einem Platze an 800 Schritte von meiner Hacienda, auf dem aller Wahrscheinlichkeit nach die Indianer sich sammeln mußten, grub ich einige Flatterminen, mit 30–40 Pfund Pulver geladen, und legte in dem sehr trockenen Boden eine Zündwurst, die in Streifen von trockener Ochsenhaut genäht war, von dieser Mine bis in die Verschanzung an. Alle diese Arbeit kostete mir zwar Zeit, Mühe und Geld, aber da es das Leben der Meinigen zu schützen galt, so glaubte ich gar nicht vorsichtig genug sein zu können: der Erfolg zeigte auch bald, wie richtig ich hierin gehandelt hatte.

In einer sehr hellen und klaren Mondscheinnacht kam einer meiner Gauchos, der draußen bei den Heerden gewesen war, in vollem Galopp in die Umwallung meiner Hacienda gesprengt und meldete, daß ein Trupp von mindestens 200 berittenen Indianern gegen uns anziehe. Das war nun freilich eine böse Kunde, und nun galt es, sich gehörig zu vertheidigen. An waffenfähigen Männern hatte ich in meiner Hacienda neun erwachsene Gauchos, drei Handwerker aus Mendoza, unter denen ein früherer, alter spanischer Soldat, ein tüchtiger Bursche voller Courage, meinen Hansen und mich, zusammen also 14 Mann, und bei gehöriger Energie konnte dies schon genügen. Schnell wurden jetzt die beiden kleinen Mörser gehörig mit meiner angefertigten Kartätschenladung versehen und auf die zweckmäßigste Stelle, wo sie wahrscheinlich am Meisten wirken konnten, gebracht; ebenso legte ich mir 6–8 Raketen zurecht und brachte auch das Gestell zum Absäumen derselben vollends in Ordnung.

Eine große Freude hatte ich bei dieser Gelegenheit über das ruhige und muthige Benehmen meines geliebten Weibes, die auch nicht die mindeste Furcht äußerte, und sich so recht als die würdige Gattin eines deutschen Soldaten benahm. Ihre kleine hübsche Freundin war ungleich ängstlicher und die Erzählungen von den vielen Mädchen, welche die Indianer geraubt und dann für immer mit in ihre Wildniß geschleppt hatten, beunruhigten sie sehr, daß sie sogar in Weinen und Klagen ausbrach.

Als wir noch mit diesen Zurüstungen beschäftigt waren, die mit der allergrößten Eile geschahen, bemerkte der alte Spanier, daß drei Indianer, welche dem ganzen Haufen als Kundschafter dienten, auf dem Bauche wie die Schlangen an unsere Pallisadenreihe herankriechen wollten. Er legte sogleich meine deutsche Jagdbüchse, die ich ihm als Waffe gegeben hatte, an, drückte los und schoß den einen dieser Kerle mitten durch den Kopf, so daß er auf der Stelle todt da liegen blieb. Sein Gefährte, da er merkte, daß er entdeckt war, sprang eiligst auf und lief mit der Schnelligkeit eines Hirsches davon. Kaum fünf Minuten dauerte es nun, so kam denn auch die ganze Schaar der Indianer, mindestens 220–250 Mann stark, angesprengt. Da sie mit ihren Pferden gegen die Umschanzungen der Hacienda nichts ausrichten konnten, so saßen sie ungefähr 800 Schritte davon ab, banden ihre Thiere zusammen und ließen dieselben unter der Aufsicht von 20–30 Kerlen auf einem Platze stehen. Zu meiner großen Freude bemerkte ich, daß sie sich hierzu gerade den Ort, wo ich die Flatterminen angelegt hatte, aussuchten, der freilich seiner natürlichen Lage nach auch der günstigste für solche Aufstellung der Pferde war. Mit wildem Kriegsgeschrei stürzte jetzt der ganze Haufe dieser Indianer gegen die Pallisaden vor. Diese dunklen, kräftigen Gestalten, in der einen Hand ihre langen Lanzen oder auch ihre kurzen, aber sehr schweren und gefährlichen Streitäxte haltend, wie sie mit ihrem blutgierigen Kampfgeschrei gegen uns anstürmten, hatten wirklich etwas Dämonisches, was schwache Naturen leicht hätte zum Entsetzen bringen können. Jetzt aber gilt es, dachte ich, und verlor auch keinen Augenblick meine Kaltblütigkeit. An den einen Mörser hatte ich meinen Hansen, an den anderen den gewesenen spanischen Soldaten hingestellt, und Beiden streng befohlen, nur auf mein Commando zu schießen. Ungefähr 200 Schritte mochte der Haufe der Indianer, der in regelloser Linie vorstürzte, noch entfernt sein, da befahl ich „Feuer“, und zu gleicher Zeit schleuderten meine beiden kleinen Geschütze ihren Kartätschenhagel so recht mitten in den dicksten Haufen hinein. Eine furchtbare Wirkung hatten diese Schüsse gemacht und wohl an 30 Indianer lagen todt oder schwer verwundet am Boden, die Uebrigen stutzten einen Augenblick und wandten sich dann eiligst zur Flucht. Jetzt warf ich in großer Eile, mit Hülfe von Hansen, der zu mir lief, noch zwei große Brandraketen, mit einer Füllung, die, so gut ich es herzustellen vermochte, Ähnlichkeit mit der der Congreve’schen Raketen hatte, zwischen die Flüchtigen. Besonders die letzte Rakete traf gut, sie fuhr zischend und sengend so recht zwischen den Indianern umher, warf Einzelne derselben zu Boden und versengte Andern ihre nackte Haut so sehr, daß sie vor Schmerz furchtbar heulten und abwechselnd in die Luft sprangen oder sich auf der Erde wälzten. Jetzt legte der Spanier auch Feuer an die Zündwurst, die nach den Flatterminen führte. Eine derselben versagte, zwei Minen aber sprangen so recht mitten zwischen den Pferden in die Höhe, verwundeten mehrere Indianer und Rosse und trieben den ganzen Haufen in wilder Verwirrung weit auseinander.

Dies letzte Ereigniß, dessen Grund sie sich gar nicht zu erklären vermochten, vollendete vollends die Bestürzung der Indianer. Pferde und Menschen stürzten in eiligster Flucht, so schnell sie nur laufen konnten, über die Steppen und bald waren Alle unseren Augen gänzlich entschwunden. Als wir nach einiger Zeit uns aus unseren Verschanzungen auf die Wahlstätte hinausbegaben, fanden wir 22 todte, 15 schwer und 4 leicht verwundete Indianer und 17 todte und 40 verwundete Pferde, die noch zu gebrauchen waren. Bevor ich es zu hindern vermochte, tödteten meine blutgierigen Gauchos alle verwundeten Indianer bis auf drei, die ich ihren mordenden Händen entriß und in meine Wohnung zur Wiederherstellung tragen ließ. Am anderen Morgen fanden wir aber noch die Leichen von vier Gauchos, welche die Indianer draußen heim Hüten meiner Heerden überrascht und ihrer Gewohnheit nach auf sehr grausame Weise getödtet hatten; auch fehlten mir einige dreißig junge Pferde, wofür wir aber wieder mehrere verlaufene Indianer-Rosse mit dem Lasso einfingen, so daß mein Verlust in dieser Hinsicht reichlich ersetzt ward.

