Die Gartenlaube (1857)/Heft 19
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No. 19. | 1857. |
„Du wirst Dich sehr einsam fühlen! Dreißig Jahre zu früh, Günther!“
„Sage lieber, wenn auch nicht dreißig, doch ein halbes Dutzend Jahre zu spät, Gebhard.“
Der Freund lachte. „Dann wärst Du gleich vom Studenten Einsiedler geworden, ganz recht! Indessen, wenn Du es so nimmst, wäre auch das schon zu spät gewesen. Du hättest, noch ehe Du die wilde und freie Universität bezogst, in den Jahren süßer Kindlichkeit schon, wo möglich ohne erst in Berührung mit den verderbten Sprößlingen moderner Civilisation, welche die Schulbänke füllen, zu kommen, diese wald- und sumpfumgürtete Eremitage aufsuchen sollen. Freilich hättest Du dann das Glück meiner Bekanntschaft entbehrt, indessen ein Freund der Neuzeit ist ein sehr zweifelhaftes und zweideutiges Wesen; jene hohen, edlen Menschen aus Jean Paul’s Zeit sind ausgestorben und ihre Reste nur noch als Fossilien anzutreffen – Du hättest an mir auch nichts verloren. Daß ich Dich hier aufgespürt habe, geschah weniger aus idealer Freundschaft, als aus brennender Neugier und vielleicht auch aus Malice gegen eine gewisse Abneigung –“
„Halt, Gebhard!“ unterbrach ihn Günther. „Was Du sagen willst, erspare uns. Ueber mich kannst Du Deinen vollen Humor ausgießen, aber – Du weißt, was ich nicht dulden kann.“
„Es fällt mir auch gar nicht ein, Deine loyale Treue erschüttern zu wollen. – Wahrhaftig, Günther,“ fuhr er, plötzlich den Ton wechselnd, fort, „Du verkennst mich, wenn Du glaubst, ich könnte Dein kindliches Gefühl verletzen wollen. Ich denke. Du mußt mir das Zeugniß geben, daß ich über dies auch mir heilige Verhältniß nie gespottet habe.“
„Aber Du sagtest doch eben selbst, aus Malice gegen eine gewisse Abneigung – auf wen konnte ich das anders beziehen –?“
„Als auf die Dame, welche dort kommt?“ ergänzte Gebhard. Günther sah sich schnell um und hörte kaum noch des Freundes flüchtige Worte: „Wähnst Du, das sei die einzige Abneigung in der Welt, mit welcher ich unseliger Erdenpilger zu kämpfen hätte?“
Ohne diese Aeußerung, die ihn doch einigermaßen befriedigte, zu beantworten, eilte er der schönen Frau entgegen, welche in der geraden Kirschallee des Gartens daher geschritten kam. Gebhard konnte nicht anders, sein Blick aber flog dem Freunde voraus.
Es war in der That eine schöne Frau, die er heute, wie bekannt sie ihm auch war, zum ersten Male sah. Das einfache Morgenkleid ohne allen übrigen Ballast der Mode, das sie trug, hob die Vorzüge ihrer edlen Gestalt vortheilhaft in’s Licht, ein leichtes Häubchen, schneeweiß, mit wenig Band, umschloß ihr Gesicht von zarten Farben, über dessen Stirn ein schmaler, gescheitelter Streif ihres dunkeln Haares erschien. Ihr Auge – Gebhard fühlte seinen Blitz – traf schon aus der Ferne den Fremden, den sie zu ihrer Ueberraschung erblickte.
„Ist das möglich?“ sagte sich Gebhard. „So habe ich sie mir nicht gedacht! Das ist ja wahrhaft ein Märchen, ein Zauber von ewiger Jugend! Man hat sie mir wohl geschildert, aber wie matt und falsch!“
„Wer ist das, Günther?“ fragte die Dame rasch und leise, als sie von dem Nahenden, doch nicht von dem Gaste, gehört werden konnte.
„Gebhard Hallstein – er hat mich aufgesucht – er wünscht Dir vorgestellt zu werden.“
Bei der Nennung des Namens zuckte es ein wenig um den Mund der Dame – Günthers scharfem Blicke, der gewohnt war, in ihren Mienen zu lesen, konnte es nicht entgehen. Aber sie sagte nichts, sondern faßte Gebhard nur fester in das Auge, als er, seinen Schritt um etwas beschleunigend, näher kam. Er grüßte sie ehrerbietig, als Günther ihn vorstellte; er bat um Entschuldigung, daß er dem Drange, seinen Freund wiederzusehen, nachdem er einmal Nachricht von ihm erhalten, nicht habe widerstehen können. Sie antwortete leicht und höflich, wie es der gute Ton nur verlangen kann; ihre Miene war freundlich und lächelnd, ihre Stimme klang durchaus angenehm, aber Gebhard konnte sich doch dabei eines Gefühls nicht erwehren, das er im zeitigen Frühling in den lombardischen Seethälern gehabt, wo er durch die lauen wohlthuenden Lüfte doch zuweilen hindurchwehend einen kältenden Hauch von dem ewigen Schnee und Eis der Alpen gefühlt hatte.
„Sie hat ein Vorurtheil gegen mich!“ dachte er. „Sie muß es haben. Aber sie soll sich dessen noch schämen – das gelobe ich mir.“
Als sie auf den einfachen Bänken, welche vor der Thüre des Hauses unter drei jungen, unlängst gepflanzten Bäumen standen, Platz genommen hatten und ein leichtes Gespräch von wenig Inhalt durch die Dame in Gang gebracht war, fand Gebhard Gelegenheit, seine Beobachtungen fortzusetzen. Er verglich seinen Freund mit der schönen Frau, welche neben ihm saß – wenn er die Verhältnisse nicht gekannt hätte und sie ihm als Günther’s Gemahlin genannt worden wäre: wahrlich, er würde nicht viel dagegen einzuwenden gehabt haben. Zwar hatte sie die erste Jugendblüthe – das sah er nun [258] wohl in der Nähe und in der unerbittlich klaren Morgenbeleuchtung – vielleicht schon seit einiger Zeit hinter sich, aber wenn er Günthers Gesicht mit den ernsten, scharf geschnittenen Zügen betrachtete, in denen keine Spur eines jugendlichen Ausdrucks mehr war, so konnte er kein Mißverhältniß in jener Annahme finden. Aber sie war seine Mutter! Nicht seine Stiefmutter, sondern seine rechte und wahre Mutter! Wie alt mußte sie danach sein? Günther, das wußte er genau, hatte sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr kürzlich zurückgelegt; wenn die Mutter auch in frühester Jugend, angenommen wie eine Südländerin mit vierzehn Jahren, sich vermählt hatte, so mußte sie heute doch in den Vierzigen sein und wer sie sah, der hielt sie wenigstens für zehn Jahre jünger, während man ihrem Sohne wohl ebensoviel mehr gegeben hätte. War Frau von Aßberg denn unvergänglich, wie Ninon de l’Enclos?
Er sah ein feines Lächeln um ihren Mund spielen, er bemerkte des Freundes verwunderten Blick – zum Bewußtsein kam es ihm plötzlich, daß er, von seinen Gedanken mächtig befangen, eine Frage nicht recht beachtet oder falsch beantwortet habe, welche die Dame an ihn gerichtet, und er erröthete. Mit Unwillen und Staunen fühlte er, daß er, was ihm seit Jahren nicht mehr geschehen war, wie ein blöder Knabe erröthete, und dies Gefühl gab ihm, gleich einem elektrischen Schlage, seine Kraft zurück, aber es reizte ihn zugleich und machte ihn böse.
„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau,“ sagte er. „Ich war zerstreut. Ein Gedanke, der mich plötzlich überfiel, wie ein Lämmergeier, trug mir den Geist fort. Ich habe darum nicht recht gehört, was Sie mich fragten, und bitte für meine gewiß alberne Antwort um Nachsicht.“
„Sie war im Gegentheil nur zu treffend, Graf Hallstein,“ erwiderte Frau von Aßberg und das Lächeln um ihren Mund kämpfte, dem guten Tone zum Trotz, um sein besseres Recht, sich in ein helles Lachen zu verwandeln. „Aber Sie gebrauchen ein schreckliches Bild – und es freut mich, daß Ihr Geist sich den Fängen des Unholdes gleich so kräftig entrungen hat. Hoffentlich hat Ihre jetzige Umgebung denselben nicht herbeigelockt?“
„Ich mußte – warum, weiß ich nicht – an meinen ältesten Bruder denken, gnädige Frau,“ erwiderte HMstein und richtete sein Auge fest auf die scherzende Dame. „Sie haben ihn gekannt und entschuldigen mich nun wohl.“
Ihr Lächeln schien einen Moment zerrinnen zu wollen, aber sie bannte es auf ihren Lippen, nur nahm es jetzt einen anderen Charakter an.
„Sein Sie nicht unwahr, Graf Hallstein,“ sagte sie sanft. „Wenn Sie wissen, daß ich Ihren Bruder gekannt habe, so wissen Sie auch, warum Sie an ihn denken mußten, und ich finde es ganz natürlich, daß Sie von diesem Gedanken befangen mir eine Antwort gaben, die ich – jetzt erst verstehe. – Es ist nicht gut, Graf Hallstein,“ setzte sie hinzu, als sie seinen betroffen fragenden Blick bemerkte, „Verhältnisse, welche zwischen denen, die sie berühren, weder geheim, noch unklar geblieben sind, mit Anspielungen zu behandeln; müssen sie besprochen werden, dann offen und ehrlich.“
„Gnädige Frau,“ versetzte er, zu seiner eigenen Erbitterung ziemlich fassungslos, „dieser Vorwurf, diese – Belehrung –“ er stockte, denn er fühlte mit Schrecken, daß ihm mit einem solchen Worte der Empfindlichkeit der feste Boden seines gesellschaftlichen Taktes unter den Füßen wich. Hatte er denn so lange Jahre das Parket der Salons umsonst getreten?
„Eine ältere Frau,“ erwiderte Frau von Aßberg mit einem milden und schonenden Lächeln, indem sie ihm ihre schöne Hand reichte, „eine ältere Frau, die Freundin Ihres verewigten Bruders, hat wohl Anlaß, Sie um ein offenes Wort zu bitten, wenn Sie es auf dem Herzen haben. Mein Sohn kennt alle Verhältnisse, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, wir können also ganz offen sprechen.“
„Aber, gnädige Frau,“ rief der Graf, „was habe ich denn wahrlich ohne es selbst zu wissen – gesagt, welchen Ausdruck denn in voller Geistesabwesenheit gebraucht, daß ich in Verdacht komme, Sie durch versteckte Anspielungen verletzen zu wollen? Günther, ich fordere Dich auf, mir es zu sagen, denn ich gebe Dir mein Wort, daß ich keine Ahnung davon habe.“
„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Aßberg rasch für ihren Sohn, „so bedarf es keiner weiteren Rede! Sie haben absichtslos ein Wort gesagt, das nur zufällig eine Bedeutung, die wir erst hineingelegt, haben konnte. Es war dann freilich, als Sie aussprachen, welcher Gedanke Sie von unserm Gespräch abgezogen hatte, von unserer Seite erklärlich, daß wir eine Absicht zu finden glaubten. – Mißverständnisse, sagt Shakespeare, kommen daher, daß man sich nicht versteht,“ setzte sie heiter, mit einer Rückkehr zum leichten Tone hinzu, „und so wollen wir denn nicht weiter davon sprechen, ja ich wünsche ausdrücklich, lieber Günther, daß Du Deinen Freund nun auch in der Neugier, was er denn Hochgefährliches gesagt, nicht befriedigst – mag es eine kleine Strafe für Sie sein, Graf Gebhard, daß Sie eine Dame, die mit Ihnen spricht, so beschämend ignoriren.“
Sie begleitete diese Worte mit einem so freundlichen Blicke, daß Gebhard vor der siegreichen Gewalt ihres schwarzen Auges kein Wort mehr fand und er nicht umhin konnte, die Hand, welche ihm vorhin gereicht worden war, noch einmal zu ergreifen und zu küssen.
Der Frosthauch, den er in den ersten Momenten ihres Gesprächs zu fühlen geglaubt, schien von dem warmen und erquickenden Wehen der Freundlichkeit völlig überwunden zu sein.
Erst nach einiger Zeit, als Frau von Aßberg sich entfernt hatte, um ihrem Hauswesen und auch wohl ihrer Toilette gerecht zu werden, kehrte dem Grafen eine ruhigere Besonnenheit zurück, und wie es in seinem Charakter lag, zugleich eine Reaction gegen das Gefühl, dem er sich hingegeben hatte.
„Sie ist doch eine herzlose Coquette – wie sie gegen meinen armen Bruder gewesen ist!“ klang es in ihm. „Und so glaube ich auch nicht, wenn ich ihr, wie sie von jeher fürchten mag, den Sohn auf Abwege führe, daß es auf sie einen tiefern Eindruck machen würde. Es mag nur die Sorge sein, daß ihre souveraine Herrschaft über ihn durch Oppositionsgelüste, die ich ihm einflößen konnte, zu erschüttern wäre, welche mir eine verwundbare Seite an ihr zeigt. Soll ich sie benutzen?“
„Du schweigst, Gebhard, und siehst mit einem ironischen Lächeln vor Dich nieder?“ begann Günther nach einer Weile, in welcher er den Freund, der stumm neben ihm saß, beobachtet hatte.
„Ironisch? Du hast verlernt, meine Gedanken zu errathen, wie Du Dich sonst rühmtest! Ich lächle eher wehmüthig, und zwar über mich selbst, der wie ein Schiffbrüchiger auf einer Klippe sitzt und die Trümmer seines schönen Bootes treiben sieht. Ohne Bilder gesprochen – es war der dümmste Streich meiner letzten Jahre, daß ich hierher gekommen bin.“
„Gebhard!“ rief Aßberg verletzt.
„Was wollte ich hier? Dich wiedersehen, der doch mit Absicht auch vor mir seine Spur verwischt hat? Mich mit eigenen Augen überzeugen, wie Du lebst, nachdem Du Dich ganz des eigenen Willens begeben hast? Dich vielleicht aufreizen gegen eine Autorität, welche ich wenigstens in dieser Ausdehnung nicht begreifen konnte, im glücklichen Falle Dich vielleicht im Triumphe, wie ein Adler ein geraubtes Kind, entführen, aber nicht um Dich zu tödten, sondern Dich wieder auf die Sonnenhöhen des Lebens zu stellen, wo Dein Platz und Dein Pfad ist, Günther – sieh, das waren so ungefähr meine Gedanken, als es mir gelang, Deine Solitüde zu erfahren. Und ich muß jetzt bei nüchterner realer Betrachtung gestehen, daß es sehr dumm war. Denn Du wirst Dich doch nicht mehr losreißen, Du wirst Dich keineswegs, auch nur in der geringfügigsten Kleinigkeit, wie zum Exempel, daß Du mir nicht sagen sollst, welches ungeschickte Wort ich vorhin im Traume gesprochen habe, gegen den Wunsch und Willen Deiner Mama auflehnen und ich fühle, daß ich selbst Gefahr laufe, –“ hier unterbrach er seine Rede plötzlich, die gegen seinen Willen wahrer Ernst geworden, doch vor dem Blicke des Freundes, der vorwurfsvoll auf ihm ruhte, sich verhärtend, fuhr er gleich fort: „Gefahr laufe, wollte ich sagen, wie auf einer bezauberten Insel auch meiner Freiheit beraubt zu werden. Ich helfe Dir gar nichts und schade mir selbst. Gestehe, daß ich Recht habe, mit meiner Entdeckungsreise sehr unzufrieden zu sein.“
„Gestehe Du mir lieber,“ entgegnete Aßberg, „daß es Dir leid thut, meiner Mutter weh gethan zu haben, und daß Du, wie gewöhnlich, wenn Du weich bist, Dich hinter eine Maske birgst.“
„Wenn ich deiner Mutter weh gethan habe, sie hat es mir auch und meiner armen Mutter noch mehr!“ sagte Hallstein, von des Freundes Aeußerung vielleicht gereizt.
