Die Gartenlaube (1857)/Heft 31
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No. 31. | 1857. |
„Der Kerl muß zu finden sein, Herr Referendarius,“ sagte der Reviercommissarius. „Heute Mittag „geben wir ihn in der Conferenz auf,“ Einer wird ihn schon kennen.“
Die Versammlung der sämmtlichen Polizeicommissarien Berlins des Mittags auf dem Polizeipräsidium hatte namentlich auch solche gegenseitige Mittheilungen zum Zweck.
Der Referendarius hatte indeß seine eigenen Gedanken.
Kurze Zeit nach der Entfernung der beiden Beamten erschien der Polizeidirector, den ein besonderer Zufall, oder war es Instinct bei ihm? fast immer in die Nähe führte, wenn in Berlin ein ungewöhnliches Verbrechen verübt war. Er war durch die Dresdner Straße gekommen, hatte daselbst von dem Raubanfalle gehört und stieg nun zu dem Herrn Ehrenreich hinauf. Dieser mußte auch ihm erzählen.
Er hatte gleichfalls seine eigenen Gedanken.
„Begreifen Sie die Geschichte, Herr Director?“ fragte der Herr Ehrenreich.
„Sehr gut und einfach, mein Herr? Was wäre Ihnen unbegreiflich daran?“
„Was? Alles. Wie zum Beispiel ist der Schlüssel zum Schranke wieder in meine Westentasche gekommen? Er war fort, als ich aufstand, das Licht anzuzünden; er war wieder da, als ich das Lichts angezündet hatte.“
„Der Dieb hat ihn, während Sie das Licht anzündeten, wieder hineingesteckt.“
„Aber warum, zu welchem Zweck?“
„Er war damals wahrscheinlich noch allein, oder, wenn auch beide Schurken drinnen waren, so scheuten sie einen Kampf mit Ihnen. Sie steckten daher den Schlüssel wieder in die Westentasche und machten sich leise und eilig wieder aus dem Staube, damit Sie, wenn Sie mit dem Lichte nachsuchten und Alles in Ordnung fanden, glauben sollten, geträumt oder sich sonst geirrt zu haben. Sie müssen gestehen, der Zweck ist erreicht.“
„Aber, ich hörte nichts.“
„Solche Bursche sind gewandt und leichtfüßig.“
„Und wo waren sie geblieben, als ich sie suchte?“
„Wieder zu dem Fenster hinaus, durch welches sie gekommen waren.“
„Hm, hm, und warum haben Sie nur meine Uhr mitgenommen und nicht auch dieses Kästchen, in dem ich mehrere tausend Thaler Gold verwahre und nach dem sie offenbar hauptsächlich gesucht haben?“
„Sie hörten einen Fall, als sie später zum zweiten Male aufwachten?“
„Ich wachte davon auf.“
„Das war die Stange, an welcher im Schranke die Kleider hingen. In der Eile, in der Dunkelheit sind die Kerle ungeschickt gewesen; sie haben die Stange heruntergerissen; nun lagen alle Kleider auf dem Kästchen, zu dem sie sich erst mühsam hindurcharbeiten mußten. Wahrscheinlich hat dies der eine Spitzbube versucht, während Sie mit dem anderen rangen. Sie wurden mit diesem eher fertig, als jener mit seinem Versuche. Er mußte dieses aufgeben, um seinem Cameraden zu Hülfe zu springen. Als man Sie niedergeschlagen hatte und Sie betäubt da lagen, klopfte die Frau Rohrdorf. Jetzt konnten sie nur noch an ihre Rettung denken und begnügten sich damit, auf der Flucht die Uhr zu ergreifen, die auf dem Tische lag.“
„Ja, ja, Herr Polizeidirector, Sie haben mir zwar noch kein Wort von der Berliner Aufklärung vorgesprochen, aber ich sehe doch, Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Nur eins klären Sie mir noch auf, wie sind die Kerls in meine Stube gekommen? Daß sie das nicht fest anliegende Fenster, das erste wie das zweite Mal, mit einem dazwischen gesteckten Messer öffnen konnten, ist mir leicht erklärlich. Aber wie kamen sie zu dem Fenster hinauf? Es liegt offen an der Straße; zwanzig Schritte davon brennen zu beiden Seiten die Gaslaternen, zwar schlecht genug, denn der Magistrat hat das Geschäft selber übernommen; hinter jedem Kellerhalse steckt ein Nachtwächter. Teufel, Herr, und Sie haben sehr vigilante Nachtwächter in Ihrem Berlin. Am Abend meiner Ankunft hier kehrte ich etwas spät in meinen Gasthof zurück. Ich hatte mir eine Cigarre angezündet und schlenderte ganz arglos durch die Straße. Auf einmal springt hinter dem ersten Kellerhalse, an dem ich vorbeikomme, ein Kerl auf mich los, schwarz wie die Nacht, das Gesicht in eine alte Sturmhaube gesteckt, einen langen Speer, um zehn Menschen daran aufzuspießen, in der Hand, einen Sarras an der Seite und im Gürtel ein Ding, wie ein ungeheurer, krummer Türkendolch. Ich springe erschrocken zurück und denke, ein Räuber will mich überfallen: ich rief: Polizei, Nachtwächter, zu Hülfe! Da erklärt mir der Mensch, der Nachtwächter sei er selbst, und er hält mir das Ding vor, das ich für den Türkendolch gehalten hatte, und zeigt mir, daß es sein Nachtwächterhorn ist, mit dem er seine „Collegen,“ nicht Cameraden, sagte der Mann in der Stadt der bureaukratischen Intelligenz, zusammenrufen werde, wenn ich nicht auf der Stelle still stehe und das Rufen aufgebe. Und [422] nun erklärt er mir, daß das Rauchen auf der Straße bei zwei Thaler Strafe verboten sei, und daß er mich, weil ich das Verbot übertreten, arretiren und zur Polizei bringen müsse, wo ich die Nacht in der Stadtvogtei zubringen werde. Zum Glück war dieser Nachtwächter ein intelligenter Mensch. Zwei Thaler beträgt die Strafe? fragte ich ihn. – Ja, sagte er. – Und aus Ihrem Diensteifer kann ich schließen, daß Sie von der Strafe einen Theil abbekommen? – Der „Denunciantenantheil“ macht die Hälfte. – Also einen Thaler. Hier haben Sie drei Thaler; nun lassen Sie mich ruhig weiter rauchen und gehen. – Er nahm das Geld und ließ mich ruhig weiter rauchen und gehen. Aber am nächsten Kellerhalse springt mir wieder ein solcher Beamter der nächtlichen Sicherheit entgegen, hält mir seinen Spieß und sein Horn vor, will mich zur Stadtvogtei bringen, und ist in seinem Diensteifer erst zu beruhigen, als auch er seine drei Thaler hat. Hinter jedem Kellerhalse ein Nachtwächter für drei Thaler! das war mir doch etwas zu theuer, und ich warf meine Cigarre von mir. Aber, nun frage ich Sie, mein Herr, hinter jedem Kellerhalse ein Nachtwächter, wie konnten da die Spitzbuben in mein Fenster hier einsteigen?“
Der Polizeidirector lächelte.
„Auch das ist sehr leicht und einfach zu erklären, mein lieber Herr. Unsere Polizei hier ist gut, aber nicht der gute Homer allein, auch selbst eine gute Polizei kann manchmal schlafen. So scheint es in der That hier seit einigen Monaten zu sein. Daher haben wir auch jene verzweifelt treffende Carrikatur, die vor wenigen Wochen erschien, sehr still zu unterdrücken gesucht; sie wird auch das Einsteigen bei Ihnen erklären. Ein Gensd’arm, der bei hellem Tage über die Straße geht, sieht einen bekannten Dieb im Begriff, durch ein offenes Fenster in ein fremdes Haus einzusteigen, dabei aber gemüthlich eine Cigarre rauchen. Der Gensd’arm gewahrt aber nur das letztere. Er gehört zugleich zu den gutmüthigen Gensd’armen, und er ruft daher dem Menschen warnend zu: „Du, Du, das kostet zwei Thaler!“ – Begreifen Sie, guter Herr?“
„Ich fange an,“ sagte etwas kleinlaut Herr Ehrenreich.
„Aber nun, lieber Herr, ein paar Fragen an Sie. Zwei Kerls waren hier bei Ihnen?“
„Zwei.“
„Und der Eine war ein ziemlich großer Bursche, mit einem feinen Gesichte und einem kleinen schwarzen Schnurrbarte?“
„Genau so sah er aus.“
„So, so. Und der andere?“
„Ich habe ihn mit keinem Blicke gesehen.“
„Und gefühlt haben Sie nur seine Fäuste?“
„Die waren derb genug.“
„Sie wohnen seit vorgestern hier?“
„Seit vorgestern Abend.“
„Haben Sie hier Besuch bei sich gehabt?“
„Nur zwei Personen.“
„Können Sie sie mir nennen?“
„Der erste war der Vater eines Künstlers, ich glaube, Pfaffenhorst hieß er.“
„Der hat sein gutes Geschäft. Der zweite?“
„Ein Herr Henne –“
„Wo jener Bursche mit dem kleinen schwarzen Schnurrbarte ist, da darf man auch den Herrn Henne nicht weit suchen.“
„Aber, er gehört ja zur Polizei.“
„Teufel, Herr, decken Sie heute nicht alle schwachen Seiten unserer Polizei auf. Wer hat den Burschen zu Ihnen geführt? – Doch, ich will es nicht wissen; leben Sie wohl! Heute Abend bringe ich Ihnen hoffentlich den kleinen Schnurrbart, und morgen, so Gott will, Ihre Uhr. Den Herrn Henne kann ich direct zur Stadtvogtei liefern, um ihm endlich ein Handwerk zu legen, über das ich mich schon lange geärgert habe.“
Wenn man von der Wallstraße her die, in der Nähe des großen Berliner Waisenhauses, über die Spree führende sogenannte Waisenbrücke überschritten hat, so kommt man auf einen kleinen Platz, der durch das Zusammenstoßen mehrerer Straßen gebildet wird. Von ihm aus gelangt man weiter links in die zum Molkenmarkte führende Stralauerstraße, und rechts über die Stralauerbrücke in die Alexanderstraße, und sodann über den Alexanderplatz in die Prenzlauerstraße und darauf aus dem Prenzlauerthore auf die Chaussee, welche nach dem, zwei Meilen von Berlin entfernten, anmuthig gelegenen Dorfe Französisch-Buchholz führt.
Es war des Nachmittags etwa um drei Viertel auf zwei Uhr, als aus her Stralauerstraße langsam eine gewöhnliche, bedeckte, mit zwei Pferden bespannte Lohnkutsche auf den kleinen Platz an der Waisenbrücke fuhr und dort anhielt, als wenn sie auf Jemanden warte. Die Seitenfenster des Wagens waren offen und man sah durch sie, wie eine Frau allein das Innere des Wagens einnahm. Es war eine wohlbeleibte Frau von einigen funfzig Jahren, der Kleidung nach dem Berliner Handwerkerstande angehörig. Der Kutscher, als er anhielt, blieb steif auf seinem Bocke sitzen, ohne sich nur umzublicken; man sah, daß es ihm einfach befohlen war, hier zu halten. Die Frau bog sich aus dem Wagenfenster nach der Waisenbrücke zu hinaus, als wenn sie von dorther Jemanden erwarte. Sie mußte aber den Erwarteten nicht gewahren und legte sich in das Innere des Wagens zurück. Der Wagen hielt ruhig weiter.
Nach einer Weile kam von der Stralauerbrücke her ein Mann von etwa dreißig Jahren, klein und gedrungen von Gestalt, mit einem klugen, wenn gleich nicht eben feinen oder den Stempel einer höheren geistigen Bildung tragenden Gesichte; gekleidet etwa wie ein ehrbarer Bürger. Er sah sich vorsichtig nach allen Seiten auf dem Platze um; dann ging er an den Wagen.