Die verwundeten Indianer pflegte ich sehr gut und behandelte sie mild, bis ich sie denn nach einigen Wochen zu den Ihrigen zurückkehren ließ. Vorher zeigte ich ihnen durch einige Schüsse noch so recht die Gewalt meiner Mörser und machte dann ein Feuerwerk mit zischenden Feuerrädern und ähnlichen Spielereien, zwischen denen ich zu ihrer großen Verwunderung ganz ungefährdet umher ging. Dies that, wie ich später erfuhr, seine gedachte Wirkung. Ich hieß bei den Indianern fortan „der Feuergeist“ und sie hatten eine so abergläubische Furcht vor mir bekommen, daß sicherlich Keiner von ihnen mich wieder beunruhigen wird. Bei den guten Bewohnern von Mendoza aber stehe ich durch diese energische [719] Vertheidigung meiner Hacienda und meine Geschicklichkeit in der edlen Feuerwerkskunst ebenfalls in großem Ansehen und werde häufig gebeten, ihnen Feuerwerke zu veranstalten, was ich der guten Nachbarschaft wegen – sieben deutsche Meilen gelten hier wie schon bemerkt als keine Entfernung – auch stets bereitwillig thue. So habe ich denn wirklich jetzt keinen geringen Nutzen davon gehabt, daß ich als preußischer Artillerie-Fähndrich und Lieutenant mich auch in der Feuerwerkskunst möglichst zu unterrichten gesucht habe.

Im Uebrigen ist mein Leben hier sehr einfach, aber gesund und sagt mir zu. Ich bin ein reiner Viehzüchter geworden und treibe Acker- und Gartenbau nur so viel, um die geringen Bedürfnisse meines eigenen Haushaltes mit dem gewonnenen Ertrage zu bestreiten. Alle meine Einnahmen bestehen aus dem Erlöse von verkauften Fellen, Talg, getrocknetem Fleisch, Hörnern und von 50–60 jungen Pferden, die ich durchschnittlich zum Preise von acht preußischen Thalern das Stück in Mendoza verkaufe, während die älteren Hengste und Mutterstuten, die nicht mehr tragen wollen, sogleich getödtet werden, worauf ihre Haut benutzt und ihr Fett in den Talgkessel geworfen wird. An Rindern aller Art werden auf der Hacienda jährlich gegen 500 Stück geschlachtet, die Felle, Hörner, Talg und etwas getrocknetes Fleisch wird verkauft, sehr viel frisches Fleisch selbst verzehrt, denn die Gauchos leben fast nur von gebratenem Fleisch, das Uebrige verzehren die Hunde oder auch die zahllosen Geier oder anderen Raubvogel. Diese Schlachterei ist zwar kein angenehmes Geschäft, und ich ziehe mich möglichst davon zurück und überlasse die Aufsicht im Schlachthause, das ich eine Viertelstunde von meinem Wohnhause entfernt habe aufbauen lassen, einem eingebornen Gaucho, allein sie ist nothwendig, denn ich könnte sonst meine Producte gar nicht verwerthen. Alle Jahre werden zwei Mal Häute, Hörner und Talg in großen Ochsenkarren, von denen jeder mit sechs bis acht starken Ochsen bespannt ist, nach Buenos-Ayres geschickt und dafür Stoffe zur Bekleidung, europäische Waaren, Weine, Zucker und andere Luxusartikel wieder eingehandelt. Da das Fahren mit diesen Ochsenkarren nur sehr langsam von statten geht, so dauert solche Reise hin und zurück stets an drei Monate und ist daher eine langweilig Sache. Gewöhnlich vereinigen sich die Karren von mehreren Ansiedlungen zu einer solchen Fahrt, so daß zwanzig bis dreißig Ochsenkarren zusammenkommen und die Führer dadurch im Stande sind, sich gegenseitig gegen umherschweifende Indianerbanden zu schützen. Ich selbst bin vor sechs Monaten einige Tage in Buenos-Ayres gewesen, um mehrfache Geschäfte dort zu besorgen, und werde jetzt wieder dahin reiten und bei dieser Gelegenheit auch dies Briefpaquet nach Europa spediren. Ich mache die Reise stets zu Pferde, da man auf den Poststationen, wo die Regierungscouriere ihre Pferde wechseln, Reitpferde und einen Gaucho als Führer bekommen kann. Da ich auf diese Weise täglich zwanzig bis vierundzwanzig Meilen zurücklege, so währte meine letzte Abwesenheit im Ganzen nur einige Wochen.

Buenos-Ayres als Stadt gefällt mir nicht sonderlich, und obgleich dieselbe als Handelsplatz, der größeren Nähe von Europa wegen, mannichfache Vortheile hat, so möchte ich doch weit lieber in Valparaiso leben. In Buenos-Ayres halten sich übrigens viele Deutsche auf, und die meisten derselben, die ich sah, schienen in ganz sorgenfreien Verhältnissen zu leben. Ich selbst nahm bei meiner letzten Anwesenheit zwei Deutsche in Dienst, von denen der eine ein Schmiedegesell ist, der eine Schmiede bei mir eingerichtet hat, der andere aber ein Ackerknecht, der mir Waizen bauen soll, und wenn ich jetzt wieder hinkomme, so will ich sehen, daß ich noch vier bis fünf tüchtige deutsche Arbeiter bekommen kann. Wenn die Leute nur einigermaßen arbeiten wollen, so kann ich denselben eine sorgenfreie Existenz und später immerhin auch etwas Feld zum Ackerbau verschaffen. Mein Haushofmeister bleibt aber immer mein treuer Hansen, der mir folglich immer unentbehrlicher wird, und die nützlichsten Dienste aller Art leistet. Ich hoffte immer, er solle sich bald verheirathen, der alte Bursche scheint aber ein ständiger Junggeselle bleiben zu wollen.

Dies sind denn in kurzen Umrissen meine mannichfachen Erlebnisse, seit wir uns im Winter 1850 von einander trennten. Hart habe ich zwar arbeiten und manche schweren Entbehrungen ertragen müssen, aber mit Gottes gnädigem Beistand ist es mir bisher doch gut ergangen; ich habe eine Familie, die ich über Alles liebe, ein Eigenthum und die sichere Hoffnung, mir und den Meinigen eine sorgenfreie Existenz zu gründen. Bin ich nur erst mehr aus dem Groben heraus, so will ich es mir schon von Jahr zu Jahr behaglicher einrichten, und in zehn Jahren hoffe ich schon ein Landhaus zu besitzen, welches man auch in Deutschland mit Anstand bewohnen könnte. Jetzt freilich sieht es noch gar wild bei mir aus, und mein Schreibtisch ist ein Bret, welches zwei alte Tonnen als Füße hat. So rasch wie in Nordamerika kann man zwar hier nicht reich werden, denn die Viehzucht wird in den entlegeneren Provinzen stets unsere Hauptbeschäftigung bleiben müssen; aber es geht hier sicherer vorwärts – und was die Hauptsache ist, ich bin vollkommen zufrieden. Schreibe mir bald und viel, besonders aber die persönlichen Verhältnisse von allen Freunden, jede Kleinigkeit hierin wird von großem Interesse für mich sein.




Die Pulver-Explosion in Mainz.
(Schluß.)

In dem Augenblicke der Explosion passirten drei Fuhrwerke die Gauthorbrücke; sie wurden in den Graben hinabgeschleudert, wo man die vier Pferde und zwei Fuhrleute in einer großen Blutlache wiederfand; der dritte – der Vater der beiden andern nämlich – kam mit schweren Wunden davon.

In nächster Nähe der Explosion war das Wohnhaus des Dachdeckermeisters Schumann. Dieser Unglückliche befand sich mit zweien seiner Söhne zu Hause und alle drei wurden unter den Trümmern begraben, während seine Frau mit einigen Kindern abwesend war. Wir sahen den heimkehrenden jungen Schumann seine zwei Brüder und andern Tags auch seinen Vaier aus dem Schutte ausgraben. Neben diesem wohnte, ein braver und thätiger Familienvater, Klingelschmitt mlt Namen, der sammt Frau und drei Kindern unter dem Schutte seines Hauses begraben wurde und erstickte, und sechs Tage später zog man ein noch vermißtes Dienstmädchen unter demselben Schutthaufen hervor. Nur zwei Kinder sind von dieser Familie noch übrig, da eines in der Schule war und der älteste Sohn beim Militär in Darmstadt steht. Letzterer eilte bei der Nachricht des ihn betroffenen Unglückes hierher, um noch einmal die sterblichen Ueberreste seiner Angehörigem zu sehen. Diese Scene zu beschreiben bin ich nicht im Stande.