„Ich weiß Alles,“ erwiderte Günther sanft. „Meine Mutter hat mir, seit ich gereifter bin, kein Geheimniß mehr aus diesen traurigen Verhältnissen gemacht. Darum weiß ich aber auch, daß sie kein Vorwurf trifft. Sie fühlt sich rein von aller Schuld, denn [259] sie hat die unselige Leidenschaft Deines Bruders, die sich zu ihr, der verheiratheten Frau, verirrte, nie aufgemuntert, im Gegentheil Alles gethan, um sie abzuschrecken, bis zur Unfreundlichkeit und absichtlicher Annahme von äußern Dingen, die einem Manne von seinem Gefühle nicht gefallen können.“
„O ja, das hat sie gethan und ich will sie nicht verdächtigen, wie es nahe liegt, daß sie ein herzloses Spiel getrieben habe, um sich an dem ohnmächtigen Ankämpfen der Leidenschaft gegen alle Hindernisse, selbst gegen äußere Fehler der Geliebten, zu ergötzen. Ich will das nicht thun, aber die Thatsache liegt nackt und klar da, daß Alles nur dazu gedient hat, diese Leidenschaft zu steigern, bis zu dem Ende, das sie genommen hat. Mein Bruder ist nun todt und meine Mutter ist auch todt, Deine Mutter aber blüht in unvergänglicher Schönheit und kann mit Waldemar’s Bruder scherzen!“
„Daß sie das kann, Gebhard,“ erwiderte Günther, „muß Dir beweisen, wie rein und lauter sie sich fühlt. Seit jener traurigen Zeit sind zwanzig Jahre vergangen, und wenn Dir von den Deinigen so rückhaltlos die Wahrheit, – die ganze, volle Wahrheit, Gebhard! – gesagt worden ist, wie mir, so mußt Du meine Mutter achten, mußt es anerkennen, daß sie Dir hell und freundlich in das Auge sehen kann.“
„Was meinst Du?“ fuhr Hallstein auf. „Die ganze, volle Wahrheit? Weiß ich sie etwa nicht?“
„Auch in Bezug auf die Versuchung, die meiner Mutter, jung und harmlos, wie sie war, genaht ist, die Versuchung, ihr Eheband zu lösen, das ihr ein Leben in Dürftigkeit und Entsagung, an der Seite eines Greises, dem sie die Hand nur aus Pflichtgefühl für den Willen ihres Vaters gereicht, bereitete, während ihr dafür – verkenne mich nicht, Gebhard, wenn ich Dir jetzt Alles sage, was meine Mutter nur mir, nach langen Jahren, erst in dieser Abgeschiedenheit vertraut hat! Ich sage es Dir nur, um meine Mutter, welche Du verkennst, in Deinen Augen leuchtend zu rechtfertigen!“
„Sprich!“ bat Gebhard mit bebender Stimme.
„Du hast Deinen Bruder Waldemar wohl nicht gekannt, wie er einst war, in Fülle seiner männlichen Schönheit und Geistesgaben! Dir schwebt sein Bild nur vor, wie Du, der so viel jünger ist, ihn in seinen letzten verdüsterten Jahren gesehen hast –“
„Was will Du damit sagen?“ rief Gebhard. „Hab ich ihn auch in seiner blühenden Jugend nicht gekannt, so weiß ich wohl davon und das Miniaturbild aus jener Zeit, das über dem Bett meiner Mutter hing und ihren letzten Blick empfangen hat, ist jetzt mein Eigenthum –“
„Nun wohl, Gebhard, so nimm von Deinem Freunde, als ein theures Vertrauen und verwahre in Deiner Brust, was ich Dir jetzt sage: Meine Mutter hat Waldemar geliebt!“
Aufzuckend ergriff Gebhard Günther’s Hand und seine Wange zeigte ein flüchtiges Erblassen, das aber schnell einer jäh aufflammenden Gluth wich.
„Die ritterliche Erscheinung Deines Bruders, die zarte und tiefe Neigung, die er zu verhüllen und zu bekämpfen strebte, und die ihn dennoch mit verhängnißvoller Gewalt immer wieder in ihre Nähe zog – konnte meine Mutter gleichgültig dagegen bleiben? Sie war, noch ein halbes Kind, dem strengen alten Krieger verlobt worden, der ein Waffengefährte ihres Vaters gewesen war, sie hatte ihm, der bald kränklich wurde, zwar ihre volle und treue Sorge geweiht, aber – ihr Herz? Ich kann Dir nicht sagen, wie Alles gekommen ist, da ich natürlich nur flüchtige Andeutungen über dies zarte Geheimniß erhalten habe – ein Geheimniß, verstehe mich recht, auch für Deinen Bruder! Nie hat er errathen, was in dem Herzen meiner Mutter für ihn lebte –“
„Das weiß ich!“ versetzte Gebhard düster. „Der geringste Strahl von Hoffnung würde ihn uns erhalten haben. War es nicht grausam, der erlöschenden Fackel seines Lebens diese Wohlthat vorzuenthalten?“
„Gebhard! Eine Vertröstung auf den Tod des Gatten – ein Geständniß des Gefühls, das ein Unrecht war –“
Der Graf schwieg und blickte vor sich nieder; in seinen ausdrucksvollen Zügen malte sich eine Bewegung. Zwischen Beiden waltete eine minutenlange Stille und Günther hoffte das Gespräch, das ihm so peinlich war, ganz beendigt zu sehen. Aber Gebhard begann mit der ihm eigenen Consequenz, wo es galt, eine Sache bis zu ihren äußersten Spitzen zu verfolgen, von Neuem: „Die ganze volle Wahrheit hast Du mir versprochen. Wie konnte mir meine Mutter von dieser Versuchung sagen, wenn sie nur im eigenen Herzen vorgegangen und Jedermann, selbst Waldemar, ein nie geahntes Geheimniß geblieben ist?“
„Von dieser Versuchung rede ich nicht, ich meine die, welche ihr von außen genaht ist. Man sah wohl, daß sie nicht glücklich sein konnte – das muß der Sohn von seinem Vater sagen, Gebhard, aber ich bin es meiner Mutter schuldig. Der Vater war krank und hinfällig, und darum wohl herber, als er selbst wußte; das Vermögen, das er besessen hatte, war durch Unglücksfälle und Sorglosigkeit verloren gegangen – meine arme Mutter hatte ja damals von Geschäften keinen Begriff, sonst würde sie auch hier rathend und warnend eingegriffen haben, sie that nur treu ihre Pflicht als Hausfrau und Pflegerin des kranken Gatten und trug das Loos der Verarmung, die Verlassenheit, als die falschen Freunde sich zurückzogen, mit Ergebung. Da nahete sich ihr die Versuchung, von der ich sprach. Es wurde ihr die Möglichkeit eröffnet, ihr Eheband gelöst zu sehen, für den Gatten wurden ihr ein sorgenfreies Asyl, im Ueberflusse, bei aller Sorge für seine Gesundheit durch die Kunst berühmter Aerzte, in Aussicht gestellt – den Grund der Scheidung wähnte man auf die schonendste Weise gefunden, den Spruch selbst schon gewiß zu haben, zu der Zeit, wo es noch leicht war, das heilige Band nach Gefallen zu lösen.“
„Und wer hat diesen Antrag gemacht? Wen klagst Du hier gegen mich an?“ fragte Gebhard, indem er sein großes blaues Auge fest, beinahe drohend auf den Freund richtete.
„Ich habe kein Recht zur Anklage, wo ein Leben auf dem Spiele stand. Auch diese Andeutung wurde meiner Mutter nicht erspart. Welche Kämpfe sie nun bestanden, das weiß nur Gott, der in ihr Herz gesehen hat. Mein Vater wurde endlich, als Alles fruchtlos blieb, in das Spiel gezogen.“
„Das ist zu viel!“ rief Gebhard. „Du brandmarkst uns, um alle Schuld von dem einen Haupte zu nehmen.“
„Welches Wort, Gebhard! Wo ein theures Leben bedroht war, die Seelenangst, die nach einem Lichtschein in der Finsterniß blickt, mag es auch ein Irrlicht sein – o, ich verstehe und entschuldige Alles! Auch ist, das weiß ich, kein unedles Motiv bei meinem Vater benutzt worden, keine Verdächtigung etwa, man suchte im Gegentheil sein treues Weib so hoch in seinen Augen zu stellen, daß er selbst, von Achtung und Mitleid ergriffen, sich entschließen sollte, ihr ein besseres Loos durch einen raschen Entschluß zu bereiten. Aber ein Wort meiner Mutter genügte, um den Moment vorüberzuführen. Und so blieb sie bei ihrer Pflicht – was geschehen ist, fällt nicht auf ihr Haupt.“
Das war nun freilich zwanzig Jahre her und Gebhard fühlte keine Unzufriedenheit, als das Gespräch durch die Dazwischenkunft eines Dritten unterbrochen wurde. Es hatte eine Wendung genommen, welche ihm, der sonst so fest zu stehen wähnte, den Boden unter den Füßen unsicher machte; wozu sollte es also führen, die Vergangenheit von zwanzig Jahren wieder zurückzurufen? Die Aufschlüsse, die er soeben erhalten hatte, neu und unerwartet, wie sie waren, gaben ihm zu denken genug, und er hieß Günther’s Entschuldigung, als dieser durch einen kleinen dicken Mann abberufen wurde, sehr willkommen, denn er blieb sich nun eine Weile selbst überlassen, wo er Alles in seinem Geiste verarbeiten konnte.
Frau von Aßberg hatte also seinen Bruder Waldemar geliebt! Die junge bildschöne Frau, wie sie ihm, der sie bis heut nicht gesehen hatte, geschildert worden war, die Gattin eines alten kranken Mannes, der ihr Großvater hätte sein können, hatte ein freudloses Leben in Armuth und Sorgen dem Loose vorgezogen, das ihr an der Seite des Geliebten winkte, welcher ihr mit einer glühenden und starken Leidenschaft zugethan war und sie auf Händen getragen, auf Rosen gebettet haben würde, während sie von ihrem Gatten eine harte und unfreundliche Behandlung zu dulden hatte und nur Dornen auf ihrem verödeten Lebenspfade fand. Wie hoch stand ihm diese Frau jetzt und welches Unrecht hatte er ihr im Geiste abzubitten! Was aber mußte er von einer Andern denken, die ihm bis auf diesen Moment als das Bild jeder Frauentugend erschienen war! Konnte seine Mutter im Ernst der Frau, welche ihr Herz der Pflicht opferte, jene Versuchung bereitet haben, von welcher Günther gesprochen? Sie war damit gescheitert und Waldemar hatte sich, unheilbarer [260] Schwermuth verfallen, in die Einsamkeit einer entlegenen Besitzung zurückgezogen, wo er nach einigen Jahren gestorben war. Die Mutter hatte Alles aufgeboten, was in ihren Kräften stand, um ihn diesem abgeschiedenen Leben, das ihn seiner Leidenschaft zur wehrlosen Beute gab, zu entreißen – vergebens! Diese Leidenschaft, die sein Dasein allmählich untergrub, war stark genug, ihre Beute auch nach außen zu vertheidigen. Der Oberst von Aßberg, auf dessen Tod vielleicht – konnte Gebhard den Bruder darum verdammen? – Waldemar’s letzte Hoffnung gestanden hatte, war trotz seiner Hinfälligkeit, die ihn zuletzt hülflos wie ein Kind gemacht, erst drei Jahre nach Waldemar gestorben, und seine Wittwe, mit ihrem damals vierzehnjährigen Knaben, aus der kleinen Stadt, wo sie zuletzt gelebt hatte, fortgezogen – wohin, das hatte Gebhard’s Mutter, die ihrem Sohne später diese traurige Geschichte erzählt hatte, nicht erfahren, vielleicht auch gar nicht danach geforscht. Graf Gebhard war bedeutend jünger als sein Bruder, und zu jener Zeit fern von der Heimath, in einer berühmten Erziehungsanstalt gewesen, hatte auch, als er erwachsen war, lange Zeit nichts von Allem erfahren, bis er auf der Universität mit Günther von Aßberg zusammengetroffen und bald innig befreundet worden war. Da erst hatte es seine Mutter für passend erachtet, ihn mit dem Schicksale seines Bruders bekannt zu machen, um durch ihn zu erfahren, wo Frau von Aßberg jetzt lebe und welcher glückliche Wechsel in ihren äußern Verhältnissen jetzt eingetreten sei, daß ihr Sohn in augenscheinlich guter Lage eine der kostspieligsten Hochschulen Deutschlands besuchen und dort unter die reicheren Musensöhne gezählt werden konnte.
Gebhard hatte mit einer leicht erklärbaren Aufregung seinen Freund, nachdem die Ferien vorüber, in denen er bei seiner Mutter jene Mittheilungen erhalten hatte, gleich über dieselben befragt, anfangs aber keinen nähern Aufschluß erhalten, weil Günther von der Vergangenheit nichts wußte. Ein Brief an Frau von Aßberg, welchen der Sohn über eine so zarte Angelegenheit nicht in eine gerade Frage kleiden konnte, war ohne den gehofften Erfolg für Gebhard geblieben; sie hatte auf die Wünsche ihres Sohnes, von ihrer früheren Bekanntschaft mit der Familie seines Freundes etwas zu erfahren, nur mit einer Vertröstung auf das nächste Wiedersehen geantwortet, wo sie ihm lieber mündlich erzählen wolle, was er zu wissen wünsche, doch werde ihr das vielleicht schon durch seinen Freund, der offenbar um die früheren Beziehungen zu wissen scheine, erspart werden; sie selbst, schloß die Stelle, halte eine Besprechung derselben für sehr überflüssig, habe jedoch keinen Grund, sie zu verweigern. Gebhard wußte jedoch von seiner Mutter nichts weiter, als daß sein ältester Bruder Waldemar sich sehr für Frau von Aßberg interessirt und vielleicht gehofft habe, einst, wenn sie durch den Tod von ihrem kranken Manne befreit werde, ihre Hand zu erhalten; ob er von ihr in dieser Hoffnung bestärkt worden sei, hatte die Gräfin unklar gelassen, sein Dahinsterben aber mit düstern Farben geschildert und manche bittere Bemerkung daran geknüpft. Da er nun durch Günther auch, nachdem dieser bei nächster Gelegenheit Rücksprache mit seiner Mutter genommen hatte, nicht viel mehr erfuhr, als was die Thatsache bestätigte und die herben Anspielungen der Gräfin Hallstein wenigstens nicht ganz zu entkräften geeignet war, so hatte sich in ihm über die Frau, welche mit seinem Bruder ein herzloses Spiel getrieben hatte, eine Ansicht festgestellt, die erst jetzt durch die Eröffnungen Günther's erschüttert werden war. Günther hatte aber selbst erst vor wenigen Wochen, erst hier in der Abgeschlossenheit, in welcher er mit seiner Mutter lebte, ihr volles Vertrauen über die traurige Vergangenheit und damit auch Kenntniß von der gefährlichen Versuchung gewonnen, welche ihr die Gräfin Hallstein, um ihren Lieblingssohn, den sie vergehen sah, zu retten, bereitet hatte, eine Versuchung, gefährlich nur, weil sie in ein Bündniß mit dem eigenen Herzen der armen jungen Frau trat.
So war in jener Zeit akademischer Freundschaft durch gegenseitiges Uebereinkommen das Verhängniß, das Gebhard’s Bruder einem frühen Tode geweiht hatte, nicht mehr berührt worden, und die Gräfin Hallstein hatte nur über ihre Nebenfrage nach den günstigern Vermögensverhältnissen der Frau von Aßberg Auskunft erhalten, daß nämlich eine Erbschaft, nicht ihr, sondern ihrem Sohne zugefallen sei, die ihn nicht nur wohlhabend, sondern in jeder Beziehung unabhängig gemacht habe. Sie hatte dann nicht für gut befunden, Gebhard weiter in die Bestrebungen einzuweihen, die sie fruchtlos sogar bei dem alten Obersten von Aßberg angestellt hatte, und war, nachdem ihr Sohn bereits einer Gesandtschaft im Auslande als Cavalier beigegeben war, auf einer Reise in Italien gestorben.
Gebhard, der mit Günther auch in spätern Verhältnissen immer in brieflicher Verbindung blieb, hatte von diesem bei Gelegenheit der Kunde von dem Todesfall, die er ihm mittheilte, die erste Verletzung ihres früheren Abkommens erfahren, indem Günther in seinem Mitgefühl für die Betrübniß des Freundes geäußert hatte: „möchte die Verklärte meiner Mutter das Leid vergeben haben, welches sie ihr ohne ihr Verschulden zugefügt hat!“
Als sie sich darauf einmal wiedergesehen hatten, und zwar in Wien, wo Günther den Grafen besuchte, der nun als Legationssecretair bei der dortigen Gesandtschaft seines Hofes angestellt war, da hatte allerdings auch Gebhard die alte Zeit noch einmal berührt, und gefragt, ob seine Mutter vielleicht seitdem davon gesprochen habe. Das war aber nicht der Fall gewesen. Seitdem hatten sich die Freunde mehrere Jahre nicht mehr getroffen: Graf Hallstein war durch eine Mission bei der Pforte längere Zeit fern von Deutschland gehalten worden und Aßberg unterdessen auch auf Reisen gewesen. Ihre Correspondenz hatte dadurch eine gänzliche Unterbrechung erfahren und als der Graf heimgekehrt war, um in dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten eine Stelle zu übernehmen, war es ihm erst nach längerer Bemühung gelungen, von Günther, der keine Verbindungen gerade mit Hallstein’s Bekannten hatte, einige Nachrichten zu ermitteln.
