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Die Gartenlaube (1857)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

No. 23. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Früher Tod.

Wie stirbt es schön sich in der Kindheit Tagen:
Die Knospe welkt, bevor sie sich erschlossen,
Es stockt das Herz, noch eh’ es recht geschlagen,
Und nichts verliert es, das noch nichts genossen.

Der Traum entflieht, noch ehe das Erwachen
Verrath an seinen holden Bildern übte,
Es schweigt der Mund, eh’ er verlernt zu lachen,
Das Auge bricht, eh’ es die Thräne trübte.

Zum Himmel kehrt die reine Seele wieder,
Kein finst’rer Tod macht sie beim Scheiden beben:
Es beugt ein Engel sich zum Kinde nieder,
Und von den Lippen küßt er ihm das Leben.

Albert Traeger.


Eine Lebens-Versicherung.
Aus den Papieren eines Berliner Advocaten.

Eine verwickelte Erbschaftsangelegenheit hatte mich vor einer Reihe von Jahren genöthigt, zur Einziehung nothwendiger Informationen nach London zu reisen. Mein Aufenthalt zog sich über Erwarten in die Länge, da ich zur Wahrung der gefährdeten Rechte meiner Clienten genöthigt war, bei den englischen Gerichten Sicherungsmaßregeln in Betreff der streitigen Erbmasse gegen die wenig bedenklichen Prätendenten nachzusuchen, die meinen Anspruch mit mehr Hartnäckigkeit als gutem Rechte bestritten. Wer die Schwerfälligkelt und Kostspieligkeit des englischen Civilproceßverfahrens mit seinen zeitraubenden Interlocuten und Incidenzpunkten kennt[1], wird sich sagen können, mit welchen Schwierigkeiten ich bei jedem Schritt und Tritt zu kämpfen hatte. Dazu kam, daß sich mein ganzes Arsenal von Kenntnissen des vaterländischen, römischen, gemeinen und französischen Rechts als ein ganz unnützer Apparat in dem Lande der Erbweisheit erwies, dessen Privatrecht sich nicht minder selbstständig, eigenartig und verschlungen entwickelt hat, wie der Organismus seines Staatslebens. Ich mußte es daher als eine besonders glückliche Fügung des Schicksals ansehen, daß ich durch Veranstaltung eines in London lebenden rechtsgelehrten Landsmannes einen Anwalt kennen lernte, der mir durch seine Einsicht und Kenntniß des englischen Rechtslabyrinths die erheblichsten Dienste leistete, und an den mich in der Folge nicht allein die zufällige geschäftliche Beziehung, sondern ein durch persönliche Achtung und Freundschaft geknüpftes Band fesselte, welches noch heute besteht. Diese Verbindung war auch zugleich der Anlaß, der den hier zu erzählenden Fall zu meiner Kenntniß brachte.

Es ist in London allgemein Brauch, daß die großen Geschäftshäuser sich eines ständigen rechtserfahrenen Beistandes bedienen, welche gewöhnlich das Amt der Anwälte (Attorney) bekleiden. In dieser Beziehung stand auch mein Londoner Freund, Mr. Pirrie, zu einer der neu gegründeten Lebens-Versicherungs-Gesellschaften, die auf dem Continente, namentlich in Deutschland, bereits eine namhafte Anzahl von Versicherten zählte.

Eines Tages erhielt ich von Mr. Pirrie ein Schreiben, in welchem er mich um eine Gefälligkeit ersuchte, die, wie er bemerkte, nicht dem Advocaten, sondern dem Freunde angesonnen wurde. Ein Einwohner der Hauptstadt, in der ich lebte, hatte sich mit einem Versicherungs-Antrage direct an die Gesellschafts-Direction in London gewendet. Die üblichen Certificate, so wie ein durchaus günstig lautendes Gesundheitsattest waren beigelegt worden, und die Sache war so weit in Ordnung. Nur schien die Höhe der zu gewährenden Versicherung der Gesellschaft Anlaß zu Bedenken zu geben, zumal der Versicherungnehmer, Kriegsrath von P., sich bereits in dem vorgerückten Alter von 46 Jahren befand. Die Summe sollte 6000 Pfund Sterling betragen, eventuell auf die Hälfte, jedoch auf nicht weniger ermäßigt werden.

Die Gesellschaft hatte in der letzten Zeit sehr bedeutende Summen zu zahlen gehabt, deren Höhe den Etat bei Weitem überstieg, welcher unter Zugrundelegung der Mortalitätstabellen ausgeworfen [310] worden war. Dazu kamen einige Fälle ganz eklatanter Unredlichkeit und Betruges, deren Entdeckung der Gesellschaft nur mit großer Mühe gelungen war, so daß sie nur auf diese Weise sich vor namhaftem Schaden zu bewahren vermocht hatte. Alle diese Umstände wirkten zusammen, um die Gesellschaft bei Abschließung neuer Versicherungsverträge im Auslande noch vorsichtiger zu machen, insbesondere niemals Policen zu bedeutenden Beträgen ohne genaue Kenntniß aller Verhältnisse der Versicherten zu geben.

Mein Freund ersuchte mich deshalb, mir über die Verhältnisse des Kriegsraths von P., namentlich über seine Lebensweise, seine Vermögens- und Familienverhältnisse, auf geeignet scheinende Weise Auskunft zu verschaffen und ihm das Erfahrene schleunigst mitzutheilen.

Ich beeilte mich, dem Vertrauen meines Freundes zu entsprechen, und setzte mich zu diesem Behufe mit dem Polizeicommissarius des Reviers, in welchem Herr von P. wohnte, in Verbindung. Denn was ich persönlich von dem Kriegsrath wußte, war sehr wenig. Ich erinnerte mich, ihn hin und wieder an einem öffentlichen Orte Schach spielen gesehen zu haben. Er hatte die Haltung und das Benehmen eines ehemaligen Militairs, trug sich mit der äußersten Sauberkeit, wenn auch nicht elegant, und zeigte eine gewisse Zurückhaltung in seinem Wesen, die eine Annäherung nicht leicht möglich machte. Sein Aussehen war das eines stattlichen Vierzigers; von mittlerer Statur; die Gesichtsfarbe war nicht eben blühend, aber das volle, dunkle Haupthaar und eine Reihe schöner Zähne deuteten auf rüstige Gesundheit.

Dem Polizeicommissar theilte ich den Anlaß meiner Erkundigung mit; er besaß Tact und Erfahrung und versprach mir, sich aus den ihm zugänglichen Quellen zu informiren, und mich von dem Resultat der angestellten Ermittelungen baldigst in Kenntniß zu setzen.

Folgendes theilte er mir kurz darauf als das Ergebniß seiner Erkundigungen mit:

Herr von P. war Officier gewesen und hatte längere Zeit in Luxemburg und Mainz in Garnison gestanden. Als Premier-Lieutenant nahm er seinen Abschied, verheirathete sich mit der Tochter eines höheren Beamten der Militair-Verwaltung, und trat selbst durch Verwendung seines Schwiegervaters in eine ansehnliche Stellung bei der Intendantur des nämlichen Armeecorps ein, welchem er bis dahin angehört hatte. Er avancirte rasch und wurde vor etwa 8 Jahren nach der Hauptstadt versetzt. Vor einigen Jahren hatte er seine Entlassung nachgesucht, welche ihm unter Gewährung einer anständigen Pension bewilligt wurde. Von seiner Frau lebte er, aus nicht bekannt gewordenen Gründen, seit einer Reihe von Jahren getrennt. Sie wohnte vor einem der östlich gelegenen Thore, während er selbst die zweite Etage eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der B…-Straße inne hatte[2]. Die Ehe war kinderlos. Der Kriegsrath führte einen einfachen, anständigen Haushalt, hielt keinen Diener, sondern nur eine in dem Nachbarhause wohnende Aufwärterin und speiste in einem Gasthofe, in welchem vorzugsweise ehemalige Militairs und pensionirte Beamte zu verkehren pflegten. Seine Lebensweise war äußerst regelmäßig und solide. Außer einigen älteren Beamten sah er niemals Gesellschaft bei sich. Er hatte nur zwei, und zwar sehr unverfängliche Passionen: das Schachspiel und den Gebrauch des kalten Wassers. Seine Zeit theilte er zwischen mathematischen Studien, ausgedehnten Spaziergängen und dem Schachspiel. Was seine Vermögensverhältnisse betraf, so konnte nur vermuthet werden, daß er außer seiner Pension noch eigenthümliches Vermögen besitzen mußte, denn die Pension allein würde nicht hingereicht haben, die getrennten Wirthschaften der beiden Eheleute auf so anständigem Fuße zu erhalten.

Diese Auskunft lautete befriedigend genug, und ich säumte nicht, sie meinem Freunde mit allen Details, so wie mit den geringen persönlichen Wahrnehmungen, die ich selbst zu machen Gelegenheit gehabt, mitzutheilen.

Wider Erwarten erklärte die Londoner Gesellschaftsdirection damit ihre Bedenken noch nicht für vollkommen erledigt. Der am Orte wohnhafte Agent, welcher erst vor Kurzem die Geschäfte übernommen hatte, setzte sich mit mir in Verbindung und theilte mir den Wunsch der Direction mit, noch einige nähere Aufschlüsse über die Familienverhältnisse des Kriegsraths zu erhalten, namentlich über sein Verhältniß zu denjenigen Personen, welche als seine präsumtiven Erben zunächst bei der Versicherungsnahme betheiligt sein möchten. Ich gab dem Agenten den Rath, sich deshalb direct und mit aller Offenheit an den Kriegsrath selbst zu wenden. Er befolgte meinen Rath und erhielt von dem Kriegsrath die Auskunft, daß er keine erbberechtigten Verwandten außer seiner Frau besitze, daß er sich mit derselben bereits wegen ihrer künftigen Erbansprüche vollständig abgefunden habe, und die Versicherungssumme nach seinem Tode an andere Personen zu zahlen sein würde, welche er in einem bereits errichteten Testamente namhaft gemacht habe. Das Benehmen des Herrn von P. machte auf den erfahrenen Agenten in einem solchen Maße den Eindruck der Ehrenhaftigkeit und schlichten Gradheit, daß er selbst die Direction über alle etwa noch vorhandenen Bedenken beruhigte, und nachdem der für die Geschäfte der Gesellschäft speciell angestellte Arzt den Versicherungsnehmer auf das Sorgfältigste untersucht und den Gesundheitszustand desselben vollkommen zufriedenstellend gefunden hatte, wurde die Versicherung schließlich zum Betrage von 4000 Pfund (etwa 26,000 Thlr.) abgeschlossen. Bei Einhändigung der Police zahlte Herr von P. gleichzeitig den ersten Jahresbetrag der Prämie mit nahe an 2000 Thlr.

Es war natürlich, daß seit dieser Zeit die Person des Kriegsraths an Interesse für mich gewann. Der Frühling hatte begonnen, und ein bekanntes Etablissement vor einem der westlich gelegenen Thore bildete, wie immer vom Beginn der wärmeren Jahreszeit an, den Sammelplatz eines gebildeten Publicums, welches Nachmittags im Freien bei einer Partie Domino oder Schach seinen Kaffee trank. Dort sah ich den Kriegsrath häufig, in immer gleicher, gemessener Haltung mit einem ältern Herrn, dessen Habitus und Ordensband im Knopfloch den gewesenen Militair verrieth, seine Partie Schach ziehen, ohne daß ich näher mit ihm bekannt wurde. Er schien überhaupt niemals von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, auch sah ich ihn niemals im Gespräch mit anderen Personen. Nichtsdestoweniger machte er auf mich den Eindruck, als wäre es nicht die Schachpartie allein, die ihn beschäftigte, denn wenn er, zwar ohne Hast, aber doch mit einer gewissen ruhigen Bestimmtheit gezogen hatte, so stützte er das Haupt in die Hand und wartete, ohne jemals eine Spur von Ungeduld zu verrathen, bis sein zaudernder Partner sich zu einem Zuge resolvirt hatte. In der Zwischenzeit schien er mir in Gedanken versunken, welche nicht die Partie allein zum Gegenstande haben konnten.

Mehrere Wochen lang war ich durch überhäufte Geschäfte abgehalten gewesen, meinen gewöhnlichen Nachmittagsspaziergang zu machen, und hatte während dieser Zeit den Kriegsrath nicht gesehen. Als ich zum ersten Male wieder nach …hof hinauskam, suchte ich unwillkürlich zunächst meinen alten Bekannten zu entdecken. Ich fand ihn nicht an dem gewohnten Platze. Auch am nächsten Tage war er nicht erschienen. Ohne ein näheres Interesse an dem Manne zu haben, war ich an sein regelmäßiges Erscheinen doch so gewöhnt, daß mir seine Abwesenheit auffiel. Zufällig begegnete ich am Abend desselben Tages dem Agenten und fragte ihn, ob der Kriegsrath vielleicht verreist, oder krank sei, da ich ihn nicht mehr auf seinem gewohnten Nachmittagsspaziergange sähe.

„Keins von Beiden,“ antwortete er mir, „ich war erst gestern bei ihm und habe eine Partie Schach mit ihm gezogen, wozu er mich schon längst eingeladen hatte.“

Am Tage darauf sah ich ihn wieder an seinem gewöhnlichen Platze, aber sein Begleiter fehlte. War es das Ausbleiben seines pünktlichen Gefährten, oder wirkte eine andere Ursache mit, – der Kriegsrath kam mir verstimmt, niedergedrückt vor. Ueberhaupt glaubte ich in seinem Wesen eine Veränderung zu bemerken. Sein Anzug schien mir weniger sauber als sonst, seine Haltung zusammengefallener.

Das Gartenetablissement wird an der einen Längenseite von einem schmalen, mit Weidenpflanzungen eingefaßten Wassergraben begränzt, welcher häufig zu Gondelpartien, nicht selten auch von Lebensüberdrüssigen dazu benutzt wird, die Last des Daseins mit einem jähen Sprunge in die sonst nicht allzu sehr verlockenden trüben Fluthen abzuschütteln. In einer der Nischen, welche das Weidengeflecht des Wassergrabens nach dem Garten zu bildete, saß der Kriegsrath, in sich gekehrt, und blickte unverwandt auf den grünlich schillernden Wasserspiegel. Der Stock, den er in der linken Hand hielt, war fest gegen den sandigen Boden gestemmt, der rechte Arm ruhte auf der Stuhllehne, die Hand stützte das leicht [311] gesenkte Haupt und verdeckte zum Theil gleichzeitig das Gesicht. Ich saß seitwärts und konnte ihn beobachten, ohne bemerkt zu werden. Der Ernst meines eigenen Lebensganges, vielfache Einblicke in verworrene, trübe, verzweifelte Lebensverhältnisse, haben mich gleichsam daran gewöhnt, hinter oft ganz geringfügigen Anzeichen in dem äußeren Wesen der Menschen mancherlei traurige Räthsel zu ahnen, und ich habe mich niemals enthalten können, solchen scheinbar unverfänglichen Aeußerungen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In dem Wesen des Kriegsraths lag eine freudlose Resignation ausgedrückt, welche eine lange Geschichte von Enttäuschungen, Sorgen und Schmerzen ahnen ließ. Unbeweglich saß er da, selbst der Winkel, den das in den Boden gestemmte spanische Rohr mit der Bodenfläche bildete, verrückte sich nicht.

Plötzlich, wie auf ein inneres Commandoworl, erhob er sich und wandte sich in raschem Schritte nach dem Hintergrunde des Gartens. Zweimal machte er die Runde um denselben, dann setzte er sich wieder in der nämlichen Stellung auf seinen Platz. Hier verweilte er noch einige Zeit. Dann erhob er sich, – diesmal langsam, fast zögernd. Er ließ einen Blick über den Garten schweifen, einen langen, langen Blick, – ich konnte mich nicht enthalten, zu denken, daß dies ein Abschiedsblick sei. Dann wendete er sich zum Ausgange und verließ langsam, in gewohntem gleichmäßigem Schritt den Garten.

Ich blieb noch einige Zeit allein, und blickte dem Fortgehenden nach. Immer wieder fiel mir der Blick ein, mit welchem er aus dem Garten geschieden war. Ich beschloß, mich auf alle Fälle am nächsten Tage einzufinden und, wenn auch er sich einstellte, auf die Gefahr einer Indiscretion hin, seine Bekanntschaft zu suchen. Es war keine Neugier, die mich dazu trieb, die Bekanntschaft eines mir bis dahin Fremden suchen zu wollen, sondern das dunkle Bewußtsein, daß ich Gelegenheit haben könnte, einen gesunkenen Lebensmuth durch Trost und Zuspruch, vielleicht auch noch auf andere Weise, wieder aufzurichten. Denn nur wer selbst Stimmungen dieser trüben und trostesarmen Verlassenheit und Vereinsamung erlebt hat, vermag zu empfinden, welche Heilkraft für gebeugte Gemüther in dem rückhaltslosen Entgegenkommen und Vertrauen einer wohlwollenden Menschenbrust liegt.