Der ferner in unmittelbarer Nähe wohnende Privatdiener St., welcher, um bei einer Tafel serviren zu müssen, sich zur Stunde des Unglücks nach Hause begab, sich umzukleiden, fand seinen Tod, so wie in einem anderen naheliegenden Hause einem in der Wiege liegenden 21/4 Jahre alten Kinde, dem Tüncher C. angehörig, der Kopf zerschmettert wurde. Ergreifend ist’s, wie eine unter dem Schutte hervorgegrabene Frau fast sieben Stunden mit vollem Bewußtsein unter demselben das Schrecklichste zu befürchten hatte. In knieender Stellung lag sie, rufend und betend, halb durch eine Vertiefung in der Wand, halb durch ihren vorliegenden Arm vor dem Erstickungstode geschützt, aber unfähig, sich zu bewegen, in diesem entsetzlichen Grabe. Anfangs hatte sie, nach ihrer eigenen Aussage, noch etwas Raum über ihrem Kopfe, allein nachrieselnder Schutt verengte ihn immer mehr, zuletzt konnte sie nur noch, bei jedem Athemzugs Staub verschluckend, mit Mühe athmen. Endlich gelang es den wackeren Gräbern, mit Vorsicht eine Oeffnung an diesem Orte zu erlangen und so die Arme verletzt hervorzuziehen, während nur einige Schritte von ihr ihr Mann, St., ohne daß sie es wußte, den schmählichen Tod gefunden: als der edle Soldat, der unermüdlich bei der Arbeit ausgehalten hatte, die Gerettete hervorzog, sahen wir ihn vor Freude ohnmächtig niedersinken.

Zwei junge Bildhauer wurden in ihrer Werkstätte erschlagen; einen in der Stadt allbekannten Kellner ereilte auf einem Spaziergange ganz in der Nähe der Unglücksstätte der Tod. Einem [720] Kinde wurde von einem Steine in einem Hause mitten in der Stadt der Kopf weggerissen; in der Stephanspfarrschule kamen die Kinder mit dem Leben davon, der Lehrerin aber wurden beide Beine zerschmettert, und ist sie nach einigen Tagen auch gestorben. – Doch wenden wir uns ab von diesen blutigen Scenen, um ein Gesammtbild der angerichteten Zerstörung zu gewinnen!

Wir haben schon gesagt, daß die ganze Häuserreihe des alten Kästrichs niedergeschmettert wurde; ebenso die Häuser im obern Theile der Gaustraße; dort, wie in der Stephansstraße und der Weisgasse wurden alle Dächer zertrümmert. In der ganzen Stadt zersprangen in Folge des Luftdrucks fast alle Fensterscheiben; selbst Fensterrahmen und Thüren wurden größtentheils zersplittert. Auch die schönen gemalten Fenster des Doms und der Quintinskirche wurden zertrümmert; an der Emmeranskirche brachen nicht weniger als 4000 Scheiben entzwei, und am Frankfurter Hof, der den Sitzungssaal des großen Carneval-Vereins enthält, aber keineswegs das größte Gebäude der Stadt ist, desgleichen 544 Scheiben.

Das in die Luft geflogene Pulvermagazin enthielt eine Masse von 200 Centnern Pulver und 700 Stück Granaten, außerdem eine große Masse Zündhütchen und 600 Leuchtkugeln, woraus man auf die Gewalt der Explosion schließen kann.

Die Umgebung der Stadt war denn auch mit Steinen wie besäet. Aber auch über die Stadt selbst ergoß sich ein wahrer Regen von Steinen und Kugeln. Das stärkste Bombardement hatte die Stephanskirche auszuhalten, die nun wie eine Ruine dasteht. Das Dach ist fast vernichtet, die Fenster sind total zertrümmert, die Orgel ebenfalls; auch der Thurm litt sehr. Doch ist der Schade, den die Kirche genommen, nicht so groß, als man Anfangs glaubte; die Wiederherstellung wird jedoch mindestens 20–30,000 Gulden erfordern. Die Zahl der ganz zerstörten Häuser wird auf 57, die der Häuser mit zerschmetterten Dächern auf 64 angegeben.

Die weggeschleuderten Steine fielen in Entfernungen von einer Viertel-, ja bis zu einer halben Stunde nieder, und zwar in dieser Entfernung noch mit unglaublicher Wucht.

Ein solcher Stein, im Gewichte von drei Centnern, brach durch das Dach und zwei Stockwerke des schönen Café de Paris, bis in’s Erdgeschoß desselben, ohne in den sonst so viel besuchten Localen desselben Jemand zu verletzen. Auch in andere Häuser brachen solche Steine ein; der colossalste aber, der deswegen auch verwogen und 1362 Pfund schwer befunden wurde, suchte ein Haus auf dem Ballplatze heim, wo er ebenfalls durch das Dach und zwei Stockwerke in das Zimmer eines preußischen Oberstlieutenants drang, und ebensowenig irgend Jemand beschädigte. Andere Steine beschädigten die Dächer des Gymnasiums und der evangelischen Kirche, sowie viele Privathäuser.

Von der Gewalt des Luftdrucks, den die Explosion hervorbrachte, mag man sich einen Begriff machen, wenn wir anführen, daß Wände einstürzten (z. B. in einem Schullocale und einem Saale des Theatergebäudes), Thüren aus Schloß und Riegel sich losrissen und die Schlußsteine der Brunnen in die Höhe fuhren. Im Hofe des Theaters, der durch das 120 Fuß hohe Gebäude von allen Seiten eingeschlossen ist, sprangen sogar die Thüren eines Weinkellers auf, eiserne Stangen wurden mit den Quadersteinen, in welchen sie befestigt waren, aus den Mauern herausgerissen. Nicht blos in Mainz selbst zersprangen die Fensterscheiben, auch in allen umliegenden Orten; in dem zwei Stunden entfernen Niederolm fielen Kaffeetassen von den Tischen. Die Lufterschütterung und das Donnergetöse hat man weithin vernommen, z. B. in Wiesbaden und Bingen, selbst jenseit des Taunusgebirges; ja, was fast unglaublich erscheint, aus Entfernungen von 30, 40 und 50 Stunden hat man eine Menge Berichte erhalten, die davon Meldung machen, daß man genau zur Zeit der Explosion eine Luft- und Erderschütterung und ein Getöse, wie das Rollen eines fernen Donners wahrgenommen habe.

Solche Meldungen liegen z. B. aus Alsfeld in Oberhessen, aus Fulda in Kurhessen, aus Arolsen im Fürstenthum Waldeck, aus Würzburg und Kissingen im Königreich Baiern, sowie aus Mergentheim und mehreren andern Orten des Königreichs Würtemberg vor; sie sind zum Theil in einer Zeit geschrieben, wo man an den betreffenden Orten von der Mainzer Katastrophe noch nichts wissen konnte.