„Ist er noch nicht hier gewesen, Madame Beier?“
„Ich habe noch Niemanden gesehen, Herr Erhard.“
„Warten Sie schon lange hier?“
„Seit fünf Minuten.“
„Sie vergessen doch unsere Rollen nicht, Madame Beier?“
„Ich werde nicht; ich bin Ihre Mutter. Theodor heißen Sie doch mit Vornamen?“
„Theodor, Madame Beier, für heute Theodor Beier; und ihn können Sie Herr Rudolf oder auch blos Rudolf nennen.“
„Und warum nicht Herr Langenau?“
„Jenes zeigt mehr Vertraulichkeit an.“
„Was soll nur eigentlich die ganze Geschichte bedeuten, Herr Erhard?“
„Eine kleine Vergnügungsfahrt. Madame Beier. Sie sollen nur die Ehrendame des jungen Mädchens sein.“
„Dem Mädchen soll doch kein Leid geschehen?“
„Sind Sie toll, Madame Beier?“
„Sie stehen mir dafür ein?“
„Gewiß. – Ah, der Rudolf kommt da; aber sie läßt sich noch nicht sehen.“
Aus der Stralauerstraße kam ein großer, hübscher, junger Mann, Rudolf Langenau mit seinem schwarzen Schnurrbärtchen. Er trat ebenfalls an den Wagen. Dem ehrbaren Bürger Theodor Erhard oder Beier hatte er schon von Weitem einen verstandenen Wink gegeben.
„Sie ist noch nicht da?“
„Nein, wie Du siehst.“
„Ich werde ihr entgegengehen.“
Rudolf Langenau ging nach der Waisenbrücke zu; nach wenigen Schritten kehrte er plötzlich und sehr eilig um.
„Der langweilige Polizeireferendarius!“
„Wo?“ rief erschrocken der ehrbare Bürger.
„Dort hinten auf der Waisenbrücke. Er kommt hierher.“
„Ich wollte, der Teufel holte ihn.“
„Glaubst Du, daß er Dich wiedererkennen wird?“
„Ich fürchte es.“
„Fatal. Sie kann, sie muß jeden Augenblick kommen. Sie kennt weder Dich, noch die Frau, sondern nur mich. Ich darf nicht bleiben; ich weiß aber nur ein Mittel. Du steigst in den Wagen und hälst Dich zurück, daß er Dich nicht sieht; hoffentlich geht er vorüber, wo nicht, so fährst Du langsam, ganz langsam, schon um nichts zu verrathen, über die Stralauerbrücke[WS 1] nach dem Prenzlauerthore zu; ich verberge mich in dem Hause dort und folge Euch mit ihr, wenn die Luft rein ist. Weißt Du einen andern Ausweg?“
„Nein!“
„Also schnell in den Wagen.“
Der ehrbare Bürger sprang in den Wagen und legte sich [423] zurück, daß er von Vorübergehenden nicht gesehen werden konnte. Rudolf Langenau eilte in ein gegenüberliegendes Haus, dessen Thür offen stand. Eine halbe Minute darauf kam um die Ecke von der Waisenbrücke her der Polizeireferendarius. Er schien etwas scharf gegangen zu sein; sein Gesicht war geröthet und sein Athem keuchte. Vorn auf dem Platze machte er Halt. Sein Gesicht blieb auf dem wartenden Wagen haften, und er war unschlüssig, ob er auf ihn zugehen sollte. Auf einmal klopfte ihm von hinten Jemand auf die Schulter. Er fuhr heftig erschrocken zusammen.
„He! he! – Ah, was haben Sie mich erschreckt!“
„Die Polizei erschrickt?“
Der Polizeidirector war unbemerkt hinter ihm hergekommen und hatte dem in seinen Gedanken Versunkenen den kleinen Streich gespielt.
„Die Polizei erschrickt? Ei, ei, das ist ein Beweis von großem Mangel an Vor- und Umsicht.“
Der Referendarius ging auf die Ermahnung nicht ein. Der Anblick des Polizeidirectors hatte lebhaft einen andern Gedanken in ihm angeregt.
„Sie waren heute Mittag nicht auf der Conferenz, Herr Director. Wissen Sie schon von dem Raubanfalle, der heute Nacht in der Dresdener Straße passirt ist?“
„Ich habe davon gehört,“ lächelte das listige Gesicht des Directors. „Und Sie?“
„Ha, ich bin den Räubern auf der Spur.“
„Schon?“
„Erinnern Sie sich jenes Abenteurers, des Grafen Zilly, der seit einigen Tagen räthselhaft verschwunden ist?“
Der Polizeidirector wurde etwas betreten.
„Was soll der?“
„Er ist noch hier, trotzdem daß sein früherer Gönner, der österreichische Gesandte, nichts mehr von ihm weiß.“
„Und Sie wissen von ihm?“
„Ich suche ihn wenigstens, und hoffe, ihn zu finden. Es ist ein Ehrenpunkt für mich, den Schurken an das Tageslicht zu ziehen. Jedenfalls ist sein Camerad, der kleine, gedrungene Spitzbube aus der Jüdenstraße, noch hier; ich bin ihm jetzt eben auf der Spur.“
„In diesem Augenblicke?“ fragte aufmerksamer der Polizeidirector.
„Wie ich Ihnen sage. Vor einer halben Stunde wird mir die Anzeige, daß in der Landsbergerstraße ein kurzer, gedrungener Kerl einen Wagen habe miethen wollen; der Fuhrmann hatte aber kein Fuhrwerk mehr gehabt. Der Mensch war nach der Ecke des Alexanderplatzes gegangen und hatte dort mit einem jungen Manne gesprochen, der wie ein Maler ausgesehen hatte, einen kleinen schwarzen Schnurrbart trug, kurz, kein anderer gewesen sein kann, als der Monsieur Zilly. Beide hatten sich getrennt. Der Maler war plötzlich verschwunden gewesen, der Andere aber die Alexanderstraße hinuntergegangen. Dies wurde mir mitgetheilt in der Conditorei des königsstädtischen Theaters.“
„Darf ich fragen, von wem?“ unterbrach den eifrigen Erzähler der Polizeidirector.“
„Von meinem Vigilanten.“
„Und der heißt?“
„Henne.“
„Ah –!“
„Was fällt Ihnen auf, Herr Director?“
„Nichts, nichts. Fahren Sie fort.“
„Ich trug dem Henne auf, den Maler wieder aufzusuchen, dem Andern setzte ich selber nach; ich mußte mich überzeugen, ob es derselbe war, den ich in der Jüdenstraße gesehen hatte. Bis zur Jannowitzbrücke fand ich seine Spur; dort verlor ich sie, und jenseits der Brücke hatte ihn Niemand mehr gesehen. Ich ging dennoch weiter bis in die Köpenikerstraße, und bin dann durch die Wallstraße hierher zurückgekehrt.“
„Und haben noch immer nichts gefunden?“
„Leider nichts!“
„Auch keine Nachricht von Ihrem Henne erhalten.“
„Auch nicht.“
„Und warten hier auf –“
„Sehen Sie den Wagen dort, Herr Director?“
„Eine gewöhnliche Lohnkutsche, in der wohl eine Spazierfahrt gemacht werden soll.“
„Warum hält sie hier?“
„Sie wartet wohl auf Jemanden.“
„Und warum sieht Niemand heraus?“
„Es mag Niemand darin sein.“
„O doch. Ich sah ein Frauenkleid, und meinte auch, eine Manneskleidung darin gesehen zu haben.“
„Lassen Sie sie. Darf ich fragen, wo Sie Ihren Henne erwarten?“
„Auf dem Molkenmarkte; dorthin sollte er mir wieder Bescheid bringen.“
„Bis wann spätestens?“
„Wollen Sie etwas von ihm, Herr Director?“
„Er ist ja Ihr Vigilant. Bis wann also?“
„Ha, da fährt der Wagen fort!“
„Lassen Sie ihn fahren; wir wollen jetzt Ihren Vigilanten aufsuchen.“
„Was wollen Sie von ihm?“
„Ein paar Worte mit ihm allein sprechen.“
„Aber der Wagen – er ist schon über die Stralauerbrücke.“
„Lassen Sie ihn; wenn er verdächtig wäre, führe er schneller. Begleiten Sie mich zum Molkenmarkte.“
Der Referendarius hätte weinen mögen vor Aerger, daß er dem Wagen nicht folgen durfte.
„Wie diese Vorgesetzten sich doch immer klüger dünken, Alles besser wissen, nie wollen fehlen können. Mit dem Grafen wollte er aucht Recht haben, und heute verdirbt er mir wieder Alles.“
So räsonnirte der Referendarius, aber sehr leise, unhörbar in sich hinein, denn er war der Untergebene und räsonnirte über seinen Vorgesetzten. Er mußte mit diesem zum Molkenmarkte gehen; aber er ballte seine entschlossene Faust in die Tasche hinein, daß er ihm bei der ersten Gelegenheit „echappiren“ wollte. „Wie ein Dieb? – Wenn es nicht anders sein kann, wie ein Dieb!“ rief er wüthend in sich hinein.
Als die Beiden ein paar Minuten fort waren, sprang Rudolf Langenau aus seinem Verstecke hervor; es war hohe Zeit. Seine schöne Blondine Emma Rohrdorf, hatte schon das Ende der Waisenbrücke erreicht, ängstlich umhersehend, da sie den Platz vor der Brücke leer fand; mit einen glücklichen Lächeln dem Geliebten entgegeneilend, als sie diesen plötzlich auf sich zukommen sah.
„Hast Du schon lange auf mich gewartet, Rudolf?“
„Nicht lange, mein Mädchen. Der Wagen ist langsam vorausgefahren, wir werden ihn bald einholen.“
„Also doch. Verzeihe mir, ich konnte nicht eher abkommen; das Criminalgericht ist bei uns und auch ich wurde vernommen.“
„Das Criminalgericht?“ fuhr der junge Mann zusammen. „Und Du?“
„Bei uns ist vergangene Nacht ein abscheulicher Raub verübt worden.“
„In Eurer Wohnung?“
„Der alte Herr, von dem ich Dir erzählte, ist überfallen, in seiner Schlafstube, und mißhandelt und beraubt.“
Rudolf Langenau war heftig erschrocken darüber.
„Erzähle, Emma.“
Das Mädchen erzählte mit allen Zeichen des Abscheu’s und der Furcht vor dem verwegenen Verbrechen und den frechen Verbrechern. Unterdeß hatten sie den Wagen erreicht.
„Der alte Herr Ehrenreich ist doch nicht erkrankt?“ fragte der junge Mann.
„Er ist wieder ganz wohl.“
„Sprich im Wagen nicht von der Sache, Emma; wir wollen heute nur dem Glücke unseres Beisammenseins leben.“
Er hielt den Wagen an und stieg mit der Geliebten ein.
„Mein Freund Theodor Beier und seine brave Mutter, Madame Beier, Sie wird bei uns Deine Mutter sein, Emma.“
Die dicke Dame reichte dem tief erröthenden, etwas verlegenen und ängstlichen Mädchen treuherzig die Hand.“
„Wir wollen recht vergnügt sein, Mamsell Emma.“
Der Wagen war weiter gefahren. Er fuhr ohne Aufenthalt durch die Alexander- und Prenzlauerstraße zum Thore hinaus. Er erreichte ohne Hinderniß Französisch-Buchholz und das bescheidene Wirthshaus des Dorfes. Eine schattige Laube in dem Garten des Wirthshauses nahm sie auf.
Rudolf Langenau war mit der Madame Beier allein gegangen.