Durch Damen, welche der Diplomat immer mit großem Vortheil für seine Zwecke zu interessiren weiß, hatte er endlich die rechte Auskunft erlangt; sie lautete, daß der arme Herr von Aßberg gänzlich unter der absoluten Herrschaft seiner Mutter stehe, die ihn von der „Gesellschaft“, in der er doch in jeder Hinsicht berechtigt sei, eine Rolle zu spielen, fern halte und so weit gebracht habe, daß er sich in einer von aller Verbindung mit der cultivirten Welt abgeschnittenen Gegend ein Gut gekauft habe, um dort ganz ihrem Willen zu leben. Sie selbst, welche wohl ihre Ursachen haben müsse, die Kreise, zu welchen sie durch ihre Geburt gehöre, zu vermeiden, solle in jeder Beziehung eine widerwärtige Frau sein, die schon durch ihre äußere bäuerische Erscheinung von guten Häusern ausgeschlossen werden müsse, und wahrscheinlich auch sonst irgend eine schwere Verschuldung trage, von welcher jedoch Niemand etwas Bestimmtes anzugeben wisse.
Als Heinrich Heine einstmals den ironischen Ausspruch that, Altona, die freundliche, helle, saubere Elbuferstadt, sei die hauptsächlichste Sehenswürdigkeit von Hamburg, da hatte er’s für längere Zeit gründlich mit den Bewohnern der „zweiten Stadt des dänischen Reiches“ verdorben und es dauerte eine geraume Weile, bis sie dem muthwilligen Spötter wieder gut wurden. Im Grunde konnte man’s den Altonaern auch nicht verdenken, daß sie damals ein wenig aufgebracht gegen den Dichter waren, denn wenn auch ihre Stadt, nur durch einen schmalen Grenzgraben von der weitberühmten und weitberüchtigten Vorstadt St. Pauli („Hamburger Berg“) getrennt, gleichsam ein Anhängsel der gewaltigen Welthandelsstadt zu sein scheint, so ist sie doch, abgesehen von allem Andern, schon vermöge ihrer Ausdehnung, ihrer Einwohnerzahl von weit über vierzigtausend und ihrer großen Handels- und Fabrikthätigkeit wohlberechtigt, von aller Welt die Anerkennung als selbstständige Stadt neben dem mächtigen, glänzenden Hamburg zu fordern. Aber dabei bleibt kein patriotischer Altonaer stehen, er nimmt vielmehr auch viele der ersten Sehenswürdigkeiten, welche die Verfasser gewisser Reisehandbücher als Hamburgische bezeichnen, für seine Stadt in Anspruch und das mit Fug und Recht, denn über den erwähnten schmalen Grenzgraben hinaus besitzen Hamburg und dessen westliche Vorstadt nichts Eigenes mehr, dort beginnt der neuerfundene „dänische Gesammt-Staat,“ dessen zweite Stadt sich mithin wird erlauben dürfen, alle nach Westen zu belegenen Sehenswürdigkeiten [261] die ihrigen zu nennen. Nur eine von der Hand eines Hamburgers geschaffene Sehenswürdigkeit ist der Altonaer jeden Augenblick bereit, seinem Nachbar zu überlassen: das in der grandiosen Palmaille (einer langen aus zum Theil sehr alten Ulmen, Linden und Buchen bestehenden Allee) aufgerichtete Standbild des um die Stadt so hochverdienten Oberpräsidenten Grafen v. Blücher. Und in der That, jede menschlich fühlende Seele kann ja auch nur mit Angst und innigem Mitleid diese Figur des alten würdigen Mannes betrachten, sintemal sie im Begriff zu sein scheint, von ihrem Postamente herab rücklings in den Schmutz der Straße zu fallen. Wie manchen Spott müssen die Altonaer dieses verunglückten Standbildes wegen erdulden! Eins gereicht ihnen dabei jedoch zu einigem Trost: daß die Hamburger nicht in das Gespött einzustimmen wagen, denn es ist ja Einer der Ihrigen, der diese in Erz gegossene Missethat verübt hat.
Wahrhaft rührend aber ist die Anhänglichkeit, welche die Altonaer für eine andere Sehenswürdigkeit ihrer Umgegend, die beiden Dichtergräber auf dem freundlichen Friedhofe zu Ottensen, an den Tag legen. Am Ausgange der großartigen Promenade beginnt die glänzende Häuserreihe der Klopstockstraße, welche zu dem weltberühmten Rainville’schen Garten führt. Auf der rechten Seite der Straße liegt der Gottesacker des genannten volkreichen Dorfes mit der ansehnlichen Kirche, und vor dem Haupteingange der letzteren erblickt man die von einer ungeheuren Linde beschatteten Gräber Klopstocks und Schmidts von Lübeck, beide von geschmackvollen hohen Eisengittern eingefaßt.
Seit vielen Jahren hatte ich die Ruhestätte des Messiassängers, der dort mit seiner geliebten Gattin und seinem Sohne schlummert, nicht gesehen, ich war daher nicht wenig erfreut, als ich die einst ziemlich wüste, vernachlässigte Gruft sorgfältig von Unkraut und Gestrüpp gereinigt und so schön umhegt wiederfand. Und wie viele frische und halbvertrocknete Blumenkränze lagen auf den Denksteinen und an dem Gitter! Selbst mitten im Winter, wenn die im Winde rauschenden Zweige der Linde die silbernen Schneeflocken auf das Grab streuen, werden sie dort niedergelegt, diese prangenden Blumen, die so manches andere Dichtergrab für immer entbehrt. Unwillkürlich fielen mir dabei die Schicksale dieses Grabmals bei. Damals (1805), als von Hamburg das Denkmal auf dänischem Gebiet anlangte, fragte ein dänischer Zollbeamter in Altona den Steinsetzer, der die Aufsicht über den Transport hatte, wie viel der Stein wohl gekostet habe. Treuherzig gab dieser den Preis auf circa 350 sächs. Thaler an, und sofort wurden 64, sage vierundsechzig Thaler Zoll gefordert, welcher Betrag auch trotz aller Vorstellungen deponirt werden mußte. Ob auf den an die Regierung erstatteten Bericht ein günstiger Bescheid erfolgt ist, kann ich nicht sagen. Im September 1814 wurde das Denkmal – von wem, weiß man jetzt noch nicht – umgestürzt und zersplittert, von den vereinigten patriotischen Gesellschaften in Hamburg und Altona aber wieder hergestellt, und zum zweiten Male am 2. Juli (Klopstock’s Geburtstag) 1815 eingeweiht.
Gleicher liebenden Sorgfalt hat sich auch das Grab des edlen, gemüthvollen Lyriker Schmidt von Lübeck zu erfreuen. Als ich es [262] zum ersten Male besuchte, war es ganz mit Kränzen und frischen Blumen bedeckt, denn es war gerade der Todestag des Dichters. Auch Schmidt gehört zu den Unsterblichen; Gedichte wie „das Menschenherz,“ „der Wanderer,“ „deutsches Lied“ u. s. w. werden gelesen und bewundert werden, so lange es eine deutsche Literatur gibt.
Man wird unwillkürlich an Rückert’s berühmtes Gedicht „die Gräber zu Ottensen“ erinnert, wenn man die Wanderung zu der Ruhestätte des großen Barden Klopstock antritt. Aber die meisten Verse des schönen Gedichtes passen nicht mehr, denn die „traurige Gruft auf der Wiese“ und das Feldherrngrab sind nicht mehr vorhanden. Die Gruft auf der Wiese war das Grab von 1200 Hamburger Männern, Frauen und Kindern, die Hamburgs Alba, der Herzog Davoust, während der Belagerung der Stadt mit schonungsloser Härte in der furchtbarsten Winterkälte aus der Heimath vertrieben hatte und die nun, krank und elend, von den 20,000 Leidensgefährten in Altona zurückbleiben mußten, wo sie, von Typhus erfaßt, sehr rasch, aber unter unsäglichen Leiden, in’s Grab sanken. Die Unglücklichen wurden damals zusammen auf einer Wiese verscharrt. Als 1811 der Eigenthümer dieser Wiese von dem reichen Hamburg begehrte, es möge das Fleckchen Erde, das die Gebeine seiner von „Frost, Hunger, Elend und Seuchen“ hingerafften Einwohner bedeckte, für eine sehr mäßige Kaufsumme erstehen, da empfing er eine abschlägige Antwort, und unverweilt wurden nun die sterblichen Ueberreste der „Zwölfhundert“ ausgegraben, um auf Hamburgischem Gebiete wieder verscharrt zu werden. Damit die traurige Geschichte aber ja recht gründlich prosaisch ende, wurde, so wird erzählt, als die Wagen mit der traurigen Last das königlich dänische Grenzzollamt passirten, alldort der Zoll für „ausgehende Knochen“ erhoben.
Was das Feldherrengrab anlangt, so fand die Ueberführung der Leiche des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand nach Braunschweig schon im Jahre 1819 statt. In der Schlacht bei Auerstädt hatte der Heldengreis bekanntlich die Todeswunde empfangen. „Umirrend mit den Scherben des Hauptes von Land zu Land,“ kam er bis Ottensen und legte sich dort in einem (vor einigen Jahren abgebrannten) Hause, das später den Namen Karlruhe erhielt, zum Sterben nieder. Am 23. November 1806 senkten seine Getreuen die Leiche in das Grab an der Mauer der Kirche.
Hier und da wird zuweilen behauptet, und man liest es sogar auch in mehreren Reisehandbüchern, es sei noch ein drittes Dichtergrab auf dem Ottenser Friedhofe zu finden, das Gerstenberg’s, des Verfassers des Ugolino; diese Angabe ist jedoch eine falsche, denn das Grab dieses Dichters befindet sich mitten in der Stadt auf dem heiligen Geist-Kirchhofe. –
(Schluß.)
Unser junger Begleiter war auch sonst wohl orientirt. So erzählte er uns ausführlich, wie die Pforte am 6. November 1839 die Säcularfeier der vor hundert Jahren unter dem Rector Freytag geschehenen Aufnahme ihres berühmten Zöglings, des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock eben so sinnig als glänzend begangen. Unter Anderem hatte man neben der lorbeerumkränzten Büste des Dichters die von Klopstock selbst unter dem 20. März 1800 der Anstalt geschenkte Prachtausgabe seines Messias aufgestellt, desgleichen einen Zweig der Linde über Klopstock’s Grabe zu Ottensen, der von einem ehemaligen Portenser, dem bekannten Professor und Hofrath Dr. Friedrich Thiersch gepflückt und mit einer entsprechenden Votivschrift hierher gesandt worden war.
Der Brief, welchen Klopstock an den damaligen Rector Heimbach gerichtet, lautet vollständig folgendermaßen:
„Die Erinnerung, in der Pforte gewesen zu sein, macht mir auch deswegen nicht selten Vergnügen, weil ich dort den Plan zu dem Messias beinahe ganz vollendet habe. Wie sehr ich mich in diesen Plan vertiefte, können Sie daraus sehen, daß die Stelle vom Anfange des neunzehnten Gesanges bis zu dem Verse, der mit „um Gnade!“ endigt, ein Traum war, der wahrscheinlich durch mein anhaltendes Nachdenken entstand. Wäre ich Maler gewesen, so hätte ich mein halbes Leben damit zugebracht, Eva, die äußerst schön und erhaben war, so zu bilden, wie ich sie sahe. Das Ende des Traumes fehlet indeß in der angeführten Stelle. Es ist: Ich sah zuletzt mit Eva nach dem Richter in die Höhe, mit Ehrfurcht und langsam erhobenem Gesicht, erblickte sehr glänzende Füße und erwachte schnell.
„Sie empfangen hierbei die große Ausgabe des Messias, die Herrn Göschen nicht wenig Ehre macht. Ich bestimme sie für die Schulbibliothek und überlasse Ihnen, bei Verschweigung meines Wunsches, einen Platz für sie zu wählen. Sollten Sie finden, daß dies irgend einen guten Einfluß auf die Alumnen haben könnte, so lassen Sie das Buch auf folgende Art in die Bibliothek bringen: Sie wählen den unter Ihren Jünglingen, welchen Sie für den besten halten, ich meine nicht nur in Beziehung auf seinen Geist, sondern auch auf seine Sittlichkeit, zu der, wie ich glaube, auch der Fleiß gehört. Bitten Sie diesen in meinem Namen, das Buch zu tragen und es dahin zu stellen, wo Sie’s ihm befehlen werden. Vielleicht mögen Sie ihm auch die wenigen zu Begleitern geben, die gleich nach ihm die besten sind. Machen Sie dies alles, wie sich von selbst versteht, nach Ihrem Gutbefinden; oder unterlassen Sie es auch ganz, und nehmen mein Andenken in aller Stille in die Schulbibliothek auf. Aber Eins, warum ich Sie bitte, werden Sie, weiß ich, gewiß nicht unterlassen. Der Conrector Stübel war mir der liebste meiner Lehrer. Er starb zu meiner Zeit. Ich verlor ihn mit tiefem Schmerze. Lassen Sie von einem ihrer dankbaren Alumnen irgend etwas, das der Frühling zuerst gegeben hat, junge Zweige oder Blüthenknospen, oder Blumen – mit leiser Nennung meines Namens auf sein Grab streuen.“ –
Wie sich von selbst versteht, veranstaltete Heimbach nun eine Schulfeier. Dieselbe fand gerade am ersten Osterfeiertage statt. Zuerst zogen Lehrer und Schüler in die Kirche und schlossen einen Kreis um die Gruft, in der Klopstock’s geliebter Lehrer ruht. Ein Alumnus – Kütterer[1] war sein Name – streuete frische Lenzblumen auf das Grab, dabei leise und bewegt den Namen des großen Dichters aussprechend. Dann stimmte der Sängerchor das Klopstock’sche „Auferstehn, ja auferstehn wirst Du etc.“ an, dem eine Ode aus dem Messias folgte. Aus der Kirche bewegte sich der Zug nach der Schulbibliothek, wo bereits ein kleiner Altar, mit Immergrün umwunden und mit Blumen umstreut, errichtet worden war. Als man die Messiade auf diesen Altar niederlegte, wand sich ein Lorbeerzweig über dieselbe und es erklang eine sanfte Musik. Dann hielt Heimbach die Festrede, in welcher es unter Anderm heißt:
„Mit dem tiefgefühlten Entzücken einer glücklichen Mutter empfängt die Pforte dieses heilige Geschenk des ersten ihrer Söhne, der längst ihr geheimer Stolz war. Sie beschied sich gern, daß sie auf dieses unsterbliche Werk wenig Anspruch machen dürfe; den hohen himmlischen Geist, der in ihm wohnt, hat keine Menschenschule gegeben. Aber wohl wußte sie, daß es in ihrem Schooß empfangen war, und sagte sich oft mit demüthiger Freude, daß sie es gewesen, die Klopstock’s Geist zu dem erhabenen Gedanken, den Messias zu singen, geweckt und mit der ätherischen Kost griechischer und römischer Kunst genährt habe. Dankbar legt sie das Geschenk der Weihe in dem kleinen Heiligthume ihrer Musen nieder, auf daß es jetzt und künftig seine heiligen Flammen in des Jünglings Herz ströme. Ueber den Platz, welcher ihm als Werk der Kunst gebührt, hat längst Vaterland und Ausland mit einer Stimme entschieden. Aber als Gabe der achtenden Liebe Klopstock’s an die Pforte räumt diese ihm den Platz über allen ihren Schätzen ein.“ –
Bekanntlich ist Klopstock als Alumnus auch einmal in’s Carcer gekommen. Als ihm hier seine Leidensgefährten zusetzten, seinen Namen ebenfalls an die Wand zu schreiben, verweigerte er dies beharrlich und konnte durch ihr Drängen nur bewogen werden, daß er folgende Zeilen neben die Namen seiner Commilitonen setzte:
„Mich schreibt die Nachwelt einst in ihre Bücher ein,
Drum soll mein Name nicht bei diesen Namen sein.“ –
- ↑ Derselbe ist als Conrector an der Kreuzschule in Dresden den 24. März 1814 gestorben. – Anmerk. des Verf.
[263] Johann Gottlob Fichte, der große Philosoph, vorzüglich bekannt durch seine „Reden an die deutsche Nation,“ hatte der Pforte ebenfalls als Alumnus angehört. Recipirt wurde er daselbst im Jahre 1774. Auch auf ihn ist die Anstalt stolz und das von Rechtswegen. Nicht so stolz ist sie jedoch darauf, daß auch Dr. Karl Friedrich Bahrdt ihr als Kind angehört hat. Derselbe – recipirt 1754 – wurde Prediger und Professor zu Leipzig, dann Professor zu Erfurt und Gießen, Director des Philanthropins zu Marschlins in Graubünden, General-Superintendent der Grafschaft Leiningen und zuletzt – Gastwirth auf einem Weinberge bei Halle; welches Grundstück noch heutigen Tages „Bahrdts Weinberg“ heißt. Er schrieb unter Anderem: „die neuesten Offenbarungen Gottes“ – „Glaubensbekenntniß“ – „Briefe über die Bibel im Volkston.“ Mit einem Worte: er ist der bekannte „Aufklärer.“ Ein ehemaliger Lehrer in Pforta äußert sich über ihn, wie folgt:
„Mit gerechtem Stolz würde Pforta diesen merkwürdigen Mann zu ihren Zöglingen zählen, hätte er seine großen Gaben – er besaß unter andern ein vorzügliches Rednertalent – besser angewendet.“ Bruno Bauer hingegen sagt von ihm, daß er hier seine „Marterjahre“ habe zubringen müssen.