Der an den Gebäulichkeiten der Stadt angerichtete Schaden beläuft sich auf mindestens eine Million Gulden; an den Festungswerken hat die Explosion einen Schaden von beiläufig 150,000 Gulden hervorgebracht. So sind z. B. an den Militairgebäuden allein 25,000 Fensterscheiben zerbrochen. Der Gemeinderath von Mainz beschloß, den Antrag auf Schadloshaltung beim deutschen Bunde zu stellen; dieser Antrag, dem sich die öffentliche Meinung mit seltener Einstimmigkeit anschloß, wird von der großherzoglich hessischen Regierung unterstützt werden. Dann aber ist auch die Wohlthätigkeit der ganzen deutschen Nation mit Recht in Anspruch genommen worden und ist es für die schwer heimgesuchten Bewohner von Mainz ein wahrer Trost, aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes Beweise des allgemeinen Wetteifers zu erhalten, den Verunglückten Hülfe zu bringen.

Bis jetzt sind bürgerlicherseits allein dreißig Opfer der Katastrophe gestorben; meistens an den empfangenen Wunden, einige aber auch, und darunter zwei junge, blühende Mädchen von achtzehn und zwanzig Jahren, in Folge des Schreckens. Verwundet wurden wohl mehrere Hundert, davon zwanzig bis dreißig schwer; die andern (und besonders viele Frauen) kamen mit Kopf- und Handwunden davon. Viele aber werden für ihr ganzes Leben entstellt werden und ihren Familien als Krüppel übrig bleiben.

Gewiß, da thut es Noth, daß die Mildthätigkeit in allen Theilen Deutschlands wetteifert, zu helfen.

Und doch, so groß die Verwüstung, so bitter die Noth ist, muß man dennoch staunen, daß die Zerstörung nicht noch ärger, der Verlust an Menschenleben nicht noch größer ist. Ueber vierzig Todte hat zwar die kühle Erde in ihren Schooß aufgenommen; wer aber die Unzahl von Steinen, die umher geschleudert worden ist, die Masse von Geschossen, die nicht explodirt sind oder nicht getroffen haben und all die glücklichen Zufälle, denen so viele ihre Lebensrettung verdanken, zusammennimmt, der muß allerdings an das Walten einer höheren Hand glauben. Zur Zeit der Explosion waren die meisten Bewohner des alten Kästrichs – sie sind durchgängig Arbeiter – nicht zu Hause; die Wirthshäuser waren unbesucht und die Promenaden des schlechten Wetters wegen ohne Frequenz. Viele Bewohner der Gaustraße, z. B. mehrere Officiere, deren Wohnungen ganz und gar demolirt wurden, waren ebenfalls nicht zu Hause und blieben verschont, während mehrere Soldaten in der ersten Bestürzung aus den Fenstern der ersten Etage eines Brauhauses in der oberen Gaugasse wenigstens dreißig Fuß tief in den Garten sprangen und sich durchaus nicht verletzten.

Gleich wunderbar entging der Generalstab der Bundesfestung und das österreichische Officiercorps dem Tode. Es war nämlich für dasselbe auf den Nachmittag des 18. November ein Turnfest im Graben neben dem explodirten Magazine angesagt, aber der ungünstigen Witterung wegen Mittags abgesagt worden. Welch ein entsetzliches Unglück hätte dieselben treffen können, wäre das Turnfest wirklich abgehalten worden!

Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, wenn auch sehr zweifelhaft, daß dieses beabsichtigte Turnfest gerade der Anlaß zu diesem unheilvollen Ereignisse geworden ist. Von Seiten des Festungs-Gouvernements wurde eine Untersuchungs-Commission niedergesetzt, um wo möglich die Ursache der Explosion zu ermitteln. Die Nachforschungen derselben haben festgestellt, daß man kurz vor der Katastrophe einen österreichischen Soldaten in dem Magazine bemerkt hat; daß der Artillerie-Corporal Wimmer um die Mittagszeit des 18. November sich im Hause des Artillerie-Directors des Schlüssels zu dem aufgeflogenen Magazine bemächtigt hat und seitdem verschwunden ist. Bis jetzt ist noch keine Spur von demselben aufgefunden. Die zur Ermittelung der Veranlassung der Pulverexplosion niedergesetzte Commission, sagt man, habe indeß thatsächlich festgestellt, daß Wimmer das Magazin wirklich in Brand gesteckt habe, indeß ist diese Nachricht nicht authentisch.

L.


Kommen wir nun, sagt eine in Mainz erschienene Schrift, auf die Hauptsumme des furchtbaren Unglückes der Stadt Mainz zurück, wir müssen es aufrichtig gestehen, so wird es uns schwer, eine Zahl zu finden, die den daraus entstandenen Schaden zu decken vermag! Wenn auch von unseren Rechtsgelehrten „Worte der Beruhigung“, betreffs der Entschädigung, an uns gerichtetet wurden, und uns aus allen deutschen Gauen Trost, Unterstützungen zur augenblicklichen Linderung der Noth zufließen; wenn auch so viele edle Herzen durch Rechtsgefühl sich bereits für uns erschlossen haben, und mit der wahrhaftesten Menschenliebe Opfer der Mildthätigkeit bringen; wenn, wo

[721]

Der alte Kästrich in Mainz nach der Explosion (photographisch aufgenommen).


eine deutsche Zunge sich befindet, die regeste Thätigkeit herrscht, herbeizuspringen und zur Steuer der Noth ihre Gaben zu spenden, so wird Alles nur die Schale der Wunde, bei weitem nicht ihr Inneres erreichen, somit nicht das Uebel mit der Wurzel entfernen können. Bedenkt man, wie groß das Unglück so vieler braver und fleißiger Bürger ist, wo Eltern sammt Kindern mit einem Schlage umkamen, wiederum, wo Eltern ihren Kindern und Kinder ihren Eltern in einem Nu entrissen wurden; bedenkt man, wie groß die Zahl derer ist, deren Wohl auf lange, lange Zeit untergraben worden, die theils ihrer Habe, theils ihres Obdaches, ihrer Gesundheit und Nahrung beraubt, theils nur mit dem, was sie an und um sich hatten, also mit dem Leben davon kamen; bedenkt man, wie so manche Familie in stiller Zurückgezogenheit in ihrem Kämmerlein sitzt, worin sie nicht einmal bei dieser rauhen Jahreszeit vor der eindringenden kalten Luft geschützt ist, und unter Thränen des Kummers sich fragt: „Was beginnen wir, und wie und wo werden wir Hülfe erlangen?“ –; bedenkt man endlich auch den Punkt, daß durch diese Katastrophe der Abfluß so mancher Fremden stattfand, welch ein Nachtheil auch hierdurch unsere Stadt betrifft: so wird es jedem Sachverständigen wohl einleuchtend sein, daß diese Zerstörung nicht mit mehreren Millionen Gulden zu ersetzen ist.

Es ist, wie bereits vielseitig gesagt wurde, „eine Ehrensache der deutschen Nation,“ hier hülfreich zu sein, und ist ganz besonders unser Aller Blick auf den deutschen Bund gerichtet, dessen Entscheidung gewiß nicht anders als: „vollkommene Entschädigung der unglücklichen und unschuldigen Stadt Mainz“ lauten wird.



[722]

Silliya’s Rache.
Thatsache aus dem englisch-indischen Leben.




Ich lernte vor einiger Zeit einen Franzosen kennen, der die besten beiden deutschen Raucher in der Kunst, Taback zu vertilgen, übertraf. (So erzählt ein Engländer in Chambers’ Edinburgh-Journal.) Er war ein Künstler und Flüchtling und lebte im englischen Indien, als ich seine Bekanntschaft machte. Dort war er Jahre lang als Copist alter indischer Denkmäler und Inschriften für ein französisches Kunstinstitut beschäftigt, später traf ich ihn auf englischem Boden, wo er nie recht mit der Sprache über seine englisch-indischen Erfahrungen herauswollte, am wenigsten neuerdings, da er auf Grund dieser Erfahrungen ganz anderer Meinung über die indische National-Revolution war, als die meisten Engländer. Doch neulich Abends, als ihm die Pfeife besonders gut schmeckte und er mir sein Vertrauen zeigen wollte, während wir Beide vor der Kamingluth saßen, ging er ’mal ordentlich auf das sonst gemiedene Thema ein und erzählte mir mit der folgenden Einleitung folgendes Erlebniß.