„Madame, hier im Garten weichen Sie nicht von der Seite des jungen Mädchens.“
[424] „Ich werde nicht, Herr Langenau.“
„Machen Sie auch nicht die geringste leichtfertige oder zweideutige Anspielung.“
„Herr Langenau, ich bin eine ehrbare Wittwe, und mein Mann war Friseur und Berliner Bürger.“
„Sehr wohl, Madame Beier. Dieser Garten stößt an den gräflichen Garten?“
„Hinten an das Bosquet im Park. Man kann durch ein offenes Pförtchen hinein.“
„Richtig. Wenn es dunkel wird, werden wir zusammen dorthin eine Promenade machen. Sie verlassen mich dann mit Theodor; er weiß Bescheid.“
„Sie wollen dort mit dem Mädchen allein bleiben?“
„So ist es. Sie ist ja meine Braut.“
„Ach, Herr Langenau, solch’ eine Brautschaft –“
„Was wünschen Sie?“
„Das Mädchen ist so brav und unschuldig!“
„Gewiß.“
„Sie konnte im Wagen so schön von ihrer guten Mutter, ihren Geschwistern und ihrem verstorben Vater erzählen; das Herz schnürte sich mir zusammen.“
„Mir auch, Madame.“
„Und von ihrer Armuth, Herr Langenau. Die Leute sind so arm und doch so brav.“
„Das sind sie.“
„Und noch vor drei Tagen hat sie einen frischen Rosenstock auf das Grab ihres Vaters gepflanzt; das gab mir erst recht einen Stich in’s Herz.“
„Ich war mit ihr da, Madame Beier.“
„Herr Langenau, und Sie könnten das arme Mädchen verführen?“
„Madame Beier, hier haben Sie zwei Friedrichsd’or, und nun kümmern Sie sich um nichts weiter.“
„Ach, Herr Langenau!“
„Was wollen Sie noch?“
„Ist es kein Sündengeld? Kein Blutgeld?“
„Nein.“
„Ich kann es also mit gutem Gewissen nehmen?“
„Das müssen Sie wissen.“
„Sie wollen also das Mädchen nicht verführen?“
„Habe ich gesagt, daß ich sie verführen will?“
„Ich kann also?“
Die ehrbare Wittwe steckte mit gutem Gewissen das Geld ein und kehrte mit dem Herrn Langenau zur Laube zurück.
Der Kaffee war aufgetragen. Rudolf Langenau gab der Madame Beier einen Wink.
„Mamsellchen, Sie müssen uns heute einmal die Wirthin machen.“
„Dazu werde ich mich schlecht schicken,“ meinte das erröthende Mädchen.
„Sie müssen es gewohnt werden. Ein junges Mädchen wird Braut, eine Braut wird Frau, und eine Frau muß den Kaffee einschenken können; er schmeckt dem Manne noch einmal so gut.“
Emma sah unwillkürlich und darüber tiefer erröthend ihren Geliebten an.
„Es ist so,“ bestätigte er.
Sie schenkte den Kaffee ein, mit einer unnachahmlichen, natürlichen, einfachen Anmuth. Das Auge des jungen Mannes an ihrer Seite konnte sich nicht wegwenden von den Bewegungen ihrer Arme, ihrer feinen Hände, des zarten Körpers, wenn sie sich über den Tisch bog, um Tassen herumzureichen oder anzunehmen. Er schlürfte, wie mit einem noch nie gefühlten Wohlbehagen, den Kaffee, den sie ihm eingeschenkt hatte. Das Mädchen sah es; auch ihr Gesicht glänzte wie von einem noch nie gefühlten Glücke.
Nach dem Kaffee wurde eine Promenade gemacht, durch üppig emporschießende Kornfelder in ein benachbartes Buchwäldchen. Emma selbst suchte mit dem Geliebten hinter den Anderen zurückzubleiben.
„Rudolf, Du liebst mich?“
„Hast Du daran gezweifelt, mein Mädchen?“
„Heute habe ich es so recht gesehen.“
„An dem Kaffee?“ lächelte er.
„An dem Kaffee; Du trankst ihn lieber, weil meine Hand ihn Dir reichte.“
Sie drückte ihr erröthendes Gesicht an seine Schulter. Er küßte die Hand, die ihm den Kaffee gereicht hatte. Sie waren stehen geblieben und ihre glücklichen Augen leuchteten einander an. Es war ein reizendes Bild der Liebe mitten in dem wogenden Kornfelde. Die Madame Beier hatte sich umgesehen.
„Der verführt das Mädchen nicht,“ sagte sie laut, halb zu ihrem Gewissen, halb zu ihrem Begleiter.
Theodor Erhard lachte.
Nach Beendigung des Spazierganges war in der Laube Wein und Kuchen aufgetragen. Der Weg, der warme Nachmittag, die Luft des Feldes und des Waldes, Alles hatte sie hungrig und durstig gemacht. Die beiden Männer sprachen der Flasche fleißig zu; die korpulente ehrbare Wittwe folgte ihrem Beispiele; das junge Mädchen nippte nicht minder fleißig. Der Abend dämmerte.
„Kehren wir bald zurück, Rudolf?“ flüsterte Emma ihrem Geliebten zu. „Meine Mutter, die mich bei einer Freundin glaubt, hat mir nur bis halb neun Uhr Urlaub gegeben.“
„Gleich, mein Mädchen, Deine Mutter soll Dir nicht zürnen. – Aber, siehe da! – Madame Beier, was fällt Ihnen denn heute ein? Auf Champagner tractiren Sie uns!“
Ein Aufwärter brachte zwei Flaschen Champagner mit vier langen, spitzen Gläsern.
„Ja,“ sagte mit schon etwas schwerer Zunge die ehrbare Wittwe. „Ja, Kinder, ich bin heute fidel, so gewaltig fidel.“
Die Flaschen wurden entkorkt; die Propfen flogen in die Decke der Laube, beinahe so gewaltig, wie die Fidelität der Madame Beier war. Die langen, spitzen Glaser wurden gefüllt. Rudolf Langenau that es:
„Emma, mir mundete der Kaffee, den Du mir eingeschenkt hattest, wie nichts Anderes in der Welt. Du mußt dieses Glas leeren.“
Sie leerte es mit einem dankbaren Blicke auf den glücklichen jungen Mann. Er füllte ihr Glas zum zweiten Male.
„Und nun, Emma, dieses zweite Glas müssen wir zusammen austrinken, auf unseren geheimsten, unsern süßesten Wunsch, auf unser Glück! Stoß an!“
Der Champagner ist für Frauen immer die schlimmste Todsünde; sie können ihm nicht widerstehen. Wie hätte das liebende, das dankbare, das schon halb berauschte, das glühende Mädchen, das schon den ersten Schritt jener Sünde gemacht hatte, dem zweiten widerstehen können? Sie stieß mit ihm an, und trank ihr Glas aus.
Er stand auf, erhob sie mit sich und umfaßte sie; sie lehnte mit ihrem ganzen Körper sich an ihn. Sie mußte so, denn ihr schwindelte von dem rasch genossenen, schäumenden, schon durch seinen Schaum so rasch berauschenden Weine. Er warf einen befehlenden Blick auf die Madame Beier und auf Theodor Erhard.
Des Blickes auf die ehrbare Wittwe bedurfte es nicht mehr, denn sie konnte nur noch mit gläsernen Augen in ihr Champagnerglas starren. Der kleine gedrungene Mann an der Seite der Frau sah mit einem eigenthümlich lauernden Blick bald auf seine corpulente Nachbarin, bald auf das liebende Paar vor ihm.
Das Paar verließ die Laube, an einander geschmiegt, so dicht und fest, als wenn es eine einzige Gestalt wäre.
Es war dunkler Abend geworden. Sie gingen tiefer in den Garten hinein, in die Gegend, wo das Pförtchen in das Bosquet des gräflichen Parks führte. Der junge Mann führte das Mädchen so, denn dies kannte keinen Weg und keine Richtung mehr. Sie durchschritten das Pförtchen, und traten in das dunkle, stille, einsame, verschwiegene Bosquet. Weiches Moos empfing sie auf feinem duftenden Lager.
Welch eine leichte, eben so leichte als elende Kunst ist es, ein Mädchen zu verführen!
„Emma, Du liebst mich?“
„Wie mein Leben.“
„Du bist mein!“
„Ganz Dein!“
„Meine Braut, mein Weib!“
„Dein Weib, mein Geliebter!“
Glühende Küsse erstickten weitere Worte.
Aber nein, wo der rechte Engel der Unschuld ist, da zerschellen alle Künste der Verführung.
Auf einmal sprang das Mädchen empor, heftig, mit einem lauten Aufschrei, mit einer Kraft, die einen Riesen würde zurückgeworfen haben.
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„Wo bin ich?“ rief sie. „Wo sind wir?“
Sie sah sich erschrocken um. Es war, als wenn sie bisher geträumt hätte, als wenn ihre Augen geschlossen gewesen wären.
„Wir sind allein? Ganz allein? Laß uns zu den Andern zurückkehren.“
„Du hast Angst bei mir, meine Geliebte?“
„Ja!“
Sie sagte das Ja hoch aufgerichtet, stolz, befehlend.
„Und Du willst mich lieben, Emma? Du willst mein Weib werden? Kann das Weib Angst haben vor dem Manne, den sie liebt?“
Sie liebte ihn, das arme Kind. Die Macht jener berauschenden [426] Todsünde zerbrach noch einmal die schwache Kraft der zarten Frauennerven. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, und fiel in seine Arme, an seine Seite in das Moos zurück. „Ich liebe Dich, Rudolf. Ich vertraue Dir. Ich bin Dein Weib.“
Aber auf einmal brach ein Strom von Thränen aus ihren Augen hervor.
„Ich bin in Deiner Gewalt, Rudolf. Ich kann Dir nicht widerstehen. O, ich bin so schwach; der Kopf schwindelt mir; mein Sinn verwirrt sich. Rudolf, Rudolf, mach mich nicht unglücklich. Wenn Du eine Mutter, wenn Du eine Schwester hast, denke an sie.“
Sie umschlang ihn fest. Ihre Brust lag an seinem Herzen. Ihre Augen schlossen sich; sie öffneten sich wieder, und sahen ihn mit einem bittenden Blicke an, aber auch mit einem Blicke der vollsten Liebe. Sie umschlang ihn fester.
„Sei brav, Rudolf,“ hauchte sie.
„Mädchen, Du bist ein Engel der Liebe und der Unschuld!“ rief entzückt der junge Mann. „Jetzt bist Du ganz mein!“
Er erhob sich, und zog sie mit sich auf. Er drückte mit einer Art Ehrerbietung einen Kuß auf ihre schöne, reine Stirn.
„Komm, meine Braut!“
Seine klare, erhobene, feierliche Stimmung gab auch ihr das volle, reine Bewußtsein wieder. Sie legte sich mit dankbarem Vertrauen an seine Brust. So gingen sie langsam, still, selig zu der Laube zurück.
Theodor Erhards Augen sahen ihnen unruhig forschend entgegen. Die Madame Beier schlummerte in ihrem Rausche.
Rudolf Langenau schien auf einmal ein anderer Mensch geworden zu sein, als er in die erleuchtete Laube trat. Das war nicht mehr ein Arbeiter, der in dem Winckelmann’schen Atelier sich seinen kümmerlichen Wochenlohn verdienen mußte, nicht mehr ein armer Lithograph, der bald mit einem andern armen Lithographen ein bescheidenes Geschäft etabliren wollte. Er stand stolz da, hoch aufrecht, in einer befehlenden Stellung.
„Theodor!“
Und Theodor Erhard sprang auf und stellte sich vor ihn, nicht wie sein Gefährte, sondern wie ein Diener, der einen Befehl von seinem Herrn erwartet.