Mein Aufmerksamkeit wurde bald wieder auf andere Gegenstände gelenkt. Mehrere Collegen waren in den Garten eingetreten und hatten an einem Tische Platz genommen. Das Gespräch drehte sich um die Tagesereignisse, um Processe aller Art und um die Praxis. Ich war nicht in der Stimmung, diesen Unterhaltungen ein lebhaftes Interesse abzugewinnen, und verabschiedete mich in der Absicht, nach Hause zurückzukehren. Der Abend war allmählich hereingebrochen, und ohne es zu merken, hatte ich, meinen Gedanken nachhängend, gerade die dem Heimwege entgegengesetzte Straße eingeschlagen, und war bis in die Nähe des etwa eine Stunde von der Stadt entfernten Dorfes S. gelangt. Hier besann ich mich noch rechtzeitig, daß es Zeit sei, umzukehren, denn der Himmel hatte sich umdüstert und schwere Gewitterwolken zogen von der Mitternachtseite herauf. Ich war in leichter Sommerkleidung und ohne Regenschirm; kein einziges Fuhrwerk war in der Nähe zu sehen, eine Omnibusverbindung mit der Stadt bestand damals noch nicht. Ich entschloß mich daher zu dem Versuche, dem Ausbruche des Gewitters den Vorsprung abzugewinnen, und begann rüstig zu marschiren. Mein Entschluß war etwas zu spät gefaßt. Schon wirbelte der Staub der Chaussee in dichten Säulen vor mir auf, falbe Blitze zuckten durch die Luft, und pfeilschnell schossen die Schwalben dicht am Boden hin, um der Gewalt des Windes zu entgehen. Ich beschleunigte meinen Schritt noch mehr, um wenigstens eine bedachte Behausung zu erreichen, denn bereits fielen die ersten schweren Regentropfen. Glücklich genug erreichte ich endlich ein noch leer stehendes einzelnes Gebäude, welches eben im Rohbau vollendet war. Hier hinein flüchtete ich, und wartete so das Gewitter ab, welches jetzt mit voller Heftigkeit unter rauschenden Regenströmen ausbrach.

Ich sollte indessen in dem schirmenden Asyl nicht lange allein bleiben, denn bald vernahm ich die Stimmen zweier Männer, welche gleich mir im Erdgeschoß des Rohbaues Schutz vor dem Unwetter suchten. Die Stimme des Einen klang gemessen, ruhig, gebildet; die des Andern, Jüngern, lauter und roher. Der Aeltere schien seine Abneigung gegen das Aufsuchen eines Zufluchtsortes zu äußern. Der Jüngere wies auf das Unwetter und die Gefahr einer tödtlichen Erkältung hin. Der Aeltere schien nachzugeben. Sie begaben sich in einen nach hinten gelegenen Raum, ziemlich entfernt von mir, so daß ich wohl den Klang ihrer im Zwiegespräch laut werdenden Stimmen, nicht aber ihre Worte vernehmen konnte.

So heftig das Gewitter gewesen war, so schnell ging es auch vorüber. Ich trat wieder aus meinem Schlupfwinkel heraus. Als ich mich zum Fortgehen anschicke, höre ich auch die Schritte der Genossen meiner improvisirten Herberge hinter mir. Jetzt kann ich deutlich vernehmen, was sie sprechen.

„Du hast Alles?“ sagte der Aeltere.

„Alles!“ antwortete der Jüngere.

„Du weißt, was Du geschworen hast!“

„Verlassen Sie sich auf mich.“

„Nicht früher und nicht später: Du richtest Dich nach der Domkirche.“

„Auf die Minute!“

„Bleib jetzt hinter mir zurück. Denk’ an Deine Belohnung. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Unwillkürlich drückte ich mich gegen den Vorsprung des Kellerhalses, um den älteren der beiden Männer unbemerkt sehen zu können, wenn er an mir vorbeiging. Er kam um die Ecke; der Himmel war wieder klar – hatte ich recht gesehen, oder war es eine Täuschung meiner Sinne – ich glaubte den Kriegsrath zu erkennen. Er ging in beschleunigtem Schritt an mir vorüber, und ehe ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, war er meinen Augen entschwunden. Ich blickte nach der Seitenfront des Gebäudes, ob sein Begleiter vielleicht noch zu sehen wäre – aber auch dieser war fort. Von neuen Gedanken über dieses sonderbare Zusammentreffen bewegt, trat auch ich den Heimweg an.

Am andern Morgen war ich schon in aller Frühe mit dringenden Arbeiten beschäftigt, und hatte Anweisung gegeben, Niemanden vorzulassen. Gegen neun Uhr hörte ich laute Stimmen im Vorzimmer, mein Schreiber schien einen dringenden Clienten bedeuten zu wollen, daß ich für Niemanden zu sprechen sei. Der Besuch wollte sich nicht abweisen lassen.

„Ich muß den Herrn durchaus sprechen, nennen Sie ihm meinen Namen!“

Ich erkannte die Stimme des Agenten und trat hinaus.

„Verzeihen Sie meine Unbescheidenheit,“ rief er mir in sichtlicher Erregtheit zu, „aber die Sache ist von größter Wichtigkeit – gönnen Sie mir zehn Minuten!“

Ich nöthigte ihn, einzutreten.

„Was ist Ihnen zugestoßen, Herr Wichert, hoffentlich kein Unglück? Sammeln Sie sich!“

„Ich muß es allerdings ein Unglück nennen,“ entgegnete er mir in gleicher Aufregung, „wenn auch mehr für Andere, als für mich!“

„Sprechen Sie,“ drängte ich, „was ist es?“

„Es betrifft den Kriegsrath von P–.“

„Nun, was ist es mit ihm?“ rief ich, gleichfalls lebhaft erregt.

„Er ist heute früh todt in seinem Bette gefunden worden – eben habe ich seine Leiche gesehen.“ –

Obgleich an mancherlei erschütternde Katastrophen durch eine an den unerwartetsten Scenen reiche Praxis gewöhnt, machte dennoch die Mittheilung des Agenten einen fast betäubenden Eindruck auf mich. Ich brauchte einige Zeit, um mich zu fassen. Herr Wichert ging unruhig im Zimmer auf und ab. Vor allen Dingen mußte man eine klare Uebersicht über die Lage der Sache zu gewinnen suchen und Alles mit der größtmöglichsten Ruhe erwägen, um Nichts durch Hast zu verabsäumen oder durch Uebereilung zu verderben. Ich nöthigte den Agenten, sich zu setzen.

„Lassen Sie uns die nothwendige Ruhe nicht verlieren; nur so allein vermögen wir zu übersehen, was wir in Ihrem Interesse, im Interesse der Gesellschaft zu thun haben. Erzählen Sie mir in genauer historischer Zeitfolge, was Sie erfahren haben und auf welche Weise.“

„Sie haben Recht,“ erwiderte er, „verzeihen Sie meine Fassungslosigkeit, aber Sie können selbst ermessen, wie hart es mich treffen muß, daß gerade ich zum Abschluß eines so unseligen Geschäfts beigetragen habe.“

„Ich verstehe Ihre Situation vollkommen, aber desto nothwendiger ist es, daß wir uns schleunigst nach allen Seiten hin zu orientiren suchen. Sie sollen später erfahren, was ich über die Sache denke. Zunächst erzählen Sie: Wann haben Sie den Kriegsrath gesehen?“

[312] „Ich komme direct von ihm.“

„Wie erhielten Sie die erste Nachricht von seinem Tode?“

„Der Revier-Commissarius des Kriegsraths – wir wohnen in demselben Viertel – schickte schon vor acht Uhr zu mir, und ließ mich zu sich bitten, er habe mir etwas Wichtiges mitzutheilen. Ich erzählte Ihnen wohl schon, daß der Commissarius ein Landsmann von mir ist, und mir jede erlaubte Gefälligkeit erweist. Ich begab mich zu ihm. In seinem Zimmer fand ich eine mir nicht bekannte ältliche Frau vor, welche meine Ankunft abzuwarten schien.“

„Dies ist die Aufwärterin des Kriegsraths,“ sagte der Commissarius zu mir, „sie hat mir eben eine auffallende Mittheilung gemacht. Erzählen Sie dem Herrn, was Sie mir gemeldet haben, Frau Uschert,“ sprach er, zu der Frau gewendet. Ich erschrak, noch ehe ich Näheres vernommen hatte, denn Sie begreifen, eine Summe – doch entschuldigen Sie, das gehört nicht zur Sache – kurz die Frau erzählte, sie habe heute zur gewöhnlichen Stunde, Morgens um sieben Uhr, bei dem Kriegsrath geklingelt, ohne daß ihr geöffnet worden wäre. Sie habe darauf geklopft, wiederholentlich geklingelt, aber ebenso erfolglos. Ausgegangen könne der Herr nicht sein, denn er gehe niemals so zeitig aus. Etwas Außergewöhnliches müsse passirt sein, denn die Abendzeitung des vorigen Tages habe noch unter der Thürschwelle gelegen, obgleich der Herr jedenfalls des Abends nach Hause gekommen sein müsse.“

Der Commissar wandte sich an mich.

„Die Sache ist allerdings so angethan, daß ein polizeiliches Einschreiten gerechtfertigt erscheint. Ich weiß, wie sehr Sie bei diesem Todesfalle interessirt sind, und stelle Ihnen anheim, uns zu begleiten.“

„Natürlich nahm ich das Anerbieten an, ich zitterte vor Aufregung. Ein Schlosser wurde mitgenommen. Wir kamen, der Commissarius, ein anderer Polizeibeamter und die Aufwärterin mit dem Schlosser, in der Wohnung an; wir klingelten, Alles blieb still. Der Commissarius ließ die Thür zur Wohnung, welche nur mit einem einfachen Drückerschloß verschlossen war, öffnen. Von einem schmalen Corridor gelangten wir in ein unverschlossenes Wohnzimmer, nebenan liegt das Schlafzimmer; es war gleichfalls unverschlossen. Wir traten ein – der Kriegsrath lag in seinem Bette ohne ein Zeichen des Lebens.“

„Bemerkten Sie irgend etwas Auffälliges?“ fragte ich den Agenten hastig.

„Nicht das Mindeste.“

„Und der Commissarius?“

„Eben so wenig.“

„Was sagte der Commissarius?“

„Seine ersten Worte waren: Der Schlag hat ihn gerührt! Sonderbare Idee, bei geöffneten Fenstern zu schlafen!“

„Sie sagen, die Fenster waren geöffnet?“

„Allerdings!“

„Die des Schlafzimmers allein, oder auch die Fenster der übrigen Zimmer?“

„Nur die Fenster des Schlafzimmers.“

„War irgend eine Unordnung im Zimmer zu bemerken?“

„Nicht die geringste. Am Kopfende des niedrigen Feldbettes lag auf einem Nachttischchen die goldene Uhr und die Geldbörse des Kriegsraths. Ueberall im Zimmer herrschte die größte Ordnung und Sauberkeit.“

„Haben Sie oder der Commissarius irgend welche Wiederbelebungsversuche angestellt?“

„Das wäre vollkommen nutzlos gewesen.“

„Auf welche Weise überzeugten Sie sich davon?“

„Wir hoben seinen herabhangenden rechten Arm in die Höhe – er war kalt und starr; der Commissarius hob das Augenlid in die Höhe – die durchsichtige Hornhaut des Auges war glanzlos und runzlig.“

„Und der Hals –“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen. Nicht das mindeste Zeichen, das zu einem positiven Verdacht Anlaß geben könnte.“

„Wie lag der Körper?“

„Wie ein vollkommen ruhig Schlafender zu liegen pflegt.“

„Der Gesichtsausdruck?“

„Eben so ruhig, von dem Ausdruck des Schlafes nur durch eine gewisse Schlaffheit der Züge und einen leisen Anflug mattbläulicher Färbung des Gesichts unterschieden.“

„Und was thaten Sie ferner?“

„Ich war eben so rathlos als bestürzt. Der Commissarius bemerkte, es sei in der Sache nichts weiter zu thun, als dem Gericht schleunigst Anzeige zu machen, und inzwischen Alles unverändert zu lassen. Er verschloß die Wohnung wieder, versiegelte sie und hat eine Wache vor die Thür gestellt. In einer Stunde glaubte er mit dem Staatsanwalt und dem gerichtlichen Physicus wieder in der Wohnung sein zu können. Ich bin zu Ihnen geeilt, um von Ihnen Rath zu erbitten, was ich in der Sache noch thun kann.“

Was sollte ich rathen? Was sollte ich vermuthen? Sollte ich ohne irgend einen nähern Anhalt an ein begangenes Verbrechen, an einen Selbstmord glauben? Und wenn jener trübe Abschiedsblick mich auch wirklich nicht getäuscht hatte, berechtigte er zu weiteren Schlußfolgerungen, als zu der, daß der Verstorbene, wie so viele plötzlich von einem Nervenschlage Dahingeraffte, sein bevorstehendes Ende geahnt habe? Oder war ich berechtigt, mit voller Ueberzeugung anzunehmen, daß es der Verstorbene wirklich war, mit dem ich am Abend vorher unter dem nämlichen Obdach Schutz vor dem Unwetter gesucht hatte? Und wenn es wirklich der Fall gewesen, was folgte mit einiger Wahrscheinlichkeit daraus für die Annahme, daß die Todesart des Verstorbenen eine unnatürliche gewesen, das heißt zunächst eine selbstmördische? Denn dieser Punkt war es, der die Gesellschaft zunächst und am lebhaftesten interessirte. War ein Selbstmord als Todesursache erweislich, so war damit nach den Statuten die Police erloschen und die gezahlte Prämie verfallen.

Welche andere Gedanken mich auch sonst noch bei diesem unerwarteten Todesfalle bewegen mochten, ich war verpflichtet, ihn zunächst aus dem Gesichtspunkte eines Ereignisses zu betrachten, welches der Lebensversicherungsgesellschaft, die mir ihr Vertrauen zugewendet hatte, einen unmittelbaren und sehr erheblichen Geldverlust zu bereiten drohte. Ich hatte daher als Geschäftsmann alle meine Aufmerksamkeit darauf zu richten, ob eine der Bedingungen eingetreten war, mit welchen nach ziemlich allgemein übereinstimmenden Grundsätzen der Versicherungsverträge die Versicherung selbst steht und fällt. Dazu gehört insbesondere, außer dem Falle des Selbstmordes und des versuchten Selbstmordes, auch der, wenn der Versicherte durch einen ausschweifenden Lebenswandel, durch muthwillige oder mit augenscheinlicher Gefahr verknüpfte Handlungen seinen Tod herbeiführt oder beschleunigt. Es gehört ferner dazu, daß bei der sehr speciell gehaltenen Declaration in Betreff des Gesundheitszustandes, alle früheren Krankheitsfälle und alle etwaigen organischen Gebrechen mit größter Genauigkeit angegeben werden, damit die Versicherungsgesellschaft, zum Behufe der Wahrscheinlichkeitsberechnung über die präsumtive Lebensdauer, auch die kleinsten, oft gerade bestimmenden Details zu übersehen vermag.

Alles das sagte ich mir selbst nach kurzer Ueberlegung und kleidete mich schnell an, um den Agenten zu begleiten. Auch dieser hatte sich inzwischen gefaßt und schrieb, während ich mich ankleidete, einen vorläufigen Bericht über den Eintritt des Todesfalles an die Direction nach London.

(Fortsetzung folgt.)




Gellert und der Bildhauer Knauer.

Wenn man in Leipzig die Dresdner Straße, von der Stadt kommend, hinabgeht, sieht man eine einsame Kirche vor sich stehen, die ihren schlanken Thurm hoch in die Lüfte erhebt; sie erscheint so einsam, weil der Kirchhof, der sie früher umgab, weggeräumt ist, und somit die Todten ihre Kirche haben verlassen müssen. Nur ein Grab ist geblieben und das ist das Gellert’s. Es besteht in einer einfachen Steinplatte mit dem Reliefbildniß des edlen Todten und einer Anpflanzung von Cypressen, die einen kleinen, von einem Eisengitter umfriedeten Raum schmücken. Gellert allein, von Allen, die hier entfernt wurden, ist geblieben; an seine Ruhestätte hat die Hand, die hier aufräumte, nicht rühren dürfen. Aber wie lange wird er noch sein Plätzchen behalten? Vielleicht noch [313] fünfzig Jahre und es rollt auch hier ein Eisenbahnzug dahin, und man wird dann dafür sorgen müssen, das kleine Bette des Dichters, der, so lange die deutsche Zunge redet, immer ein theurer Name bleiben wird, anders wohin zu verlegen. Leipzig kann ohne seinen Gellert nicht sein.