Außerdem gehörten der Pforte als Alumnen an: Johann Gottlob Schneider – Saxo – (rec. 1762), vorzüglich berühmt durch sein großes kritisches griechisch-deutsches Wörterbuch. Professor Krug in Leipzig (rec. 1782); der bekannte Theologe Heubner in Wittenberg (rec. 1793); der Hofrath Mitscherlich (rec. 1773); der Geheime Hofrath Eichstädt in Jena (rec. 1783); Huschke (rec. 1774); der Dichter Müllner (rec. 1788); Lange (rec. 1789), war später Rector zu Pforta, woselbst er auch starb; der Hofrath Böttiger in Dresden (rec. 1772); der General-Superintendent Sonntag in Riga (rec. 1778); der General-Superintendent Röhr (rec. 1790); der Superintendent Großmann in Leipzig (rec. 1796); Friedrich Thiersch in München (rec. 1798); der Dichter von Gaudy (rec. 1815) und Andere.
„Yes!“ sagte Alfred, indem er das Pfortaer Album wieder aus der Hand legte – „Pforta ist eine ganz comfortable Pflegstätte der Wissenschaft, ein wahres Eldorado für Philologen; aber ein Eton – ist es nicht! Während aus unserem Eton Helden, Staatsmänner und parlamentarische Größen hervorgehen, finde ich hier nicht einen Namen, der –“
„Entschuldigen Sie gefälligst, daß ich Sie hier zu unterbrechen wage!“ sagte hier unter einer graziösen Verbeugung unser jugendlicher Cicerone – „aber es wird Ihnen doch nicht unbekannt sein, daß auch der Minister-Präsident Sr. Majestät des Königs, Herr Freiherr v. Manteuffel, Alumnus hier in Pforta gewesen?!“
Pforta hat gegenwärtig zwölf Lehrer, acht ordentliche mit dem Prädicat Professor, und vier Adjuncten. Unter ihnen sind zwei Geistliche, einer der Ordinarien als Pfarrer und „geistlicher Inspector,“ und einer als Diaconus. Mit Ausnahme des Rectors und geistlichen Inspectors haben alle Lehrer abwechselnd eine Woche lang die specielle Aufsicht auf den Cötus der Alumnen, während welcher Zeit sie ein für den Hebdomadarius zwischen den Schülerstuben befindliches Logis bewohnen. Außerdem sind Lehrer für Musik, Schreiben, Zeichnen, Tanz und Turnen angestellt.
Jeder Lehrer hat einen Famulus, d. h. einen Primaner, der ihm „gewisse Ehrendienste verrichtet und ihm persönlich näher steht.“ Die drei Famuli communes (mit besondern Freistellen begabt) haben wöchentlich wechselnd gewisse Ehrendienste für den gesammten Cötus, z. B. das Anfertigen der Tisch- und Kirchenzettel und Aufträge des Rectors auszurichten. Zwei Präcentoren stehen dem Sängerchor der Alumnen, ein musikfertiger Schüler (als Organist mit einer eigenen Stelle begabt) dem Orgelspiele in der Kirche wie im Betsaale vor.
Unter den jetzigen Gelehrten befinden sich die in der Gelehrtenwelt so rühmlich bekannten Professoren: Koberstein, Steinhardt und Keil. Die Stelle eines geistlichen Inspectors bekleidet jetzt der durch seine interessante Schrift „Ueber christliche Gymnasien“ auch in weiteren Kreisen bekannte Professor Niese. Der ausgezeichnete Mathematiker, Professor Jacobi I., ist im vorigen Jahre mit Tode abgegangen.
Seinen berühmtesten Lehrer aber hat Pforta in der Person des am 17. Sept. 1834 verstorbenen Rectors Karl David Ilgen gehabt. Dieser Schulfürst fast ohne Gleichen war geboren am 26. Februar 1763 zu Sena bei Eckartsberga in Thüringen, wo sein Vater als Schulmeister mit kaum hundert Thalern jährlichen Einkommens sich abmühte. Nachdem er einige Jahre das Dom-Gymnasium zu Naumburg besucht, bezog Ilgen 1783 mit sieben Thalern, das war Alles, was ihm seine armen Eltern geben konnten, die Universität Leipzig, wo er sich mit großer Energie den theologischen und philologischen, besonders den orientalischen Studien widmete. Gleichzeitig ertheilte er Privatunterricht und der große Gottfried Hermann war einer seiner Schüler. 1789 wurde er Rector des städtischen Gymnasiums zu Naumburg und 1794, als Eichhorns Nachfolger, Professor in Jena. Hier trat er mit Paulus, Schütz, Hufeland, Schiller, Fichte, Schelling, Niethammer, Eichstädt, den Gebrüdern Humboldt, Schlegel u. A. in nähere Verbindung und lernte auch in dem nahen Weimar Wieland, Herder und Goethe kennen. Das Rectorat in Pforta trat er den 31. Mai 1802 an. Wie groß dieser ausgezeichnete Mann auch als Gelehrter gewesen sein mag: als Pädagog war er noch größer. Er hatte im reichen Maße Blick und Geschick und seine Consequenz ist in Pforta sprüchwörtlich geworden. Bei allem Wohlwollen für seine Schüler verleugnete er doch nie die Würde eines Gebieters und die Energie seines Charakters. Er wußte nicht blos den Alumnen, sondern auch den Lehrern und den Vorgesetzten zu imponiren, wie selten einer. Hiermit verband er eine seltene collegialische Treue für seine Mitarbeiter und eine aufopfernde Liebe zu seinem Amte. „Einfach und antik in seinen Sitten und Gewohnheiten, häuslich und arbeitsam in seiner Lebensweise, liebte er im traulichen Zirkel heitere Geselligkeit und fröhlichen Scherz beim Mahle“ – sagte Kirchner unter Anderem von ihm.
Mit welcher Pietät Ilgen’s ehemalige Schüler seiner gedenken, documentirte sich besonders bei der Säcularfeier der Anstalt – den 20. bis 23. Mai 1843. Von ihm sprach man mit einer wahren Begeisterung, und wie deprimirend der konsequente Ernst seiner Maßregeln einst die Meisten auch berührt haben mochte: den „großen Rector“ priesen Alle.
Ueberhaupt bewahren die meisten Portenser ihrer alma mater eine treue Anhänglichkeit.
Dagegen urtheilt ein Mitglied des Frankfurter Parlaments, das von 1826–29 der Pforte als Alumnus angehört hat, in einer Schrift so:
„Gebetet wird in Pforta viel, nicht blos Sonntags, so oft Kirche ist, sondern auch alltäglich früh und Abends und bei jeder Mahlzeit vor und nach Tische. So ist die alte katholische Lehre vom Opus operatum in dieser protestantischen und noch dazu sorgfältig mit Geistlichen streng orthodoxer Richtung versehenen Anstalt lebendig geblieben! Energische Naturen unter den Portensern schlagen häufig, sobald sie der Zwangsjacke entledigt sind, aus der Universität in die extremste Ungebundenheit um.“
Und von Gaudy sagt in seiner „Schüler-Liebe“: „Ich war nach Alt-Prima hinaufgerückt und dem zu Folge aller Privilegien der Portenser Obern theilhaftig geworden. An meinem Arbeitstisch und unter meiner speciellen Tutel saßen ein Mittel- und ein Untergesell, welchen letztern wir Beide alternirend unterwiesen, wie er gebotene lateinische Verse drechseln und verbotenen Kaffee kochen müsse, den wir pro poena ein Capitel, eine Heroide nach der andern memoriren ließen, und der als salarium unsers liebevollen Unterrichts die Messer putzte, Wasser vom Brunnen und Butterbrote vom Waschmann, dem Spender aller Consumtibilien, herbei schleifte. Die Abzeichen meines Standes, als Emancipirter vom Frohndienst des Pennalismus, das kleine Mützchen, welches schräg auf das Ohr gedrückt wurde, und das bei summarischem Verfahren gegen rebellische Unter-Tertianer recht praktische Stöckchen, führte ich schon längst; ich überkletterte per nefas die Mauer und eilte im gestreckten Trabe nach dem nahe gelegenen Kösen, um in demselben ganze Kuchenschilde weniger vor den Magen zu halten, als vielmehr sie als Trutzwaffe gegen den ewig regen Erbfeind Hunger in denselben zu versenken. Dann aber ließ ich mich in Folge dieses Prellens, wie der technische Ausdruck für das Ausschwärmen ohne Zeidel lautete, mit stolzem Selbstgefühl in das Carcer sperren, in jenes Claustrum, welches ja auch Klopstock einstmals bewohnt.“
Nach der alten Schulordnung aus sächsischer Zeit wird den Lehrern zur Pflicht gemacht, „nicht zu nachsichtig zu sein; jedoch sich bei der Bestrafung eines gerechten und milden Ernstes zu befleißigen. Die Halsstarrigen und Lüderlichen sollen sie mit Schlägen züchtigen.“ Natürlich ist diese Art der Bestrafung – die „Baculation“ – weggefallen. Gegenwärtig straft man mit einem Beweis, [264] mit Strafarbeiten, Ausschließung aus dem Schulgarten, mit Carcer, mit Degradation oder aber – bei wichtigen Vergehen – mit Exclusion. Nachdem der Angeklagte vor der Schulsynode mit seiner Vertheidigung gehört ist und das Lehrercollegium sich berathen hat, wird ihm das Erkenntniß durch den Rector sofort publicirt. Wenn aber die Beschlußuahme des Collegii auf Exclusion geht, so wird dieselbe nicht sogleich mitgetheilt, sondern „procrastinirt“ und in einer spätern Session einer nochmaligen Berathung unterworfen, deren Resultat dann entscheidend ist.
Seit den letzten vier Decennien sind Disciplinarvorfälle, die eine exlusio cum infamia zur Folge gehabt, immer weniger geworden. Wohl nicht mit Unrecht schreibt man dies hauptsächlich dem eigenthümlichen Institut der „Tutoren“ zu, welches durch die Schulconstitution von 1811 gesetzlich angeordnet ist. Jeder Alumnus wird nämlich bei seinem Eintritt in die Anstalt einem der zwölf ordentlichen Lehrer als „Empfohlener“ besonders anvertraut, so daß derselbe bei ihm als Tutor Vaterstelle vertritt. Der Tutor bekümmert sich nicht allein um sein leibliches Wohl und seine Gesundheit, sorgt für seine Pflege in Krankheitsfällen, sondern beachtet hauptsächlich auch sein geistiges, wissenschaftliches und sittliches Gedeihen. Er überwacht seinen Umgang, sieht ihn öfters bei sich und „leitet ihn durch väterlichen Rath, ernste Warnung, liebevolle Tröstung und Ermunterung.“ Auch übernimmt er die Aufsicht über seine Oekonomie, ertheilt ihm sein „Taschengeld“, führt Rechnung hierüber, welche er vierteljährlich den Eltern einschickt, und unterhält mit diesen die Korrespondenz über das ganze innere und äußere Wohl und Gedeihen des Empfohlenen.
„Können Sie öfters nach Hause reisen?“ frug Alfred unsern freundlichen Führer.
„Modesto satis“ – erwiderte langsam der sonst so beredte Obergesell und zwar mit einer so diplomatischen Miene, die in ihm einen zukünftigen Metternich ahnen ließ. „Es sind nämlich an jedem der drei hohen Feste acht, sage acht Tage, und von Johannis ab fünf Wochen Schulferien. Aber in den drei Festferien dürfen wir entweder nur einmal die ganze, oder jedesmal nur die halbe Zeit verreisen.“
„Und Ihre Erholungen außerhalb der Ferienzeit?“
„Nun wir machen – ja, wir machen bisweilen Spaziergänge im Freien unter Anführung der Herren Lehrer, wir schwimmen unter ihrer und der Schulärzte Aufsicht, wir laufen Eis auf der Pfortenwiese, wir fahren auf kleinen Handschlitten dort den steilen Berg hinunter, wir – geben theatralische Vorstellungen!“
„God dam! Sie –: die Klosterschüler?!“
„Und was für classische Stücke gehen hier über die Bretter, so die Welt bedeuten! O, hätten Sie namentlich der Aufführung der Antigone hier beiwohnen können! Alles wie in Berlin: sogar die antiken Costüms hatte uns die dortige General-Intendantur der königlichen Schauspiele hochherzig überlassen! – Auch kommen hier Tragödien von Shakespeare zur Darstellung.“
„Und die Damenrollen?“
„Die werden solchen Secundanerchen zugetheilt, die noch im Besitz ihres Discantes sich befinden. Beim Fastnachtsballe hingegen tanzen wir mit wirklichen Damen. O – das ist ein reizender Ball!“
„Nach alledem sehnen Sie sich wohl gar nicht aus Pforta weg?“
„Ich liebe die alma mater, wie jeder treue Portenser, aufrichtig und mit dankbarer Verehrung; aber –, ja froh wäre ich doch, wenn ich erst meine Valediction hinter mir hätte.“
Die Sitte der Valedictionen der zur Universität abgehenden Primaner stammt aus den ältesten Zeiten der Pforte. Eine solche geschriebene Valediction, in der Regel acht bis zehn Bogen stark – vor einigen Jahren hat ein Abiturient sogar eine von achtzig Bogen Folio geliefert – enthält eine wissenschaftliche Abhandlung, meist in lateinischer Sprache und am Schlusse die „gratiarum actiones,“ Danksagungen gegen Gott, gegen den König, den Rector, das Lehrerkollegium, den Tutor und einzelne Lehrer, endlich an die Pforte und an die Freunde, theils in Prosa, theils in Versen, in verschiedenen Sprachen. Sie wird als Denkmal geistiger Fertigkeit in der Bibliothek aufbewahrt. Am Valedictionstage selbst betreten die Abiturienten, vom Letzten an, der Reihe nach das Katheder und sprechen ihre Abschiedsworte, während von ihren Untergesellen jedesmal die Glocke geläutet wird. Der nunmehrige Primus Portensia tritt als „Respondent“ ihnen dann gegenüber und spricht im Namen des Cötus das Lebewohl – gewöhnlich in Versen – aus. Rührend ist der Abschied der angehenden Studiosen nach Tische im Schulgarten vom ganzen Cötus, welcher dieselben in langen Reihen bis an’s Thor begleitet.
Die Gesammteinkünfte der Pforte betragen jährlich 44,000 Thlr. Ihre Quellen bestehen größtentheils in den Pachtgeldern aus ihren Gütern: dem Schulamte Pforta nebst den eine Stunde von hier entfernten Vorwerken Frankenau und Kukulau und dem Klostergute Memleben (mit dem Vorwerke Hechendorf) in der goldenen Aue. Memleben – das alte „Minnelebo“ – war ein Lieblingsaufenthalt der Ottonen: Heinrich’s I. und Otto’s I. Beide Kaiser sind hier gestorben und beide liegen auch hier begraben. Die Kaiserin Mathilde, Gemahlin Heinrich des Finklers, gründete hier im Jahre 975 ein Benedictiner-Nonnenkloster. Otto II. wandelte es in ein Mönchskloster um. Nach der Reformation wurde es säcularisirt und vom Kurfürst Moritz der Schulpforte geschenkt. Im Ganzen hat die Pforte gegenwärtig einen Grundbesitz von 3300 Morgen Ackerland, 1000 Morgen Wiesen, 600 Morgen Hutungen, 85 Morgen Garten- und 15 Morgen Weinland. Dazu kommen Morgen Waldungen, welche von einem Oberförster und vier Unterförstern verwaltet werden.
Pforta zählt jetzt nahe an 500 Bewohner. –
Nachdem wir unserm liebenswürdigen Cicerone herzlich für seine Güte gedankt, besuchten wir einige Lehrer und verließen dann – wie ein neuerer Tourist diesen berühmten Schulstaat nennt – „die lehrstolze Landesschule, diese Perle der preußischen Weisheitsanstalten.“ Wir bekamen diesmal die Klopstocksquelle nicht zu Gesicht, indem wir zu unserem Rückwege nach Almrich nicht das „Pfortenholz“, sondern die längs der herrlichen „Pfortenwiese“ sich hinziehende doppelte Pappelallee gewählt hatten. Trotzdem wir rüstig zuschritten (denn wir wollten in dem genannten Dorfe den dort so heimischen Dichter Hoffmann von Fallersleben treffen), blickten wir doch oft noch nach dem spitzigen schwarzen Kirchthurm Pforta’s zurück.
„Eine große, merkwürdige Anstalt!“ unterbrach Alfred endlich das Schweigen.
Dann frug er sinnend: „Wie lautete der Denkspruch, den W. Hage bei Dir niedergelegt?“
Und als ich geantwortet: „Glaube wohl – doch ohne Denkfaulheit; Denkfreiheit wohl – doch ohne Anmaßung; Form wohl – doch nicht ohne Geist; Geist viel – doch nicht ohne Form!“
nickte er, leise sein Yes murmelnd. Noch einmal den Blick auf Pforta werfend, rief er dann laut:
„Möchten doch alle Klöster eine Metamorphose erfahren, wie es mit dieser ehemaligen Abtei der Fall gewesen! Der Schul-Pforte aber Heil und Segen! Sie wachse uns blühe –: Pforta lebe für immer!“
Und ich stimmte ein mit einem herzlichen Fiat!