„Sie bieten ein seltsames Studium, diese Hindu’s und ihre Nabobs, Herrscher, Brahmanen, Kasten und religiösen Ceremonieen. Die Natur hatte nie die Absicht, diese beiden Racen, Hindu’s und Engländer, in einem und demselben Lande zu dulden. Selbst wenn sie beiderseits den guten Willen hätten, sich mit einander zu verständigen, wär’ es eine absolute Unmöglichkeit. Dieser orientalische und der anglo-sächsische Charakter sind die beiden entgegengesetzten Pole der Menschheit. Deshalb hat die englische Herrschaft in Indien kein moralisches Resultat gehabt. Sie hat die Eingebornen mit europäischem Handel und Wandel vertraut gemacht und bis zu einem gewissen Grade auch mit europäischer Wissenschaft, aber der Hindu und der Muselmann bleiben eben so weit von den Britten, als die alten Bewohner Indiens.“

Meine Entgegnung war: „Missionäre, Schulen und Zeit.“

„Gut, meinetwegen,“ antwortete er, „darüber werden wir uns doch nie verständigen, aber ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich gleich im Anfange meines Aufenthaltes in Indien erlebte und die mich über dieses Thema wohl ziemlich aufgeklärt haben wird. Es war in Agra, der alten Hauptstadt persischer Herrscher über Indien, die noch jetzt Spuren ihrer Herrschaft, Baukunst und Cultur trägt, obgleich nach ihnen die mongolischen Kaiser in Delhi und die Engländer in deren Namen (nachdem sie ihnen das Recht dazu abgelistet und abgekauft hatten, ohne zu bezahlen) zusammen schon seit Jahrhunderten herrschten. Das moderne Agra ist noch immer sehr bedeutend, reich an heiligen Plätzen für die Hindu’s und Mohammedaner, Sitz einer englischen Garnison und blühender Gewerbe. Ringsherum ragen die Denkmäler früherer Macht und Pracht, Tempel und Paläste und königliche Grabmonumente empor, meilenweit in der Gegend umher verstreut zwischen Palmenhainen, Dörfern der Eingebornen und englischen Bungalows oder strohgedeckten Villa’s. Ich hatte auf ein Jahr Arbeit unter den Engländern hier, besonders in einer hohen, mächtigen Familie, Namens Jackson. Sie hatte eine sogenannte „starke Position“ unter den Eingebornen von Hindostan. Mr. Jackson war hoher Gerichtsbeamter in der Provinz. Sein Bruder hatte die Stelle eines Directors im Zollhause. Ein Sohn war Officier eines eingebornen Regiments von „Sepoys“, auf deren Menge und Treue die Engländer so lange den Glauben an ihre Fremdherrschaft gründeten. Eine Tochter hatte einen hohen Gerichtsbeamten der ostindischen Compagnie in Calcutta geheirathet. Mit diesen Familieninteressen, so mächtig repräsentirt, und ihren mächtigen Verwandten im alten England waren die Jackson’s gar reiche und mächtige Herrschaften in Indien, wie Sie sich leicht denken können. Sie besaßen ein großes Haus in Agra für Geschäftsangelegenheiten (die höchsten Beamten machten von jeher noch gern „Geschäfte“) und eine ausgedehnte, prächtige Bungalow vor der Stadt an einem Flüßchen mit grossem Garten voll indischer Blumen und vom Süden her beschattet durch hohe Palmen, durch deren schlanke Stämme man weit hinaus über prächtige Ruinen und indische Vegetation Aussichten genoß. Hier lebten sie in einem Luxus, wie ihn nur Anglo-Indier treiben können. Nichts, was übermüthigem Reichthume erreichbar schien, durfte ja fehlen, so daß ihre Liebe für Eleganz und Fülle stets im vollsten Maße befriedigt ward. Die Jackson’s galten als die höchste „Elite“ der Agraer Gesellschaft. Meine Bekanntschaft mit ihnen gründete sich deshalb hauptsächlich auf den Umstand, daß Europäer ohne Uniform dort sehr selten, das Leben einförmig, ihre Portraits und ich als deren Maler nöthig waren. Sie hatten dreißig Jahre in Indien gelebt und hielten sich deshalb für genaue Kenner Indiens und der Hindu’s. Aber sie waren als gut geborne Engländer gekommen und solche geblieben. Sie beurtheilten ihre dienenden Ali’s und Ranu’s und Silliya’s ganz eben so, wie Engländer zu Hause ihre „Bill’s, Dick’s, Tom’s, Jim’s und Jock’s“ nehmen und behandeln. Die hohe Dame des Hauses war sehr geistreich. Sie sprach gern klagend über das schlechte Fleisch in Indien und wunderte sich, warum die Hindu’s immer noch Götzen verehrten, da man ihnen doch gesagt, das sei unrecht. Ihr Sohn, mit rother Uniform und tornisterblondem Backenbart, hatte großen Respect vor letzterem und deshalb auch vor sich selbst. Von der Tochter in Calcutta hatte ich nur gehört, daß sie sehr schön sei und zwei Engel von Kindern, Zwillinge, habe, Abgötter aller Jackson’s. Während ich die Jackson’s malte, hieß es, Mr. Lester, der Schwiegersohn, und die Tochter und die lieben, lieben Kinder würden diesen Winter vor der Regenzeit zu einem Besuch heraufkommen und ich müsse sie malen mit aller Kraft und Schönheit meiner Kunst.

Die Jackson’s hatten natürlich, wie alle Anglo-Indier, eine große Menge dienstbare Geister um sich, lauter Eingeborne und für jede Art von Dienst besondere. (Vgl. „Qui hy?“ in der Gartenlaube Nr. 11. Jahrgang 1857.) Unter ihnen stand in der höchsten Gunst und im intimsten Vertrauen die Kammerjungfer der Dame des Hauses, zugleich auch Ausgeberin und Kleider-Superintendantin. Man nannte sie Silli, wofür Mrs. Jackson in der Eile oft den englischen Namen Sally gebrauchte. Ihr wahrer Hindu-Name war Silliya, eine „Pariah“ oder niedrigste Kaste, aber classisch in ihrer hohen, äußerst schlanken, elastischen Figur und Grazie, aufrechten Haltung und der hellen, bronzenen Farbe in dem feinen Gesicht mit den schwarzen, glänzenden Augen und dem langen, scheinenden Haar – Alles Eigenschaften, durch welche sich die schönsten Brahmanentöchter auszeichnen, wie sie der classischste Dichter Kalidasa in seiner weltberühmten, oft ganz germanisch klingenden „Sakontala“ besang. Sie war etwa siebzehn Jahre alt, schon eine reife Jugend im Osten. Sie hatte eine classische Schönheitsgewalt um sich, aber der kalte, eisige, stechende Zitterglanz in ihren Augen war mir unheimlich und abstoßend, nicht so dem Capitain Jackson, der in seiner Zuversicht und Oberflächlichkeit nur die Reize dieser dienenden Schönheit zu schätzen verstand. Capitain Jackson wohnte in der Nähe seiner indischen Soldaten in Agra und war zugleich wie zu Hause bei seinen Eltern, wo er Silliya oft genug zu sehen Gelegenheit suchte und fand. Sie gleitete leicht und graziös elastisch überall frei im Hause umher, ausbessernd, plättend, stärkend, zuschneidend. Befehle für die Küche auf indisch austheilend, mit der Herrin englisch plaudernd und bald englisch, bald indisch schreibend oder lesend. Die Hausherrin erzählte mit viel Selbstbewußtsein, daß das Mädchen alle diese Geschicklichkeiten und deren Angehörige ihr Glück nur ihnen verdankten, und daß des Mädchens Dankbarkeit und Vertrauen zu derselben grenzenlos seien. Ihre Mutter sei durch Mrs. Jackson vom Suttie (Verbrennung mit der Leiche des Gatten) gerettet worden, obgleich sie deshalb von ihren Glaubensgenossen hernach immer verachtet und genöthigt worden sei, sich im heiligen, sühnenden Flusse Dschumna zu ersäufen; ihre Brüder seien von den Jackson’s unterstützt worden, sich selber zu ernähren, nachdem die Compagnie sie von ihrem Grund und Boden getrieben. Silli oder Silliya selbst sei durch Jackson’s Vermittelung in eine indische Schule gekommen, wo sie Englisch und Christenthum gelernt habe, so daß sie sich wohl noch werde taufen lassen. Des Mädchens Dankbarkeit für alle diese Wohlthaten sei unerschöpflich.