Diese einsame Kirche und dieses einsame Grab, mitten im Gewühl des Lebens und Verkehrs, machen einen eigenthümlichen Eindruck. Auf diesem Platze münden die vier Hauptbuchhändlerstraßen, die Grimmaische, die Bosen- und Königsstraße und die Querstraße ein, in der Haus an Haus die bedeutenden Buchhändlerfirmen angeheftet stehen, die ihre Namen von den Ufern des baltischen Meeres bis zu den Straßen von New-York auszubreiten verstanden haben. Der Betrieb Leipzigs in diesem Fache ist ein außerordentlicher, und er wächst jährlich. Wenn man diese Straßen wandelt, so fallen einem aus frühester Jugend alle die schönen Bücher ein, die man auf den Weihnachtstischen gefunden, und später von den Angehörigen geschenkt bekommen; es kommen einem aber auch die Werke in’s Gedächtniß, an die sich der Gang und die Resultate unserer Bildung knüpfen, und die Mancher von uns, dem die Mittel nicht reichlich zugemessen sind, mit Anwendung seiner theuer erworbenen Ersparnisse zu einer Privatbibliothek erkauft. Die Geschichte so manches deutschen Gelehrten beginnt und endet in diesen Straßen. Es sind die Straßen der Hoffnung, des Stolzes, der Demüthigung und der Enttäuschung. Es gibt hier Häuser, in denen fortwährend Leichenbegängnisse der Eitelkeit gefeiert werden, und andere gibt es, die Tempel des Ruhmes sind, und wieder andere, wo man Namen aus der Taufe hebt, die bestimmt, einst Deutschland mit ihrem schönen Klange zu erfreuen. Wer in Deutschland schrieb wohl je eine Zeile, die nicht, wenn auch nur als Manuscriptconvolut, durch eine dieser Straßen wanderte? Zarte Frauen, in Spitzenschleiern und in Seidenroben, stehlen sich in später Abendstunde, wenn all diese hundert Lampen in den Souterrains der Comptoirstuben brennen, an den Häusern hin; sie suchen keinen Geliebten, sie suchen – einen Verleger. Welche dieser Thüren wird sich ihnen öffnen? Welche Hand wird sie ihrer Bürde entledigen, des mit rosenrothen Bändchen zusammengeschnürten zierlich geschriebenen Manuscripts, das irgend eine wundersame Liebesgeschichte in nicht endenden Capiteln enthält? Ach, diese ungalanten Ritter der Tafelrunde, die statt bei Pokalen bei Tintenfässern sitzen, sie wissen nichts von der Dienstbeflissenheit, mit der man Damen in Nöthen beispringen muß, sie lassen die Schöne weiter wandern, und sie wandert fort, die lange, lange Straße hinab, Gellert’s Grab vorbei, und wenn sie am Schluß dieser hartherzigen grausamen Straße ist, die so viel steinerne Buchhändler-Herzen, wie steinerne Treppen zählt, so wünscht sie sich, ermüdet, des Dichters Grab zu theilen, da sie dessen Ruhm nicht theilen kann. Glücklich, wer diese Straßen, von denen die Königsstraße die schönste und mit Buchhändlern am meisten gesegnete ist, wandelt im Gefolge von fünfzehn Auflagen seines Werkes! Ihm schimmert jede Firma golden entgegen, er fühlt die scharfen, spitzigen Steine dieses Pflasters nicht, das gerade in diesen Straßen schlimmer ausgefallen ist, als in allen übrigen Leipzigs, er empfindet nichts vom scharfen Luftzuge, der hier weht, er und seine fünfzehn Auflagen gehen siegreich hindurch.

Gellert’s Grab.

Gellert’s Leben war ein bescheidenes und einfaches. Er war und blieb der Leipziger Professor trotz aller Versuche, ihn in das frivole Weltleben und in die vornehmen Bekanntschaften zu ziehen. Er correspondirte viel mit einflußreichen Personen, aber man hat nicht vernommen, daß er durch sie etwas zu erlangen strebte; gerade diese Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit zierte den Mann und flößte vor ihm Respect ein. Es ist hier nicht der Ort, über Gellert’s [314] Verdienste zu sprechen, es ist nur von seiner Popularität die Rede, die er sich in einem seltenen Grade zu erwerben verstand. Sein eitler und hochmüthiger Zeitgenosse Gottsched ist vergessen, während Gellert noch seine Verehrer und Freunde hat, während seine Fabeln noch in unsern Tagen neu aufgelegt worden sind. Es ist demnach eine dankbare Aufgabe für einen Künstler, das Bild dieses Mannes, in der charakteristischen Gestalt, in der er auf die Nachwelt übergegangen, dem Publicum zu übergeben. Herr Knaur[WS 1], ein junger Bildhauer in Leipzig, hat dies gethan, wie uns dünkt, in höchst gelungener Weise.

Der Schreiber dieser Zeilen sah in dem Atelier des Künstlers eine Statuette, die er auf Wunsch eines Kunstfreundes mit großer Liebe für seinen Gegenstand gefertigt hatte, und die den Dichter darstellt, wie er in religiöser Contemplation versenkt, die Blicke nach Oben gerichtet, die Hände im Schooß gefaltet, in einer halb schreitenden aufrechten Stellung dasteht. Blick und Gebehrde sind einfach und wahr, der Ausdruck ungesucht und mit tiefer Innerlichkeit der Situation angepaßt, mit einem Wort, es ist ein bedeutendes, erhabenes und erfreuendes Bild, und wäre dieser brave, junge Künstler nicht bereits durch andere Arbeiten schon ehrenvoll bekannt, diese Statuette Gellerts müßte ihn in Ruf bringen. Leider ist die schöne Arbeit wenig außerhalb Leipzig bekannt. Es scheint sich an den Namen Gellert das anspruchlose und sich in Dunkel verbergende Verdienst, wie an seinen Patron zu knüpfen; doch erfüllt hier der Berichterstatter gern den Beruf, das Schöne und Gelungene, wo er es findet, an’s Licht zu ziehen. Die Statuette kann deshalb besonders eine gelungene Arbeit genannt werden, weil wir aus unserer frühesten Erinnerung uns den beliebten Mann so zu deuten gewohnt sind, wie er hier vor uns steht. Es hat dazu ein aus dem Leben gegriffener Zug dem Künstler als Motiv gedient.

Gellert war mehre Jahre hindurch Stubennachbar des Mannes gewesen, dessen Sohn bei dem Künstler sein Bild bestellt hat. Wie er es aber dem Knaben oftmals erzählt, war er, durch die dünne Bretterwand lauschend, öfters Zeuge gewesen, wie Gellert, in frommen Morgenbetrachtungen versenkt, und halblaut vor sich hin ein Gebet sprechend, in der Stube auf- und abgeschritten sei. Nach diesen Mittheilungen ward Stellung und Miene gemalt, und der geistvoll durch feine, charakteristische Züge belebte Kopf zeigt nichts von süßlicher Sentimentalität, wohl aber den tiefen Ernst und das gläubige Sinnen eines in sich vollendeten und abgeschlossenen frommen Denkers. Besondere ist die Wendung des Kopfes schön, und es war dabei mehr als eine Schwierigkeit zu besiegen, unter denen die hauptsächlichste gewiß die ist, in der Aufrichtung des Blicks nach oben die richtige Grenze zu beobachten zwischen Exaltation und contemplativer Ruhe.

Gellert durfte nicht als Schwärmer, nicht als Fanatiker bezeichnet werden, es hätte seinen Charakter völlig mißverstehen geheißen, wenn man aus ihm einen Schwärmer oder gar einen Frömmler gemacht. Dabei ist das Seelenvolle, das innerlich Bewegte in den freien Linien des ein wenig geöffneten Mundes als quöllen die Segensworte eben über die Lippen, nicht vergessen. Die Kleidung ist die einfache Gelehrtentracht der damaligen Zeit, doch sind auch hier die Linien mit Feinheit behandelt, so daß das Steife, Geregelte jener für die Sculptur nicht sehr günstigen Gewandung bestmöglichst vermieden ist. Die Figur ist schlank und fast schwebend, ohne dabei dürftig oder dürr zu sein. Bekanntlich war Gellert sehr mager und schrumpfte in den letzten Lebensjahren fast zur Mumie zusammen.

Der Künstler hat, ohne dabei die Fingerzeige, die ihm die Natur gegeben, zu übersehen, eine glückliche Mitte gehalten zwischen einem schlanken und einem abgemagerten Körper. Man sieht dieser Gestalt an, daß es ein Stubengelehrter, daß er kränklich war, und dennoch ist kein das Auge beleidigendes Merkmal der Krankheit oder des Verkommenseins gegeben: der Geist hat seinen Hauch mildernd über die Leiden des Körpers ausgegossen.

Wer den alten ehrlichen Leipziger Professor lieb hat, der wird gern sein Bild auf den Schreibtisch stellen, wenn ein guter Bronzeabguß im Handel wird vorhanden sein, und wer auch von dem Manne, seinem Dichten und Leben nichts oder wenig weiß, hat an dieser Statuette doch eine schöne, mit inniger Seelenwärme gearbeitete Dichtergestalt. Unter den Heroen des deutschen Parnasses wird er eine bescheidene, aber nicht die letzte Stelle einnehmen. Der Künstler jedoch, der dieses Gebild schaffen konnte, darf in unserer Mitte kein Fremder sein, er hat an der Lösung dieser einen Aufgabe gezeigt, daß ächt deutsches Leben, ächt deutsche Einfachheit und Demuthswärme seine schöpferische Kraft beseelt.




Die Handwerkernoth,
ihr Grund und die Mittel zu ihrer Hebung.
Von Schulze-Delitzsch.
Nr. 3.

Haben wir im Vorigen die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur alten Zunftverfassung mit dem, was ihr anhängt, dargethan, indem wir dabei möglichst den eigenen Vorstellungskreis der Handwerker inne zu halten suchten, so ist es nun an der Zeit, uns zu einem höheren Standpunkte zu erheben, und die Forderungen der Handwerker hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit zu prüfen, ihre Rückwirkung auf die wirthschaftlichen Zustände des ganzen Volkes, auf das Wohlbefinden aller Classen der Gesellschaft, in das Auge zu fassen.

Es kann nun aber selbstredend in volkswirthschaftlicher Hinsicht die Thätigkeit der Handwerker und das, was ihnen dafür gebürt, keinem andern Maßstabe unterliegen, wie die Thätigkeit aller andern Arbeiter, welchem Fache sie auch angehören, eben weil jeder Unterschied hier, jede Bevorzugung der einen Classe vor der andern, eine Ungerechtigkeit wäre. Dieser einzig gerechte, für alle gleiche Maßstab, wonach sich der Preis jeder Arbeit bestimmt, ist aber der Werth derselben für die menschliche Gesellschaft.

Um hier einer Menge vorgefaßter Meinungen und nichtiger Ansprüche von vornherein entgegenzutreten, wird es nothwendig, der Sache einmal auf den Grund zu gehen, und eine anscheinende Abschweifung nicht zu scheuen, welche allein im Stande ist, uns zum Ziele zu führen.

Das Dasein der Menschen ist an vielfache Bedürfnisse geknüpft. Um diese zu befriedigen, wird eine zahllose Menge von Dingen erfordert, welche zu unserer materiellen Existenz entweder nothwendig oder nützlich oder angenehm sind. Diese Dinge herzustellen, ist die Aufgabe der menschlichen Arbeit, und nur in dem Grade, in welchem sie diesen Zweck erfüllt, hat die Arbeit überhaupt einen Werth für die Gesellschaft.

So gelangen wir zu einem höchst wichtigen Satz, der, so selbstverständlich und einfach er an sich erscheint, doch so häufig verkannt wird, daß sich daraus die meisten Verkehrtheiten auf dem vorliegenden Gebiete ableiten lassen.

Es kann nämlich nach dem Gesagten, wenn man als den unbestritten einzigen Zweck der Arbeit die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse festhält, niemals darauf ankommen, ob Jemand überhaupt thätig ist, sondern nur darauf, was er mit seiner Thätigkeit wirklich schafft: auf das Resultat der Arbeit also, nicht auf den Act des Arbeitens. Denn nur die Producte der Arbeit dienen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse, nicht das bloße Beschäftigtsein Jemandes an sich. Dadurch z. B. daß der Bäcker seinen Ofen heizt, den Teig knetet u. s. w., mit einem Worte: daß er arbeitet, wird noch Niemand satt, sondern nur erst durch das Brod, das er liefert, das Endergebniß, das Product seiner Arbeit. Daß Jemand also nicht müßig gehe, seine Kräfte übe, etwas lerne u. s. w., mag für ihn, als Einzelnen, von Nutzen und Interesse sein, aber für die Gesellschaft hat es keinen Werth, weil durch eine solche Thätigkeit Nichts geschafft wird, was zum Gebrauche eines Andern dient. Nur dann, wenn ein Dritter das Erzeugniß des Arbeiters für seinen Bedarf in Anspruch nimmt, hat der Arbeiter das Recht auf eine Gegenleistung, auf Lohn, und nur bei einem solchen Austausch von Leistung und Gegenleistung kann von einem Werthe der Arbeit die Rede sein.

Die Dinge, die Jemand fertigt, müssen tauschbar sein, es muß sie ein Anderer haben wollen, es muß Etwas im Verkehr dafür zu erhalten sein, darum dreht sich die ganze Sache. Wer also mit allem seinen Thun überhaupt gar Nichts hervorbringt, [315] oder Gegenstände, welche Niemand brauchen kann, welche keines Menschen Bedürfniß befriedigen, dessen Arbeit ist werthlos, der hat keinen Anspruch, dafür bezahlt zu werden, mag er sich dabei noch so sehr geplagt, noch so viel an Zeit und Kosten aufgewendet haben. Gesetzt, es fiele Jemand ein, alberne Figuren aus Käserinde zu schnitzen, und er ließe sich es einige Schock Käse und mehrere Wochen Zeit kosten: würde man ihn nicht auslachen, wenn er nun für seine Producte, die kein Mensch brauchen kann und Niemand haben will, auf einen Preis bestände, nach Verhältniß der aufgewendeten Kosten und Mühe?

Daß übrigens der Austausch von Leistung und Gegenleistung, worauf Alles ankommt, nur im freien Einvernehmen der Betheiligten vor sich gehen kamt, versteht sich von selbst. „Gib oder thue mir das, ich gebe oder thue Dir das dafür,“ sagt der Eine, und es ist Sache des Andern, sich darüber zu bedenken und zustimmend oder ablehnend zu erklären. Denn über das, was Jemand bedarf, und was er an die Befriedigung eines Bedürfnisses setzen will, ist, der Natur der Sache nach, als über Etwas seinem eigensten Begehrungs- und Empfindungskreise Angehöriges, kein Dritter außer ihm zu entscheiden im Stande und befugt. Sobald aber dem Einvernehmen über die Brauchbarkeit einer Sache die Einigung über die Gegenleistung, über den Preis, welchen der Abnehmer dafür gewähren soll, hinzutritt, ist Alles abgemacht, und wir erhalten in der Forderung von der einen und in deren Bewilligung von der andern Seite, in Angebot und Nachfrage, die beiden Factoren, welche über den Werth eines Artikels entscheiden.

Wohlgemerkt also: nicht dasjenige, was ein bestimmter[WS 2] Producent an Zeit, Mühe und Kosten aufwendet, um eine Sache herzustellen, bestimmt deren Werth, wenn es auch auf seine Forderung von Einfluß sein mag, sondern die größere oder geringere Schwierigkeit für den Consumenten, eine Sache zu erhalten. Mag die Forderung des Producenten von seinem Standpunkte noch so angemessen sein, der Consument braucht nicht darauf einzugehen, so lange er die gleiche Sache anderswoher wohlfeiler erhalten kann. Und hier stehen wir an dem eigentlich praktischen Kern der ganzen Frage. Denn eben der Umstand, daß ihre Producte immer weniger nach Verhältniß dessen bezahlt werden, was sie an Zeit und Kosten aufwenden, sie zu fertigen, ist ja die Hauptklage unserer Handwerker.

So billig es nun auf den ersten, flüchtigen Blick erscheinen möchte, wenn jedes Arbeitsproduct seinem Verfertiger nach Verhältniß der von ihm bei dessen Erzeugung aufgewendeten Zeit, Mühe und Kosten bezahlt werden müßte, so wäre dies doch nicht nur die größte Ungerechtigkeit, sondern auch das entsetzlichste Unglück für die ganze menschliche Gesellschaft, die Arbeiter selbst mit eingeschlossen. Denn dadurch würde nur der Faulheit, Dummheit und Ungeschicklichkeit Vorschub gethan, und aller und jeder Antrieb zu tüchtigem, fleißigem Geschäftsbetrieb vernichtet, was am Ende zur unausbleiblichen Folge hätte, daß die zur Befriedigung des Gesammtbedürfnisses der Menschheit erforderlichen Güter in immer geringerer Menge und schlechterer Beschaffenheit erzeugt werden würden.