„Herr –“ Er stockte mit einem Blicke auf das Mädchen.
Rudolf Langenau erwiderte den Blick mit einem gewährenden Neigen des Kopfes.
„Was befehlen Sie, Herr Graf?“
Emma Rohrdorf glaubte zu träumen. Sie sah den unterwürfigen Diener an, und warf einen Blick auf den Geliebten, sie sah den stolzen, befehlenden, an Befehl gewohnten jungen Mann. Sie zitterte heftig an seinem Arme.
„Theodor, bestelle den Wagen. Vorher wecke die Frau da.“
Theodor rüttelte die Madame Beier auf.
„Madame, wir fahren.“
Die Frau fuhr aus ihrem Schlummer empor.
„Madame?“ rief sie. „Keine Mutter mehr?“
Sie sah das Paar vor sich.
„Ah, ah,“ grinste die ehrbare Wittwe. „Alles vorüber? Und das Püppchen ist ja auch zufrieden! Ja, ja, der Champagner und ein hübscher Junge! – Gebt mir auch noch ein Glas!“
„Was ist das Alles?“ rief das erbleichende Mädchen.
„Du sollst es erfahren, mein Kind! Verzeihe mir nur.“
Der junge Mann nahm die Hand des Mädchens, und trat mit ihr vor die Frau.
„Madame, sind Sie nüchtern genug, um ein paar Worte zu verstehen? Sie sehen hier an meiner Seite meine wirkliche, vor Gott und bald auch vor der Welt mir verlobte Braut, die Braut des Grafen Rudolf Zilly.“
Die Frau wurde nüchtern, so nüchtern, daß sie aufspringen und gerade stehen und, wenn auch sprachlos, erstaunt und verwundert das Paar anblicken konnte.
Emma Rohrdorf aber drohete umzusinken. Ihr Verlobter mußte sie halten, aufrichten.
„Ich sprach die Wahrheit, mein Mädchen, mein Engel. Du verzeihest mir?“
Damit richtete er sie auf, und hob sie an sein Herz empor.
Theodor kam zurück und meldete, daß der Wagen angespannt sei.
„Zu Deiner Mutter, Emma?“ fragte der junge Mann.
Ein dankbarer, seliger Blick antwortete ihm.
„Teufel!“ wurde unmittelbar vor der Laube eine Stimme laut, und es war die laute, überraschte, fröhliche Stimme des Referendarius, der bei der Polizei seine Carriere machen wollte. „Teufel, da haben wir ja die ganze Gesellschaft beisammen. – Henne, Du bist ein capitaler Kerl. – Gensd’arm Hahn, greifen Sie den großen Burschen, den sauberen Herrn Grafen. Und Sie, Gensd’arm Daum, fassen Sie den kleinen, vierschrötigen Spitzbuben. – Laß Dich einmal besehen, Du kleiner Lump! Richtig, das Gesicht an der Jüdenstraße. Und Du da – ei, wie der Kerl so stolz und vornehm da steht! Nun, nun, bei Cranzler unter den Linden geht es nicht mehr, aber in der Stadtvogtei und nachher im Zuchthause zu Spandau, da kannst Du den Grafen weiter spielen. – Und was für eine Kleine ist denn das? Ei, ei, Sie, Mamsell Rohrdorf? Sie sind schon so angelehrt? Das wirft ein neues Licht auf die Sache; jetzt ist es kein Räthsel mehr, wie die Räuber in das Haus gekommen sind. Mir thut nur Ihre brave Mutter leid. Aber fort, fort nach Berlin. – Henne, noch einmal, Du hast Deine Sachen gut gemacht. Laß Dir ein Glas Bier geben.“
Es war beinahe zehn Uhr Abends. Der Herr Ehrenreich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb und durchsah seine Papiere. Er schien eifrig mit Rechnen beschäftigt zu sein, und kaum für etwas Anderes Sinn zu haben. Es klingelte draußen; er achtete nicht darauf. Die Thür der Wohnung wurde geöffnet; die Frau Rohrdorf sprach mit Jemandem; die Stimme dessen, mit dem sie sprach, mußte dem Herrn Ehrenreich bekannt sein; er achtete[WS 2] aber nicht auf sie. Es wurde an die Thür des Arbeitszimmers geklopft, in dem er saß. Er empfing sonst seine Besuche nur in dem Zimmer nebenan; er war in seine Arbeit so vertieft, daß er, ohne daran zu denken, herein rief.
Der Polizeidirector trat herein.
„Entschuldigen Sie, Herr Ehrenreich, daß ich Sie noch so spät störe. Ist dies Ihre Uhr?“
Er hielt dem Herrn Ehrenreich eine goldene Taschenuhr hin.
„Alle Wetter ja, Herr; das ist meine Uhr.“
„Die Ihnen hier in der vorigen Nacht gestohlen ist?“
„Dieselbe. Wie kommen Sie zu ihr?“
„Wie die Polizei zu gestohlenen Sachen kommt.“
„Und wo war sie?“
„Im Leihhause.“
„Da hatte der Dieb sie schon versetzt?“
„Schon? Welch ein sichereres Geschäft konnte er machen, als so schnell wie möglich das gestohlene Gut zum Leihhause zu bringen? Beim Verkauf, beim Versetzen an eine Privatperson, hätte er entweder sich nur an Diebesgenossen, an Hehler wenden können, von denen er so viel wie nichts erhalten hätte, oder er wäre als verdächtig angehalten worden.“
„Und in dem Leihhause, einer öffentlich concessionirten, vielleicht privilegirten Anstalt, lief er keine Gefahr, als verdächtig angehalten zu werden? Sonderbare Zustände in Ihrer Stadt der Intelligenz und Aufklärung!“
„Sie fassen diese Zustände da unrichtig auf, Herr Ehrenreich.“
„Ich wäre begierig, zu erfahren, worin meine Auffassung falsch wäre.“
„Erlauben Sie mir einige Fragen; es sind zugleich polizeiliche Fragen über Sie selbst.“
„Sie haben also ein Recht zu ihnen, und ich muß Ihnen antworten.“
„Sie kommen aus Tyrol?“
„Sie können das schon so ziemlich an meiner Sprache hören.“
„Ihr eigentlicher Name ist nicht Ehrenreich?“
„Doch, doch.“
„Nur Ihr Taufname. Ihr Familienname ist Siehuber?“
„Alle Wetter, Herr –. Da Sie es einmal wissen, ja denn.“
„Sie suchen hier einen jungen Menschen?“
„Ja.“
„Einen Taugenichts?“
„Leider.“
„Der aber von guter Familie ist?“
„Von sehr guter, Herr.“
„Und der deshalb geschont werden muß?“
[427] „Es ist so. Aber woher wissen Sie das Alles?“
„Einzelnes habe ich erfahren; das andere habe ich combinirt. Darf ich fragen, in welchem Verhältnisse Sie zu dem jungen Manne stehen?“
„Wissen Sie das nicht auch?“
„Nein.“
„Sie können es auch nicht combiniren?“
„Ich könnte es vielleicht.“
„So thun Sie es.“
„Ich denke mir, der junge Mensch hat keinen Vater mehr.“
Der Herr Ehrenreich Siehuber nickte zum Zeichen der Bestätigung mit dem Kopfe.
„Er ist aber noch minderjährig und steht unter Vormundschaft.“
„Er wird bald großjährig.“
„Das sieht man ihm schon an. Seinen Streichen freilich nicht. Sein Vormund hat seine Streiche erfahren.“
Herr Siehuber nickte wieder.
„Und will sie nicht länger dulden.“
„Natürlich.“
„Er ist aber vielleicht ein alter steifer Herr, der nicht mehr hinter dem lustigen Burschen in der Welt herumlaufen kann.“
„So ist es.“
„Der Sie deshalb schickt, seinen oder des jungen Mannes Verwalter, Rentmeister oder so etwas, der sein volles Vertrauen hat.“
„Herr,“ konnte der Herr Siehuber nicht mehr an sich halten. „Ich hatte viel von Ihnen gehört; zu viel, deshalb wandte ich mich nicht an Sie. Und doch nun zu wenig. Sie sind der Satan. Woher wissen Sie das Alles? Das weiß kein Mensch hier.“
„Lassen Sie uns ruhig bleiben, mein Lieber. Sie haben das volle Vertrauen Ihres Herrn. Sie mögen auch ein vortrefflicher, fleißiger, gewissenhafter Rentmeister sein, der, wie ich da sehe, seine Rechnungen sogar mit hierher gebracht hat. Aber zu seiner Mission hat Ihr Herr den Unrechten ausgesucht.“
„Wie so, mein Herr?“
„Sie haben wenigstens sich Überall hier an die unrechten Leute gewandt.“
„Zum Beispiel?“
„Ihre Gesandtschaft haben Sie übergangen.“
„Ich hatte meine Gründe dazu.“
„Freilich, Sie wollten den Eclat vermeiden.“
„Das war es.“
„Aber anstatt sich nun direct an die Polizeibehörde, oder mindestens an einen höhern Beamten zu wenden –“
„Ah, mein Herr, im Auslande wissen wir nur zu gut, welche unermüdliche, nach Jahren erst zum Ziele gelangende Schreibmaschinen Ihre Behörden und höhern Beamten sind.“
„Suchten Sie einen Unterbeamten, einen Polizeisergeanten auf.“
„Ich traf einen in meinem Gasthofe.“
„Einer obscuren Kneipe.“
„Ich mußte hier unbekannt bleiben, wenn ich meinen Zweck erreichen wollte.“
„Dieser Polizeisergeant nun machte Sie weiter bekannt mit –. Doch davon nachher. Er ist finanziell schlecht gestellt, wie alle Unterbeamte. Das trägt dann Früchte, nämlich indirect; direct trägt sie irgend ein Nebengeschäft; freilich ein unerlaubtes, denn zu einem erlaubten bekommt er keine Erlaubniß. Bei ihm macht es seine Frau. Die Frau eines Polizeisergeanten ist eine ehrbare Frau; sie kann ohne Verdacht im Leihhause versetzen.“
„Sie hat meine Uhr versetzt?“
„Sie haben es getroffen. Ich hatte bisher nur Vermuthungen gegen die Frau; heute habe ich Gewißheit erhalten. Ich bin Ihnen dankbar dafür. Zum Dank werde ich Ihnen auch noch heute Abend die Räuber vorstellen, von denen Sie in der vorigen Nacht überfallen wurden; Einen von Ihnen sicher, hoffentlich Beide.“
„Ah, gehorsamer Diener.“
„Ich werde Ihnen noch mehr meinen Dank beweisen. Auch in Ihrer Mission werde ich Ihnen behülflich sein.“
„Sie wollten wirklich?“
„Wenn Sie es wünschen –“
„Gewiß, gewiß.“
„Auch das schon heute Abend noch.“
„Sie werden den alten Herrn Grafen und mich zu großem Danke verpflichten.“ Es wurde heftig an der Hausthür geschellt.
„Ha, die sind sehr eilig,“ sagte der Polizeidirector.
„Sie wissen, wer da kommt?“
„Lassen Sie uns warten.“
Die Frau Rohrdorf hatte schnell die Thür geöffnet. Mehrere Menschen waren eingetreten. Es mußten Bewaffnete darunter sein; man hörte Säbelklirren; es waren aber auch Frauen darunter, man hörte weibliche Stimmen, andere, als die der Frau Rohrdorf.
Gleich darauf hörte man aber auch die Stimme der Frau Rohrdorf. Es war ein lauter, fürchterlicher Schrei, der tief aus der Brust der Frau kam, mit dem ihr Herz zerrissen zu sein schien.