Den freundlichen Leser ladet hiermit der Unterzeichnete zum unbemerkten Zuschauer und Zuhörer bei einigen seiner ärztlichen Consultationen ein. Doch bevor er die Patienten einführt, sich aussprechen und ausklagen läßt, sei es auch ihm gestattet, sich einmal zu expectoriren, d. h. sein ärztliches Herz auszuschütten, und zwar über den wahrlich nicht beneidenswerthen Stand eines Arztes. Man wolle nur, um diesen Stand richtig beurtheilen zu können, auf das innere und nicht auf die äußeren Verhältnisse des Arztes achten. Denn selbst, wenn auch bisweilen durch Titel, Orden oder Gold ärztliche Leistungen belohnt werden, so kann dies, obschon sehr viele Menschen nach derartigen irdischen – Dingen streben, doch auf einen Arzt, der wahren Beruf zum Heilen in sich fühlt und der nicht aus Ehrgeiz oder blos des lieben Brodes wegen handwerksmäßig kurirt, weder besondere Anziehung ausüben, noch ihm innere Befriedigung gewähren.
[265] Vor Allem muß es jeden gebildeten Arzt tief schmerzen, wenn man ihm, wie dies so oft, und geldsüchtigen Charlatanen auch ganz mit Recht, geschieht, Herz und Gemüth abspricht, wenn man ihn als unempfindlich für Anderer Leiden und Schmerzen, als abgehärtet gegen den Kummer seines Nächsten, als gefühllos bei den Klagen Kranker bezeichnet. Es muß dies gerade den Arzt um so tiefer schmerzen, weil dieser mehr als jeder Andere durch seinen Beruf darauf hingewiesen ist, Menschenfreund zu sein und seinen Mitmenschen Trost und Hülfe im Leiden zu schaffen. Es reicht deshalb durchaus nicht hin, um ein wirklich tüchtiger und berufener Arzt zu sein, die Höhe der Wissenschaft erstiegen zu haben, auch das Herz muß bei ihm auf dem rechten Flecke sitzen und vermöge der Menschenliebe und Menschenkenntniß muß er jedem Leidenden (leider nicht selten auf Kosten seiner Wahrheitsliebe) den passendsten Zuspruch zu gewähren nicht blos verstehen, sondern dazu auch jeder Zeit bereit sein, selbst wenn er dafür keinen Dank und Lohn zu erwarten hat. Mit Trauer erfüllt es mich deshalb, sehen zu müssen, wie heutzutage so oft schon ein gewöhnliches Savoir-faire und vivre bei eleganter oder origineller Kleidung und krummrückiger Artigkeit, selbst einen herzlosen Hohlkopf, mit und ohne Doctorhut, der aber die Schwächen seiner Patienten gut zu benutzen weiß, zum gesuchten und wohlhabenden Heilkünstler macht, während gebildete, menschenfreundliche, sich aufopfernde Aerzte am Hungertuche nagen.
Wüßten nur die Menschen, wie es im Innern eines gebildeten und gewissenhaften Arztes oft aussieht; wie er gar nicht so selten an seiner Kunst, an der Menschheit und dem Menschenverstande, an den unglückseligsten und doch unabänderlichen Verhältnissen vieler Patienten verzweifeln möchte; wie er sich über den immer mehr um sich greifenden, aller Vernunft Hohn sprechenden, ganz gemeinen Charlatanismus, sowie über den Aberglauben sonst gebildeter Kranken selbst krank ärgern könnte, und wie man ihm gar nicht so selten bei Behandlung selbst unheilbarer Kranken zu guter Letzt noch den Tod des Behandelten Schuld gibt, zumal wenn ein schließlich noch herbeigeholter Herr College die nicht ungewöhnliche Aeußerung thut: ja wäre ich nur früher geholt, wäre nur dieses oder jenes Mittel angewendet worden. Auch ist es für ihn sehr niederschlagend, wenn Patienten oder deren Angehörige hinter seinem Rücken oder nachdem die Krankheit schon ihre Höhe überstiegen hat und der Genesung zugeht, noch Heilkünstler niedern Ranges zu Rathe ziehen und diesen dann die Heilung zuschreiben. – Wie oft ist nicht der wissenschaftlich gebildete Arzt in Verlegenheit, sich und seinem Kranken eingestehen zu müssen, daß er die Ursachen vieler Beschwerden nicht zu ergründen im Stande sei. Um wie viel öfter noch steht er ohnmächtig vor dem erkannten Uebel und muß es von Tag zu Tag zum Verderben, vielleicht theurer Personen, wachsen sehen. Wendet sich eine schwere Krankheit zur Gesundheit, dann kann ein solcher Arzt höchstens die innerhalb unseres Körpers wirkenden Naturheilungsprocesse bewundern, sich nicht aber, wie dies gewöhnlich unwissende und eingebildete Heilkünstler, vorzugsweise aber Homöopathen thun, als rettender Engel mit seiner Heilmacht brüsten. Dagegen möchte er gar nicht so selten verzweifeln, wenn er Processe im kranken Körper, die gewöhnlich zum Heile auslaufen, durch unglückliche Umstände großes Unheil anrichten sieht, ohne daß er demselben wehren kann. – Wie schneidet es in das Herz des Arztes, wenn er der Eltern liebste Kinder durch Unvorsichtigkeit und Unwissenheit der Angehörigen gefährlich erkranken oder verkrüppeln oder gar dem Tode verfallen sieht, und wie lange tönt nicht das Wehklagen einer armen Familie in seinem Innern nach, welcher der einzige Ernährer, nicht selten in Folge zu spät gewordener passender Hülfe starb. Wie es aber einem Arzte zu Muthe ist, wenn er Stunden lang immer und immer wieder dieselben, zum größten Theile ganz ungegründeten Klagen über erkünstelte Beschwerden von hysterischen Frauen und hypochondrischen Männern ruhig und anscheinend theilnehmend anhören muß, das läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten beschreiben. Wenn er ferner die Menschheit ihrer Unmenschlichkeit und Hartherzigkeit wegen verachten lernt, so findet er triftige Gründe dazu nicht etwa blos auf dem Schlachtfelde, in Zucht-, Kranken- und Irrenhäusern, sondern auch an der Wiege von kranken Kindern herzloser Mütter, am Sterbebette reicher, von lachenden Erben umgebener oder testamentloser Personen, am einsamen Krankenlager hülfloser Dienstleute u. s. f.
Daß der Arzt, eingedrungen in die tiefsten Familiengeheimnisse und Herzensangelegenheiten, oft nicht blos als Heilkünstler, sondern auch als Freund mit Rath und That bei der Hand sein soll, erschwert nicht selten seinen Beruf ganz entsetzlich. Wie viele bittere Stunden bereitet ferner manchem Arzte nicht die Eifersucht und zwar ebenso die von kränklichen Männern gesunder Frauen, wie die seiner eigenen Frau. Kurz der Arzt ist nach allen Richtungen hin ein armes geplagtes Menschenkind und es gehört sehr viel leichter Sinn, Eitelkeit oder Arroganz mit Ignoranz gepaart dazu, wenn er sich in seinem Berufe recht glücklich fühlen soll. Könnte er sich nicht zuweilen an dem Glücke, welches die Genesung um ihn verbreitet, erfrischen und aufrichten, er würde ohne Zweifel noch zeitiger zu Grabe getragen werden, als dies so schon der Fall ist. Von den oft rücksichtslosesten Ansprüchen der Patienten an den Arzt, sowie von dem Undanke Geheilter will ich ganz schweigen. – Jetzt zu unseren Kranken.
Mit abgehärmtem, bleichem Gesichte und ängstlicher Miene schleicht, einer armen Sünderin gleich, unter lauten und kurzen Athemzügen eine blonde magere Dreißigerin in’s Zimmer und wankend zum Sessel. Unter Thränen entringen sich ihrer Brust die Worte: für meine armen Kinder möchte ich noch eine Weile leben, geben Sie mir Trost und rauben Sie mir doch ja nicht alle Hoffnung, indem Sie mir geradezu in’s Gesicht sagen, wenn ich sterben muß.
Auf diese letzte Aeußerung hin erkläre ich: es gibt keine unsinnigere Idee als die, daß ein Arzt bei einem Kranken, zumal bei einem Brustkranken, die Zeit genau angeben könne, wenn der Tod eintreten wird. Und könnte er es wirklich, dann wäre es ja eine Inhumanität sonder Gleichen, wenn er dies den Kranken in’s Gesicht sagte und überhaupt denselben die Hoffnung auf Genesung raubte. Wohl kann aber ein wissenschaftlich gebildeter Arzt von manchen Uebeln genau wissen, daß sie unheilbar sind oder daß sie, jedoch nur allmählich und auch blos manchmal durch die Naturheilungsprocesse (bei richtigem diätetischen Verhalten), ganz oder teilweise wieder verschwinden. Die Natur hat schon viele Kranke geheilt, denen Aerzte das Leben oder die Rückkehr der Gesundheit abgesprochen haben.
Unsere Patientin berichtet weiter: ich bin brustkrank und vermuthe nach dem, was ich von meinen Aerzten gehört habe und was ich in Ems, Salzbrunn und Soden sah, daß die Lungenschwindsucht bei mir schon einen sehr hohen Grad erreicht haben muß. Denn ich huste viel und werfe zu Zeiten einen dicklichen Eiter aus, bin kurzathmig und leide an Brustbeklemmung, an Herzklopfen, fliegender Hitze und Nachtschweiß, kurz, ich finde Alles an mir, was in den Büchern über Lungenschwindsucht aufgeführt ist. Die Angst, meinen Angehörigen so bald schon entrissen zu werden, läßt mich keine Nacht ruhig schlafen und verscheucht allen Appetit zum Essen; natürlich fühle ich mich sehr matt und bin in letzter Zeit bleich und mager geworden.
Wollte man doch endlich einmal einsehen lernen, daß Brustkranke in ein Bad zu schicken, wo sie nur Schwindsüchtige um sich sehen und fortwährend deren Beschwerden hören müssen, sehr grauam ist und gewöhnlich mehr schadet als nützt, abgesehen davon, daß das Salzwasser, welches die Patienten dort trinken, gar keine besondere Heilkraft auf das Lungenleiden ausübt. Das, was der Brustkranke eigentlich braucht, nämlich: Ruhe, reine warme Luft (bei Tag und Nacht), Sonne und Milch, findet er auch wo anders als in den Schwindsuchtsbädern, von denen der Verfasser Salzbrunn am meisten haßt, weil hier der arme Kranke in der Frühe, anstatt hübsch im warmen Bette zu bleiben, in die kühle, der leidenden Lunge stets nachtheilige Morgenluft hinaus gejagt wird, um das unschuldige Mineralwasser zu trinken.
Alle von unserer Kranken geklagte Beschwerden (s. Gartenl. Jahrg. 1855. Nr. 15.) rechtfertigen die Befürchtung noch durchaus nicht, daß hier Lungenschwindsucht vorhanden sei; nur daß im Athmungsapparate eine Ungehörigkeit vorhanden, läßt sich daraus folgern. Denn alle die genannten Symptome können auch noch mehreren ganz andern Lungenleiden, ja sogar Uebeln, durch welche die Lunge nur beiläufig afficirt wird, zukommen. Ja ein großer Theil von den obigen Beschwerden könnte recht wohl nur die Folge der Angst vor der Schwindsucht, vielleicht auch des Medicinirens sein. Erst die Untersuchung des Brustkastens mittels Beklopfens und Behorchens macht das Erkennen dieser oder überhaupt einer Brustkrankheit möglich. – Bei genauer Untersuchung unserer Kranken fand sich denn auch wirklich gerade das Gegentheil von Lungenschwindsucht, [266] nämlich anstatt einer Verringerung und Verkleinerung (Zerstörung) des Lungengewebes, wie dies bei der Lungenschwindsucht (Lungentuberculose) der Fall ist, eine mäßige Erweiterung der Luftbläschen mit chronischem Katarrh, welche sogar vor Lungenschwindsucht zu schützen scheint.
Man staune ja nicht über das Verkennen des Lungenleidens unserer Patientin. Die Lungenerweiterung und Lungentuberkulose können, so lange beide Uebel noch keinen sehr auffälligen Grad erreicht haben, recht leicht, selbst von sonst gebildeten Aerzten verwechselt werden, weil bei Lungenerweiterung außer den ziemlich gleichen Erscheinungen von Störung im Athmungsapparate auch der Ton, welchen man durch Beklopfen des Brustkastens dicht unter dem Schlüsselbeine erhält, matt (gedämpft) erscheint. Nur die Fülle des Tones, sowie die Deutlichkeit der Sprache innerhalb der Lungenspitzen schützen dann vor einer Verwechselung.
Nachdem unsere Patientin mit großer Mühe von der Grundlosigkeit ihrer Todesangst überzeugt worden war (denn Frauen von einem falschen Glauben selbst durch die triftigsten Gründe zu befreien, gehört fast zu den Unmöglichkeiten) und als sie nach der Rückkehr ihrer Gemüthsruhe alles Curiren und Mediciniren bei Seite setzte, dafür aber Ruhe, Luft, Licht, Speise und Trank in passender Weise in Anwendung brachte, ist das Wohlsein bis auf geringe, zeitweilig eintretende Athembeschwerden mit Hustenanfällen (die der Lungenerweiterung wegen nie ganz verschwinden werden) vollständig zurückgekehrt. – Das war doch gewiß eine gute erfolgreiche Cur und doch wurde dabei nichts verschrieben.
Haben Sie ein Weilchen Zeit, Herr Doctor, mich anzuhören? denn mir fehlt es überall. So sprach ein ziemlich dicker, im Lebensalter des Embonpoint (zwischen dem 45. und 50. Jahre) stehender, frühzeitig Pensionirter aus dem Altjunggesellenstande mit etwas fahlem Teint und schlaffen, mürrischen, mißtrauischen, lebensmüden Gesichtszügen, holte dabei einen langen Zettel, auf welchem alle seine Beschwerden haarklein verzeichnet waren, aus der Tasche und setzte mit Behaglichkeit sich und seine Brille zum Vorlesen zurecht. – Klug kann ich eigentlich aus meinem Leiden noch nicht recht werden, so seufzte er hervor, auch sind die Aerzte sehr verschiedener Ansicht darüber. Mir scheint’s bisweilen mehr rheumatischer, vielleicht sogar mehr gichtischer, als hämorrhoidalischer und nervöser Natur zu sein, auch bin ich schon auf die Vermuthung gekommen, daß sich die ersten Anfänge aus meiner Jugend herschreiben, wo ich scrophulös gewesen sein und sehr an Schärfe gelitten haben soll. Daß übrigens die Leber bei mir mit im Spiele ist, sehen Sie gewiß schon aus meiner Gesichtsfarbe; nebenbei bin ich sehr verschleimt, wie das auch meine belegte Zunge zeigt, und leicht werde ich von Katarrhen ergriffen. Am meisten peinigt mich übrigens bei meiner Nervosität der Gedanke an einen Nervenschlag oder gar an die Rückenmarksauszehrung. Jetzt wissen Sie Alles. – Im Gegentheile, jetzt weiß ich erst recht gar Nichts. Denn die ganze Krankheitsgeschichte bestand nur aus hohlen, nichtssagenden, medicinischen Ausdrücken, welche durchaus nicht auf das eigentliche Leiden schließen lassen. Man kann hier, wie so oft in der Medicin, sagen: denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Wollten doch die Patienten, anstatt mit ärztlichen Floskeln um sich zu werfen, nur ganz einfach ihre Beschwerden dem Arzte erzählen, dieser wird dann das zur Erkennung der Krankheit Nöthige aus dem Kranken schon noch herausfragen, herausklopfen und heraushorchen u. s. f., wenn’s nämlich überhaupt möglich ist.
Welche Beschwerden hat denn nun eigentlich unser Patient? Es wird ihm schwer werden, uns diese ohne öftere Einflechtung unverständlicher medicinischer Redensarten zu beschreiben, obschon er dieselben bereits sehr oft und mit einer Art Wohlbehagen einer Menge Menschen erzählt hat. Wehe Dem, der diese seine vielen körperlichen Leiden für eingebildete hält. – Was zuvörderst seine Empfindungen und seinen Gemüthszustand betrifft, so klagt Patient: über herumziehende Schmerzen in fast allen Theilen des Körpers, über öfteres Frösteln mit fliegender Hitze abwechselnd, Eingenommenheit[WS 1] des Kopfes, Schwindel, Ohrensausen, Rückenschmerzen, Drücken in der Oberbauchgegend und über das Gefühl von Vollsein in der Herzgrube, Abspannung, Mattigkeit und leichter Ermüdung der Beine. Die Gemüthsstimmung ist eine trübe, ärgerliche, sehr reizbare, mißtrauische, grübelnde, grillenfangende, verbunden mit Unlust zu den gewohnten Arbeiten und Hang zur Einsamkeit. Von wichtigeren Veränderungen und Störungen in der Thätigkeit irgend eines edlen Organs ist aber, wie die physikalische Untersuchung des Kranken lehrt, trotz der geklagten vielen und mannichfachen Beschwerden keine Rede, nur der Verdauungsproceß zeigt sich insofern etwas gestört, als Appetit und Stuhlgang nicht immer so wie wünschenswerth sind.