Man nehme nur auf der einen Seite einen fleißigen, geschickten, umsichtigen Arbeiter, der eine Sache anzugreifen weiß, die rechten Bezugs- und Absatzquellen kennt, auf gute Werkzeuge und Material hält – und auf der andern Seite einen faulen, ungeschickten, der nöthigsten Geschäftskenntniß entbehrenden, mit schlechtem Werkzeug und schlechtem und theurem Material versehenen. Was der erste in wenigen Tagen mit mäßigen Kosten herzustellen im Stande ist, dazu braucht der andere Wochen, und hat ungleich mehr Unkosten, weil er nicht alle Vortheile im Betriebe zu nutzen weiß und noch dazu Manches an Material und sonst unnütz verwendet und verdirbt. Schließlich aber sind die Erzeugnisse Beider auch noch in ihrer Qualität himmelweit verschieden. Was wäre nun die Folge, wenn der so vielfach belobte Grundsatz über den Werth der Arbeit entschiede? Offenbar die: daß der schlechte Arbeiter für sein schlechtes Erzeugniß einen zwei- bis dreimal höhern Preis erhielte, als der tüchtige für seine bessere Arbeit, weil jener mehr an Zeit und Kosten aufgewendet, es herzustellen! Gewiß das Verkehrteste, was sich nur denken läßt!

Nein, was alsdann gilt, wenn Jemand durch seine Thätigkeit gar Nichts, oder nur (gleich jenem Käseschneider) völlig unnütze Dinge, nach denen kein Mensch verlangt, producirt: daß nämlich eine solche Thätigkeit für die Gesellschaft werthlos ist und keinen Anspruch auf Lohn hat: das muß natürlich auch für den Fall gelten, wo Einer zwar etwas an sich Brauchbares hervorbringt, allein ein Mehr an Zeit und Kosten darauf verwendet, als bei vernünftigem Betriebe dazu erforderlich ist. Denn dieses von ihm verwendete Mehr an Zeit und Kosten ist für den eigentlichen Arbeitszweck ebenso verloren, dieser Theil seiner Arbeit und seines Capitals gerade ebenso vergeblich vergeudet, als bei jenen völlig nutzlosen Beschäftigungen das Ganze, und das Product beider für die Gesellschaft gleich Null. Einen Lohn darauf setzen, hieße also der Trägheit, dem Ungeschick, der zwecklosen Verwendung von Arbeitskraft und Mitteln eine Prämie ertheilen, und daß dies zum allgemeinen Ruin führen müßte, kann sich Jeder selbst sagen. Es ist daher unsinnig, die vollkommene Gerechtigkeit des wirklichen, durch das Bedürfniß der Consumenten bedingten, in Angebot und Nachfrage zur Erscheinung kommenden Werthmaßstabes für alle und jede Arbeitsproducte zu bestreiten, da dies geradezu den Zweck aller menschlichen Arbeit in Frage stellt und den daraus folgenden von uns erläuterten Hauptgrundsatz: daß jede Thätigkeit nur nach ihren wirklich brauchbaren Resultaten abgeschätzt werden kann, in das Gegentheil verkehrt.

Das Publicum fragt niemals, was ein Erzeugniß diesem oder jenem Producenten an Zeit und Auslagen gekostet hat, sondern bezahlt die Waaren nur darnach: „was ihre Herstellung nach dem derzeitigen Stande der Industrie unter Benutzung aller Hülfsmittel der Production und des Verkehrs, bei einsichtigem, tüchtigem Betriebe zu stehen kommt.“ Und darin hat das Publicum ganz Recht. Es ist Sache des Producenten, sich die erforderliche Tüchtigkeit in seinem Gewerbszweige anzueignen, und niemals kann den Consumenten zugemuthet werden, für jeden Mißgriff, jedes Ungeschick, jeden Mangel in zweckmäßiger Betriebsweise, welches Alles die Production kostspieliger macht, zu bezahlen, indem dafür gerechter Weise nur der zu büßen hat, dem sie zur Last fallen.

Das Vorstehende ergibt zugleich, was man von dem vielfachen Geschrei gegen die freie Concurrenz als eine Hauptquelle des socialen Elends zu halten hat, gegen die Concurrenz, die Seele alles Verkehrs, den einzig wirksamen Regulator des Werthes, der jedem sein gerechtes Theil zumißt! Nur durch den Wetteifer Vieler, von denen Jeder, um seine Producte möglichst rasch und zu möglichst günstigen Bedingungen zu verwerthen, unablässig bemüht ist, seine Betriebsweise zu verbessern, wird die Herstellung der Gesammtmasse der Güter immer vollkommener und billiger und ihr Besitz immer weiteren Kreisen zugänglich. Hebt man die Concurrenz auf, so daß einige wenige Producenten sicher sind, daß man ihnen ihre Waaren abnehmen müsse, sie mögen sein, wie sie wollen, wo bleibt da der Sporn, Gutes und Tüchtiges zu leisten? Und wie vollständig haben sie das Publicum mit den Preisen in der Gewalt, das, wenn es die einschlagenden Artikel einmal haben will, die unbilligsten Forderungen gewähren muß. Für den ungeschickten, faulen, unsoliden Producenten freilich läge in einer solchen Einrichtung das Paradies, welches ihm die Tauben gleich gebraten in den Mund lieferte. Allein für den strebsamen, tüchtigen Mann wäre es der Ruin, sobald Fleiß, Geschicklichkeit und Umsicht nicht mehr auf dem Felde des Verkehrs über den Erfolg entscheiden sollten.

Zum Glück ist die Durchführung eines solchen wider die Natur des menschlichen Verkehrs streitenden Systems unmöglich, und wenn wir auch hier und da noch einzelnen Privilegien und Monopolen begegnen (man denke an die Salz- und Tabaks-Regie mancher Regierungen) so sind dieselben doch höchst vereinzelt und werden vielfach umgangen, indem sich der Schmuggel, die unselige Folge einer unseligen Maßregel, als unausbleibliche Reaction dagegen etablirt. Denn es ist und bleibt nun einmal die Grundbedingung alles Handels und Wandels, daß der Austausch der Producte im freien Einvernehmen der Betheiligten sich vollziehe. Wie es dem Producenten freistehen muß, zu verkaufen, an wen und zu welchem Preise er will, so muß auch der Consument die volle Freiheit haben, zu kaufen, von wem und zu welchem Preise ihm ansteht. Das entgegenstehende Interesse beider Theile, vermöge dessen der Producent so theuer als möglich seine Arbeit absetzt, und der Consument seinen Bedarf so billig als möglich anschafft, findet aber nur in der Concurrenz seine Ausgleichung, welche ja nicht blos auf der einen, sondern auf beiden Seiten Statt findet. Während sein Interesse den Verkäufer antreibt, den möglichst hohen Preis zu fordern, nöthigt ihn die Concurrenz, sich vor Ausschreitungen zu [316] hüten, damit nicht ein Mitproducent ihn unterfordere und er mit seiner Waare sitzen bleibt. Und während andererseits das Interesse des Käufers denselben bestimmt, den möglichst niedrigen Preis zu bieten, hindert ihn wiederum die Concurrenz, zu weit zu gehen, weil sonst ein anderer Liebhaber ihm die Waare vorwegkauft.

So vermag sich nur mittelst der freien Concurrenz in Angebot und Nachfrage der wahre Werth der Güter im wahren Interesse aller Theile herauszustellen, indem die Bestimmung darüber auf diese Weise der Willkür der Einzelnen, der Producenten sowohl wie der Consumenten, entrückt und gewissermaßen auf eine Gesammtschätzung des ganzen Publicums, des producirenden, wie des consumirenden, zurückgeführt wird.




Ein Kind, das seine Eltern sucht.


Am 27. Februar 1841, kurz vor 7 Uhr Abends, zu einer Zeit also, wo die Sonne bereits untergegangen, trat aus einem Gäßchen neben dem Gasthof zum Roß eine ältliche, in dunkeln Mantel gehüllte Frau auf den „Kornmarkt“ der altenburgischen Stadt Ronneburg, und ging auf einen 14jährigen Knaben zu, welcher eben für seinen Pflegevater Bier in der dortigen Rathskellerei geholt. Die Frau fragte nach dem ersten Geistlichen (dem Obergeistlichen) des Orts. Der Knabe, unbekannt mit den geistlichen Verhältnissen seiner Vaterstadt, nannte der Fragenden mehre Geistliche und unter Andern, seiner Meinung nach, als Oberprediger den Adjunct R., zu welchem die Frauensperson nun von dem Knaben geführt sein wollte. Dieser geleitete die Fremde in die große Kirchgasse, zeigte ihr hier das Haus des Adjuncten, und wollte nach geleistetem Dienst seinen Weg gehen, um des Meisters Durst zu löschen. Das aber lag nicht in dem Plane der Frau, sie blieb plötzlich stehen, zog ein weißes Packet unter dem Mantel hervor, gab es dem Knaben mit der Bitte, dasselbe zum Oberprediger zu tragen, sie selbst wolle um Mittag des andern Tags sich dort einstellen, und ging, nachdem sie noch dem Knaben zwei Zweigroschenstück für den Weg und einen unadressirten Brief zur Uebergabe mit dem Packete eingehändiget, nach dem Markte zu, wo sie im Dunkel der Nacht verschwand. Außer dem dunkeln Mantel war die Geheimnißvolle nur noch an einem etwas fremdartigen Dialekte (oder, wie der Knabe bemerkte „vornehm“ sprechend) und an einem Hinken des rechten Fußes kennbar.

Peter, der Knabe, trat, um seinen Auftrag auszurichten, eine mit den Enden zusammengeknüpfte Serviette am Arme hängend, in das geistliche Haus, wo er die Frau und Tochter des Predigers anwesend fand, denen er Bündel und Brief übergab. Die Frauen, vermuthend, das Päckchen komme als Vorläuferin einer Freundin, öffneten, um sich von der Wahrheit ihrer Vermuthung zu überzeugen, die Serviette, hoben das oben aufliegende Flanellstückchen weg und – da streckten sich ihnen zwei kleine liebliche Kinderärmchen entgegen. Man denke sich die Ueberraschung der beiden Frauen.

„Ach Gott, ein Kind, ein Kind!“ tönte es aus einem Munde, die Mutter aber bemerkte dabei:

„Das ist eine Geschichte wie an den Scheunen, nur besser[3].“

Man rief den Vater und die Schwestern herbei, wies ihnen den Fund und berathschlagte, was zu thun sei.

Das Ergebniß war: man band die Serviette behutsam wieder zu, ließ vom Dienstmädchen das Kind tragen und schickte dieses nebst Petern, der vorher noch seinen Pflegevater, den Zeugmacher S., dazu abgeholt hatte, in das Justizamt, wo nun alsbald Abends gegen 8 Uhr, die Untersuchung begann.

Doch geben wir erst den das Päckchen begleitenden Brief der – unglücklichen oder leichtsinnigen Mutter mit diplomatischer Genauigkeit:

 „Ihro Hochwürden!

„Die unglücklichste Person liegt vor Ihnen auf den Knieen, und fleht Sie für ein armes, unschuldiges Kind um Erbarmen an, Gottes Barmherzigkeit und Milde ist ohne Ende, Sie sind auf Erden sein Stellvertreter, eine Mutter, deren Herz durch die Trennung von ihrem Kinde beinahe bricht, fleht Sie bei Ihrer ewigen Seligkeit an, das Kind bei guten Leuten unterzubringen, die ihm eine gute rechtliche Erziehung geben. Die Verhältnisse fügen sich vielleicht bald so, daß die wahren Eltern ihr liebes Kind wieder zu sich nehmen können, nur jetzt würde eine ganze Familie unglücklich, wenn die Geburt des Kindes ruchbar würde; es ist den dreizehnten Februar geboren, geben Sie ihm in der heiligen Taufe die Namen: Clara Adelheid Charlotte S…r[4], o Gott im Himmel, wo soll ich Worte finden, um meinen Schmerz, meine Verzweiflung zu schildern und ihr Herz für das unglückliche Geschöpf zum Mitleid zu stimmen, doch Ihr milder Sinn ist mir bekannt, Sie üben die Lehren der Religion nicht blos in Worten, Sie thun auch Ihre Worte. Um das Maß Ihrer Güte und Mildherzigkeit zu vollenden, suchen Sie jede Untersuchung zu verhindern, es ist unmöglich, die wahren Eltern zu entdecken, gönnen Sie einer Mutter den Trost, ihr Kind unerkannt und unbeobachtet öfters zu sehen und betrachten Sie alles wie ein Geheimniß was Ihnen unter dem Siegel der heiligsten Beichte anvertraut ist.“

Man sieht, der Brief ist, bis auf einige, namentlich Interpunctionsfehler, von einer nicht unbewanderten Briefstellerin geschrieben. Die Schriftzüge verrathen keine Schönschreiberin, aber eine geübte Hand und lassen kaum eine Verstellung der Handschrift annehmen. Beschäftigen wir uns nun, bevor wir das weitere Schicksal des Findlings geben, mit dem Gange und dem Resultate der Untersuchung.

Noch an demselben Abende zeigte, auf die die Stadt bald durchlaufende Kunde, ein heimkehrender berittener Gensd’arm an, daß er zwischen sieben und acht Uhr auf der Straße von Ronneburg nach Gera, etwa zehn Minuten vom erstern Orte entfernt, eine Frauensperson in einem dunkeln Mantel, auf dem rechten Fuße hinkend, gesehen habe. Auf diesen Fingerzeig hin sattelte ein Amtsdiener sein Pferd und ritt sofort den Weg nach Gera zu. Hier begegnete er erst der von da herkommenden Ronneburger Botenfrau, welche ihm, wie dieselbe auch bei ihrer spätern Anhörung deponirt, erzählte, daß sie an der (Altenburg-Reußischen) Landesgrenze gegen 8½ Uhr einer sehr langsam dahin gehenden, in einen dunkeln Mantel gehüllten Frauensperson begegnet sei, die über Weg und Wetter (Schneegestöber) geklagt habe. Ziemlich dasselbe sagte auch eine die Botenfrau begleitende andere Frauensperson aus. Ob diese Fremde mit dem Fuße gehinkt, hatten Beide nicht bemerkt. Der Gensd’arm setzte hierauf, die genannte Spur verfolgend, seinen Weg nach Gera fort, wo er den Vorfall dem dortigen Criminalgerichte anzeigte. Die augenblicklich in den Geraer Gasthäusern vorgenommenen Recherchen blieben eben so fruchtlos, wie die in Ronneburg stattgefundenen.

Es erfolgten nun Bekanntmachungen in dem Altenburger Amts- und Nachrichtsblatte, in der Leipziger Zeitung, in den damaligen Möbeschen Mittheilungen zur Beförderung der Sicherheitspflege und in dem Eberhard’schen Polizei-Anzeiger, allein überall erfolglos.

Die Ronneburger Criminalbehörde glaubte in der oben erwähnten frühern Kindaussetzung und einigen andern Umständen eine Vermuthung zu finden, daß beide (das todte und das lebende) Kinder von Gera herübergebracht worden, und daß Mitglieder einer in Gera gewesenen Schauspielertruppe betheiligt sein könnten. Die Truppe war bereits nach Halle weiter gepilgert. Es begann nun das dortige Inquisitoriat seine Thätigkeit, und richtete dieselbe namentlich gegen eine Schauspielerin K., welche, in zufriedener Ehe, jedoch eben getrennt von ihrem Gatten lebend, einer heimlichen Liebe beschuldigt wurde. Allein es bestätigte sich weder diese letztere, noch gelang es der gedachten Behörde, sonst einiges Licht in die Sache zu bringen. Nicht glücklicher war das Inquisitoriat zu Magdeburg, welches, da die Truppe von Halle dahin sich gewendet hatte, die begonnene Untersuchung fortsetzte, schließlich aber erklärte, daß man, bei mangelnden genugsamen Anzeichen, Anstand genommen habe, wider die Angeschuldigten durch förmliche Eröffnung der Specialinquisition zu verfahren.

Damit schloß die Untersuchung gegen die K. und ihre Mutter, und wir möchten unserer Seits auch kaum einen Stein gegen Beide aufheben. Erwägt man, daß es der K. kaum möglich gewesen, ein

[317]

Eine türkische Christin in Silistria.


neugebornes Kind vom 13. bis 27. Februar unbemerkt – denn keine Person ihres Hauses und Umganges in Gera hat nur eine Spur oder Vermutung hiervon gehabt – in ihrem kleinen Miethlogis zu verbergen; daß ferner die 60jährige Mutter K. schwerlich in den Abend- und Nachtstunden des 27. Februar bei Schneegestöber einen Weg von zwei Stunden von Gera nach Ronneburg und zurück zu Fuße habe machen können; daß ein vierzehntägiges, noch so gut verpacktes Kind, bei solchem Wetter und solcher Kälte kaum einen zweistündigen Transport durch eine Fußgängerin aushalten kann; und daß das von dem Inquisitoriate zu Halle aufgenommene genaue Signalement eines Lahmgehens der Wittwe K. nicht erwähnt, so kann man den Beschluß des Inquisitoriats zu Magdeburg nur gerechtfertiget finden.

Bevor wir aber zu unserem Findling zurückkehren, müssen wir noch einer Episode gedenken, weil unsere Acten sie erwähnen.