Mr. Lester wurde mit Familie im Beginn des Winters, d. h. der erträglich warmen Jahreszeit vor Beginn der Regengüsse [723] erwartet. Und da er Mittel und Macht hatte, bequem zu Wasser oder in Palanquins oder Tragsänften zu reisen, wurden die Lieben vor Beginn der jährlichen Sündfluthen bestimmt und sicher erwartet. Inzwischen erweiterte sich die Bestellung bei mir zu der Aufgabe, die ganze Jackson’sche Familie mit den lieben Zwillings-Kindeskindern als große Gruppe zu malen, für welche der Moment der Ankunft der dramatischste und geeignetste sein werde. Ich mußte deshalb, um die Ankunftsscene zu sehen, im Jackson’schen Hause wohnen. Aber der Moment der erwarteten Ankunft ging vorüber, ohne daß Gäste in ihren Palanquins entdeckt wurden, Gegen Abend begann es zu sündfluthen und zu donnern und blitzen, wie das nur in Indien möglich ist. Noch keine Ankunft. Die Vorbereitungen waren luxuriös und prächtig, aber die Jackson’s trösteten sich während des furchtbarsten Gewittersturmes, daß ihre Lieben unterwegs in einem alten indischen Grab-Monumente oder einer Ruine Schutz gefunden haben und etwas später kommen würden. So wurde es Nacht und Mondschein am aufgeklärten Himmel. Ich zog mich in meine Privatzimmer zurück, die mir angewiesen waren, da ich während der ganzen Zeit, welche zur Vollendung der Familiengruppe gehören würde, an Ort und Stelle bleiben sollte. Mein Atelier und meine Schlafstube lagen neben einander in einem Ballsaale, in einem Gartenflügel des Gebäudes. Die früheren Bewohner hatten Bälle gegeben, aber die Jackson’s, hoch, reservirt und ruhig, gaben keine Bälle und hatten deshalb den Saal durch indische Matten-Tapeten zu mehreren Zimmern zertheilt. Zwei davon gehörten mir, ein drittes, für das kühlste gehalten, neben den meinigen, war zur Schlafstube für die angebeteten Zwillinge bestimmt worden. Diese Wände von Matten sind sehr hübsch, sehr billig, aber auch sehr scharföhrig. Man hört jeden Laut im Zimmer daneben und kann leicht durch kleine Ritzen, die sich in ziemlicher Menge bilden, wenn das Geflecht trocken wird, zum Nachbar hineinsehen. Ich stand an diesem Abende, als die Gäste erwartet wurden, dicht neben einer solchen geritzten Wand, Farben reibend. Es war Alles still um mich, mäuschenstill, so daß ich, einhaltend, plötzlich das seltsamste Gezisch odes Gewisper oder beides aus dem Nebenzimmer vernahm. Ich bin in Frankreich geboren und da gab’s eine Ritze in der Wand dicht vor meinen Augen, daraus folgt, daß ich hindurchsah. Und was? Niemanden als Silliya ganz allein, durch und durch naß, als ob sie eben durch das offene Fenster hereingeschlüpft wäre, mit einem Körbchen voll Gras, aus welchem sie sorgfältig einen grünen Ball herauswickelte und ihn bedächtig unter das weiße Kissen des Zwillingsbettes drückte. Was das für eine häusliche Vorsorge sein könnte, die sie so verstohlen und schweigsam zu treffen für gut befand, konnte ich um so weniger begreifen, als sie sich nun sofort leise, wie ein Schatten, und geschwind, wie ein im Fluge hereinscheinender Strahl, wieder zum Fenster hinausschwang. Es regnete wieder draußen und die Gäste kamen nicht. Die Jackson’s trösteten sich, daß ihre Lieben irgendwo unterwegs eingekehrt seien, und gingen zu Bett. Aber die trockene Jahreszeit macht nicht nur Ritzen in Matten-Wände, sondern auch in Dächer. Just über meinem Bette hatte der Sommer ein Loch für den gießenden Winter in’s Dach gesprengt und Bett und Zimmer bis zur Unbewohnlichkeit eingeweicht. Mrs. Jackson, davon unterrichtet, hatte mir für die Nacht einstweilen die Zwillingskinderstube angewiesen. In ihr saß ich, als schon Alles zu Bett und ruhig war, und ich meine Schlaflosigkeit durch Briefschreiben auszufüllen suchte. Ein leises Geräusch neben mir erschreckte mich. Vor mir stand Silliya aufrecht und ruhig. Mit fester, klarer Stimme sagte sie: „Sahib, in Ihrem Bett muß sich eine Cobra versteckt haben. Ich roch sie, als ich hier vorbei ging. Meine Familie versteht die Schlangenbeschwörungskunst. Was geben Sie mir, wenn ich sie herausnehme?“

„Wie kam sie in mein Bett?“ frug ich, ohne aufzusehen und mit der Miene, als ob ich weiter schriebe, obgleich meine Feder Cobra-Windungen machte; denn ich dachte an den grünen Ball und die Vision, die ich vorher durch die Wandritzc gesehen hatte. Ich wußte, daß diese Cobra’s zu den giftigsten Schlangen gehören, dachte mir aber auch, daß sie nicht nur zum Unterkopfkissen bestimmt worden sein möchte.

„Ich weiß nicht,“ antwortete Silliya ganz unschuldig, und damit stand mein Entschluß fest, obwohl nicht der besten Politik entnommen.

„Ich gebe Ihnen eine halbe Rupie,“ sagte ich, und Silliya trat mit einem beifälligem Kopfnicken sofort an’s Bett, nahm den grünen Ball, noch ganz so zusammengewickelt, wie vorher, ohne Hast und Furcht mit den Händen in ihre Schürze und gleitete ruhig hinaus in den Garten.

Nach einer halben Stunde war sie wieder da.