Dem Leser sei nun vertraut, daß der Arzt den eben beschriebenen Krankheitszustand, von welchem übrigens das männliche Geschlecht vorzugsweise heimgesucht wird, während das weibliche die Hysterie dafür hat, Hypochondrie, Milzsucht, Spleen getauft hat. Er sucht den Grund davon in einer krankhaft vermehrten Empfindlichkeit der Empfindungsnerven (oder des Empfindungsorgans, des Gehirns) gegen Körpergefühle, mit steter krankhafter Aufmerksamkeit auf den eigenen Gesundheitszustand. Man hat deshalb die Hypochondrie auch bezeichnet: als Virtuosität auf dem Empfindungsnerven-Instrumente; als krankhafte Zärtlichkeit gegen sich selbst, die gleich geheilt wäre, wenn der Zärtliche zu sich selbst einmal recht hart sagte: „Du bist ein Narr!“ Man erklärte sie ferner aus einer übermäßigen Liebe zum Leben und als Schwäche, sich seinen krankhaften Gefühlen ohne ein bestimmtes Object zu überlassen. Kurz sie besteht in einer Störung des Empfindungsprocesses in Folge krankhafter Reizbarkeit des Gehirns oder der Empfindungsnerven oder beider, ist also eine Art Geisteskrankheit, und charakterisirt sich hauptsächlich durch die Selbstsucht, wobei der Kranke alle Aufmerksamkeit nur auf den eigenen Zustand richtet, über den er anhaltend nachgrübelt, ärztliche Bücher studirt und oft komische Ansichten zu dessen Erklärung ausspinnt, gegen welche er keinen Widerspruch, verträgt, und die verschiedensten Curarten probirt. Trotz aller Klagen, Hoffnungslosigkeit und Lebensmüdigkeit liebt der Hypochondrist sein Leben doch sehr, ja er findet in der Erzählung seiner vielen körperlichen Beschwerden eine ganz erwünschte und angenehme Unterhaltung. – Die Quelle dieses Leidens, welches selbst bei den glücklichsten Außenverhältnissen alle Lebensfreuden stört und den unglücklichen Kranken zu einem Selbstquäler und einer Plage seiner Umgebung macht, scheint in den allermeisten (natürlich nicht in allen) Fällen eine gestörte Circulation und Reinigung des Unterleibsblutes, vorzüglich wohl in der Leber (aber ohne eigentliche Leberkrankheit) zu sein, so daß alsdann, nach dem Uebertritt dieses unreinen Blutes in die gesammte Blutmasse, die Nerven- und Gehirnubstanz nicht ordentlich mehr ernährt und gekräftigt werden kann. Ueber die Ursachen dieser Störung s. Gartenlaube 1854. S. 210. (Nr. 18.).
Wollen wir nun unseren Grillenfänger curiren, so muß dies ebensowohl körperlich, wie geistig geschehen. In ersterer Beziehung ist der Unterleibszustand, also der Pfortader-Leberblutlauf und der Verdauungsproceß in Ordnung zu bringen und dies ist, wie in Gartenl. Jahrg. 1854. Nr. 18. weiter auseinander gesetzt wurde, hauptsächlich zu erreichen: durch den reichlichen Genuß von Wasser (besonders von heißem Wasser), durch zweckmäßige Bewegungen (vorzüglich geregelte Turnübungen, bei welchen sich der Bauch strafft, durch Kegeln, Holzhacken und Sägen, Gartenarbeiten, Fußreisen, Reiten, Schwimmen, Jagen, Schlittschuhlaufen u. s. f.) durch tiefes kräftiges Athmen (zur Unterstützung der Blutcirculation), am liebsten im Freien, durch öfteres Kneten, Drücken, Reiben oder Pochen des Bauches, Beförderung des Stuhlganges durch Klystiere (nicht durch Abführmittel), durch Mäßigkeit und Einfachheit im Essen und Trinken (also leicht verdauliche, reizlose, aber nahrhafte, vorzugsweise animalische Kost). – In Bezug auf die psychische Behandlung, so muß zuvörderst das Selbstvertrauen und Ehrgefühl beim Hypochondristen geweckt werden, damit er sich seiner Schwäche schämt und willenskräftiger an eine nützliche Beschäftigung geht. Auch nützen Zerstreuungen, Reisen, Veränderungen des Wohnortes und der Umgebung, sowie Beschränkung oder Aufgebung der bisherigen Lebensweise (z. B. des vielen Sitzens, der Büchergelehrsamkeit, des unehelichen Lebens, des Salonlebens, der größeren Gesellschaften, der Nachtwachen, der übermäßigen Geistesanstrengungen u. s. f.). Ausschweifungen aller Art sind zu vermeiden, ebenso das lange Schlafen, besonders in den Morgen hinein.
Schließlich glaube der Leser nun aber ja nicht etwa, daß er aus dieser Beschreibung der Hypochondrie diese Krankheit und ihre Ursachen zu erkennen im Stande ist, denn häufig hängen alle die erwähnten Krankheitserscheinungen von wirklichen krankhaften Veränderungen innerer Organe ab, welche nur der gebildete Arzt durch genaue Untersuchung des kranken Körpers zu ergründen vermag.
(Wird fortgesetzt.)
[267]
Die Blicke Europa’s, welche seit 1853 mit Spannung auf den Orient hingerichtet waren, halten dort gegenwärtig vornämlich noch einen Punkt fest: wir meinen die Donaufürstenthümer, über deren staatliche Gestaltung und innere Einrichtungen in nächster Zeit wichtige Entscheidungen erwartet werden. Eine Erörterung der schwebenden politischen Streitfragen liegt nicht in der Aufgabe dieser Blätter, allein während diese verhandelt werden, wird sich doch Jedermann bewußt bleiben, welche wichtigen Interessen Deutschlands hierbei auf dem Spiele stehen. Der größte deutsche Strom, welcher in Folge der Kriegsereignisse von allen lange getragenen Fesseln befreit worden ist, bildet in seinem unteren Laufe die Grenze zwischen den Donaufürstenthümern und den unmittelbar türkischen Ländern. Er mündet in das schwarze Meer, welches seit den ältesten Zeiten für den Handel von der äußersten Wichtigkeit gewesen ist, da über dasselbe hinweg ein großartiger Warenaustausch zwischen Europa und dem innern Asien stattgefunden hat. Mit Jason, der die Schätze von Kolchis erbeutete, eröffneten die Griechen ihre dortigen Unternehmungen, die bei fortschreitender Gesittung nicht auf Raubzüge, sondern auf Colonisation und friedlichen Verkehr hingerichtet waren. In späteren Zeiten erwarben Genua und das mit ihm wetteifernde Venedig in jenen Gewässern ihre Reichthümer, bis die türkische Herrschaft den Weg zu solchen fruchtbringenden Unternehmungen verschloß.
In unserem Jahrhundert hat man angefangen, die so lange verschütteten Quellen dieses einträglichen Verkehrs wieder aufzugraben, und beim Beginn des orientalischen Krieges wurden in dieser Beziehung große Erwartungen angeregt. Der Pariser Frieden hat sie nur mangelhaft erfüllt, dennoch ist es von Wichtigkeit, daß nicht auch dasjenige, was er bewirkt hat, wieder verloren gehe. Der Krieg führte einen unermeßlichen Goldstrom in jene Gegenden, der, verständig benützt, zur Hebung der Länder am schwarzen Meere viel beitragen muß. Ein mächtiger Anstoß ist gegeben worden und der englische Unternehmungsgeist will dessen Schwingungen dauernd erhalten. Er verwendet große Capitalien zur Anlegung von Banken, Eisenbahnen, Fabriken und Bergwerken. Die Bevölkerung ist mit neuen Bedürfnissen bekannt geworden und verlangt, sie zu befriedigen. Daß die Mittel dazu vorhanden sind, sehen wir in Leipzig an den Messen der letzten Jahre. Die orientalische Kundschaft erlangt eine steigende Bedeutung und kauft weit beträchtlichere Waarenmassen als Nordamerika. In den Tafeln der Ein- und Ausfuhr von Oesterreich repräsentiren die türkischen Länder die wichtigste Ziffer. Um den Vorrang der Dampfschifffahrt im schwarzen Meere streiten sich Oesterreich, England, Frankreich und Rußland, und die Regierungen aller dieser Länder bringen erhebliche Opfer, um Privatunternehmungen zu unterstützen. Das alles sind deutliche Fingerzeige, welche unsere Theilnahme an der Aufrechthaltung und Erweiterung des freien Verkehrs in jenen Gegenden wach erhalten.
Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß sich in den Donaufürstenthümern wichtige Niederlagen von Erzeugnissen des deutschen Gewerbfleißes und die Vermittler ihres weiteren Absatzes nach der Türkei und nach Asien befinden. Für unmittelbare Verbindungen nach entfernteren Gegenden fehlt in Deutschland zumeist die Sicherheit, das Vertrauen, die genaue Bekanntschaft. Die großen Handelshäuser in Bukarest, Galacz, Braila besitzen dagegen altbegründete Verbindungen. Sie kennen die besten Absatzwege, sie wissen, wem sie Credit geben, wie weit sie denselben ausdehnen können, und sind mit den schwankenden Geldverhältnissen in den Plätzen des Morgenlandes vertraut. Wir würden daher nützliche Zwischenhändler verlieren, wenn solche Verhältnisse in den Donaufürstenthümern Platz greifen sollten, die dem deutschen Einflusse in diesen Ländern nachtheilig wären.
Doch auch in anderer Hinsicht haben diese Provinzen für uns eine vielversprechende Zukunft. Oesterreichische Ingenieure sind mit der Vermessung und der Chartographirung der Donaufürstenthümer beschäftigt gewesen und sind es noch. Sollten ihre Arbeiten in die Oeffentlichkeit gelangen, so würde die geographische Kenntniß dieser Länder eine dankenswerthe Berichtigung erfahren. Den zeitherigen Angaben zufolge hat die Walachei einen Flächenraum von 1330,22, die Moldau mit Hinzurechnung des zurückerhaltenen bessarabischen Gebiets von 940,68, Quadratmeilen. Jene besitzt eine Bevölkerung von 2,600,000, diese von 1,580,000 Seelen. Durchschnittlich kommen also etwa 1889 Menschen auf die geographische Geviertmeile. Diese dünne Bevölkerung entspricht der Landesbeschaffenheit um so weniger, als die ganze Fläche der Donauebene, ein trefflich bewässertes Land, von der äußersten Fruchtbarkeit ist. Obgleich es an einem thätigen und rationellen Betriebe des Feldbaues gänzlich fehlt, sind die Ernten doch so reich, daß die Getreidemärkte des Abendlandes von daher regelmäßig und stark versorgt werden können.
Die Karpathen aber sind mit den prächtigsten Wäldern bewachsen und verwahren einen großen, bis jetzt unaufgeschlossenen metallischen Reichthum. Salz und Vieh können die Donaufürstenthümer in Ueberfluß liefern, und viele Gegenden erzeugen Weine, welche den ungarischen den Vorrang streitig machen und bei angemessener Cultur ein edles Product in Masse auszuführen vermöchten.
Wenn irgend wohin die deutsche Auswanderung sich leicht und mit Erfolg wenden könnte, so wäre es nach den Ländern der unteren Donau. Ehe dies aber geschehen könnte, müßten dort Einrichtungen geschaffen werden, wie solche dem deutschen Geiste entsprechen. Der Grundbesitz findet sich in den Händen des Adels oder der Klöster, der Bauer dagegen in einer Lage, welche den Zuständen in Rußland entspricht, oder sie übertrifft. Die Sclaverei der Zigeuner ist in Folge des orientalischen Krieges gebrochen worden, die Leibeigenschaft des christlichen Landvolkes hat dagegen noch keine Erleichterung erfahren. In dieser Hinsicht müßte also eine durchgreifende Aenderung eintreten, und das Absehen der österreichischen Regierung ist dahin gerichtet, daß die Grundentlastung nach demselben Princip bewirkt werde, welches im Kaiserstaate zur Anwendung gekommen ist.
Ferner müßte in den Städten ein Bürgerthum nach deutschem Vorbilde geschaffen werden. Deutsches Stadtrecht wurde im Mittelalter weithin, besonders in die Länder an der Ostsee, getragen; möge es in unsern Zeiten gelingen, unsern Stadtverfassungen Geltung in der Richtung nach dem schwarzen Meere hin zu verschaffen.
Das Alles hängt aber mit der bevorstehenden Organisation der Donaufürstenthümer zusammen. Im ganzen Laufe ihrer Geschichte sind die Walachei und Moldau nie staatlich verbunden gewesen. Es würde uns zu weit führen, das Ringen der Völker um den Besitz der Länder an der unteren Donau in der Vorzeit zu schildern. Sowohl die Walachei als die Moldau hatte es endlich zu einer selbstständigen Herrschaft gebracht, die aber der vordringenden türkischen Macht nicht zu widerstehen vermochte; allein die Woiwoden beider Länder waren staatsklug genug, nicht das Unmögliche zu versuchen. Durch eine freiwillige Unterwerfung unter türkische Lehnsherrschaft sicherten sie sich und ihren Unterthanen erhebliche Gerechtsame, ohne dem Mißbrauch türkischer Gewalt einen hinreichenden Damm entgegen stellen zu können. Daher war es begreiflich, daß die russischen Heere, als sie zuerst siegreich den Boden der Donaufürstenthümer betraten, freudig begrüßt wurden. Gleichheit der Religion war allein schon ein mächtiges Band, welches die Rumänen mit Rußland verknüpfte. In Petersburg war es jedoch immer mehr die Eroberung, als die Beschützung der Donaufürstenthümer, welche im Auge behalten wurde. Schon Katharina II. ließ sich 1770 huldigen, gab aber im Frieden von Kutschuk-Kainardschi diese Länder der Pforte zurück, was jedoch nicht ohne mehrfache Stipulationen zu Gunsten derselben geschah. Im Jahr 1812 wurden nur durch die Bedrängnisse Rußlands in Folge der französischen Invasion die Donaufürstenthümer der Pforte gerettet, und eben so war es in dem am 2/14. Septbr. 1829 zu Adrianopel geschlossenen Frieden nicht die Großmuth des Siegers, sondern die gefährliche Lage, in welche sich Graf Diebitsch durch den Balkanübergang versetzt hatte, welche die völlige Eroberung der Moldau und Walachei verhinderte.
Unter den Formen eines Protectorats machte sich seitdem das russische Uebergewicht geltend. Was man in Petersburg wollte, ward Gesetz; als aber im Jahre 1848 in der Moldau ein kraftloser, in der Walachei ein nachdrücklicherer Versuch gemacht wurde, das russische Joch abzuschütteln, schob man in Petersburg die bis dahin sehr unbeachtet gelassene Oberherrlichkeit des Sultans vor, um daraus die Pflicht abzuleiten, seine „Souveränität,“ die er übrigens nie besessen, aufrecht zu halten. Die Pforte wurde gegen ihre Absicht und ihr Interesse bewogen, die gestörten Verhältnisse [268] herzustellen, und diese schwächliche Hingebung zog jahrelange diplomatische Intriguen nach sich, die 1853 in den orientalischen Krieg ausliefen. Niemand täuscht sich darüber, daß der Zweck dieses Angriffs die Eroberung der Türkei sein sollte, doch ist er nicht allein verfehlt worden, er nöthigte vielmehr Rußland zur Vertagung seiner Pläne. Mit kluger Vorausberechnung sollen diese aber dadurch festgehalten werden, daß das ohnehin lose Band, wodurch die Donaufürstenthümer noch mit der Pforte zusammenhängen, weiter gelockert, diesen Ländern eine scheinbare Selbstständigkeit unter der Herrschaft eines fremden Fürsten verschafft und damit dem russischen Einflusse ein breites Thor offen gehalten werde.
Wir in Deutschland sind mit unsern Sympathien für ein unabhängiges Griechenland übel angekommen und haben uns leider zu spät überzeugen müssen, daß wir damit den Interessen Rußlands in die Hände arbeiteten. Diesen Fehler wollen wir nicht wiederholen, indem wir für eine Staatenbildung an der untern Donau Partei nehmen, welche bei der unmittelbaren Nachbarschaft Rußlands noch ungleich gefährlichere Folgen haben müßte. Mit einer seltenen Einmüthigkeit hat sich die ganze unabhängige Presse in Deutschland gegen diesen von Frankreich unterstützten, wider den offen zu Tage liegenden Vortheil Deutschlands gerichteten Plan erhoben. Alles, was der Cultur in den Donaufürstenthümern Bahn brechen, was ihren Wohlstand befördern kann, wird unsere Theilnahme gewinnen. Zolleinigung, gemeinsame Rechtspflege, Verbindung der Verkehrsanstalten sind Dinge, die sich ohne eine politische Verschmelzung bewerkstelligen lassen. Dagegen sieht die öffentliche Meinung sehr wohl ein, daß ein sogenannter unabhängiger Rumänenstaat nichts weiter als ein russischer Vorposten sein und die künftige Eroberung dieser Länder erleichtern würde. Dabei wäre es aber um die Freiheit der Douau und den Verkehr Deutschlands nach dem Orient geschehen.