Derselbe Knabe Peter, dessen wir im Eingange gedachten, zeigte am 4. Juni 1841, also gegen vierzehn Wochen nach seinem Funde, dem Justizamte Ronneburg an: als er am Abend des vorigen Tages gegen sechs Uhr in einer häuslichen Verrichtung für seine Meisterin ausgegangen war, und an die Ecke eines bezeichneten Hauses am Markte gekommen, habe ihm ein Knabe gewinkt. Er sei nicht gleich darauf zugegangen, habe vielmehr erst den Auftrag der Meisterin ausgeführt, als er sich aber dann nach dem Knaben umgesehen, diesen nicht mehr gesehen; dafür sei ein fremder Herr auf ihn zugekommen, welcher ihn gebeten, in den von der Stadt etwas ab nach Mitternacht zu gelegenen Naulitzer Grund zu gehen, wo Peter seine, des Fremden, Frau treffen werde; dieser solle er mittheilen, daß er, der Fremde, noch eine halbe Stunde in der Stadt zu verweilen habe, und so lange möge sie seiner in dem Grunde warten. Er, Peter, habe aber die ihm genau beschriebene Frau an dem bezeichneten Orte nicht gefunden, und sei daher wieder um und nach der Stadt zurückgekehrt und unterwegs dem Fremden begegnet, welcher, über das unterlassene Aufsuchen der Frau unwillig, mit der Hand nach ihm ausgeholt. Er sei darüber heftig erschrocken und ausgerissen, und als ein anderer junger Mensch seiner Bekanntschaft dazu gekommen, sei der Fremde in das dort befindliche Holz gesprungen.

Weiter ließ sich über den räthselhaften Fremden nichts und noch weniger über dessen Frau ermitteln. Ob dieser Vorfall mit der Geschichte unseres Findlings zusammenhing, hat man nie erfahren. Wir mußten ihn aber geben, weil derselbe nun einmal actenmäßig geworden.

[318] So war denn alle Spur verschwunden und nur das liebliche kleine Mädchen geblieben. Begeben wir uns zu ihm in das Amthaus, und untersuchen zuvörderst – denn es ist ja ein Mädchen – dessen Toilette. Das Kind, sagt das amtliche Protokoll, lag auf einem Federkissen von grau- und weißgestreiftem Barchent mit weißleinenem Ueberzuge. Das Bett war um den Leib des Kindes mit einem weißleinenem Tuche zusammengebunden, und über das Tuch eine gestrickte baumwollene, vier Ellen lange Binde gewickelt.[5] Oben zur Seite des Kindes lag im Bett ein Nutschbeutel (sogen. Zulp) mit klarem Zwieback. Bekleidet war das Kind mit einer Mütze von rosafarbenem Atlas mit einem Vorstoße von weißem Schwan und einem schmalen, rosafarbenen Blondenbesatze, darunter befand sich ein anderes kleines Mützchen von weiß genähtem Grunde, mit einem breiten Mullstreifen und schmalem Rosaband besetzt. Unter dem Kinne lag ein Stück weiße Leinwand. Um den Hals war ein feines baumwollenes Tuch gebunden. Das Kind trug überdies ein Käppchen mit Aermeln von weißem Piqué, und darunter ein Hemdchen von weißem Kattun mit einem Halsstreifen von Gaze.

Der hinzugezogene Amtsphysicus, Medicinalrath K., fand das Kind vollkommen gesund, durchaus tadellos, wohlgenährt, mit schönem Kopfe, und schätzte sein Alter auf vierzehn Tage, was mit der Angabe in dem Briefe der Mutter übereinstimmte. Jetzt galt es, für die Verpflegung des Fundes zu sorgen. Diese fand sich bald. Die Frau des in Ronneburg stationirten Gensd’amen B., welche acht Tage zuvor entbunden worden war, unterzog sich bereitwillig der Wartung und Pflege des Findlings, welcher am 1. März auf den Namen Ida Thurecht Ottilie[6] getauft und in der Person eines sehr geachteten Mannes, des damaligen Advocaten und Gerichtsdirectors J., einen Vormund bestätigt erhielt, wie denn überhaupt vom Amte und Stadtrathe mit lobenswerther Sorgfalt des Kindes sich angenommen wurde, bis am 23. März in Folge der ergangenen öffentlichen Aufforderungen ein Menschenfreund sich für das kleine Wesen fand, ein wahrer Engel vom Himmel gesendet, dem lieblichen Kinde das zu ersetzen, was es nur vierzehn Tage genossen hatte, Mutter- und Elternliebe.

Der Kaufmann B. in dem benachbarten sächsischen Städtchen N., selbst kinderlos, entschloß sich mit seiner gleichgesinnten Gattin, nach vorher gepflogener schriftlicher Verhandlung mit dem würdigen Superintendenten S., sich des Kindes anzunehmen. Die Unterhandlung war kurz. Der Stadtrath, dem die Sorge für das Kind oblag, und der Vormund willigten ein; – B. machte nur die Bedingung, daß das Kind seinen Namen führe, und so erhielt B., jedoch „bis jetzt blos auf unbestimmte Zeit“, dasselbe zur unengeltlichen Erziehung ausgeantwortet. Die B.’schen Eheleute wurden ihm liebende sorgsame Eltern.

Seit dieser Zeit sind sechszehn Jahre verflossen. Der Pflegevater B. wendete sich von da nach P. und später nach G. in Böhmen. Ueberall hin folgte ihm sein liebes Pflegekind. Es gedieh dasselbe an Geist und Körper, und die trefflichsten Censuren seiner Lehrer über Kenntnisse, Fleiß und Sitten liegen uns vor. Das Findelkind ist zu einer Jungfrau herangewachsen, die durch ihr Aeußeres, wie ihr feines, würdevolles und doch bescheidenes Betragen sofort einnimmt. Bis in die neuere Zeit wußte Clara – so wollen wir das Pflegekind nach dem Wunsche der unbekannten Mutter nennen – nicht anders, als daß die B.’schen Eheleute ihre Eltern seien. Ein Zufall zerstörte ihren Traum, aber nicht das beiderseitige wahrhaft zärtliche Verhältniß, ja es fesselte die Entdeckung Clara noch mehr an die treffliche Familie, da sie bei ihrem hellen Verstande und dankbaren Gefühle bald übersah, was das B.’sche Ehepaar, ohne dazu verpflichtet zu sein, an ihr gethan, und welchen Dank sie ihm schulde. Wohl aber mußte es B. sich sagen, daß er, bei seinen vorgerückten Jahren und ohne besonderes Vermögen, Clara über lang oder kurz würde hülflos zurücklassen müssen, und diese dann auf derselben öden Stelle, wie vor sechzehn Jahren, stehen würde. Darum suchte der treue Pflegevater dem Mädchen eine sichere und selbständige Zukunft zu begründen, und trat mit der Direction einer der ausgezeichnetsten sächsischen Anstalten für Fortbildung junger Mädchen in Unterhandlung, welche denn auch mit der anerkennenswerthesten Humanität und Bereitwilligkeit, obschon das Mädchen und deren Pflegeeltern Ausländer sind, sich zur Annahme der Ersteren gegen einen bis auf die Hälfte herabgesetzten Beitrag auf die Dauer von drei Jahren verstand.

Dieser Beitrag und die übrigen Bedürfnisse waren bald durch Subscription einiger unserer Verwandten, Freunde und Bekannten, sowie durch eine dankenswerthe Subvention der städtischen Behörde zu Ronneburg gedeckt, und so befindet sich denn seit dem Mai Clara in der trefflichen Anstalt, um dereinst als Erzieherin oder sonst in passender Weise der Welt nützlich zu werden, wozu ihre herrlichen Anlagen und feinen Sitten die gerechteste Aussicht gewähren.

Wer ein Interesse an dem Schicksale des Mädchens hat und über Herkunft und Geburt desselben etwas Bestimmtes nachweisen kann, dem werden wir die gewünschten Mittheilungen machen. Unsere Adresse aber wird ihm die Redaction dieser Blätter geben.
G. A.




Bilder aus den Donaufürstenthümern
Nr. 2. Silistria und die Fahrt auf der Donau.

Unser militärischer Correspondent erzählt weiter: „Auf meiner Fahrt von Turnu Severin nach Ibraila berührte der Dampfer unter andern interessanten Punkten auch Silistria. Im Augenblick der Landung erfuhr ich vom Schiffscapitain zu meiner großen Befriedigung, daß viel Frachtgut aus- und einzuladen sei und mir somit Zeit genug zur Verfügung stehe, um die Festung zu durchstreifen, die in verschiedenen Epochen, namentlich aber in dem Feldzuge von so oft besprochen und dadurch zu einem in fortificatorischer Einsicht nicht ganz verdienten Rufe gekommen ist. Mit eigenthümlichen Gefühlen, mit einer Art wohlthuenden Schauers betrat eine Gesellschaft von Passagieren des Dampfers den Boden, worauf sich so Merkwürdiges zugetragen, der so viel Blut getrunken, und zum Schauplatz schöner Heldenthaten gedient hat. Alle gingen in die Stadt, ein Andenken an Orient und Türkenthum, oder Geschenke für Verwandte und Freunde im fernen Europa einzukaufen, Ich sage, im fernen Europa, denn mit wahrhaft stoischer Verachtung aller Civilisation und völliger Ergebung in das Schicksal der Culturlosigkeit sprechen nicht nur Türken, sondern auch Walachen von Europa jederzeit als einem Erdtheil, zu dem sie nicht gehören und der nach ihren Begriffen erst jenseits der österreichischen Grenzen beginnt. Ich schweige von dem sehr matten Eindruck, den Silistria mit seinen tief eingesunkenen, kaum über den Grabenrand hervorsehenden, sehr schadhaften Umfassungsmauern, mit seinen nur zur Noth in der Eile durch Schanzkörbe und Faschinen verbesserten Brustwehren, mit seinen verschütteten Gräben als militairischer Punkt auf mich gemacht hat. Ich unterlasse es, über den Bildungsgrad einer Armee zu urtheilen, die vor einem so elenden Reste, dem nur die Paar detachirten, auf den benachbarten Höhen gelegenen Forts und der Donaustrom, als bedeutendes Hinderniß der Annäherung in der Fronte einen Schein von Festigkeit verleihen, monatelang liegen konnte, ohne die geringsten Erfolge zu erzielen.“

Was unser Officier verschweigt, dürfen wir aber doch wohl unsern Lesern nicht vorenthalten. Silistria, die Hauptstadt des gleichnamigen Sandschaks in Bulgarien, an dem Einflusse der Drista in die Donau gelegen und vor dem letzten Kriege von 20,000 Menschen bewohnt, ist eine etwa so befestigte Stadt, wie es deren vor der Ausbildung der Artillerie-Wissenschaften in Deutschland ungemein viele gegeben hat; ja in einer Hinsicht steht sie noch unter den primitiven Vertheidigungswerken früherer Zeiten zurück, da der sie umgebende Graben auf keine Weise unter Wasser zu setzen ist. Er liegt nämlich über dem Donauspiegel und [319] es fehlt an einem Bache, der hineingeleitet werden könnte. Für die Herstellung der in früheren Kriegen – wovon wir bald sprechen werden – zerstörten Werke war wenig geschehen. Das Glacis hat eine Höhe von 2 bis 4 Fuß, der Graben eine Tiefe von 8 bis 10 Fuß. Escarpe und Contrescarpe sind in dieser Höhe mit Kalksteinen bekleidet. An der ersten erhebt sich die 8 Fuß hohe und 10 Fuß starke Brustwehr, welche an der innern Böschung mit einer Palisadenreihe besetzt war. Die steile äußere Böschung der Brustwehr der Bastionen war mit Flechtwerk aufgesetzt, die der Courtinen – Zwischenwälle – mit Rasen bekleidet. An der nördlichen Seite könnte die Donau allerdings einen wichtigen Schutz gewähren, wenn sich bei Kallarasch auf dem gegenüberliegenden walachischen Ufer ein starker Brückenkopf befände. Einen solchen anzulegen war aber der Pforte durch den Friedensvertrag von Adrianopel verwehrt, ja sie durfte nicht einmal die drei Silistria nahe liegenden Donauinseln befestigen, daher alle diese Punkte in die Hände der Russen geriethen, die hier Batterien anlegten. Als der preußische Oberst v. Kuczkowski – Muchlis Pascha – im Jahr 1849 den Auftrag erhielt, für die Wehrhaftigkeit von Silistria zu sorgen, fehlte es der Pforte, wie es ihr immer daran fehlt, an den nöthigen Geldmitteln, den Ort in eine starke Festung umzuschaffen, und er mußte sich darauf beschränken, ihn auf seinen zehn Fortificationsfronten mit Außenwerken zu umgeben. Im Süden der Stadt liegt ein 200 Fuß hohes Plateau, das sich nicht so schroff gegen die Donan herabsenkt, um sich nicht überall an der Böschung mit Artillerie etabliren zu können, und worauf die Russen während des Krieges von 1828–29 auch wirklich ihre Batterien errichteten. Diese die Festung beherrschende Hochebene besetzte der Oberst v. Kuczkowski mit zwei etwa 800 Schritt vom Festungswall entfernt gelegenen massiven Forts – Tabia’s –, die er mit bombenfesten Räumen und bedeckten Batterien ausstattete. Alle übrigen Forts, unter denen die sternförmige Arab Tabia am berühmtesten geworden ist, sind bloße Erdwerke durch Redouten, Schanzen und andere Anlagen flankirt, die sich gegenseitig decken und sich nach Norden bis zu dem Brückenkopfe Topschi Baschi hinziehen, der aus einem Kronenwerk mit starken Redouten, zwei bastionirten Thürmen und zwei Blockhäusern besteht. Um das feindliche Feuer über die Donau herüber weniger lästig zu machen, waren an der Wasserseite Werke aus Lehm und Flechtwerk aufgeführt und mit Rasen bekleidet. Während der Belagerung errichtete man auf dem etwa 150 Fuß breiten Raume, der die Nordfronte der Festung von der Donau trennt, einige Blockhäuser und Erdwerke, um den Graben mit größerer Zähigkeit vertheidigen zu können. Mehr und Besseres konnte der genannte tüchtige Ingenieur mit den ihm zugewiesenen Mitteln nicht leisten, dennoch wird jedermann, auch wenn er nicht Sachverständiger ist, sich leicht überzeugen, daß ein noch so ausgedehntes Netzwerk weitläufiger Außenwerke einen Platz nur höchst mangelhaft zu schützen vermag. Alle diese Punkte angemessen zu vertheidigen, würde eine Besatzung von 30,000 Mann erforderlich gewesen sein, die oft nicht zur Hälfte vorhanden war. Wäre ein einziges Fort dem Feinde in die Hände gefallen, so würde das gerade so viel gewesen sein, als wenn in einem Strumpfe eine Masche aufgeht; er läßt sich dann ganz aufwickeln. Zu mehr als zweimonatlichen Kämpfen mit dem Hauptheere von den berühmtesten russischen Generalen angeführt und trotz so oft wiederholter Stürme haben die Russen jedoch nicht eine Schanze erobert, mehrere Generale und unverhältnismäßig viel Officiere, überhaupt an 24,000 Mann verloren und sich genöthigt gesehen, am 23. Juni 1854 unverrichteter Dinge abzuziehen. Dennoch reichten, trotz der weit vorgeschobenen Außenwerke, die russischen Kugeln bis in die Stadt hinein, die schwer verwüstet wurde. Den tapfern Vertheidiger des Platzes selbst, Mussa Pascha, tödtete am 2. Juni eine russische Granatkugel vor der Thür seiner Wohnung, und wenn einerseits der Muth und die Ausdauer der Türken alle Anerkennung verdienen, so bleibt andererseits die Verwunderung des österreichischen Officiers über die Erfolglosigkeit dieser mit solchen Anstrengungen betriebenen Belagerung eines wenig haltbaren Platzes doch unstreitig sehr gerechtfertigt.

Silistria ist seit fast einem Jahrtausend für die Russen ein verhängnißvoller Ort gewesen. Im Jahr 971 erschienen sie unter Swjätoslaws Führung zum ersten Mal vor demselben und wurden von dem bizantinischen Kaiser Tzimiskes auf das Haupt geschlagen. Am 10. Juni 1773 schlug Osman Pascha den Angriff des Fürsten Romanzoff zurück. Die nächste Niederlage traf die Russen am 22. October 1809 bei Tataritza unweit Silistria; endlich gewannen sie am 11. Juni 1810 die Stadt durch Kapitulation – Andere sagen durch Bestechung. Vom 21. Juli bis 10. Nov. 1828 mühten sich drei russische Generale nach einander – Roth, Langeron und Wittgenstein – vergeblich ab, den Platz zu nehmen; im folgenden Jahre überlieferte aber nach sechswöchentlicher Belagerung Hadschi Achmet Pascha die Festung dem General Krassowski, angeblich weil er auf keinen Entsatz zu hoffen hatte und Proviant wie Munition ihm ausgingen, wahrscheinlicher, weil er viel Neigung für russische Ducaten hatte. Die Stadt blieb bis zum September 1836 in russischen Händen und wurde erst nach Abtragung der dem Sultan auferlegten Kriegssteuer in elendem Zustande zurückgegeben. Ueber zwölf Jahr geschah für die Herstellung der Werke nichts, und was dann dafür gethan wurde, haben wir erzählt. Einen wichtigen Vortheil haben die Russen aber doch bei der letzten mißlungenen Belagerung davon getragen. Sie lernten dem Obersten Kuczkowski den Bau dieser Erdwerke ab und machten bei Sebastopol davon einen dienlichen Gebrauch, obgleich weder der wichtige „Grüne Hügel,“ noch endlich der massive Malakow die Eroberung der Stadt zu verhindern vermochte.