„Mein Kind! Meine Tochter!“
Ein wildes Weinen und Schluchzen folgte, und es war nicht allein das herzzerreißende Weinen und Schluchzen der armen Mutter.
„Sollten es die Andern sein?“ sagte der Polizeidirector.
Er öffnete die Thür, und rief in den Gang hinein, der von der Lampe der Hauswirthin nicht hell genug erleuchtet war, daß man mehr als eine Gruppe von Menschen hätte unterscheiden können.
„Gensd’arm Schmidt, sind Sie da?“ rief der Polizeidirector.
Eine bekannte Stimme antwortete ihm, aber es war nicht die Stimme des Gensd’armen Schmidt.
„Ah, Sie hier, Herr Polizeidirector? Vortrefflich, daß ich Sie treffe.“
„Sie kommen zu früh, Herr Referendarius.“
„Zu früh? Ich bringe die Räuber! Ich bringe noch mehr, eine ganze saubere Gesellschaft. Sie werden erstaunen.“
„Ich möchte es bezweifeln.“
Der Referendarius sprach einige leise Worte zu den Personen, die bei ihm waren, wohl zu den Gensd’armen. Dann trat er voll Würde in das Zimmer. Er kam allein.
„Herr Director, ich habe die ganze Bande eingefangen, die zu dem gegen diesen Herrn verübten Raube gehört. Ich habe zugleich eine alte Bekanntschaft erneuert. Ich hatte gleich anfangs Recht gehabt. Ich kenne meine Leute.“
„Darf ich bitten, zur Sache zu kommen, mein Herr Referendarius ?“
„Ich hatte Nachricht, ich hatte die Spur von den Räubern –“
„Durch Ihren Herrn Henne? A propos, warum lief der Mensch so eilig von dannen, als er heute Nachmittag mich mit Ihnen auf dem Molkenmarkte ankommen sah?“
„Er durfte die Spur der Verbrecher nicht verlieren.“
„Ah so!“ fahren Sie fort.
„Er fand sie, zwar mühsam, aber gewandt, durch Nachfragen bei den Kutschern, bei denen die Schufte gewesen waren, um einen Wagen zu bestellen. Ha, in jenem Wagen an der Waisenbrücke waren sie wirklich gewesen; auch darin hatte ich Recht. Doch weiter. Wir verfolgten ihre Spur nach Französisch-Buchholz, und fanden sie dort in einer wilden Orgie. Die diesem Herrn geraubte Uhr war schon umgesetzt, sogar in Champagner.“
„Hm, in der Stadt der Aufklärung!“ murmelte der Herr Ehrenreich Siehuber.
„Wir fanden erstens – Gensd’arm Hahn!“ rief er zur Thüre hinaus. Der Gensd’arm ließ den kleinen, gedrungenen Theodor Erhard eintreten. „Erstens diesen da, den Burschen aus der Jüdenstraße, Sie wissen schon, Herr Director. Erkennen auch Sie ihn wieder, Herr Ehrenreich?“
„Ich habe den Menschen nie gesehen.“
„Ich glaube es, er war von hinten über Sie hergefallen. – Aber weiter, – Zweitens – Gensd’arm Hahn!“ Gensd’arm Hahn ließ Emma Rohrdorf eintreten. „Kennen Sie diese da, Herr Ehrenreich?“
„Die Tochter der Wirthin.“
„Richtig; die Person, welche die Räuber eingelassen hat.“
Emma Rohrdorf hatte das Gesicht mit beiden Händen verhüllt; sie war unfähig ein Wort zu sprechen, und fiel auf einem[WS 3] Stuhle nieder. Der Referendarius fuhr triumphirend fort: „Auch den, welchen ich Ihnen jetzt vorstelle, werden Sie wieder erkennen, Herr Ehrenreich. – Gensd’arm Hahn!“
Der Gensd’arm Hahn führte den jungen Mann mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen herein; hieß er Rudolf Langenau oder Graf Zilly, oder wie sonst? – Es mußte sich in dem nächsten Augenblicke entscheiden.
„Nun, mein Herr Ehrenreich,“ rief der Referendarius, „erkennen Sie ihn!“
Der Herr Ehrenreich Siehuber sah den jungen Mann und erschrak so, daß er am ganzen Leibe zitterte.
„Großer Gott, großer Gott!“ rief er.
[428] „Nicht wahr, Sie erkennen ihn? Das ist er! Das ist der Räuber?“
Der Herr Siehuber hatte sich gesammelt.
„Herr, Sie sind ein Narr!“ sagte er zu dem Referendarius.
Der Referendarius wurde wüthend.
„Eine Beleidigung im Amte! Eine Beschimpfung im königlichen Dienste! Ich arretire Sie.“
Der alte Herr kümmerte sich nicht um ihn. Er schritt auf den jungen Mann zu, der ihn beraubt haben sollte.
„Um des Himmelswillen, in welcher unglücklichen Lage –“
In diesem Augenblicke wurde wieder an der Klingel der Vorsaalthür gezogen.
„Einen Augenblick Geduld,“ unterbrach der Polizeidirector den Herr Siehuber, „da kommen meine Leute. Ich hatte auch den Herrn Referendarius mit den seinigen erwartet, nur nicht so früh.“
„Sie wußten, Herr Director –?“
„Alles. Gensd’arm Schmidt!“ rief der Polizeidirector in den Gang hinein, sind Sie da?“
„Zu Befehl, Herr Director.“
Der lange Gensd’arm Schmidt führte wohlgefesselt zwei Menschen in das Zimmer. Der Eine war ein großer, hübscher, etwas blasser junger Mensch, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbarte; der Zweite war der Herr Henne.
„Kennen Sie diese, Herr Ehrenreich Siehuber?“ fragte der Polizeidirector.
„Alle Wetter, wie werde ich nicht? Dieser hier ist mein sauberer Herr Agent, der klügere Theil eines Polizeibeamten. Und dieser hier – Ha, Bursch, Du bist ein eben so verwegener wie gewandter, großer und langer Spitzbube. Aber Meister wurde ich alter Kerl Deiner doch, und wäre der Andere nicht gewesen –“
„Bedanken Sie sich bei Herrn Henne.“
„I, Du verdammter Schuft von einem Polizeivigilanten.“
„Herr Referendarius,“ sagte der Polizeidirector zu seinem verblüfften Untergebenen, „Sie sind wohl so gütig, die Gensd’armen mit meinen beiden Spitzbuben zur Stadtvogtei zu begleiten; ich habe unterdeß mit Ihren Arrestanten noch einige Worte zu sprechen.“
Der Referendarius ergriff schnell die Gelegenheit, sich zu entfernen, gefolgt von den Gensd’armen mit den beiden Räubern.
Der Polizeidirector wandte sich an den Herrn Siehuber.
„Ich hatte versprochen, Ihnen noch heute Abend zu dem Ziele Ihrer Mission zu verhelfen.“
„Wie wußten Sie nur – ?“
„Es würde zu weitläufig und zu langweilig sein, wenn ich Ihnen das auseinandersetzen wollte. – Ich bitte Sie um die Vergünstigung, einen Gegenstand mit dem jungen Herrn da verhandeln zu dürfen, der für ihn vielleicht eine Kleinigkeit, mir aber von großer Wichtigkeit ist.“
Der alte Herr verbeugte sich stumm.
„Herr Graf Zilly,“ fuhr der Polizeidirector zu dem jungen Manne gewedet fort, „ich habe Sie von Anfang an nicht verkannt, obgleich Sie alles Mögliche thaten, daß man Sie für einen vagirenden Industrieritter halten mußte, ich hielt Sie nur ein wenig für einen Narren; darum duldete ich auch Ihre Promenade mit diesem jungen Mädchen, deren Vater ich achtete, und deren Mutter eine sehr brave Frau ist. Sie selbst ist unverdorben, und die Promenaden mit Ihnen konnten in den Straßen Berlins bei hellem Tage nicht gefährlich werden. Sie sollte im Gegentheile, so dachte ich, recht bald einsehen, daß sie es eben mit einem Thoren zu thun habe, der vergeblich den Versuch mache, sie zu verführen; aber ich habe mich getäuscht. Sie sind heute einen gefährlichen, einen schlechten Schritt mit dem arglosen Kinde weiter gegangen, und ich hoffe, vergebens. Der alte Herr hier, der Bevollmächtigte Ihres Vormundes, wird Sie vielleicht noch einige Zeit hier lassen wollen. Aber, Herr Graf, sehe ich Sie noch einmal mit dem Mädchen, so bekommen Sie es mit mir zu thun. Haben Sie gehört?“
Er wollte gehen, aber der junge Graf Zilly hielt ihn zurück.
„Halt, mein Herr, nun noch ein paar Worte meinerseits mit Ihnen. Aber vorher erlauben Sie, daß ich noch Jemanden herbeihole.“
Er verließ das Zimmer und kam nach einer Minute mit der Frau Rohrdorf zurück.
„Alter, ehrlicher Siehuber, ich habe nie schlechte Streiche gemacht?“
„Nur wilde.“
„Und dumme,“ setzte der Polizeidirector hinzu.
„Ich bin kein armer Teufel?“
„Gott weiß, wie reich Ew. Gnaden sind.“
„Ich kann, nach dem Testamente meines Vaters, wie nach dem Ausspruche meines Onkels und Vormundes, frei mir eine Frau wählen?“
„So sagt das Testament, und der Herr Onkel würde schon lange sich gefreut haben, wenn Sie ihm eine brave junge Gräfin zuführten.“
„Auch eine Bürgerliche?“
„Wenn sie nur brav wäre.“
„Wohlan, ich habe das bravste und liebenswürdigste Wesen gefunden. Ich habe ihre Liebe und die Reinheit und den Adel ihres Herzens geprüft. Sie hat die Probe bestanden, wie selten eine sie besteht. – Emma!“
Er hob das weinende Mädchen auf, befreite das schöne Gesicht von den Händen, die es noch immer, die es von Neuem bedeckt hielten, und führte sie zu der Mutter.
„Ihren Segen, theure Frau!“
Mutter und Tochter umschlangen sich weinend. Der Graf umfaßte Beide.
„Hier ist die Polizei überflüssig,“ sagte der Polizeidirector.
Der Herr Ehrenreich Siehuber war noch zu überrascht, als daß er etwas Anderes sagen konnte, als:
„Das ist ja nichts als Verwirrung in dieser verdammten Stadt der Aufklärung!“
Graf Zilly, keine erdichtete Person, ist dann ruhig noch einige Wochen in Berlin geblieben, und hat später sein braves Mädchen nach seinen heimathlichen Bergen geführt. Der Herr Referendarius hat keine große Carriere gemacht.
Mit dem Donner seiner sämmtlichen Geschütze begrüßte uns das Hotel der Invaliden. Wir waren jedoch nicht eitel genug, diese Ehre, welche nur der Wiedereröffnung der Kammern galt, auf uns zu beziehen. Diese ehernen Sprachwerkzeuge lassen schon seit Jahren ihre lauten Stimmen bei jeder festlichen Gelegenheit ertönen, bald irgend ein politisches Schauspiel, bald die Geburt einer Republik, oder auch des kaiserlichen Prinzen den erstaunten Bewohnern verkündend. Die alten Kanonen sind, wie die meisten Franzosen der Gegenwart, fast verwirrt von all dem Wechsel geworden, dessen Zeugen sie waren. Sie schwatzen und rufen, was man will; heute vive la Republique und morgen vive l’Empereur. Doch was geht uns die Treue und das politische Glaubensbekenntniß der Kanonen an? Wir haben es nur mit dem Hotel der Invaliden zu thun, und dieses ist schön, prachtvoll, eines der großartigsten Gebäude von Paris und vielleicht der Welt.