„Nun Sahib,“ sagte sie, „ist die Cobra wieder zu Hause bei ihren Freundinnen und hat versprochen, sich nie wieder Ihrem Bette zu nähern.“

„Sehr wohl, Silli,“ antwortete ich, indem ich zwischen sie und die Thür trat. „Ich habe Ihnen eine halbe Rupie versprochen. Ich will sie Ihnen geben, wenn Sie mir sagen, warum Sie selbst diese giftigste Schlange in das für unschuldige Kinder bestimmte Bett versteckten? Ich verspreche Ihnen auch, der Familie hier nichts eher zu sagen, als bis Sie zwei Tage sicher aus dem Hause sind. Wo nicht, mach’ ich diesen Augenblick Lärm und erzähle Alles.“

Sie sah sich blitzschnell um, und da sie merkte, daß ich auf ihren Fluchtversuch vorbereitet sei, ergab sie sich mit dem fixen, steinernen Gesicht jener Morgenländer in ihr Schicksal und antwortete in der ruhigsten, sichersten Weise:

„Sahib, die Schlange verbarg ich dort, damit sie die geliebtesten Schätze dieser Familie, die Kinder des Richters von Calcutta, tödte. Meine Mutter schickte mir diese Schlange, damit ich Rache nähme an dieser Familie für alle Schmach, die sie der meinigen angethan. Ihnen gesteh ich gern Alles, denn Sie kommen nicht von England. Mein Vater war ein Brahmine und ein Semindar (Grundbesitzer), der seine Ländereien von unserm alten Nachbar Gußruu in allem Recht erbte, aber Sahib Lester, Richter in Calcutta, nahm ihm alle diese Güter, blos mit der Behauptung, daß diese Güter der Compagnie gehören.

Unter uns Brahminen war es stets Sitte, nur eine Tochter zu erziehen[3], um sie hernach, unserer Kaste gemäß, mit glänzenden Festlichleiten zu verheirathen. Aber Sahib Jackson erschreckte die Unserigen so durch sein Gesetz, daß alle Mädchen aufwuchsen. Als meines Vaters Seele geschieden war, entschloß sich meine Mutter unserer alten, heiligen Sitte gemäß zum Suttie, damit unsere Familie Ehre habe auf Erden und jenseits; aber ein predigender Jackson erschreckte sie so, als der Scheiterhaufen schon fertig war, daß sie das Leben vorzog. Nun sehen Sie, was diese weißen Schweine, die Alles essen, für Schande auf mein Volk und meinen Stand gebracht haben. Mein Vater verlor durch den Verlust seines Landes die Mittel zu den Opfern und so auch seine Würde in den Tempeln. Ohne Erbtheil wurden meine Brüder genöthigt, unter ihren Stand zu sinken und Stellungen unter diesen Schweinen anzunehmen. Für uns fünf Schwestern waren auch keine Hochzeitsfeste und Mitgaben möglich, weshalb sie sich alle in niedere Kasten verheirathen mußten, und ich bin eine Pariah, trinkend aus gemeinen Gefäßen und einhergehend mit unverschleiertem Gesicht. Meine Mutter war so verachtet unter ihren Nachbaren und in den heiligen Plätzen, daß sie nicht mehr leben mochte und sich in den Dschumna stürzte, sich opfernd der Göttin Durga, welche selbst Befleckte nicht verstößt. Durch die Gunst dieser Göttin hat sie die Wandelung in eine Schlange erreicht. Mutter sandte mir diese Cobra, daß ich meine Familie räche an diesen Lesters und Jackson’s, die nichts als Rupien anbeten und nichts Göttliches. – Nun Sahib, meine halbe Rupie, denn ich habe die Cobra weggenommen und die Wahrheit gesprochen.“ –

Sie nahm ihr Geld und gleitete ruhig von dannen. Am Morgen war sie verschwunden und aller Nachforschungen ungeachtet nie wieder zu entdecken.

Ein Freund, dem ich vor Verlauf der zwei versprochenen Tage von diesem Ereigniß erzählte, warnte mich ernstlich, den Jackson’s etwas davon zu sagen; sie würden’s nicht glauben, Verdacht gegen mich hegen, da ich durch Wandritzen geguckt und die Sache nicht augenblicklich anzeigt habe etc. Ich solle nur einen anonymen Brief mit verstellter Handschrift an die Jackson’s senden und darin die [724] Sache mittheilen. Der Brief wurde gesandt, aber die Jackson’s ließen nie etwas von dessen Inhalt hören.

Die Dame des Hauses bedauerte sehr die Flucht ihrer treuen, geschickten, dankbaren Dienerin. Mr. Jackson beschäftigte alle indische und englische Polizei, sie aufzufinden, aber vergebens. Warum sie gekommen war, meinetwegen die Cobra zu entfernen, war mir unerklärlich gewesen, da ich ihr nie sehr traulich und sie mir stets mit steiniger Kälte begegnet war. Ein Kaufmann in Agra, von dem ich reichlich kaufte und dem ich just eine hübsche Rechnung schuldig war, ergab sich als ihr Bruder. Diese Rechnung mochte mein Leben gerettet haben.

Ich malte die Jackson’s als Familiengruppe mit den lichten Mittelpunkten der Zwillingskinder. Später sah ich Silliya bei einer religiösen Festlichkeit als Bajadere in Delhi tanzen.

Den folgenden Sommer schrieb mir ein Freund in Calcutta, daß die lieblichen Zwillinge in Folge eines Cobra-Bisses im Garten des väterlichen Landhauses bei Calcutta beide gestorben seien.“




Blätter und Blüthen.


Noch etwas aus dem Storchleben. Wer schon Gelegenheit hatte, das Leben der Störche und ihre Fehden zu beobachten, der hat den Aufsatz in Nr. 24. der Gartenlaube von diesem Jahre sicherlich mit großem Interesse gelesen. Daß die Eifersucht zweier Männchen wegen eines Weibchens in manchen Fällen den Grund des Kampfes bildet, wollen wir nicht bestreiten; es mag jedoch der Wahrheit näher liegen, wenn man annimmt, daß es sich bei den meisten Fehden um die Eroberung eines von einem andern Paare bereits occupirten Wohnsitzes handelt. Richtig ist, daß die Kämpfe oft mit großer Erbitterung geführt werden und oft blutig, ja sogar für das eine oder andere dieser Geschöpfe tödlich ausfallen. Es war an einem prächtigen Frühlingsnachmittag, als Einsender dieses einmal Zeuge eines erbitterten Kampfes war. Von dem Storchenpaare, welches das auf dem Rathhause befindliche, von alten Weinrebenbüscheln gebildete Nest wenige Tage zuvor in Besitz genommen hatte, war nur das Weibchen zu Hause. Sein Klappern ließ die Rückkunft des Männchens erwarten, und bald sah man dasselbe in weiten Kreisen hoch über dem Dorfe schweben. Die Kreise immer enger ziehend, ließ sich dasselbe endlich auf dem Neste nieder und alsbald stimmte das vereinigte Paar ein heftiges Klapperduett an, indem sie fortwährend die Hälse auf den Rücken und dann wieder nach vorne bogen. Das immer heftiger werdende Klappern ließ auf die Nähe eines andern, in feindlicher Absicht kommenden Storchenpaares schließen. Bald waren auch einige Störche wahrnehmbar, welche hoch über dem Dorfe kreisten. Nachdem sie näher gekommen, konnte man deutlich zwei Pärchen erkennen. Sie ließen sich immer tiefer herab und kamen endlich so nahe, daß ihre Flügelschläge das Nest berührten. Mehrmals wollte einer der Feinde auf das Nest eindringen, allein er wurde mit gut geführten Hieben zurückgeschlagen. Nun unternahmen die Feinde einen gemeinsamen Sturm auf das Nest, indem sie das angegriffene Paar aus dem Neste zu werfen versuchten. Aber das letztere hielt der Uebermacht muthig Stand; mit gewaltigen Flügelschlägen und scharfen Schnabelhieben warfen sie die Eindringlinge immer wieder zurück. Endlich fiel einer der Feinde mit gelähmter Schwungkraft auf das Dach, und da er sich mit den Füßen nicht zu halten vermochte, kollerte er zur Erde herab, wo er von der umstehenden Jugend gefangen genommen wurde. Man hätte glauben können, der Kampf werde nun beendigt sein; da die unblessirten Feinde aber auf den benachbarten Dächern sich niederließen, so durfte man erwarten, daß sie einen neuen Angriff versuchen würden. Der gefangene Storch zeigte unter einem Flügel eine bluttriefende Wunde, die offenbar von einem Schnabelhiebe herrührte. Er ward von einigen Knaben auf den Kirchthurm gebracht und in das geöffnete Schallloch gesetzt, um ihm dadurch den Rückzug zu erleichtern.