Lassen wir nun unsern Berichterstatter wieder reden. „Ich begab mich,“ erwähnt er, „der übrigen Gesellschaft folgend, in die innere Stadt. Einer von unsern Begleitern, ein schäbig gekleidetes Subject, dem Volke angehörig, das sich das auserwählte nennt und darauf eine oft wahrzunehmende Arroganz begründet, warf sich zum Führer auf. Diesen Anspruch leitete er daher, daß er schon früher einmal in Silistria gewesen und der türkischen Sprache ziemlich mächtig sei. Der Nimbus, den diese letztere Behauptung um ihn verbreitet hatte, zerfloß sehr bald, denn schon nach den ersten fünf Minuten konnten wir uns überzeugen, daß er auch nicht ein Wort vom Türkischen mehr verstand, als wir Anderen, d. h. gar keines. Nachdem mehrere winklige und schmutzige Straßen durchwandert, manche Einkäufe in Buden mit Tabak, Süßigkeiten, Parfümerien und Seife – beide Wiener Fabrikat – getroffen und einige nicht übel gebaute, sogar geschmackvoll verzierte und nur durch wiederholten Kalkanstrich entstellte Moscheen betrachtet worden waren, hielt mich unerwartet ein reizendes Bild an einem Brunnen fest. Im Orient, wo die Hitze so groß, der Boden so trocken, gutes Wasser so selten ist, sind die Brunnen ein von der ganzen Bevölkerung sehr beachteter Gegenstand; ja sie stehen gleichsam mit dem Cultus in Verbindung und wegen der im Koran gebotenen täglichen Waschungen genießen sie eine, ich möchte sagen, andächtige Verehrung; sie sind die Sammelplätze, um die sich das Leben der sonst todten und öden Straßen der türkischen Orte gruppirt.“

„Der Brunnen, vor dem ich stand, war gemauert, und die im Laufe der Jahrhunderte verwitterte Mauer schillerte in verschiedenen angenehmen Farbentönen; einzelne herausgebrochene Steine und fahle Gräser, die auf dem obern Simse wucherten, erhöhten noch den Reiz dieses Anblicks. Lustig quoll das klare Wasser in einer eisernen Rinne hervor und rieselte zwischen den Steinen, die das Wasser holende Publicum gelegt hatte, um so trocken als möglich zu stehen, in eine kleine Pfütze. Aus dieser trank ein Schimmel, den ein Negerknabe an sehr langem Halfterstricke hielt – scheinbar aus Furcht, sich dem Pferde allzusehr zu nähern, in der That jedoch aus Zutrauen zu dem guten, gemüthlichen Thiere. Die orientalischen Pferde nämlich, die selten in einen Stall kommen, sind so harmlos, daß sie wie Hunde ihren Herren nachlaufen, und der Schimmel würde eben so ruhig bei seinem Trinken gestanden haben, hätte ihn der Knabe auch gar nicht gehalten. Ein Bulgarenmädchen, das dem europäischen Gepräge seiner Tracht nach, im Dienste eines fremden Consuls oder Kaufmanns stehen mochte, hatte zwei kupferne Kessel, außen berußt, innen aber blank und glänzend, mit frischem Wasser gefüllt, hängte sie vorn und hinten an eine Stange, die auf ihrer Schulter ruhte, und schritt damit vorsichtig über die einzelnen Steine, was bei den hohen Absätzen ihrer Holzsandalen und den beständigen Schwingungen der Kessel nicht ohne Beschwerde sein mochte, jedoch ihre Gewandtheit hervortreten ließ. Ein türkischer Privatmann in bunter Tracht und ein Soldat in weißem Mantel, welche beide eben die vorgeschriebene Waschung, jedoch nur in Bezug auf Gesicht und Hände, beendet hatten, saßen in sehr einsilbigem Gespräch auf dem Rande des Brunnens. Einige Gebäude, worunter eine Moschee mit ihrem zierlichen Minaret, als näherer, der Hügel der berühmten Arab Tabia als weiterer [320] und der entlegene Hämus als fernster Hintergrund, vollendeten ein Gemälde, bei dem ich lange verweilte. Weiter wandernd, bemerkte ich an den Fugen der Gartenplanken und durch die Spalten der Thüren lauschende türkische Weiber, die, noch viel neugieriger als unsere Frauen, in der Verstellungskunst aber weniger bewandert, und daher ihren Antrieben unbesorgter folgend, das Häuflein Franken in ihrer fremden Tracht mit den Augen verfolgten.

An einer offenen Hofthüre überraschte mich der Anblick eines schönen Weibes mit unverschleiertem Gesicht, natürlich einer Christin trotz ihrer türkischen Beinbekleidung. Sie hatte eben drei Kinder, die vor der Thür auf offener Straße spielten, hineinrufen wollen, allein der unerwartete Anblick einer fremdartig aussehenden Gesellschaft machte sie sowie die Kinder einen Augenblick stutzen. Gleich faßte sie sich jedoch und musterte uns mit naiver Unbefangenheit, wobei wir Zeit hatten ihre frappante Erscheinung zu bewundern. Auf dem schönen, ausdrucksvollen Kopfe saß ein Feß, der, umwickelt von einem weißen Tuche und üppigen schwarzen Haarflechten, kaum zu sehen war. Um den Hals trug sie Granatenschnüre nebst Silber- und Goldmünzen; ihre entblößte Brust war von einem blendend weißen Hemde eingerahmt; ein gestreiftes Leibchen mit engen Aermeln und ein rother Gürtel umspannten ihren Leib. Ihre Beine steckten in lichtvioletten Pumphosen und ihre nackten Füße in Holzsandalen. Die größern Kinder liefen zu ihr und klammerten sich an ihr Kleid, während das jünqste ungenirt sitzen blieb.“

„Nachdem wir noch einige Kaufläden besucht und namentlich zwei Damen unserer Gesellschaft sich reichlich mit Süßigkeiten versorgt hatten, lenkten wir unsere Schritte dem Schiffe wieder zu. Wir begegneten einem feisten Reiter, der sich, obwohl in Civilkleidern, doch durch den Tepelik – ein kleines rundes Messingschildchen auf dem Ursprung der Fußquaste – als Militair kennzeichnete. Er saß nichtsweniger als schulgerecht auf einem gedrungenen Schimmel mit rother Schabrake und trabte in lebhaftem Paß einher, indeß ihm athemlos keuchend ein bunt gekleideter Diener mit Tschibuk und Säbel folgte. Es sah in der That mehr als komisch aus, den mit allerlei Plunder behangenen, nicht jungen Diener, keuchend und schwitzend hinter dem Pferde hertraben zu sehen, während der Herr sich gar nicht um den gehetzten Menschen bekümmerte und ruhig weiter ritt. Das ist die barbarische Weise im Orient, einen Reitknecht mit sich zu führen und sich doch die Kosten für Anschaffung eines zweiten Pferdes zu sparen.“

„Das helle Geläut vom Dampfschiffe unterbrach aber sehr bald meine Betrachtungen: ich eilte in Hast dem Landungsplatze zu und langte in eben dem Augenblicke an, als man im Begriff stand, die Landungsbrücke einzuziehen.“

Ein türkischer Heiliger.

„Als ich an Bord gelangte, fand ich einen namhaften Zuwachs an meist türkischen Passagieren. In bunten, malerischen Gruppen hatten sich mehrere Bulgaren, Türken und Griechen, theils am Deck des zweiten Platzes, theils um die Maschine herumgelagert, wo sie sich bei der Frische des heiteren Märztages recht behaglich zu befinden schienen. Fast alle hatten entweder Teppiche in bunter frischer Farbenpracht, oder gewöhnliche zottige Wolldecken auf den Boden gebreitet und sich nach Ablegung der Schuhe in recht orientalischer Gravität darauf niedergelassen. Einige türkische Cavalleristen in dunkelblauen Uniformen, hohen Stiefeln und langen Lanzen mit blauen Fähnchen saßen zunächst am Rauchfang auf dem rund um demselben aufgestapelten Steinkohlenvorrathe. Auf Waarenkisten hockten oder lagen in den groteskesten Attitüden griechische Handwerksleute mit dem weiten, in zahllose Falten gelegten kurzen, weißen Tuchrocke, der enganliegenden kamaschenartigen Wadenbekleidung und dem im Verhältniß zum türkischen sehr hohen Feß. Ganz unten am Boden auf ihren Teppichen saßen die echten Osmanlis mit Turban.“

„Nachdem ich unter diesen anziehenden Gruppen bis zu dem Momente herumgewandelt war, wo mich endlich nach der warmen Cajüte verlangte, betrat ich den Salon erster Classe. Hilf Himmel! wie fand ich da die Scene oder vielmehr die darin handelnden Personen verändert.“

„Unsaubere türkische Officiere und Privatleute hatten sich mit verdächtig aussehenden Pelzen und nicht sehr appetitlich duftenden Mundvorräthen auf den Divans und Fauteuils etablirt. Einige hatten ihre Schuhe ausgezogen und ihre in durchlöcherten Socken steckenden Füße ganz ungenirt heraufgezogen.“

„Die merkwürdigste Persönlichkeit unter diesem neuen Zuwachs blieb aber unstreitig ein ganz in schwarzes Leder gekleideter Mann, den sein turbanartig um den Feß gewundenes grünes Tuch jedem in orientalischer Sitte unterrichteten Reisenden als eine religiöse Notabilität kenntlich machte. Rock und Weste waren mit wenigen, aber desto colossaleren Messingknöpfen von ziemlich hübschem Dessin versehen; sein Beinkleid, keineswegs von türkischer Façon, verjüngte sich aus seiner obern Weite schon über dem Knie zur Enge eines Reiterstiefels und endete in Kamaschenform. Seine Bewaffnung machte ihn zu einem wahren ambulanten Arsenal. Zwei Pistolen und ein Handschar steckten in dem weiten Gürtel; ein grades Fangmesser hing nach Römerart an seinem rechten Schenkel, ein Karabiner an einem Ueberschwungriemen quer über die Schulter; endlich führte seine rechte Hand eine eigenthümliche, einer Hellebarde ähnliche Stoß- und Hiebwaffe. Ein lederner Schlauch mit messingenem Hahn über seiner Schulter vollendete seinen Aufzug.“

„So stolzirte dieser sonnverbrannte, durchwetterte Gesell mit unheimlicher Zuversicht und Keckheit nicht blos unter seinen Glaubensgenossen, sondern auch unter dem gesitteten Theile der Schiffsgesellschaft auf und ab. Auf meine Erkundigung über dieses sonderbare Individuum eröffnete mir der Capitain, daß es ein im Geruche göttlicher Inspiration und der daraus folgenden Heiligkeit stehender sogenannter Fakir sei, der, scheinbar bettelnd, eigentlich aber peremtorisch fordernd, alle Länder, soweit Mahomed als Prophet verehrt wird, durchziehe, nie etwas zahle und selbst im Dampfschiffe, dieser ganz unmohamedanischen Anstalt, frei mitgenommen werde. Mißbilligend äußerte ich mich über die Zulassung eines solchen Gaudiebes in die Räume des ersten Platzes und schlug vor, ihn aus dem Salon zu entfernen. Der Capitain aber, der dieses Gelichter genau kannte, bat mich dringend, kein Aufsehen zu erregen und den Kerl gewähren zu lassen, weil ein schiefer Blick, ein [321] barsches Wort gegen diesen „wunderlichen Heiligen“ eine Revolte unter den an Zahl überlegenen Türken im Schiffe und eine traurige Katastrophe herbeiführen würde.“

„Dem uns unverständlichen Gallimathias des Fakirs hörten die Moslims mit tiefer Andacht zu. Einige Lieder, die er halb näselnd, halb gurgelnd zum Besten gab – gewiß der monotonste und widerwärtigste Gesang, den ich je gehört –, wurden von dem jüngern Theile seiner Glaubensgenossen sogar mit lauten Beifallsäußerungen entgegen genommen. Seine sämmtlichen Waffen ließ er von Hand zu Hand gehen und war sichtlich vergnügt, daß alle Welt sie bewunderte. Hierauf ließ er sich, versteht sich ohne einen Heller zu bezahlen, Wein bringen, trank auf unser aller Wohl und kredenzte zugleich seinen Glaubensgenossen aus seinem Lederschlauche Wasser, das, wie er sagte, einer Quelle am Grabe des Propheten zu Mekka entsprungen war. Nach reichlich genossenem Weine sang er wieder, näselte und rasselte dabei wo möglich noch ärger und machte seinem benebelten Gemüthe durch häufige Zärtlichkeitsausbrüche gegen verschiedene Gäste, besonders gegen den Capitain, Luft.“

Türkische Manier, einen Reitknecht ohne Pferd zu halten.

„So ein Fakir hat die größten Vorrechte, die man in einem mohamedanischen Lande nur immer haben kann: er darf Wein trinken, Schweinfleisch essen nach Belieben, hat vollen Anspruch auf die unbeschränkteste Gastfreundschaft, wohin er kommt und sogar ungehinderten Eintritt in jeden Harem. Auch trägt er einen grünen Turban, ein Prärogativ, welches sonst nur der Sultan, die Mollahs und Imams – Geistliche – so wie die Hadschis, Leute, die das Grab des Propheten besucht haben, genießen.“

„Bei Hirsova verließ der Heilige mit fast allen türkischen Passagieren das Dampfboot und das gesammte Publicum des ersten Platzes athmete auf.“




Ein fahrender Handwerksbursche.

Im Sommer vorigen Jahres kehrte nach achtjähriger Abwesenheit ein junger Mann, Namens Christian Beck, von Profession ein Schmied, in sein bei Gotha gelegenes Heimathsdorf zurück. Er hatte während der Zeit viel gesehen und erlebt, mehr als selbst der weitestgereiste seiner Landsleute, und seine Mittheilungen in verschiedenen Kreisen erregten so viel Interesse, daß man ihn oft und dringend aufforderte, seine Erlebnisse aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Beck wird dies unter dem Beistande eines Bekannten ausführen; und die schlichte Erzählung des jungen Handwerkers von dem, was er in diesen acht Wanderjahren erlebt und erlitten, wird für Viele von Interesse sein.

Hier sei nur kurz erwähnt, daß Beck i. J. 1848 nach Amerika ging, verlockt durch die Schilderungen eines Oheims, der in New-Orleans als Tischler arbeitete. Er fand diesen mit Mühe in Louisville auf, während sich derselbe zur Auswanderung nach Californien rüstete. Durch einen Zufall wurde er darauf Arbeiter auf einer Zuckerplantage in Louisiana und hatte in fünf Monaten Gelegenheit, das eigenthümlich amerikanische Nationalinstitut der Sklaverei kennen zu lernen. Nachdem er eine Reise nach Texas ausgeführt und eine nach Californien unternommen, aber aufgegeben, fiel er, nach New-York zurückgekehrt, Menschenfängern in die Hände, welche ihn auf einem New-Bedforder Wallfischfänger als Schiffsschmied unterbrachten. Auf diesem durchzog nun Beck alle Meere der Welt, passirte die Linie zweimal und fing in den nördlichen [322] Regionen Wallfische mit. Dieses jammervolle Leben, zu welchem sich ein ordentlicher Matrose nicht freiwillig hergiebt, führte er siebenzehn Monate lang. Endlich blieb er ganz geschwächt und krank zu Honolulu (Sandwichinseln) im Spitale zurück, nachdem er durch das Einschreiten des amerikanischen Consuls von seinem Joche frei geworden war. Von seinen weitern Erlebnissen auf den Sandwichinseln mag nun Beck selbst Einiges erzählen.