Es ist gewiß nur natürlich, daß ein Volk, welches so viel auf kriegerischen Ruhm gibt, und bei dem la gloire das dritte Wort ist, sich besonders für das Schicksal seiner alten und mit Wunden bedeckten Soldaten interessirt. Schon Heinrich IV., dieser gute König, hatte daran gedacht, und den Plan zu einem derartigen Bau gefaßt, der erst unter Ludwig XIV., welcher Ströme von Menschenblut für seine ehrgeizigen Pläne vergoß, in seiner gegenwärtigen Gestalt zur Durchführung kam. Ihm verdanken die Invaliden diesen fürstlichen Palast, sowie dem ersten Napoleon die reiche Dotirung, die glänzende innere Einrichtung, endlich die heutige Apotheose und den Glanz, welche sein „kaiserliches Grab“ verbreitet.
[429] In einer Länge von zweihundert Metres erscheint vor unsern erstaunten Augen die imposante Façade, an welcher wir nicht weniger, als hundertunddreiunddreißig Fenster zählten. Man kann sich darnach ungefähr einen Begriff von ihrer riesigen Ausdehnung machen. Vor derselben befinden sich Gartenanlagen, welche von den Invaliden selbst bebaut werden. Es macht einen eigenen und angenehmen Eindruck, hier die alten Soldaten so friedlich mit ihren Blumenbeeten und mit dem Anpflanzen und Begießen ihres Kohls beschäftigt zu sehen. Sie scheinen insgesammt eine besondere Vorliebe für diese ländliche Arbeiten zu haben, und gern jetzt das Schwert mit dem Rechen, die Büchse mit der Gießkanne zu vertauschen. Vier Etagen hoch steigt das Hotel der Invaliden empor, mit kriegerischen Emblemen im einfachen Style verziert. Am Eingange stehen die Statuen des Mars und der Minerva. In der Mitte ruht auf jonischen Säulen ein massiver Bogen, von Trophäen aller Art geschmückt; darunter die Bildsäule Ludwig XIV. zu Pferde, umgeben von der „Gerechtigkeit“ und der „Vernunft,“ die ihm beide bei Lebzeiten meist fern standen. Das Piedestal trägt die Inschrift: „Ludwig der Große schuf dieses Gebäude mit königlicher Freigebigkeit, das Schicksal der Krieger für immer sicher stellend, im Jahre 1675.“ An die beiden Winkel der Façade schließen sich zwei Seitenflügel mit Figuren der besiegten Nationen und einem Uhrwerk an, das von der „Zeit“ und der „Arbeit“ gehütet wird.
Auf unserm Wege wurden wir von allen Seiten mit Beschreibungen und Abbildungen des Kaisergrabes bestürmt. Unter den Verkäufern fiel uns ein Mann auf, der keineswegs die Zudringlichkeit seiner übrigen Collegen besaß. Er stand an einem Pfeiler gelehnt mit einem Bronzegesicht, als wäre er aus Erz gegossen. Wir näherten uns ihm und verlangten von ihm einen gedruckten Führer; er gab uns einen solchen und zwar mit englischem Text. Als wir diesen zurückwiesen und ein französisches Buch verlangten, hellten sich seine finsteren, starren Züge, mit denen er uns betrachtete, sichtbar auf.
„Verzeihen Sie,“ sagte er, „aber ich habe Sie für Engländer gehalten.“
Dies gab uns Veranlassung. uns mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Wir erfuhren von ihm, daß er Santini[1] hieß und einer der Wenigen war, die Napoleon’s Gefangenschaft auf St. Helena getheilt hatten, wo er den Posten eines Portiers auf Longwood bekleidete. Er sprach, wie man sich denken kann, mit Enthusiasmus von dem großen Kaiser, und zeigte einen entschieden ausgesprochenen Haß gegen alle Engländer. So stand er vor uns eine lebendige Chronik der Kaiserzeit, eine Reliquie der Vergangenheit. Der ehemalige Begleiter und Diener Napoleon’s verkaufte jetzt die Geschichte und die Beschreibung des Kaisergrabes. Wir gaben ihm einige Sous mehr, als er zu fordern hatte, wofür er uns mit Würde dankte.
Vier Treppen führen in das Innere des Hotels, von denen wir auf gut Glück die eine wählten. Unterwegs trafen wir einen Officier, der uns mit Bereitwilligkeit Bescheid ertheilte, und sich von freien Stücken zum Führer anbot. Es war noch ein junger und gebildeter Mann, der im Kampfe gegen die Araber in Afrika ein Bein verloren hatte. Er gab uns interessante Schilderungen von dem dortigen Kriege, der meist in einer Reihe von Ueberfällen und Razzias besteht. Unter seiner Leitung gelangten wir in den kolossalen Speisesaal, dessen Wände mit Abbildungen der in Flandern, Holland, der Franche Comté und auch im deutschen Elsaß eroberten Städte geziert waren. Sämmtliche Gemälde hatten leider durch die Restauration gelitten, und boten keinen besonders angenehmen Anblick dar. Von hier gingen wir zunächst nach der Küche, wo in zwei wegen ihrer Größe berühmten Speisekesseln von einem kolossalen Umfange das Abendmahl eben bereitet wurde. Man versicherte uns, daß ihr umfangreicher Bauch hundert Kilogrammen Fleisch umfassen kann. Ein dicker Invalide, mit einem riesigen Kochlöffel bewaffnet, führte hier den Oberbefehl; er schien sich in seiner neuen Stellung sehr wohl zu befinden und auch hier, wenn auch nur trockene, Lorbeerblätter einzuernten. Nicht minder interessant sind die acht großartigen Schlafsäle, wo mehr als tausend Betten stehen. Wir machten auch die Bekanntschaft mit mehreren Invaliden, welche theils auf Stühlen saßen, theils herumstanden, darunter einige Elsasser und Lothringer, mit denen wir uns als halbe Landsleute in deutscher Sprache unterhielten. Die meisten dieser Leute waren schon hochbejahrt, altersschwach und stumpf. Nur wenige zeigten die französische Lebendigkeit und den heitern Sinn der Nation. Diese plauderten, lachten und scherzten untereinander und mit uns.
Mein Freund äußerte den Wunsch, einen blinden Invaliden zu zeichnen, dessen Figur ihn interessirte. So bald der alte Knabe, der beiläufig achtzig Jahre zählte, die Absicht des Malers von seinen Cameraden erfuhr, versteckte er sein Gesicht, weil er, aus irgend einem uns unbekannten Grunde, nicht gezeichnet werden wollte, hinter einem an der Wand herabhängenden Handtuch, hinter dem er von Zeit zu Zeit wieder schalkhaft, wie ein Kind von vier Jahren, hervorlauschte. Dabei sang und pfiff er den Refrain eines bekannten Volksliedes.
An einem Tische saßen zwei Invaliden, Brüder von achtzig und zweiundachtzig Jahren, neben ihnen eine reinlich gekleidete Frau und ein junges Mädchen. Eine Flasche Rothwein stand vor ihnen; sie luden uns zum Trinken ein und wir mußten mit ihnen ein Glas auf die Gesundheit des Kaisers leeren. Die Frau war die Tochter und das Mädchen die Enkelin des alten Burschen und zum Besuche hier. Sie erzählte ganz unbefangen, daß ihre Mutter nie verheirathet gewesen, wozu der alte Invalide lachte. Nichtsdesto weniger schien er ein sehr zärtlicher Familienvater zu sein und sich im Schooße seiner Familie und an ihrem Anblicke zu freuen. Er küßte abwechselnd die Tochter und seine Enkelin, wozu er sang: „Où peut-on ètre mieux, qu’au sein de sa famille!“ Hinter uns ging ein zweiundneunzigiähriger Greis, dem man die Müdigkeit und Abspannung ansah, zu Bette. Nur mühsam stieg er hinein, man sah ihm die höchste Anstrengung an. Sorgfältig hatte er zuvor seine Kleider zusammengelegt, als wollte er sie in den Tornister packen, um sogleich zum Abmarsch bereit zu sein, wenn der Appell geblasen wird; diesmal zum Abmarsch in die Ewigkeit.
An ähnlichen interessanten Bildern und Scenen fehlre es nicht, eben so wenig an einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten. Der Graukopf dort mit dem Orden der Ehrenlegion hat an Napoleon’s Seite bei den Pyramiden Egyptens und auf den russischen Eisfeldern gefochten. Wenn er von der Vergangenheit spricht, beginnen seine erloschenen Augen zu funkeln und seine schlaffen[WS 4] Züge beleben sich. Die Erinnerung elektrisirt ihn, und um seine Lippen schwebt ein wehmüthig stolzes Lächeln, so oft er den Namen des Kaisers nennt. Sein Camerad hat den Arm bei Leipzig verloren, und ein Dritter bei Bellealliance beide Füße eingebüßt, welche ihm von einer Kanonenkugel zerschmettert wurden. Er war mit in Fontainebleau gewesen, als der Kaiser von seinen Garden Abschied nahm. Noch jetzt strömen ihm die Thränen aus den Augen, wenn er mit zitternder Stimme die alte rührende Geschichte erzählt, noch jetzt knirscht er mit den Zähnen, wenn er von den Marschällen spricht, deren Verrath er allein den Sturz Napoleon’s zuschreibt. Das ist sein Glaube und er hängt so fest daran, wie nur ein Märtyrer an seiner Religion. So lange noch in Frankreich dieser Cultus herrscht und von Gesellschaft zu Gesellschaft forterbt, so lange dürfte auch die Dynastie der Napoleoniden sich immer von Neuem wieder festsetzen, bis entweder durch ihre eigene Schuld, oder durch eine richtige Würdigung des genialen Usurpators das Volk zur Erkenntniß kommt. Noch ist sein Bild zu frisch, seine Erscheinung zu überwältigend, um sie mit Unbefangenheit zu messen, mit Gerechtigkeit zu wägen. Es war nicht der klügste Streich des überschlauen Louis Philipp, als er, um die Parteien zu versöhnen, die Asche des Kaisers von St. Helena nach Frankreich kommen und im Dome der Invaliden zu Paris beisetzen ließ. Die Asche dieses todten Vulcans war noch immer zu gefährlich für die Julidynastie; sie barg den glimmenden Funken, der in einer Nacht das Haus der Orleans verzehrte.
Der Dom der Invaliden, welcher jetzt die Ueberreste Napoleon’s umschließt, ist ein prachtvolles Gebäude, von demselben Baumeister errichtet, der für Ludwig XIV. Versailles mit seinen Schlössern schuf. Vierzig korinthische Säulen tragen die stattliche Attika, welche von der mächtigen mit Blei gedeckten Kuppel überragt wird, gekrönt von der zierlichen Spitze, die 105 Metres emporsteigt. Das Innere entspricht in würdiger Weise der äußeren Pracht. Die zwei übereinander gethürmten Kuppeln, welche sich auf acht Arcaden stützen, erregten unsere Bewunderung. Doch vorzüglich nahm die Krypte, worin das Kaisergrab sich erhebt, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Mit einem Gefühl von schauernder Ehrfurcht stiegen wir die Treppe herab, welche zu derselben führt. [430] Eine Thür von Bronze schließt das Gewölbe, über derselben stehen die Worte aus dem Testamente von St. Helena: „Ich wünsche, daß meine Asche an den Ufern der Seine ruhe, im Schooße des französischen Volkes, das ich so sehr geliebt habe.“ Zu beiden Seiten der Pforte erheben sich die Statuen der kriegerischen und bürgerlichen Gewalt. Hierauf betritt man eine Art Vestibule, wo zur Rechten der getreue Bertrand, zur Linken Duroc ruhen, die Waffengefährten an der Seite ihres Herrn und Kriegsfürsten. Endlich gelangten wir in die Krypte selbst; sie bildet einen sechs Metres weiten Kreis. Ein Theil derselben befindet sich unter der offenen Kuppel, durch welche die goldenen Strahlen der Abendsonne drangen und mit rosiger Gluth die Riesengruft erfüllten. Rings herum zieht sich eine Gallerie, die von zwölf kolossalen Figuren gestützt wird; sie scheinen auf das Grab zu blicken. Der Sarg selbst besteht aus einem rothen, finnländischen Granitblock, der „den Mann von Granit“ umschließen soll. Noch ist derselbe nicht zur Aufnahme bereit und der riesige Deckel ruht auf einem Holzgerüst hinter dem leeren Sarkophag. Vorläufig wird die Asche des Kaisers in einer Nische aufbewahrt, bis das Werk fertig geworden ist.