Indessen hatten die Feinde einen neuen Sturm unternommen; der Angriff war heftiger denn zuvor, ein Menge Federn und Flaum flog in der Luft herum. Zwei der Feinde zogen sich jedoch bald wieder geschlagen und ermüdet auf das Kamin eines benachbarten Hauses zurück, der vierte aber war nicht zum Weichen zu bringen, er kämpfte mit wildem Ungestüm gegen das Paar im Neste fort. Doch gelang es dem letztern einmal, den Wüthenden vom Neste zurück und auf die Seite des Dachs zu weisen; das Männchen vom Neste verfolgte ihn und nach wenigen Augenblicken kamen beide zur Erde, mitten unter die Zuschauermenge, wo der Kampf fortgesetzt wurde. Man glaubte einen regelrechten Zweikampf zu sehen: gab sich der eine eine Blöße, indem er allzuheftig mit den Flügeln ausholte: klapps! hatte er einen Hieb unter der Schwinge. Ein unter den Zuschauern stehender Metzgerknecht machte endlich dem Kampfe ein Ende, indem er seinen Knotenstock auf den noch immer tapfern Feind niedersausen ließ, doch erst beim zweiten Schlage brach er todt zusammen, worauf sein Gegner in’s Nest zurückkehrte. Bald zogen auch die beiden Störche, welche vom Kampfe abgelassen und auf ein Nachbarhaus sich begeben hatten, ruhig von dannen. Der auf den Kirchthurm gebrachte Storch starb aber während der Nacht; man fand ihn in der Frühe todt am Fuße des Thurmes liegen und die liebe Jugend ließ es sich nicht nehmen, die beiden im Kampfe Gefallenen unter nachgeahmten Feierlichkeiten zur Erde zu bestatten. – Ein andermal fiel mir ein Zug großer Grausamkeit an einer Storchmutter auf. Das Paar war reichlich mit Kindern gesegnet; es mochten sechs oder sieben Junge im Neste sein. Als dieselben so groß geworden waren, daß sie von unten leicht gesehen werden konnten, sah ich eines Nachmittags, während das Männchen abwesend war, wie die Mutter eines der Kinder mit dem Schnabel packte und über das Nest warf und diesem alsbald ein zweites nachsandte. Sie fielen todt zur Erde nieder. Vielleicht mochte die Unmöglichkeit, sämmtliche immer größer und gefräßiger werdende Junge mit Nahrung zu versorgen, die Veranlassung zu dem gedoppelten Kindesmorde gewesen sein.

C. K.


Gastronomische Curiosität. Als ich noch Besitzer einen hüttenmännischen Fabrikgeschäfts war, hatte ich für gewisse Branchen der Fabrikation stets einige Leute aus dem thüringer Walde in meiner Arbeit. Einst betrat ich das Hüttengebäude, ohne von einem Trupp meiner in dieser Zeit unbeschäftigten Arbeiter, unter welchen sich auch die Thüringer befanden, bemerkt zu werden. Sie waren in lebhaftem, jedoch ruhigem Gespräch begriffen, was nach Art dieser Leute so laut geführt wurde, daß ich, in ziemlicher Entfernung von ihnen, jedes Wort deutlich vernehmen konnte. Der interessante Gegenstand ihrer Discussion waren die in Waldgegenden wachsenden verschiedenen Arten Pilze und die Entscheidung der wichtigen Frage: welcher von diesen der wohlschmeckendste sei. Einige Nichtthüringer rühmten vorzugsweise die Steinpilze, andere die Reißige, noch andere die Stockschwämme u. s. w. Da erhob endlich ein Thüringer seine nachdrucksvolle Stimme und sprach in dictatorischer Weise die gewichtigen Worte: „Ach sagt mir doch nichts von allen euren Pilzen! – der beste ist und bleibt doch der Fliegenpilz“, worauf sogleich alle übrigen Thüringer fast unisono replicirten: „Ja wenn Du von Fliegenpilzen reden willst, da hast Du freilich Recht, denn über diese geht keiner.“ Im ersten Augenblicke hielt ich diese Aeußerungen für Scherz und erwartete, daß derselbe belacht werden würde; allein die Thüringer blieben ernst, die Nichtthüringer schwiegen – wahrscheinlich betroffen ob dieser seltsamen Behauptungen – und man war eben im Begriff, das Gespräch nach einer kleinen Pause fortzusetzen, als ich hinzutrat und – ich gestehe, nicht ganz ohne Scham meine Unwissenheit zu verrathen – die Bemerkung fallen ließ: daß ich doch einiges Bedenken tragen würde, mich an einer Mahlzeit Fliegenpilze zu betheiligen, indem solche doch bekanntlich giftig wären; worauf die Thüringer erwiderten, daß der Fliegenpilz allerdings giftig sei, allein das Gift sei nicht im ganzen Pilze, sondern nur in den auf seiner rothen Oberfläche befindlichen Buckeln (wie sie es nannten) enthalten; würden diese nicht nur ab-, sondern der Vorsicht wegen auch zugleich etwas tiefer als die Oberfläche des Pilzes ausgeschnitten, so könne der Pilz nicht nur ohne alle Gefahr genossen werden, sondern sei zugleich der delicateste von allen. Relata refero! Daß ich von meinen Arbeitern nicht mystificirt worden bin, dafür bürgt mir die Achtung, in welcher ich bei ihnen stand, und die Unbefangenheit, mit welcher meine Bemerkung beantwortet wurde; ich bin daher völlig überzeugt, daß es mit der Sache seine vollkommene Richtigkeit hat, und überlasse es Kunstköchen und Feinschmeckern, ob sie den Versuch, dergleichen Pilze (über deren Zubereitung ich leider keine Auskunft geben kann) zuzurichten und zu genießen, wagen wollen. Vielleicht theilt einer der Leser der Gartenlaube etwas Näheres darüber mit.

R.


Werther’s Leiden, das glühend-heiße Buch, hat neuerdings eine Bestimmung erhalten, an die der Dichter, als er es schrieb, wohl schwerlich gedacht hat. Die in Leipzig erschienene und noch fort erscheinende Separatausgabe, ist nämlich in Frankreich in vielen Instituten, besonders Mädchen-Pensionaten als Schulbuch zur Erlernung der deutschen Sprache eingeführt, und wird sicher dort eifrige Leser finden.



Zur Notiz.

Mit dieser Nummer schließt das 4. Quartal und der Jahrgang 1857 und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen für das nächste Jahr schleunigst aufgeben zu wollen. Titel und Inhaltsverzeichniß zum Jahrgang 1857 sind dieser Nummer beigegeben.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Verfasser dieser Skizze war drei Jahre an der Ostküste Afrika’s stationirt und wird uns dann und wann mit einigen Mittheilungen aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen erfreuen.
    D. Red. 
  2. Die Gräfin von der Recke unterstützte den armen Seume in Teplitz bis zu seinem Tode am 10. Juni 1810.
  3. Die anderen werden in der Geburt umgebracht, eine „Sitte“, der die Engländer recht- und pflichtmäßig mit aller Strenge entgegentraten, aber ohne sittliche Motive und Erfolge, da sie in anderer Weise stets auf das Großartigste raubten, plünderten und erbschlichen. Vergleiche die Geschichte der ersten Eroberer Indiens, Lord Clive’s und Warren Hastings’, von Macaulay (übersetzt), und die Geschichte Indiens von Harriet Martineau.