Das Bewußtsein dieser Verhältnisse ist es, welche die öffentliche Theilnahme für diese Länder gefesselt hält, und wir glauben daher in der Voraussetzung nicht zu irren, daß Schilderungen eigenthümlicher Zustände in denselben gern gelesen werden dürften. Oesterreich scheuchte durch eine bestimmt ausgesprochene Kriegsdrohung die russischen Heere über den Pruth zurück, und am 20. August 1854 begann der Einmarsch der österreichischen Truppen in die Donaufürstenthümer, welche sie bis gegen Ende März des laufenden Jahres besetzt gehalten haben. Ein kaiserlicher Officier, der den Bleistift eben so gewandt als die Feder führt, schickt uns Zeichnungen ein, die er während seines Aufenthaltes in diesen Ländern entworfen hat, und erläutert sie durch einen Text, der unter dem frischen Eindruck des Erlebten mit der Originalität des Soldaten geschrieben ist. Wir wählen davon heute die Abbildung, welche zuerst aus unserem xylographischen Atelier hervorgegangen ist. Sie zeigt uns einen Dorobantzen.
Dieses Wort ist während der Kriegsjahre 1853/54 so oft in Zeitungen gelesen worden, daß der damit verknüpfte Begriff wohl näher bekannt zu werden verdient. Unser militärischer Correspondent sagt darüber Folgendes:
„Zu den bemerkenswerthesten Personen der Walachei gehören die Dorobantzen, eine Art Sicherheitstruppe, Schutzmannschaft, Gensd’armerie, die, aus der Blüthe der männlichen Jugend genommen, militärisch organisirt, beritten, ihren Dienstobliegenheiten eben so gut entspricht, als irgend eine Polizeimannschaft der Welt, wobei natürlich der von den übrigen Ländern Europas sehr verschiedene Civilisationsgrad jenes Landes wohl zu berücksichtigen ist.
Die anfänglich fremd und sonderbar klingende Benennung „Dorobantz,“ erinnert sehr bald, zumal nach einigen Fortschritten in der walachischen Sprache und der gewonnenen Kenntniß, in welcher Weise darin die Ableitung der Wörter erfolgt, an den Ausdruck „Trabant.“
Die Dorobantzen-Mannschaft wird aus den Orten des Binnenlandes rekrutirt, während die Dörfer an der Landesgrenze die Mannschaft für die Grenzbewachung zu stellen haben. Bei jeder Ispravonitzie – Kreisamt – sind dreißig, bei jedem Subkermuire – Districtsamt – zehn Mann zur Dienstleistung vorhanden. Mißbräuchlicher und gesetzwidriger Weise werden die Leute aber weniger für den öffentlichen als für den Privatdienst ihrer Vorgesetzten verwendet. Man sieht sie Holz und Wasser tragen, Kinder warten, kochen, Kleider putzen, kurz in aller Hinsicht die Stelle des Bedienten oder der Magd vertreten. Alle vierzehn Tage wird die im Dienst stehende Mannschaft abgelöst und an ihre Geburts- oder Heimathsorte entlassen, wo die Leute vier Wochen lang dem Feldbau oder anderen Arbeiten obliegen, um nach Verlauf dieser Frist ihren Posten von Neuem zu beziehen. Dem gemäß befindet
[269][270] sich also immer nur ein Drittheil sämmtlicher Dorobantzen im activen öffentlichen Dienst, während zwei Drittheile ihren Privatverrichtungen nachgehen; doch werden sie außergewöhnlich einberufen, wenn besondere Veranlassungen: die Verfolgung von Räubern, Mordbrennern und anderen Uebelthätern, die Begleitung vornehmer Privatpersonen oder Staatsbeamten auf Reisen etc., dies erfordern.
In ihrer äußeren Erscheinung gleichen sie den russischen Kosaken, unterscheiden sich aber in der Farbe ihrer Bekleidung von jenen. En grande tenue tragen sie schwarze Röcke mit grünen Aufschlägen und schwarze weite Beinkleider, an den äußeren Seiten mit einem breiten, grünen Tuchstreifen besetzt. Eine zottige Lammfellmütze beschattet ihre meist jugendlichen, bartlosen Gesichter und sieht aus einiger Entfernung einem sehr üppig wuchernden, jedoch minder sorgfältig gepflegten und in Zotteln zusammengeklebten Haarwuchse nicht unähnlich. – Ihre Sommermontur dagegen besteht aus einem weißzwillichenen, sehr eng anliegenden – ohne Zweifel erst durch häufiges Waschen eingelaufenen – Rocke und zwillichenen Beinkleidern. Die ordinäre Winterkleidung bildet ein weißer grobtuchener Militärmantel, dessen lange und schwere Schöße sie sowohl beim Reiten als beim Exerciren zu Fuß rückwärts zusammenknöpfen. Im kleinen Dienst und für gewöhnlich tragen sie runde Mützen von grünem Tuch und ohne Schirm, was alles nach russischem Schnitt ist. Ihre Bewaffnung besteht aus einem Säbel mit dem Fabrikzeichen „Solingen“ auf der Klinge, aus einem Karabiner mit Feuerschloß aus „Tula“ und einer Patronentasche, die so hoch auf dem linken Schulterblatte hängt, daß ich nie begreifen konnte, wie die Leute hinein zu langen vermögen. Das Hauptstück der Ausrüstung aber ist die – Knute! In allen möglichen Combinationen und Variationen, welche die drei Anzüge für Winter, Sommer und Parade zulassen, sieht man Dorobantzen kreuz und quer im Lande herumreiten.
Ihre Pferde sind, wie die walachischen überhaupt, klein, schmächtig, dafür aber mit starken, gesunden Knochen, eisernen Sehnen und Muskeln begabt. Ihr Temperament ist gutmüthig, voll Zutrauen zum Menschen und zu allen Hausthieren, daher man nie von einem bissigen oder schlagenden Pferde hört. Mit dem geringsten Futter zufrieden, mit dem sybaritischen Hafer gänzlich unbekannt, leisten sie das Unglaublichste, tragen ihren Reiter bei Hitze, Kälte, Staub, Regen und Sturm in einem vollkommen gleichmäßigen Paßgange, jagen, wenn nöthig durch Knute, Hackenstöße und Geschrei angefeuert, in wilder Carrière querfeldein und halten sehr lange ohne Futter und Wasser aus. Obwohl, wie überall auf der Erde, auch unter den walachischen Pferden die braune Farbe am häufigsten vorkommt, so sieht man doch unverhältnißmäßig viel bizarre Pferdefarben und darunter solche, die selbst ein geübter Pferdekenner nicht ohne Zaudern und näheres Studium zu classificiren versteht. Manche Leute behaupten, daß die Dorobantzenpferde zuweilen geputzt werden – was den Bauernpferden nie widerfährt –, doch möchte ich die Bürgschaft für ein so gewagtes Gerücht nicht übernehmen.
Das Sattelzeug ist wie bei den Kosakenpferden mit dem Hauptmerkmal, daß ein schwarzledernes Sitzpolster auf dem sehr primitiven Sattelbocke durch einen Obergurt festgehalten wird. Die bald hölzernen, bald eisernen, in letzterem Falle stets rostigen Steigbügel sind so kurz geschnallt, daß, wie im Orient allgemein, die Kniee des Reiters sehr hoch und nach vorwärts zu liegen kommen. Der abendländische Reiter, der gewöhnt ist, seine Beine sans gêne auszustrecken, geräth dabei in Verzweiflung. Die Steigriemen lassen sich nicht – und wenn ja, doch nur der eine – verlängern, was die Sache nur schlimmer machen würde.
So reiten denn die Dorobantzen im Lande umher, theils als Träger von Dienstschreiben, theils als Begleiter von Amtspersonen, theils patrouillirend, und können als das Ideal einer schnellen, wenn auch nicht eben gerechten Executive in Polizei- und Justizsachen angesehen werden. Jedermann, der nicht Bojare, Geistlicher oder Beamter ist, also Bauer und Bürger, untersteht – russischen Traditionen gemäß – ihrer Knute und hat deren ungesäumte und ausgiebigste Anwendung unfehlbar zu erwarten, sobald er sich des Geringsten unterfängt, was dem Dorobantzen als vorschriftswidrig erscheint. Ich sah, wie einmal ein weißbärtiger Greis von einem Dorobantzen geprügelt wurde, weil er während der glühenden Julihitze in dem Schatten der Kolyba (d. h. der Hütte, worin die Tag- und Nachtwächter des Dorfes ihren Aufenthalt haben) sich niedergelegt hatte. Dem herbeikommenden Dorobantzen erschien das als eine Entweihung des Heiligthums, und ohne ein Wort zu sprechen, schlug er mit der Knute auf den Greis in einer Weise los, die ein Herz von Stein zum Erbarmen erweichen konnte. Der Mißhandelte nahm lautlos, mit devot und furchtsam gekrümmtem Rücken, die abgezogene Pelzmütze in der Hand, diese grausame und unverdiente Züchtigung hin. Umsonst bemühte ich mich durch Zureden und ein angebotenes Geldstück, den unzeitigen Diensteifer des Dorobantzen zu beschwichtigen; sein Zorn war so entbrannt, daß er auf nichts achtete, und mir blieb nichts übrig, als die von dem Diener der Gewalt verschmähte Gabe dem unglücklichen Opfer desselben als Schmerzensgeld zu reichen.
So schwer es für Reisende in der Walachei auf Nebenrouten, wo keine Posten bestehen, ist, Reitpferde oder Gespann, Nachtquartier, Speise und Trank zu bekommen, oder Hülfe zu erhalten, wenn etwas am Wagen gebrochen ist, so macht sich doch das Alles leicht und schnell, sobald man einen Dorobantzen zur Begleitung hat. Ist der Ortsvorstand zur Hand, so wendet er sich an diesen; außerdem schreitet er nach Willkür ein, dringt in das erste beste Haus, nimmt Wagen und Pferde vom Hofe, zwingt den Bauer, wenn er nicht willfährig ist, mit Scheltworten oder Knutenhieben Zügel und Peitsche zu ergreifen, sich auf den Wagen zu schwingen und den Reisenden zu befördern. (Ist es zu wundern, wenn die privilegirten Classen, denen an Aufrechthaltung solcher Zustände gelegen ist, dahin gravitiren, wo ähnliche Verhältnisse bestehen?)
In Walachisch-Fokschau sah ich eine Abtheilung von etwa vierzig Dorobantzen zu Fuß exerciren, wobei mir die nichts zu wünschen übrig lassende Präcision in den Gewehrgriffen und Wendungen, besonders aber der Umstand sehr auffiel, daß die ganze Truppe nach Erschallen des Commandoworts die Tempos des Griffes mit lauter Stimme sich vorzählte. Der Commandant stand, nichts als eine Knute in der Hand, vor der Fronte. – Von einem Exercitium zu Pferde, oder gar von einem halbwegs systematischen Reiten in einer Reitschule ist bei den Dorobantzen, wie überhaupt bei der walachischen Cavallerie, keine Rede.“
Daß die eigentlichen Handelsgeschäfte der Leipziger Messen jetzt weit bedeutender und großartiger sind, als sie es vor hundertundfünfzig Jahren waren, steht außer allem Zweifel; dagegen besaßen sie zu jener Zeit einen romantischen Nimbus, der ihnen in unserer Zeit des Realismus und Materialismus gänzlich gebricht.
Der Hauptgrund dieses Nimbus lag in dem Besuche vieler vornehmer Personen, welche die Leipziger Messe zu ihrem Vergnügen mit ihrer Gegenwart beehrten.
Den Hauptanlaß hierzu gab wohl der prachtliebende König August der Starke, welcher sich den Besuch der Leipziger Messen zu einem Haupt- und Staatsvergnügen machte. Regelmäßig, wenn er gerade in Dresden war, bereiste er mit glänzendem Gefolge die Neujahrs-, Oster- und Michaelismesse, wo gewöhnlich auch andere fürstliche Personen, geladen oder ungeladen, sich einfanden, die er alsdann als Meßvater, wie er sich oft nannte, glänzend bewirthete. Mehrmals beschleunigte er seine Abreise aus Warschau, um noch zu rechter Meßzeit in Leipzig einzutreffen und man konnte die Kosten seiner Reisen zur Leipziger Messe, die man damals „Versammlungen der durchlauchtigsten Welt“ nannte, auf jährlich mehr als hunderttausend Thaler anschlagen. Keine der mitanwesenden hohen Meßfremden blieb ohne Geschenk, und daß die Cosel und die Königsmark dabei nicht zu kurz kamen, kann man sich leicht denken.
Ein besonders interessantes Schauspiel war der jetzt schon seit vielen Jahren nicht mehr stattfindende Durchgang der Koppelpferde durch die Stadt.
Leipzigs Roßmarkt hatte sich nämlich schon damals zu einer [271] bedeutenden Höhe emporgearbeitet, vorzüglich nachdem ihn der Rath mit den Oster- und Michaelismessen vereinigt hatte. Leipzig war der Stapelplatz dieses Handelszweiges für das südliche und einen großen Theil des nördlichen Deutschlands. Seine Messen gaben, wenigstens für das südliche Deutschland, den Preiscourant für diese Waare auf ein halbes Jahr an und selbst für die nördlichen Provinzen, aus welchen der größte Theil der hier zum Verkaufe aufgestellten Pferde bezogen ward, war die Leipziger Messe der Tarif, nach welchem man den Einkauf zu der künftigen besorgte.
Auch dies ließ König August nicht spurlos an sich vorübergehen. In Folge eines von ihm erlassenen Befehls durfte bei namhafter Strafe kein zur Messe gebrachtes Pferd früher verkauft werden, als bis alle angekommenen den Zug durch die innere Stadt gemacht hatten. Dann suchte der König sich heraus, was ihm zu kaufen gefiel.
In der Ostermesse geschah dies am Sonntage Jubilate und in der Michaelismesse an dem Sonntage, an welchem die eigentliche Messe ihren Anfang nimmt, Nachmittags um zwei Uhr. An jedem dieser beiden Sonntage mußten nun die zum Verkaufe gebrachten Pferde aus den Ställen vor dem Grimmaischen und Petersthore, von dem Roßplatze, auf welchem sie sich versammelten, zum Petersthore herein, durch die Petersstraße, über den Markt und Grimmaischen Thore wieder hinaus, den Universitätsstallmeister an der Spitze, geführt werden.
So gingen die Pferde in Zügen oder Koppeln, in welchen immer eines vermittelst eines etwa drei Fuß langen Stocks an den umgürteten Schweif des vor ihm gehenden mit der Halfter angeschleift war, an dem Hause des Marktes Nr. 2., welches der König bei seiner Anwesenheit in Leipzig bewohnte und welches auch bis 1813 von seinen Nachfolgern bewohnt ward, vorüber. Trat der Hof, wie dies in den ersten Jahren dieser Besuche einige Mal zu geschehen pflegte, im Schlosse Pleißenburg ab, so kam der Zug der Koppelpferde ebenfalls zum Petersthore herein, ging aber durch die Schloßgasse und das Schloß und zum Schloßthore wieder hinaus.
Bemerkte der König ein Pferd, welches ihm gefiel, so mußte zur nähern Besichtigung desselben der ganze Zug, obschon nur auf wenige Augenblicke, Halt machen, damit die Gestalt und Farbe des Pferdes und der Name des Verkäufers aufgezeichnet werden konnten.
Dieser Gebrauch erhielt sich bis zur Zeit des französischen Krieges, und wenn der Landesherr nicht persönlich nach Leipzig kam, so fand sich von Seiten des sächsischen Hofes der Oberstallmeister ein. Seit jener Zeit aber änderte sich die Sache allmählich. Das Verbot des Pferdeverkaufs ward zwar nicht aufgehoben, aber gar nicht mehr beachtet. Jeder Roßhändler verkaufte seine Waare, wie und wann es ihm beliebte. Dieser Umstand in Verbindung mit dem, daß die Händler nicht einmal alle noch unverkaufte Pferde mit in den Zug brachten, war Ursache, daß dieser von Messe zu Messe kleiner und ärmlicher ward. Während daher in den glänzendsten Perioden der Leipziger Roßmesse gegen zweitausend Pferde durch die Stadt zogen, war diese Zahl in der Ostermesse 1825 bis auf einige siebzig zusammengeschmolzen, so daß wenige Jahre darauf der Durchgang der Koppelpferde seine Endschaft erreichte.