„Dem alten Marinehospitale in Honolulu gegenüber lag das königl. Hawaische Theater, sehr leicht aus Holz und Bretern gebaut; rechts um die Ecke des Hospitalgartens und in nicht weiter Entfernung stand ein kleines niedriges Häuschen aus demselben leichten Material erbaut. Ich hatte nach langem Siechthume zum ersten Male die Erlaubniß erhalten, einen kleinen Spaziergang zu machen, und war im Begriffe, meine Schritte dem belebteren Stadttheil zuzulenken, als mich mein Weg an jener Hütte vorüberführte. Da haften meine Blicke plötzlich an einem Schilde, welches über der Thüre befestigt war. Auf demselben stand in englischer und französischer Sprache geschrieben: Hier verkauft man Bier, Branntwein und Cigarren. Das Wort Bier übte eine zauberhafte Wirkung auf mich aus. Wie lange hatte ich kein Bier getrunken! – Wie lange war ich von dem schönen Thüringen getrennt, wo es so gutes Bier gibt! – Fünfzehn Monate lang hatte ich übelriechendes und übelschmeckendes Wasser getrunken, wie es eben einem Seefahrer in schmalen Rationen zugemessen wird. Im Hospitale hatte ich darauf zwei Monate lang das von der heißen Sonne Honolulu’s durchwärmte Wasser genossen, und nun auf einmal las ich mit meinen Augen: Hier verkauft man Bier. Ich bekam mit einem Male ungeheuern Durst und starkes Heimweh und trat in das Häuschen ein, in dessen einzigem Fenster noch andere Lockungen in angenehmer Verwirrung ausgestellt waren, als eine Pyramide von Orangen, Bananen, Cigarren, Biscuit, Schwefelhölzer, Seife, Kautabak, Thonpfeifen u. s. w. Auf mein Verlangen nach dem lange ersehnten Trunk erhielt ich eine Flasche mit braunem Zeuge hingestellt – es war Sprucebier, jenes unheimliche Fabricat von Syrup und Kartoffeln, nicht nur sehr schlecht, sondern auch eben so warm wie das Brunnenwasser der Stadt. Das war nun freilich eine arge Täuschung. Aber eine ordentliche Freude sollte ich doch bei dem Besuche erleben. Fand ich auch kein deutsches Bier, so fand ich doch einen deutschen Landsmann.

Während ich mich nämlich mit dem abscheulichen Getränke abquälte, faßte ich den Barkeeper genauer in’s Auge. Es konnte keine Täuschung sein: diese ehrlichen Gesichtszüge mußten einem Deutschen angehören. Um meine Zweifel schnell zu beenden, redete ich den jungen Mann deutsch an und an mein entzücktes Ohr schlugen die geliebten Töne der Muttersprache, wie sie ein ächter Sachse hervorbringt. Der Barkeeper war eben so freudig überrascht wie ich, einen Landsmann so fern vom Vaterlande gefunden zu haben, dem er sich mittheilen und vertrauen konnte. Wir tauschten die Geschichte unserer Erlebnisse aus.

Es war meinem neuen Freund Carl Schöne aus Lommatsch in Sachsen ähnlich ergangen wie mir. Nachdem er mehrere Jahre als Schmied in Deutschland umhergereist, war er nach Bremerhafen gekommen und hatte Beschäftigung in einer Schiffsschmiede erhalten. Hier lernte er unter andern den Capitain eines Wallfischfängers kennen, der ihn überredete, eine Reise mitzumachen. Drei Jahre lang fuhr er mit in den Gewässern der Südsee und im nördlichen Eismeere umher. Die Leute wurden vom Glück begünstigt, denn nach drei Jahren hatten sie eine volle Ladung Thran an Bord. Auf der Heimreise lief das Schiff in den Hafen von Honolulu ein, um sich mit Proviant zu versehen. Schöne hatte keine große Lust gehabt, jetzt nach Deutschland zurückzukehren, da er keine Angehörigen dort hatte und nicht die Mittel besaß, ein eigenes Geschäft anzufangen. Er gedachte vielmehr einige Jahre auf der Insel zu bleiben, wo die Arbeitslöhne hoch standen, und sich zu seinem Beuteantheil, der sich auf 150–200 Thaler belaufen mochte, noch eine Summe zu erwerben, um sich dann, nach Deutschland zurückgekehrt, etabliren zu können. Allein die Rechnung war ohne den Wirth gemacht. Als Schöne den Capitain um seine Entlassung und die Auszahlung seines Gewinnantheiles am Thrane bat, erhielt er die erstere ohne Anstand gewährt, aber anstatt der gehofften 200 Thaler zahlte man ihm dreißig aus. Vergebens klagte der Geprellte beim Bremer Consul. Es war derselbe ein Amerikaner und hinlänglich als ein Mann verrufen, bei welchem blanke Dollars vieles Ungesetzliche gesetzlich machten. Schöne konnte sich ihm nicht einmal verständlich machen, da der Vertreter eines deutschen Staates nicht deutsch sprach. Es blieb dem armen Schöne nur die Wahl, entweder mit nach Deutschland zurückzufahren oder die dreißig Thaler zu nehmen und zu bleiben. Er blieb, da er Aussicht hatte, als Schmied täglich drei bis vier Dollars zu verdienen. Zum Unglück für ihn erkrankte er und mußte auf den Rath des Arztes in’s Gebirge ziehen. Er genas und kehrte in die Stadt zurück, aber von Mitteln entblößt. Zur rechten Zeit machte er die Bekanntschaft eines Deutschen, Besitzers dieser Wirthschaft, der gern schon längst eine Erholungsreise nach der Insel Owaihi unternommen hätte, wenn er einem zuverlässigen und zahlungsfähigen Manne seine Vorräthe und Waaren käuflich hätte überlassen können. Er nahm Schöne in seine Dienste als Ladendiener für acht Dollars den Monat und freie Station. Nach einigen Tagen fand sich auch der geeignete Käufer in der Person des königlichen Kapellmeisters Herrn Merseburg, der es trotz seiner hohen Stellung nicht verschmähte, den Kramladen nebst dem Ladendiener zu übernehmen. Dieser Herr war ebenfalls ein Deutscher und hatte das Amt, acht Eingebornen, welche die Kapelle Sr. indianischen Majestät bildeten, Musikunterricht zu ertheilen und deren Kunstproductionen im Theater zu leiten. In dessen Diensten stand nun Schöne und verkaufte für seine Rechnung Cigarren, Schwefelhölzer und die andern Herrlichkeiten.

Das war das Schicksal meines neuen Bekannten gewesen, wie es das Loos Unzähliger ist, von Schurken überlistet, ausgebeutet und betrogen zu werden. Das gleiche Elend bewirkte, daß wir uns fester an einander schlossen. Dazu trug noch ein anderer Umstand wesentlich bei, der sich im weiteren Verlaufe unserer freundschaftlichen Unterhaltung herausstellte. Schöne stammte ans Lommatsch, war aber in der Nähe von Dresden erzogen und kannte meinen Oheim daselbst ganz genau, da er eine Zeit lang bei ihm in Arbeit gestanden. Wir riefen uns gemeinsam die Erinnerungen an Sachsens schöne Hauptstadt und deren reizende Umgebung zurück und schwelgten Beide lange Zeit darin, bis uns ganz wehmüthig zu Sinne wurde. Wir waren gar zu weit von Hause entfernt, als daß es uns nicht hätte bangen sollen, ob wir jemals die Heimath wieder sehen würden.

So oft es nun mein Zustand erlaubte, besuchte ich Freund Schöne in seinem Breterhause und hatte bei der Gelegenheit auch die Ehre, den Herrn Kapellmeister Merseburg, den Eigenthümer des Geschäftes kennen zu lernen. Nach einiger Zeit erkrankte Schöne abermals und mußte für einige Wochen in’s Gebirge flüchten. Nach seiner Rückkehr trat er in eine andere Stellung ein; er wurde nämlich Koch in einer deutschen Möbelfabrik, welche zwei ältlichen Hagestolzen gehörte. Neben seiner Kunst als Koch trieb mein Freund noch eine andere, die wenig Zusammenhang mit jener hatte. Seiner Aussage nach hatte er nämlich die Thierarzneischule in Dresden besucht und machte nun an Pferden der Eingebornen einige gelungene Curen. Nach und nach gewann er auch bei der weißen Bevölkerung der Insel Ruf als Thierarzt. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß auf der Insel sich noch kein solcher befand, und rieth Schönen, frischweg als Thierarzt aufzutreten. Er sah die Vortheile einer derartigen Stellung vollkommen ein, allein es fehlten ihm die Mittel und, was noch schlimmer war, der echte amerikanische Unternehmungsgeist, der die finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden strebt. Ich gab ihm daher den durch die Umstände gerechtfertigten Rath, den Humbug und die Marktschreiereien der Yankees in etwas nachzuahmen. Darauf erschien denn in der Honolulu-Zeitung mehrere Male hinter einander eine Anzeige von einem berühmten aus Europa eingetroffenen Thierarzte, welcher sich auf der Insel bleibend niedergelassen und die schwersten Krankheiten der Pferde curire.

Mein Freund wurde nun Bürger des Hawaischen Königreichs und miethete sich ein Häuschen, welches in einem großen Hofe lag, für zwölf Dollars monatlich. Dieses schmückte er mit einer großen Zahl leerer Flaschen und Gläser aus, welche er zu dem Zwecke in der Apotheke geholt. War auch jetzt noch nichts darin, so zeigten doch die schönsten Etiketten und Aufschriften den künftigen Inhalt an. Die ganze Einrichtung verfehlte nicht, Effect zu machen, und damit war viel gewonnen; noch mehr durch einige glückliche Curen. Bald sah sich Schöne, dessen Glücksstern hell leuchtete, in Stand gesetzt, sich für fünfzig Dollars Medicin von San Francisco kommen zu lassen. Die Bekanntschaft mit einem deutschen Seemann, der auf einem der Postschooner regelmäßige Reisen zwischen Californien und den Sandwichinseln machte, verschaffte ihm diese günstige Gelegenheit.

[323] Von nun an war seine Existenz fest begründet. Nur ein Wunsch blieb ihm noch, der freilich am schwersten von allen zu erfüllen schien; es war der: ein liebendes Wesen, eine treue Lebensgefährtin zu besitzen. Umsonst sah er sich, wie so viele Europäer, nach einem passenden und würdigen Gegenstand seiner Neigung auf der Insel um. Endlich erkor er sich, da keine weißen Jungfrauen vorhanden waren, eine der braunen Töchter des Landes, die Tochter eines Majors. Sie war ein hübsches Kind mit runden, vollen Formen und hätte billigen Ansprüchen vollkommen genügt, wenn nicht die braune Hautfarbe und die geschmacklose Kleidung sie entstellt hätten.

Der Luxus, welcher auch nach diesen fernen Inseln gedrungen und zuerst bei der weißen Bevölkerung Eingang fand, hat auch unter den Indianern, namentlich den braunen Damen, große Fortschritte gemacht. Sie, die noch vor 70 Jahren fast nackt umhergingen, tragen jetzt zum Theil schwere schwarze, aus chinesischer Seide gefertigte Kleider, die ihnen bei ihrem hübschen Körperbau gut stehen würden, wären sie nur nicht zu plump gemacht und hingen sie nicht kattenartig in vielen Falten und ohne Taille von den Schultern herab.

Ein anderer Uebelstand war der, daß sich die jungen Eheleute nicht verstanden, da mein Freund zu kurze Zeit auf der Insel war, um von der Sprache der Eingebornen etwas begriffen zu haben. Indeß Schöne’s Wunsch war erfüllt; er hatte eine Frau, ja nicht nur eine, sondern oft das ganze Haus voll. Die zahlreiche Familie des Herrn Majors, sowie dieser selbst, stattete dem europäischen Schwiegersohne häufige Besuche ab, um sich an dem von meinem Freunde für seine Frau gekauften Boy[7] und Fischen gütlich zu thun. Die werthe Gesellschaft lagerte sich dann gewöhnlich auf die Dielen des Fußbodens, mit denen die Zimmer meines Freundes ausnahmsweise versehen waren (gewöhnlich ist der Boden mit Matten bedeckt), um das Boygefäß, welches sie rasch und ohne andere Werkzeuge, als die von der Natur verliehenen, seines Inhaltes entleerte. Ich mußte bei der Betrachtung dieser Gruppe oft lächeln. Was würde ein europäischer Major gesagt haben, wenn er diesen braunen Standesgenossen die Hand in den Napf hätte tauchen sehen! Trotz seinem hohen Titel stand natürlich dieser indianische Würdenträger sehr tief unter uns; die weiße Haut des Europäers gilt mehr als alle Diplome und Patente Kamehamehas, Königs der Sandwichinseln. Und nicht nur bei den Europäern selbst, sondern auch in den Augen der Schönen des Inselreiches, welche am liebsten einen weißen Mann in ihren Netzen zu fangen suchen. Sie wissen nämlich aus Erfahrung, daß dieser besser für ihre Bedürfnisse sorgt, als der träge Eingeborne, und daß sie dann ihrer angeerbten Vorliebe zum süßen Nichtsthun mit um so größerer Ruhe fröhnen können. Das Klima ist freilich heiß, der Boden sehr fruchtbar, die Bedürfnisse gering, Gründe genug, die braune Bevölkerung in ihrer Trägheit zu bestärken. Ist auch eine Tochter der Insel mit einem „Kauhaure“ (Weißen) gesetzlich verheirathet, so hindert sie das keineswegs, noch einige braune Freunde zur Seite zu haben, denen sie in der Regel mehr zugethan bleibt, als dem fremden weißen Ehemanne.

Nach dem Census von 1851 waren auf den Sandwichinseln 320 Weiße mit eingebornen Frauen verheirathet. Früher kam es häufig vor, daß sich entlaufene oder zurückgelassene Matrosen mit einer Indianerin verheirateten, über kurz oder lang aber die Inseln nebst den verrathenen Gattinnen verließen. Um diesen Mißbrauch abzustellen, hat die Regierung ein Gesetz erlassen, nach welchem Jedermann der obrigkeitlichen Erlaubniß bedarf, um die Inseln zu verlassen.

Trotzdem Schöne’s Frau selbst den allerbescheidensten Ansprüchen nicht genügen konnte, die ein Mann machen kann, so war er doch froh und glücklich. Er kaufte seiner Gattin fertig bereiteten Boy, soviel sie und ihr Besuch brauchte, und miethete sich einen Deutschen, der die Besorgung der Küche und des Hauswesens und die Abwartung der Pferde übernahm, da die Zunahme seiner Geschäfte ihm nicht mehr erlaubte, dies selbst zu thun. In Folge seiner Heirat war mein Freund mit dem königlichen Hofe näher bekannt geworden und er hatte Aussichten, Oberaufseher des königlichen Marstalles zu werden. Kamehameha III. war gestorben und sein Nachfolger, der einige Jahre in England gelebt hatte, suchte beim Antritte seiner Regierung verschiedene europäische Verbesserungen einzuführen. So viel versprechend war die Lage meines Freundes, als ich die Insel verließ.

Acht Monate später saß ich eines Abends müßig vor einem Sailor’s Boarding House im Hafen von Callas, und schaute auf die ruhige Bai hinaus, das Spiel der Pelikane beobachtend. Ich war seit zwei Tagen von Chili hier eingetroffen und wartete auf Gelegenheit, mich an ein nach Nordamerika oder Europa segelndes Schiff zu verdingen. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Seemann gelenkt, der mit einer schweren Matrosenkiste auf der Schulter dem Eingange meines Kosthauses zusteuerte. Die Ankunft eines neuen Gefährten von der See erweckt unter den Seeleuten großes Interesse. Man ist gespannt, vielleicht etwas von der alten lieben Heimath zu vernehmen oder von den Orten, wo man gelebt und verkehrt und werthe Freunde zurückgelassen hat. Ich folgte daher neugierig nebst einigen andern Seeleuten dem Ankömmling in das Innere des Hauses und vernahm von ihm, er sei von den azorischen Inseln gebürtig und komme direct von Honolulu, wo er, von einem amerikanischen Wallfischfänger krank zurückgelassen, vier Monate lang im Hospitale gelegen habe. Meine nächste Frage war nach meinem Freunde. Da derselbe in der Nähe des Hospitals wohnte, so war es leicht möglich, daß der Portugiese ihn hatte kennen lernen.

Ich habe ihn gekannt, war seine Antwort. Er starb während meines Aufenthaltes im Hospitale an den Folgen eines Schlagflusses in demselben Zimmer, in welchem ich lag. Der Sprache beraubt und an der linken Seite gelähmt, brachte man ihn zu uns, nachdem er in seinem eigenen Hause mehrere Tage fast ohne alle Pflege gelegen hatte. Nach einer Woche starb er. Die Regelung seines Vermögens übernahm ein amerikanischer Missionair, Bruder Damon, welcher schon seit vielen Jahren auf der Insel ansässig ist und allgemeines Vertrauen genießt, wie man mir sagte.