In einer zweiten Nische, von einer Lampe beleuchtet und durch ein eisernes Gitter verschlossen, liegt der Degen von Austerlitz, die Krone, welche die Stadt Cherbourg dem Kaiser überreichte und die Decorationen, welche er bei seinem Leben getragen. Die Langsamkeit, mit der die Arbeit hier gefördert wird, erregte unser Erstaunen. Louis Napoleon baut, wie wir uns überzeugen konnten, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit. Warum zögert er, die Leiche des großen Kaisers und Stifters seiner Dynastie zur Ruhe zu bringen? Auf unser Befragen erzählte uns der begleitende Officier mit geheimnißvoller Miene:
„Ich stand zufällig,“ berichtete er, „hinter einer Säule der Krypte verborgen, als der jetzige Kaiser mit seinem Onkel Jérome eintrat, um den Bau zu besichtigen. Jérome schien unwillig über das langsame Vorrücken desselben und sprach unumwunden seine Unzufriedenheit darüber aus. Der Kaiser behielt sein ruhiges, kaltes Gesicht, das Sie kennen, während der Alte sich immer mehr ereiferte. – Gesteh’ es nur, sagte dieser, daß Dir nichts daran liegt. Du willst nicht, daß Er hier bei den Invaliden liegt. Dir steckt St. Denis im Sinne; dort willst Du Dir Dein Grab bauen und Er soll auch gegen seinen Willen bei den alten Königen zu liegen kommen. – Der Kaiser schwieg, wie gewöhnlich, aber ein eigenthümliches Lächeln spielte um seine Lippen. Ich glaube wirklich, daß der Alte Recht hatte. Louis Napoleon will sich in St. Denis einmal beisetzen lassen und dahin gedenkt er auch die Asche des Kaisers zu bringen. O! er ist sehr stolz und kühn genug, um Alles umzustoßen, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Deshalb wird hier so langsam gearbeitet und es wird noch mancher Tag vergehen, ehe der Sarg des Kaisers fertig wird.“
So erzählte der Officier, und auch er, ein Kind der neueren Zeit, schien sich zu ärgern, daß der jetzige Kaiser die alten Traditionen wieder auffrischen will, mit denen das revolutionäre Frankreich längst gebrochen hat. Bis jetzt ruht die Asche Napoleon’s nur provisorisch im Dome der Invaliden; sie kann noch immer keine Ruhe finden, wie der Ehrgeiz der bewunderungswürdigen Familie, die von seinem Andenken lebt.
Auch ein König von Gottes Gnaden.
Am Morgen des 17. Juli v. J. bedeckte eine unermeßliche Volksmenge die Straßen und Boulevards von Paris. Diese Menschenmenge war schweigsam, stumm, tief betrübt. Ein großes, trauerndes Volk scheint seinen Vater verloren zu haben. Alle Werkstätten und Magazine sind geschlossen; Frauen und Mädchen sind in Trauer, und überall sieht man Thränen in den Augen. Hunderttausend Arbeiter in Blousen haben sich mit Immortellensträußchen geschmückt und stehen da, als hätte ein namenloser Schmerz sie sprachlos gemacht. Eine dumpfe, feierliche, majestätische Stille ruht auf der zahllosen Menge, nur der profane Ruf der Commandoworte stört diesen heiligen Sabbath. Aber neben dem Schmerz, der von den Gesichtern dieser Hunderttausende leuchtet, zuckt auch ein krampfhafter Zorn; die aufmarschirenden, kolossalen Truppenmassen, welche sich gewissermaßen mit ihren Bayonnetten in den Schmerz einer ganzen Nation hineindrängen, werden mit seltsamen, flammenden Blicken gemessen; denn sie trennen ein trostloses Volk von seinem Liebling, der zu Grabe getragen wird. Plötzlich hört man dumpfen Trommelwirbel, ein geheimnißvolles, stärker und stärker anschwellendes Rauschen: kein Athemzug der eingepferchten Menge; sie lauscht und sucht mit den von Thränen verschleierten Augen über die Bayonnette und Polizeicolonnen fortzusehen nach dem vorüberrollenden Gebein seines gestorbenen Geliebten; – es sieht nichts als Bayonnette, aber es hört das dumpfe Rasseln des Leichenwagens und den Schritt der folgenden Colonnen.
Wird hier ein großer Feldherr begraben? Ein Kaiser, ein König? – Ja, ein König wird zur Gruft gebracht, der Sängerkönig Béranger, das Herz von Frankreich!
Die Nachwelt folgt seinem Sarge und sinnt und sinnt, um etwas Anderes auf den Grabstein einzugriffeln, als was die Mitwelt seit dreißig Jahren gesprochen. Sie findet nichts, und malt in flammenden Zügen hin: „Gestorben ist der größte Dichter Frankreichs und sein größter Bürger!“ Und das Volk, das weinende Volk, la sainte canaille, tröstet sich und geht stolz an seine Arbeit; denn Béranger war ihm gehörig, ihm allein, immer und ewig, bis zu dem Tag, wo die Polizeischwärme eines Kaisers den noch warmen Leichnam mit Beschlag belegten.
Pierre Jean de Béranger sang in der That nur für das Volk, ja, er war selbst das Volk, welches seine innigsten Gefühle in unsterblichen Liedern verewigte. Seine Macht, höher als die der Könige und Soldateska, war der Gesang und das Lied, ein einfacher Chanson, bei dessen Strophen noch Kind und Kindeskinder sich entzücken werden. – Am 19. August 1780, wie uns sein Chanson „vom Schneider“ und „der Fee“ belehrt, in der Rue Montorgueil zu Paris geboren, verlebte er seine erste Kindheit bei seinem „armen und alten Großvater,“ einem Schneider, als Rest seines Adels nichts Anderes besitzend, als das fromme de. Ein echter Pariser Gamin, wie er war, fehlte er nicht beim Sturm der Bastille am 14. Juli 1789, und bis zum Tode bewahrte er das Andenken jenes Tages, die Grundsätze und Gesinnungen, durch welche damals die französische Nation jene Zwingburg der Willkür in Schutt legte; nach 40 Jahren verherrlichte er, hinter den Riegeln des Gefängnisses la Force, 1829, jenes Ereigniß, welches ihn zu einem großen Bürger schuf, vor dem später eine ganze Nation in Ehrfurcht und Verehrung sich beugte, der zu rein und groß war, um nur einen einzigen Feind und Neider haben zu können; zu bürgerlich, als daß jemals die Schmeichelei der Mächtigen ihn verlockt; zu königlich, als daß nicht alle Parteien in ihm das Ideal eines echten Franzosen gesehen hätten. Diese große Bürgereigenschaft ist die eine Seite seines Ruhmes, der Grund seiner Popularität ohne Gleichen. Sein ehrenhafter und liebenswürdiger Charakter hat stets den Sinn für Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt und nirgends mehr, denn als Dichter.
Dem jungen Béranger klang ewig der Gesang der Marseillaise in die Ohren, als ihn seine Eltern von Paris fortschickten und, vierzehn Jahr alt, einem Buchdrucker von Perronne in die Lehre gaben. Béranger hatte bisher nicht viel gelernt, kaum richtig schreiben und lesen, wohl aber verstand er sich auf Reden halten und Adressen votiren, was man zur Zeit der Revolution die Kinder als erste Bürgerpflicht lernen ließ. Als Buchdruckerlehrling vervollständigte Béranger seine Kenntnisse von der Orthographie, und kehrte mit achtzehn Jahren nach Paris zurück, besuchte die Theater und hatte namenlose Lust, Verse und Theaterstücke zu machen. Er versuchte sich in einem Drama, aber gab es, erschreckt von der Größe Molière’s, sogleich nach Vollendung dem Feuer preis; dann, begeistert von Chateaubriand, schrieb er ein Epos „Clovis“, ohne es jedoch später vor dem Schicksal der Vernichtung zu bewahren. Tu es un homme de stile, sagte sich Béranger und besang nun, da er arm war, seine Lisette, seine Liebe, und freute sich darüber, daß, wenn er einmal in der Woche mit seiner Grisette spazieren ging, er sechs Tage lang dafür bei Kohlsuppe dies Vergnügen besingen konnte.
[431] Der drückende Mangel, dem Béranger ausgesetzt war, fing ihm jedoch an, unerträglich zu werden, denn, sagte er,
Die Freiheit, die entzückt mich.
Doch hab’ ich Appetit.
So packte er denn 1803 einen Haufen seiner besten Verse zusammen, und überschickte sie an Lucian Bonaparte, den republikanischen Bruder Napoleon’s. Lucian nahm sich Béranger’s wie eines jungen mitstrebenden Freundes an, und überließ ihm seine Pension als Mitglied des Instituts, die Béranger bis 1812 bezog.
Inzwischen hatte sich auch für ihn eine, wenn auch sehr bescheidene Stelle als Secretair im Unterrichtswesen gefunden, und während Frankreich anfing, Bérangersche Lieder zu singen, besann sich der Dichter noch, ob er wohl einige davon könne drucken lassen. 1812 sang ganz Paris „le sénateur,“ 1813, als Napoleon über die Satire auf ihn, „der König von Yvetot“, herzlich lachen mußte, kannte die ganze französische Nation bereits die Chansons Béranger’s, aber gedruckt war keins. Darin gleicht Béranger dem schottischen Robert Burns.
Die erste Sammlung von Chansons erschien 1815. Der Expedient Béranger bekam einen Verweis, daß er, als ein Mann beim Unterrichtswesen, Gedichte von Liebesabenteuern mache, wie la gaudriole, la bacchante, ces démoiselles u. s. w. Béranger merkte sich dies und kam, als er 1821 seine zweite Sammlung Chansons herausgab, mit demselben Tage nicht wieder in sein Bureau, wo seine Lieder erschienen waren. Die Regierung der Restauration, welche für die Glückseligkeit Frankreichs Procuratoren in Masse angestellt hatte, ließ den Dichter für seine beißenden Lieder auf das „von Kosaken zurückgeführte Königthum“ drei Monate ins Gefängniß werfen. Béranger lachte darüber, denn hinter den Gittern seines Kerkers hörte er die Chansons, um derentwillen er verurtheilt war, und welche das Volk so recht aus Herzensgrund und aus Haß gegen die Bourbonen sang.
Das Volk, welches Béranger’s Muse war und blieb, ward auch sein Studium. Was dieses fühlte, sprachen seine Chansons aus, und wenn er sprach, so wußte man, daß die französische Nation etwas zu sagen habe. Er haßte, wie ganz Frankreich, die Bourbons, die bald erkannten, welche grimmige Waffe die Chansons des geliebten Volksdichters gegen ihren Thron bildeten, und die vergebens die keusche Tugend und feste Gesinnung Béranger’s zu bestechen suchten. Kleinlich, wie die Regierung Karl’s X. war, rächte sie sich an der Ehrenhaftigkeit eines Dichters damit, daß sie ihn von Neuem 1828 neun Monate in den Kerker warf, und zu 10,000 Francs Geldbuße verurtheilte. Die französische Nation, welche in Béranger beleidigt war, bezahlte den Häschern der Restauration diese 10,000 Francs; denn für den Dichter der Chansons, die in aller Munde lebten, gab es weiter keinen Feind, als die Engherzigkeit; alle Parteien liebten den liebenswürdigen und doch so gefährlichen Dichter, der jedem Neid und Haß die Waffen nahm, als er sang:
Mon Dieu, vous m’avez bien doté,
Je n’ai ni force ni sagesse:
Mais je possède une gaité
Qui n’offense pas la tristesse.
