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Die Gartenlaube (1856)/Heft 49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[661]
Zipser.
Nach wirklichen Erlebnissen erzählt von Ernst Willkomm.

Am äußersten Ende einer Lausitzer Stadt, gegen Süden lag ein kleines, aber freundlich aussehendes Haus. Von drei Seiten, war es mit sorgfältig gepflanzten Gärtchen umhegt. Vor der jederzeit verschlossenen Thür ward täglich Sand gestreut, gleichviel, ob das Wetter schön und sonnig war oder Regen und Nebel die Gegend bedeckten.

Die kleinen Fenster blinkten so hell, als wären sie von polirtem Spiegelglas, auch der metallene Hammer an der Thür, welcher die Stelle einer Schelle ersetzte, flimmerte wie Gold und war bei hellem Sonnenschein in ziemlicher Entfernung bemerkbar. Menschen sah man selten weder vor der Thür noch im Garten. Die Bewohner des Häuschens schienen sehr still und einsam zu leben. Nur sehr früh am Morgen umschritt wohl bisweilen ein hochgewachsener alter Mann das Haus, der Jedem durch sein ungewöhnlich reiches Haar, das lang und lockig bis auf die Schultern niederhing, auffallen mußte. Seltener noch ließ sich ein fein gebautes junges Mädchen vor der Thüre blicken, das sehr hübsch war, immer aber blaß und melancholisch aussah.

Aufmerksame Beobachter behaupteten, es gehe in dem einsam gelegenen Häuschen nicht so still zu, als es den Anschein habe. Am Tage freilich ließe sich selten Jemand dort blicken, am innigsten sehe man andere Leute dahin wandern, wer aber recht aufpasse, der könne bald nach Sonnenuntergang mehr als einen Menschen jenem Häuschen zuschreiten und durch behutsame Schläge mit dem metallenen Hammer Einlaß begehren sehen. Bald seien diese späten Gäste einfache Landleute, bald fein gekleidete vornehme Herren, bald gar in unscheinbare Gewänder sich hüllende Damen. Bis gegen Mitternacht währe regelmäßig dies Kommen und Gehen, und wer sich nur auf’s Spioniren legen wolle, der könne die wunderlichsten Beobachtungen und gar merkwürdige Entdeckungen noch obendrein machen.

Unsere Leser werden den heimlichen Besuch erwähnten Hauses sehr natürlich finden, wenn wir ihnen sagen, daß es die Wohnung des Scharfrichters war und daß man um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nicht weit genug in Kultur und Humanität vorgerückt war, um öffentlich und am hellen Tage mit einem Scharfrichter zu verkehren.

Zipser war auch nicht aus freiem Entschlusse ein Bewohner des einsamen Hauses geworden. Der Zufall und eine recht heitere Lebensstunde hatten ihn dazu gemacht. Vor langen, langen Jahren war Zipser als hoffnungsvoller Student bei Verwandten zu Besuch gewesen, mit mehreren Freunden in ein Tanzlokal gegangen, wo eine Menge junger Mädchen sich im Kreise schwang, während andere unthätig der Belustigung zusahen. Eine dieser nicht tanzenden Schönen, die entfernt von den übrigen Zuschauerinnen, mit sehnsüchtigen Blicken dem Jubel ihrer Schwestern lauschte und diese um den herrlichen Genuß zu beneiden schien, gefiel dem fröhlichen Studenten vor Allen. Ohne sich lange zu besinnen und ohne das niedliche Mädchen um Erlaubniß zu fragen, faßte er das schöne Kind um die schlanke Taille und riß sie, ungeachtet ihres ängstlichen Sträubens, hastig in den Kreis der tanzenden Paare. Im Taumel der Lust bemerkte er nicht sogleich die Verstörung, welche sich auf der Stelle aller Tanzenden bemächtigte und binnen wenigen Minuten den ganzen Tanzplan leer fegte. Erst als er sich mit dem keuchend und schluchzend in seinem Arme liegenden Mädchen allein sah, ward ihm unheimlich zu Muthe und bleicher Schreck entfärbte seine hoch geröthete Wange. Eine schnelle, wilde Frage, an das erschrockene Mädchen gerichtet, entriß diesem die bedeutungsschwere Antwort: „Ich bin die Tochter des Scharfrichters!“