Ich wandte mich traurig ab. Armer Karl Schöne! So war auch Dir, wie so vielen Tausenden deutscher Brüder, das traurige Loos gefallen, fremden Boden zu düngen.“ –

Nach Entlassung aus dem Hospitale zu Honolulu trat Beck als Stößer in die Dienste des dortigen Hospitalarztes Hardy, der eine eigene Apotheke hatte. Es war dies bereits das siebente Geschäft, welches er seit seinem Aufenthalte in der neuen Welt betrieb. Er war Schmied, Wagner, Zuckerpflanzer, Farmer, Schwefelholzfabrikant und Matrose gewesen. Für seine Bemühungen und Dienstleistungen in der Apotheke erhielt er die Woche vier Dollars und freie ärztliche Behandlung. Durch seine Bekanntschaft mit dem amerikanischen Consul, der ihn zuvor aus den Händen seines Capitains befreit hatte, erhielt er noch einen andern Vertrauensposten. Beck wurde nämlich Aufwärter bei einem Billardclub, welchem dieser Herr als Mitglied angehörte. Nach sechs Wochen, da er sich hinlänglich gekräftigt fühlte, legte er sein Stößeramt nieder und kehrte zu Hammer und Amboß zurück; Marqueur blieb er aber noch einige Zeit. Nachdem er sieben Monate in seinem Geschäfte gearbeitet und sich einige Hundert Dollars erworben hatte, erkrankte er abermals. Er wandte sich an einen deutschen Arzt, der ihm den guten Rath ertheilte, die Insel ganz zu verlassen oder wenigstens die Nordseite derselben aufzusuchen, wo er weniger vom Klima zu leiden haben werde. Beck befolgte den Wink, verließ Honolulu und nahm auf der Nordseite der Insel seine Wohnung bei einem Eingeborenen, welcher Missionair und Steuereinnehmer war. Derselbe konnte lesen, schreiben und rechnen, und hatte die Civilisation in Gestalt einiger eisernen Kochtöpfe, Porzellanteller, eines Löffels, zweier alten Messer und einer abgebrochenen Gabel in seinem Haushalt eingeführt. Mit Hülfe des letzteren Geräthes labte sich Beck an Boy und gebackenen Fischen, der Hauptnahrung der Eingeborenen.

Nachdem er acht Wochen unter diesem gutmüthigen, aber trägen Naturvölkchen gelebt, welches der Ansteckung der Civilisation unfehlbar erliegen muß, kehrte er, ohne eine Besserung seiner Gesundheit erzielt zu haben, nach Honolulu zurück. Hier fand er eine Hamburger Brigg, die bereit war, nach Callao in Peru zu gehen; er nahm Passage auf derselben, und verließ die Sandwichinseln nach einem fünfzehnmonatlichen Aufenthalte. Nach einem Besuch auf der Insel Robinsons lief die Brigg aus Mangel an Lebensmitteln in den Hafen von Valparaiso ein. Beck, dem dieses „Thal des Paradieses“ gefiel, blieb sechs Monate hier, indem er in eine Schiffsschmiede Beschäftigung fand. Dann begab er sich nach Callao, besuchte Lima und fuhr mit einem Guanoschiffe, auf welchen er die Dienste eines Steward und Pastetenbäckers versah, um das Cap Horn nach Westindien. In St. Thomas gerieth unser wackerer [324] Thüringer auf ein Flibustierschiff, welches dem berüchtigten Walker in Centralamerika Waffen und Munition zuführen sollte. Die Ladung der Barke wurde in St. Domingo mit Beschlag belegt, der Capitain verhaftet. Beck engagirte sich auf einer amerikanischen Brigg als Steward und kehrte nach allerhand Fahrten nach New-York zurück. Hier faßte ihn das Heimweh mit unwiderstehlicher Gewalt. Vier Wochen später schwamm er auf dem mächtigen Dampfer Fulton über den atlantischen Ocean, und kehrte durch Frankreich nach der Heimath zurück, wo man ihm überall mit der lebhaftesten Theilnahme an seinen Fahrten und Abenteuern begegnet. – Beck ist gegenwärtig 29 Jahre alt, und hat ganz den thüringischen Typus. Der Aufenthalt in Amerika hat in keiner Weise die Biederkeit und Aufrichtigkeit seines Wesens beeinträchtigt. Wohin er auch kommt, um zur Theilnahme an seinem Unternehmen (die Beschreibung seiner Abenteuer) einzuladen, macht sein bescheidenes und doch sicheres Auftreten eine gute Wirkung, und voraussichtlich wird er einen guten Erfolg haben.




Blätter und Blüthen.


Die unterseeische Telegraphenlinie zwischen Europa und Amerika. Jetzt, wo der Augenblick so nahe ist, in dem das großartigste Unternehmen unseres Zeitalters begonnen werden soll, jetzt wo alle nur irgend erforderlichen Anstalten getroffen und alle die mit unsäglicher Mühe construirten Apparate hergestellt sind, dürfte es wohl an der Zeit sein, einen tieferen Blick in die Sache selbst zu werfen und alle darauf bezüglichen Facta zur allgemeinen Kenntniß zu bringen, da wohl anzunehmen ist, daß dieselben z. Z. nur Wenigen klar vor Augen stehen. Schon ist der erste Schritt zur Ausführung des riesigen Planes gethan, der Vereinigte-Staaten-Kriegsdampfer „Niagara“ verließ am 20. April d. J. New-York, um in England die Rolle zu empfangen, welche er bei der Verbindung der Ufer Europa’s und Amerika’s durch ein Telegraphentau zu spielen hat. Er wird in diesem wichtigen Werke von zwei englischen Kriegsdampfern und der Vereinigten-Staaten-Dampffregatte „Susquehanna“ unterstützt werden, welche letztere zu dem Behuf eigens von ihrem Dienst im mittelländischen Meere abberufen ist. Man nimmt an, daß nach Verlauf zweier Monate, von der Abreise des „Niagara“ gerechnet, das ganze Werk vollbracht und eine directe, augenblickliche und dauernde Communication zwischen der alten und neuen Welt hergestellt sein wird.

Der erste Plan zu diesem Riesenwerke wurde zuerst in Amerika vor ungefähr vier Jahren von einer kleinen Gesellschaft New-Yorker Capitalisten gefaßt. Sie haben seitdem allen Anfechtungen standhaft Trotz geboten und selbst den entmuthigendsten Gegenbeweisen ihren festen Entschluß, das Werk zu wagen, entgegengesetzt. Von Vielen wurde die Herstellung einer telegraphischen Verbindung zwischen beiden Welttheilen als eine reine Unmöglichkeit betrachtet, und man bedauerte die armen Herren, deren „tollkühnes“ Unternehmen nur in einer vollständigen Niederlage und bedeutendem Geldverlust endigen konnte, aber die New-York-Newfoundland- und London-Telegraphen-Compagnie war aus Männern zusammengesetzt, die sich durch solche Befürchtungen nicht zurückschrecken ließen und die, einmal von der Ausführbarkeit ihres Vorhabens überzeugt, es mit einem Eifer und Ernst unternahmen, der durch keine Hindernisse irgend welcher Art überwältigt werden konnte. Sie schlossen, daß, wenn ein unterseeischer Telegraph zwischen England und Frankreich zu Stande gebracht wurde, mit den passenden Mitteln und Erleichterungen dasselbe zwischen Europa und Amerika geschehen könne, und diese Mittel und Erleichterungen wurden ihnen vollständig zur Disposition gestellt. Es kann nicht geleugnet werden, daß ihr Werk ein mühsames ist, aber so viele, vorher gänzlich bezweifelte Unternehmungen sind zum Ruhm ihrer Ausführer vollendet worden, daß man auch von dem gegenwärtigen Plane vollkommenes Gelingen erwarten darf. Die Namen der Männer, welche die Ausführung so kräftig in die Hand genommen haben, sind: Peter Cooper, Präsident, Moses Taylor, Schatzmeister, Samuel B. S. Morse, Telegraphist, und dann als Directoren wieder: Peter Cooper, Moses Taylor, Cyrus W. Field und Marshall O. Roberts. Vor ungefähr drei Jahren erhielten diese Herren vom Gouvernement Newfoundlands eine Urkunde, welche ihnen das ausschließliche Privilegium des Anlegens eines Telegraphen auf dieser Insel und in einem der angrenzenden Wässer zusicherte. Ferner wurde ihnen die Verwendung von 25,000 Dollars Staatsgeldern zur Verfügung gestellt, wofür sie einen geebneten Weg über den südlichen Theil der Insel anlegen sollten, welchen man zur Regulirung und Reparirung der Linie für unumgänglich nöthig hielt; dazu überließ man ihnen die Interessen von 250,000 Dollars auf zwanzig Jahr und schenkte ihnen fünfzig Quadratmeilen Land, welches sie sich in irgend einer Richtung aussuchen durften. Da ihnen schon früher Freibriefe vom Gouvernement von „Prinz Edwardinsel“ und New-Brunswick ertheilt wurden, so war die vollständige Linie für den beabsichtigten Telegraphen hergestellt. Ende vorigen Jahres legte man die Taue zwischen genannten Punkten, in der St. Lorenz-Bai und vom Cap Ray zum Cap North, die streckenweise Verbindung zu Lande wurde schon vor zwei Jahren vollendet. So weit war die Compagnie glücklich gewesen, aber bevor nicht das Tau zwischen New-Foundland und Irland gelegt war, konnte man ihr Werk nicht als gethan betrachten. Durch Vermittelung von Cyrus W. Field, eines der zwei Directoren, ist der volle Betrag von 350,000 Pf. Sterl. subscribirt worden und zwar in Theilen von je 5000 Pf. Sterl.; davon kommen auf London 101, auf Amerika 88, auf Liverpool 86, auf Glasgow 37, Manchester 28 und der Rest auf das übrige England. Die englische Regierung hat sich bereitwillig erklärt, 4 Procent vom Capital für Beförderung ihrer aus- und eingehenden Depeschen zu zahlen, noch extra mit der Bestimmung, daß, im Falle sich der eigentliche Betrag nach dem Tarif höher belaufen sollte, sie den Betrag nachvergüten würde. Die Regierung der Vereinigten Staaten wird einen ähnlichen Contract eingehen und jedes Gouvernement hat zwei Dampfer zur Legung des Taues durch den Atlantischen Ocean ausgefertigt, wie bereits oben erwähnt ist. – Die Verfertiger des Taues haben sich verbindlich gemacht, dasselbe in vollkommener Ordnung und sofort zur Benutzung fähig in die Hände der New-York-Newfoundland- und London-Telegraphen-Compagnie niederzulegen.

Man denkt, daß in zwei Monaten das Unternehmen vollständig zu Ende geführt sein wird. Um dies zu bezwecken, werden die Schiffe jeder Nation 1250 Meilen Tau an Bord nehmen und sich nach dem Punkte des Oceans begeben, welcher die Hälfte der äußersten Entfernung zwischen Newfoundland und Irland bildet. Jedes Schiff, welches das Tau führt, begleitet ein zweites Fahrzeug unter der Flagge seiner Nation, um ihm nöthigenfalls beizustehen. Die Entfernung zwischen der Bucht von Valencia und Newfoundland ist nur 1600 Meilen; dennoch wird das zu versenkende Tau eine Länge von 2500 Meilen haben, um den Unebenheiten des Bodens und den von Wind und Strömungen herrührenden Abweichungen zu genügen.




Ein Hausmittel. Der berühmte Mathematiker William Hutton wurde von den schlichten Landleuten seiner Nachbarschaft wenn auch nicht gerade für einen Zauberer, so doch für einen Mann gehalten, der in allen Fällen Rath schaffen könne, und sie wandten sich daher oft mit den wunderlichsten Anliegen an seine stets bereite Dienstfertigkeit. So ließ sich eines Tages eine wackere Bauersfrau bei ihm melden und erzählte ihm mit geheimnißvoller Miene, daß ihr Mann sich gar nicht mehr gut gegen sie benähme, fremde Gesellschaft suche und die Abende meist außer Hause zubringe, was sie recht unglücklich mache. Da sie nun Herrn Hutton als einen sehr gelehrten Mann kenne, hätte sie geglaubt, er werde ihr wohl irgend ein Mittel angeben können, ihren Mann wieder herumzubringen. Der Fall war gerade kein ungewöhnlicher und der Mathematiker glaubte dafür verschreiben zu können, ohne seinen Ruf als Wundermann in Gefahr zu bringen. „Das Mittel ist sehr einfach,“ sagte er, „hat aber meines Wissens seine Wirkung noch nie verfehlt: zeigen Sie Ihrem Manne immer ein freundliches Lächeln.“ Die Bäuerin dankte, knixte und ging. Einige Monate später kam sie wieder zu Hutton und brachte ein Paar schöne Hühner, die sie ihn bat anzunehmen. Mit Thränen der Freude und Dankbarkeit in den Augen erzählte sie ihm, daß sie sein Mittel angewendet habe und ihr Mann richtig curirt sei: er suche jetzt keinen fremden Umgang mehr, bliebe meist immer zu Hause und behandle sie mit unwandelbarer Liebe und Güte.

Diesem einen wohlberechneten Hausmittel des großen Mathematikers möge gleich ein zweites folgen, das er einem jungen Ehepaare mit in die Wirthschaft gab. Mißverständnisse und Zwist niemals aufkommen zu lassen, meinte er, sei ein unerfüllbares und daher albernes Verlangen, dagegen aber sollten sie sich das Wort geben, nie Beide zugleich in Zorn zu gerathen, durch welchen einfache Uebereinkommen sie alle schlimmen Folgen derartiger Vorkommnisse auf’s sicherste abwendeten.




Disciplin. Ein komisches Beispiel glücklich angewandter Theorie ereignete sich kürzlich auf einer der königlichen Kriegswerften an der Themse. Der Superintendent oder Director jener großen Anstalt – ein vortrefflicher Mann, der nur die Schwäche hat, das ganze Heil von der buchstäblichsten Befolgung aller Dienstvorschriften abhängig zu wähnen – kam eines Morgens, als er sich eiligen Schrittes nach seinem Bureau begab, an einer der Schildwachen vorbei. Plötzlich blieb er, wandte sich nach dem tapfern Beschützer des königlichen Bauhofes und frug ihn, warum er ihn nicht angerufen oder, in militairischer Sprache, „gestellt“ habe. Vergebens erklärte der Soldat, daß er den Herrn Superintendenten wohl kenne; dieser ergriff begierig die Gelegenheit, sich auf sein Steckenpferd zu schwingen, schärfte ihm nachdrücklichst seine Pflicht ein, Jedermann, der sich ihm nahe, ohne Ansehen der Person sofort zu stellen, und gerieth endlich über sein Lieblingsthema so in Hitze, daß er rief: „Stellen Sie Alle! Stellen sie mich, Herr!“ „Nach Befehl,“ erwiderte der gelehrige Schüler, fällte sein Gewehr und sagte: „Ich stelle Sie – die Parole, Herr!“ Zum Unglück war dem wackern Superintendenten während seines eifrigen Vortrags über die Pflichten eines Postens die Parole selbst gänzlich entfallen; er konnte sich schlechterdings nicht darauf besinnen, und wurde daher, seiner eigenen Theorie gemäß, in’s Schilderhäuschen gesteckt, wogegen er auch nicht zu protestiren wagte. Hier bekam er bald eine zweite Gelegenheit, sich an dem Erfolg seines Unterrichtes zu erbauen. Ein vorbeigehender Polizeidiener erkannte ihn und frug ganz entrüstet den Soldaten, wie er denn so dumm sein könnte, den Herrn Superintendenten zu arretiren; allein die einzige Antwort der Schildwache war der barsche Ruf: „Halt! die Parole!“ Der Polizeidiener, dem bisher seine Uniform Ausweis genug gewesen war, um ungehindert an allen Posten vorbeizugehen, hatte nicht daran gedacht, sich nach der Parole zu erkundigen, und erfreute sich im nächsten Augenblick der Ehre, dem etwas nachdenklich gewordenen Disciplineiferer im Schilderhäuschen Gesellschaft zu leisten, aus welcher lächerlichen Situation beide erst beim Ablösen des Postens befreit wurden.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir erinnern an die treffliche Schilderung, welche Boz in seinem „Bleakhouse“ von dem englischen Proceßwesen und Unwesen entworfen hat.
  2. Das Haus existirt nicht mehr, eben so wenig die Nachbargrundstücke. Ein elegantes Hôtel und ein Modemagazin nehmen jetzt diesen Platz ein.
  3. Vierzehn Tage vorher war an den Scheunen von Ronneburg ein ausgesetztes, aber – todtes Kind aufgefunden worden.
  4. Wie haben absichtlich die Namen der Hauptpersonen nicht ausgeschrieben.
  5. So sorgfältig auch diese Verpackung war, so dürfte sie doch zu einem Schutze gegen die Kälte eines Februarabends bei einem Fußtransporte von Gera nach Ronneburg schwerlich ausgereicht haben.
  6. Warum diesen Name, sehen wir um so weniger ein, als der von der Mutter angegebene Name doch möglicher Weise einer Erkennung führen konnte. Die herzogliche Landesregierung zu Altenburg machte indeß dieses Versehen wieder gut, indem dieselbe unterm 14. August 1811 verordnete, daß der von der Mutter gewünschte Name nachträglich an der betreffenden Stelle des Kirchenbuchs noch eingetragen werden solle.
  7. Ein Brei, der aus der Tarowurzel bereitet wird.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. ADB:Knaur, Imanuel August Hermann; Vorlage: Knauer
  2. Vorlage: bestimmer