Jede Idee, welche Frankreich begeisterte oder erregte, setzte Béranger in Musik. Die Idee des neuen Frankreichs war aber immer die Revolution, der Ruhm und der Sturz des verhaßten Liliengeschlechts. So sang auch Béranger von der Freiheit, deren Kind er war, von dem Ruhm, den die Nation unter dem Kaiserreiche errungen, von dem Haß gegen die Bourbons, die seine Lieder mehr denn alle Polemiken gestürzt haben.
Andererseits war Béranger ein ebenso echtes Kind des Volkes, [432] er wußte, wie seine Nation liebt, lebt, fühlt und denkt, bald leicht, bald ernst, mit Leichtsinn und Leidenschaft; so flossen auch die Gesänge aus seiner Brust, die von dem allgemeinen Nationalgefühl getragen wurden. Die Musik seiner Verse, die Klarheit und prägnante Einfachheit, und besonders der herrliche Refrain seiner Chansons, der oft einen großen Gedanken in einigen Worten zusammenpreßt, gruben sich fest in die Herzen der Nation.
Mit der Julirevolution brach die Begeisterung für den großen Sänger mächtig hervor. Als wollte man ihn zum Könige erwählen, so trug das Volk, arm und reich, berühmt und unberühmt, seine Büsten umher, bekränzte sie an allen Orten, in den Theatern, und fast gab es keinen Franzosen, der nicht Béranger’s Bild in seinem Zimmer hatte. Die neue Dynastie wollte den Stolz der Nation durch Ehren und Aemter gewinnen; Frankreich drängte den Chansonnier, die wohlverdienten Würden und Stellen anzunehmen, zu denen ihm mit Liebe und Verehrung alle Thore geöffnet wurden; Béranger wies den König zurück und dankte Frankreich; seine Einsamkeit barg von nun an seine Bürgergröße.
Seit der Julirevolution war Béranger in der That nur der große, ehrenvolle Charakter, jener politische Mann, der allen Huldigungen mit republikanischer Tugend widerstand und dessen Wohlthätigkeit, Einfachheit, Bescheidenheit und würdige Gesinnung jene allgemeine Verehrung der Nation erzeugte, die fast an Ehrfurcht grenzte. Er ließ die Leier, die ihm so reinen und hohen Ruhm gebracht, ruhen; seine Stimme erscholl nur selten noch zwischen den politischen Erregungen, die immer heftiger und hohler an den Thron der Julidynastie heranbrausten; arm, wie der Dichter dabei lebte, mußte das Volk allerdings in Béranger ein Ideal von Bürgertugend erkennen, die in einer Zeit, wo Alle nach Gunst, Würden und Reichthümern sich drängen, kaum noch möglich schien, ihre Existenz zu bewahren.
Fast ängstlich ging der greise Dichter jeder Ovation aus dem Wege, die ihm das Volk bereiten wollte; er, dessen Gesänge unsterblich sein werden, fühlte sich zu gering für den Ruhm und die Huldigung, zu bescheiden für den Lorbeer, mit dem die Nation ihren einzigen Dichter krönen wollte. Aber konnte es eine rührendere Huldigung geben, als wenn man den silberhaarigen Greis in einfachem, schlichtem Bürgerrock auf den Boulevards von Paris spazieren gehen sah und jeder Vorübergehende, jeder Fürst, jedes Kind, jeder Arbeiter und jedes Mädchen den freundlichen Alten ehrfurchtsvoll grüßte? Konnte es für einen Sänger des Volks einen höheren Ruhm und größere Belohnung geben, als wie ein Vater von den Arbeitern, den Grisetten und Kindern geliebt zu werden? Alle äußeren Ehrenbezeigungen verachtete Béranger; unzählige Mal hat die Regierung ihn zu locken gesucht, jedesmal ist sie geringschätzig abgewiesen worden, denn ein Charakter, wie der Béranger’s war, läßt sich nicht kaufen und das Princip, das der Chansonnier vertrat, war das der Freiheit und Unabhängigkeit. Als der jetzige Kaiser von Frankreich 1848 als Candidat der Präsidentschaft in Paris war, suchte er zweimal Béranger zu besuchen, und als er Präsident der Republik war, wiederholte er diesen Versuch: der Sänger, dessen bescheidenes Gemach für jeden Armen geöffnet war, nahm den hohen Besuch nicht an. Die Academie, nach der jedes Talent in Frankreich ringt, würde mit Stolz dem größten Dichter Frankreichs ihre Pforten geöffnet haben; aber Béranger wollte nicht das Unglück haben, Academiker zu sein, meinte, daß er für jene Herren nicht passe, und wahrscheinlich wird von dem Ruhm der Mehrzahl der 40 Unsterblichen keiner den des Liederdichters Béranger überdauern. Der, dessen Gesänge in jeder Hütte sind, hätte jede Zeile mit Gold aufgewogen erhalten können; Béranger begnügte sich, von seinem Verleger 800 Francs (240 Thlr.) Jahresrente zu nehmen, und erschöpfte sich in Dankbezeigungen, als ihm sein Buchhändler freiwillig diese Rente erhöhte. Fortune, passe ton chemin! (Glück, geh Deiner Wege!) dieser berühmte Refrain eines seiner Chansons war sein Wahlspruch, und nie hat ein Philosqph mit mehr Liebenswürdigkeit und Zufriedenheit den Geldmammon von sich gewiesen, als er. Seit 1833, wo er seine letzten Chansons herausgab, hat Béranger nichts oder doch nur sehr wenig veröffentlicht, wenn auch ein reicher Nachlaß, wir glauben unter dem Titel: „Dictionnaire des grands hommes“ vorhanden sein wird. Es war der echte Stolz eines großen Dichters, der, auf dem Gipfel des Ruhmes, seine edle Kunst nicht erniedrigen will, um Reichthümer zusammen zu scharren. Und wenn man bedenkt, wie wohlthätig Béranger trotz seines wenigen Einkommens war, wie viel er unterstützte, ohne zu fragen, wem er seine Spende gebe, wie schamhaft und naiv er es that, mit welcher durch zahllose Anekdoten bekannten Innigkeit und Schüchternheit, so erklärt sich, daß ein solcher antiker Charakter zu allen Zeiten einer der geehrtesten und geliebtesten gewesen wäre.[2] Die Nation wollte einen solchen Mann mit Gewalt in die Geschicke ihres Landes verflechten, und wählte ihn nach der Februarrevolution zum Mitgliede der Nationalversammlung. Béranger ging, um das Vertrauen zu ehren, ein einziges Mal in die Versammlung, dann nahm er, 8. Mai 1848, seine Entlassung, die ihm jedoch erst am 14. auf sein dringendstes Ansuchen gewährt wurde. Der Brief, den er damals an den Präsidenten schrieb, charakterisirt den Sänger vollständig. Er heißt:
- „Wenn irgend etwas mich mein Alter, meine Gesundheit und meine legislative Unfähigkeit vergessen machen könnte, so wäre es das Schreiben, welches Sie an mich zu richten so gefällig waren, und worin Sie mir mittheilen, daß die Nationalversammlung mein Entlassungsgesuch mit einem abschläglichen Bescheide beehrte. Meine Erwählung und diese Handlung der Volksrepräsentanten werden Gegenstand meiner ewigen Dankbarkeit sein, denn sie sind ein allzu hoher Lohn für die geringen Dienste, welche ich der Freiheit erweisen konnte; sie sind ein Zeichen, wie beneidenswerth in Zukunft die Belohnungen derer sein werden, die, mit größerem Talent begabt, unserm theuern Vaterlande wirkliche Dienste leisten werden. Glücklich, den Anlaß zu diesem ermuthigenden Beispiele gegeben zu haben, und überzeugt, Bürger Präsident, daß dies bisher meine einzige Leistung ist, bitte ich die Nationalversammlung neuerdings, mich nicht aus der Verborgenheit des Privatlebens zu ziehen. Es ist dies nicht der Wunsch eines Philosophen, noch weniger eines Gelehrten, es ist der Wunsch eines Reimers, der sich zu überleben glauben würde, wenn er inmitten der öffentlichen Geschäfte die Unabhängigkeit der Seele, das einzige Gut, das er je anstrebte, verlöre. Es ist das erste Mal, daß ich etwas von meinem Lande verlange. Die würdigen Repräsentanten werden deshalb meine nochmalige Bitte um Entlassung nicht verwerfen, und der Schwäche eines Greises vergeben, der es nicht verkennt, welcher Ehre er sich selbst beraubt.
- Passy, den 14. Mai 1848 Béranger.
Seit jener Zeit verließ der Dichter seine Einsamkeit nicht wieder.
Das wiederhergestellte Kaiserreich machte, ebenso wie die Restauration, dir Juliregierung und die Republik, Anstrengungen, mit Béranger’s Namen seine Existenz zu vergolden. Der Kaiser, der vermeinte, daß Béranger wegen seiner Gesänge, die vielfach den Ruhm Frankreichs und die Schlachten unter Napoleon I. besangen, auch ein Sänger der Napoleoniden überhaupt sein werde, ließ ihm den Orden der Ehrenlegion anbieten; aber Béranger wies eine solche Auszeichnung von der Hand.
Am 16. Juli, Nachmittags 4 Uhr 35 Minuten, starb nach langem Krankenlager Béranger in seiner Wohnung zu Paris, Vendomestraße Nr. 5., fast 77 Jahre alt. 21 Stunden später trug ihn die Polizei bereits zur Gruft. Die kaiserliche Regierung, welche den lebenden Béranger nicht gewinnen konnte, machte von ihrem Rechte Gebrauch, belegte den Todten mit Beschlag und erklärte ihn für kaiserliches Eigenthum, da das Kaiserthum der wahre Ausdruck der Nation sei. Sie machte seine Apologie, nachdem das Volk sie schon seit dreißig Jahren gemacht, und nahm sein Begräbniß in die Hand, um den unerreichten Dichterkönig für gute Prise zu erklären. Und sonderbar: so ward der Nationalpoet Frankreichs, der Dichter des Volkes und der Freiheit, von Soldaten und Polizeiagenten fast allein zur Gruft gefahren, und zwar als kaum sein Herz erkaltet war, das so hochherzig für das französische Volk geschlagen! Das Volk, Béranger’s Volk, für das er gedichtet, das stand von ferne, eingekeilt zwischen Bayonnetten und Spionen, die seinen Schmerz belauerten und durfte nicht eine Quaste seines Leichentuches küssen, nicht dem geliebten Sänger und dem besten Menschen die letzte Ehre erweisen. Als könnte die Leiche des demokratischsten Poeten, des ehrenhaftesten Bürgers, den Händen wieder entfliehen, die sich seiner bemächtigt hatten, um sie in die Erde zu scharren, so eilte die ungeheuere Truppenmasse mit dem Sarge dahin, angstvoll durch enge und abgesperrte Gassen, hinter dem Schmerz der Nation herum, bis hinauf zum Père Lachaise, auf dessen Todtenhügeln Geschütze aufgepflanzt standen, die drohend ihren Schlund auf die Menge unter sich richteten.
- ↑ Siehe Gartenlaube 1854. Nr. 51.
- ↑ Siehe Gartenlaube 1855. Nr. 2. und 1856. Nr. 31.