Unter den Handelsartikeln der Leipziger Messen vor hundertundfünfzig und mehr Jahren befanden sich übrigens zuweilen sehr abenteuerliche, die man jetzt trotz unserer vorgeschrittenen Industrie vergebens suchen würde, welche aber beweisen, daß gewinnsüchtige Speculanten damals eben so gut wie jetzt das Haschen des Publicums nach auffallenden Sonderbarkeiten zur Bereicherung ihres Beutels zu benutzen verstanden.
So fanden sich auf der Michaelismesse 1684 nach der durch die kaiserlichen, polnischen und sächsischen Truppen glücklich erfolgten Entsetzung Wiens mehrere Kaufleute ein, welche einige Fässer gedörrter Türkenköpfe unterschiedlicher Art und Gestalt mit abscheulichen Gesichtern, seltsamen Bärten und vielerlei Haaren, kurz oder lang geschoren, zum Verkaufe ausboten. Sie wurden je nach der Scheußlichkeit ihres Ansehens, welches den Maßstab für ihren Werth angab, und je nachdem die Gesichter recht arg zerhauen waren, mit vier, sechs bis acht Thalern das Stück verkauft und zum Theil weiter nach Spanien, England, Holland, Frankreich, Dänemark und Schweden versendet.
Einer dieser Türkenkopfhändler brachte zur nächsten Michaelismesse außer seiner schon bekannten Schnittwaare noch als besondere Rarität ein lebendes türkisches Mädchen von etwa zwanzig Jahren und einen türkischen Knaben von sieben Jahren mit, die beide vor Ofen gefangen genommen worden waren und die er ebenfalls zum Verkauf ausbot. Der Kauf- und Handelsherr Kaspar Rose kaufte beide, das Mädchen für einen Centner Zucker und den Knaben für zehn Thaler baares Geld. Beide wurden von ihrem Käufer bald bewogen, sich taufen zu lassen und die Namen Barbara und Friedrich anzunehmen. Als jedoch Rose starb, nahm der prunkliebende Bürgermeister Romanus sie als ein Verschönerungsmittel seines Haushaltes in seine Dienste, und machte sie wieder zu Türken, indem er ihnen schöne türkische Anzüge machen ließ und sie wieder bei ihren ursprünglichen Namen Zuleima und Soliman nannte, wie sehr auch viele fromme Seelen der Stadt sich über dieses nach ihrer Ansicht strafwürdige und unchristliche Beginnen ereiferten.
Die jetzt auf dem Roßplatz (dieses Jahr verschiedener Bauten wegen auf dem Fleischerplatz) stehenden Trink- und Schaubuden hatten ihren Platz damals auf der Grimmaischen Gasse und theilweise auf dem damaligen Petersplatze oder der späteren Esplanade, welche jetzt den Namen des Königsplatzes trägt.
So wurde zum Beispiel im Jahre 1650 auf der Grimmaischen Gasse in einem Hofe der erste Elephant gezeigt, welcher nach Leipzig und Sachsen, so wie überhaupt nach Deutschland gekommen zu sein scheint. Von den Zetteln, welche der Besitzer des Thieres austheilte, befindet sich jetzt noch ein Exemplar in der Bibliothek eines Sammlers derartiger Raritäten und es ergibt sich daraus, daß das Thier eins der gelehrigsten und sanftesten war, welche jemals gesehen worden sind. Dieser Zettel ist ein Kupferstich auf einem ganzen Bogen, bestehend aus einem Mittelfelde, welches von sechzehn Seitenfeldern umgeben wird. Das erstere stellt den Elephanten überhaupt mit seinem Führer dar und die andern zeigen die mannigfachen Kunststücke, welche er machte. So sehen wir ihn die Zuschauer becomplimentiren, sich für das empfangene Geld bedanken und auf die Erde platt niederlegen, seinem Führer das Geld aus der Tasche ziehen, ihn auf dem Rüssel tragen, eine Menge Jungen von der Erde aufheben und sie mit dem Rüssel auf den Hals setzen, mit einer Kugel nach Kegeln schieben, seinem Führer den Hut abnehmen und sich auf den Kopf setzen, einen Thaler, selbst einen Dreier von der Erde aufheben, mit dem Führer ein Scheingefecht mit Rappieren auf Hieb und Stich bestehen, den Eimer herbeitragen, damit sein Herr sich waschen kann, sich mit einem Besen abkehren und endlich nach dem Takte der Trompete ein Tänzchen machen.
Nicht weniger als hundertunddreißig Jahre vergingen, ehe sich wieder nach diesem ersten ein Elephant auf die Leipziger Messe verirrte, was, wie wir in Weisen’s Kinderfreunde lesen, im Jahre 1780 geschah. Bei dem großen Capitale, welches der Ankauf eines solchen Thieres kostete, und der Furcht, es durch das Klima bald umkommen zu sehen, so wie bei den bedeutenden Kosten und Schwierigkeiten, welches die Fortschaffung eines solchen Thieres von einem Orte zum andern verursachte, darf dies nicht Wunder nehmen. Die Neuzeit mit ihren großartigen Transportmitteln bietet natürlich der Schaulust in dieser Beziehung eine weit reichere Ernte und Manches, was damals mit großer Bewunderung angestaunt ward, erregt jetzt nur noch geringes Interesse.
Die indianischen Raben, die Papageien und Kakadus, welche zur Michaelismesse 1684 zu sehen und für theures Geld zu verkaufen waren, machten mit den daneben befindlichen Meerkatzen und Pavianen ein sehr großes Aufsehen. Daneben interessirte die Riesin, welche nebst einem Wunderschafe mit einem ungeheuren Horne in einer Bude auf der Grimmaischen Gasse den Schaulustigen sich präsentirten. Noch mehr Zulauf erhielt die Menagerie, die 1685 in der Michaelismesse in Bräunicken’s Hofe zu sehen war und wo außer Löwe und Tiger ein gar wundersamer Vogel, der „vorn wie eine schwarze Sau gestaltet war und Stacheln auf dem Rücken hatte,“ die Neugier fesselte und die Naturkunde der Leipziger bereicherte.
Ueberhaupt wurde es nun schon ziemlich Mode, anstatt die Bären-, Affen- und Kameelführer auf offener Straße zu sehen, in die Schaubuden und Höfe zu gehen und dort die Sammlungen ausländischer Thiere zu betrachten, die von dieser Zeit an sich ziemlich zahlreich einstellten.
Auch an anderen seltenen und wunderbaren Thieren fehlte es nicht. So war in der Ostermesse 1683 in dem Metzner’schen Hause am Markte ein sehr gutes Wachsfigurencabinet aufgestellt, welches die ganze französische Königsfamilie in getreuen Nachbildungen zeigte. Die Wasserkunst, die 1690 in einem Hause auf der Grimmaischen Gasse gezeigt wurde, scheint mit ihren beweglichen Figuren ebenfalls kein uninteressanter Gegenstand gewesen zu sein und in der Ostermesse 1699 bewunderte man einen Knaben, der an Händen [272] und Füßen mit einer harten Fischhaut geboren war, und eine Brabanterin, welche geschmolzenes Blei, brennendes Pech und siedendes Oel genoß und auf glühendem Eisen ging.
In den verschiedenen Garküchen und Speisebuden – von dem gemeinen Volke Lunzenbuden genannt – auf der Grimmaischen Gasse erblickte man eine buntgemischte Menge von einheimischen und auswärtigen Gästen und in derselben Gegend nicht selten auch sogen. Glücksbüdner mit ihren Glückstöpfen und Waarenlotterien. Nicht nur auf den freien Plätzen, sondern auch an den Straßenecken der Stadt paradirten privilegirte Marktschreier, Zahn- und Wurmärzte mit betreßten Kleidern und großen Perrücken angethan, auf wunderlich verzierten Schaubühnen, priesen den Leichtgläubigen mit Stentorstimmen ihre Quacksalbereien und kirrten die hochaufhorchenden Zuschauer nicht selten durch den fadesten und sittenlosesten Scherz ihrer Hanswürste, obschon letztere bereits vor mehreren Jahren durch den Stadtrath verboten worden waren. Gaukler aller Art, Bären-, Affen- und Hundeführer, Bänkelsänger und Marionettenspieler fanden sich selbst an den Ecken der Straßen und auf den freien Plätzen der Stadt in Menge ein. Auch sah man zuweilen größere Schaubühnen errichtet, auf welchen aber freilich nur Komödien von ziemlich niedriger Art aufgeführt wurden.
Während dies geschah, durchstrichen Musikanten in ungeheurer Anzahl selbst das Innere der Häuser und suchten die Bewohner derselben heim mit polnischem Bock, Dudelsack, Leierkasten, Brummeisen und Hackebret. Zugleich drangen sogenannte Krummholzölmänner aus Ungarn ihnen Mittel für ihr leibliches Wohl auf, denn selbst Dem, der sich kerngesund fühlte, sahen diese Leute an, daß er krank sei und ihrer Medicin bedürfe.
Eine, was Schaugepränge betrifft, besonders glänzende Messe wie sie vielleicht nie wiederkommen dürfte, war die Michaelismesse des Jahres 1699, welche König August mit einem ungewöhnlich zahlreichen und brillanten Gefolge besuchte.
Eine Stunde vor seiner Ankunft, welche Sonnabends Nachmittags gegen fünf Uhr erfolgte, zog die Leibgarde ein, die aus hundertundsiebzig Mann Janitscharen bestand, welche roth und weiß „gar curieux montirt“ waren. Ihr Aufzug versetzte „männiglichen in Verwunderung, gestalten sie mit ihrer türkischen Feldmusik, kleinen Schalmeien, messingenen Becken, die von zwölfjährigen Knaben zusammengeschlagen wurden, ferner mit ihren großen Trommeln und etlichen Paar kleinen kupfernen Pauken sich tapfer hören ließen.“ Sie marschirten in ihrer Ordnung vor das sogenannte Welsische Haus am Markte, in welchem der König abstieg.
Einige Tage darauf folgten die Königin und noch viele andere Herzöge und Markgrafen, fürstliche Personen, Herren und Damen aus gräflichem und freiherrlichem Stande, hohe Militärs und polnische Magnaten. Die Zahl dieser vornehmen Gäste betrug gegen hundertundfünfzig und sie wurden in die bequemsten Häuser der Stadt „einlogiret und accomodiret.“ In dieser Messe wurden im Brühle nicht nur am Zimmerhofe im Opernhause Vorstellungen gegeben, sondern auch in dem Gasthofe zu den drei Schwanen auf königlichen Befehl zum ersten Mal französische Komödien gespielt, welche die deutschen und polnischen Fürsten und Herrschaften Abends fünf Uhr täglich besuchten. Nach dem Theater fand gewöhnlich eine Redoute statt, wozu man die Börse auf dem Naschmarkte eingerichtet hatte.
Während derselben Messe ward auch die Trauung des Erbprinzen von Brandenburg-Bayreuth mit einer Prinzessin von Sachsen-Weißenfels in dem Hause vollzogen, welches der König bewohnte. Die Traurede hielt der Superintendent Ittig und machte den Anfang „mit einem gelehrten Sermon von der Glückseligkeit der Stadt Leipzig und wie dieses wegen des Besuchs so vieler hohen Personen recht glückselig zu preisen sei.“ Das Ende der Ceremonie bildete, gleich dem Anfange derselben, eine Instrumental- und Vocalmusik der königlich polnischen Capelle. Auf dem Markte hatte man zwölf Stück Geschütze aufgefahren, um sie später während der Tafel beim Ausbringen der Gesundheiten zu lösen. Nach beendeter Ceremonie wurden die hohen Gäste durch Marschälle zur Tafel geführt. „Diese,“ so sagt unsere Quelle, „war magnifique anzusehen, nicht allein weil kostbare Essen in großer Menge aufgetragen, sondern auch der Nachtisch mit schönen Confecturen gezieret wurde. Bei dem Gesundheittrinken ließen sich die Trompeten und Pauken nebst denen Stücken tapfer hören und ward dieser Actus glücklich geendiget.“
Amüsant ist der Bericht über eine Sehenswürdigkeit dieser Messe, welchen wir zum Schluß dieser kleinen Schilderung der Leipziger Messe in der Vorzeit unsern Lesern in unveränderter Gestalt mittheilen wollen.
„Diese Michaelismesse“ – heißt es – „hat sich ein Vielfraß oder Vielfresser um Geld allhier sehen lassen. Er war eines Hirten Sohn, dessen Mutter von Prag bürtig war und sich an einen Wolf, als sie mit ihme schwanger gegangen, versehen hatte, indem sie darzu kommen, als sein Vater ein todt angebissenes Schaf dem räuberischen Wolfe abgejaget, und an dem rohen Fleische des Schafes nicht weniger als der Wolf ihren Appetit gern stillen wollen, welches sie auch gethan, im Fall ihr dasselbe nicht mit Gewalt vom Manne wäre aus den Zähnen gerücket worden. Dieser verwahrlosete Mensch hatte einen so starken Magen, daß er Steine verschlucken und verdauen kunte, und einen so unordentlichen Appetit, daß er lebendige Katzen, Hunde und Schafe mit Fell und rohem Fleische fressen kunte. Absonderlich wenn er sich recht sättigen wollte, verschluckte er Steine, so groß als Kastanien, und fraß auch Werg dazu. Man kunte gar eigentlich bei ihm die Steine im Halse und Bauche hören kollern und klappen. Dieser Steinfresser mußte ein paar Tage in dem neuen Zuchthause Brod essen und bekam hernach seinen Laufzettel, damit sich Niemand an ihm versehen möge.“
Der Frauentag. Bekanntlich erfreuen sich die Frauen in keinem Lande einer so hohen Verehrung und üben nirgends einen so großen Einfluß, wie in Nordamerika: eine Auszeichnung, die sie neben den freien Institutionen zum großen Theil vielleicht auch einer Sitte der alten holländischen Gründer Neu-Yorks – früher Neu-Amsterdam – verdanken. Diese feierten nämlich jährlich ein Fest, der Vrouwen-Dagh oder Frauentag genannt, an dem sämmtliche junge Mädchen mit Stricken versehen in kleinen Trupps die Straßen durchzogen und ein Treibjagen auf die Knaben anstellten. Wehe dem Armen, der in ihre Hände fiel! Unter Lachen und Jubel wurde er unbarmherzig gegeißelt und durfte keinen Finger zu seiner Vertheidigung rühren. Nur die Flucht stand ihm frei, lieferte ihn aber schon an der nächsten Ecke nur einer andern Patrouille seiner Peiniger unter die Fuchtel. Es war ein Schreckenstag für alte Jungen; denn den naheliegenden Ausweg, sich bei einer so unbehaglichen Witterung fein daheim zu halten, schnitten ihnen die eigenen Mütter ab, die allzu hohen Werth auf der Frauen geheiligtes Vorrecht legten, um nicht selbst ihr Herzens-Benjaminchen schonungslos in den Prügelregen hinauszutreiben. Als einmal der schmerzende Rücken den Witz der Knaben soweit geschärft hatte, daß sie sich zu dem Gedanken erhoben, es gebühre ihnen doch wohl Revange und demgemäß verlangten, der folgende Tag sollte Mannen-Dagh heißen, beschieden sie ihre wackeren Väter dahin, daß hierdurch der ganze Zweck der weisen alten Sitte vereitelt würde, der kein anderer sei, als ihnen schon von Jugend auf die wichtige Lehre einzuschärfen, niemals, unter keiner Veranlassung je die Hand gegen ein Weib zu erheben.
Noch lange nach der Besetzung der holländischen Colonie durch die Engländer erhielt sich dieses Fest, und man muß gestehen, daß die Amerikaner seiner Zucht alle Ehre machen.
Die Pflege- und Bildungsanstalt für Geistesschwache von Doctor Heinrich Herz, deren wir bereits in diesen Blättern mehrfach ehrenvoll zu gedenken Gelegenheit hatten, ist seit Neujahr von dem Plossenberge bei Meißen in das eine Stunde von der Stadt entfernte Buschbad verlegt worden, das Doctor Herz zu diesem Zwecke käuflich an sich gebracht. Während diese äußerst wohlthätige Anstalt früher auf ein einzelnes Haus beschränkt war, und daher in der letzten Zeit mehrfache Anmeldungen abgewiesen werden mußten, stehen ihr jetzt drei Häuser mit bedeutenden Räumlichkeiten zu Gebote. In dem einen derselben befindet sich die eisenhaltige Quelle mit einer Anzahl Badezellen, welcher das Buschbad seine Entstehung verdankt, und die einsame Lage in herrlicher gesunder Gegend ist ganz für seine jetzige Bestimmung geschaffen. Außer für die geistesschwachen Kinder, an deren einigen bereits ausgezeichnete Resultate erzielt worden sind, können nun auch solche Personen aufgenommen werden, die nur an zeitweiligen Geistesstörungen leiden und gesonderte Wohnzimmer beanspruchen. Nebenbei wirkt Frau Herz durch orthopädische Turnstunden für Kinder und Mädchen, welche nur diese besuchen, äußerst heilsam, und hat dafür von den berühmtesten Dresdner und Meißner Aerzten die ehrenvollsten Zeugnisse erhalten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Eingenomheit