Diese wenigen Worte erklärten Alles. Zipser mußte sich widerstrebend bekennen, daß ein einziger unbesonnener Augenblick sein ganzes Lebensglück zerstört habe, daß dies Leben selbst auf dem Spiele stand, wenn er nicht Manns genug war, sich und seinen in ihm aufsteigenden Schmerz gewaltsam zu besiegen.

Er beruhigte mit wenigen Worten die verstörte Schöne, die noch zitternd und weinend an ihm lehnte und, wie ihm däuchte, nur das Unglück des jungen Mannes beklagte.

„Beruhige Dich und sei still!“ sprach er innerlich ergrimmt. „Ich habe Dich in meinem Arme gehalten, Du bist mein, wenn Du mich nicht verachtest!“

So sprechend, verließ der kecke Student festen Schrittes den Tanzsaal, die Tochter des Scharfrichters am Arm. Er näherte sich finster und trotzig der zusammengelaufenen Menge, die sogleich auseinander stob, um das Paar unberührt vorübergehen zu lassen. Zipser lachte ingrimmig, sein Entschluß aber stand fest. Die Tochter des Scharfrichters war seine Braut. Entweder wollte er das schuldlose Kind der Welt und der bürgerlichen Gesellschaft dadurch, daß er sie ehelichte, wiedergeben, oder er selbst wollte dieser von Vorurtheilen beherrschten ungerechten Gesellschaft für immer den Rücken kehren.

Dem jungen Manne ward keine lange Wahl gelassen. Niemand wollte mehr mit ihm verkehren, denn Vorurtheile, die wir mit der Muttermilch eingesogen haben, die mit uns gewachsen und erstarkt sind, wirken ansteckend wie pestartige Krankheiten. Kein Einziger wagte es so hoch sich über die urtheilslose Menge zu erheben, daß er dem ehemaligen Freunde und Genossen abermals die Hand gereicht hätte. Zipser war verstoßen. Wollte er nicht wie [662] ein Geächteter, von Allen verlassen, durch die Welt wandern oder in weiter weiter Ferne, wo Niemand ihn kannte, sich eine neue Heimat suchen, so blieb ihm nichts übrig als denen sich anzuschließen, die außerhalb dieser vorurtheilsvollen Gesellschaft standen und eine Welt für sich bildeten. Zipser entschloß sich, wenn auch mit schwerem Herzen und vielleicht nicht ohne harte Kämpfe, zu Letzterem. Mathilde war ein liebevolles Mädchen, das ihm mit schwärmerischer Treue anhing, und schon wenige Monate später feierte er mit der vom Verhängniß ihm zugeführten Braut seine Vermählung.

So war nun aus dem heiteren, übermüthigen Studenten der Medizin ein stiller, oft schwermüthiger Scharfrichter geworden. Sein Schwiegervater hatte keine Söhne und da er längst schon sich hinfällig fühlte, trat er dem kräftigen Eidam, der sich in so merkwürdiger Weise als ein Mann von Thatkraft und festem Willen gezeigt hatte, gern das wenig beneidenswerthe Staatsamt ab, das ihm als Erbe vom Vater und Großvater zugefallen war.

Mathilde konnte sich in keiner Weise über ihren jungen Gatten beklagen. Er war stets liebevoll und zärtlich gegen sie, und ließ sie nie weder durch Miene noch Worte ahnen, daß ihr Liebreiz es gewesen sei, der ihn verlockt und dadurch der Gesellschaft entrissen hatte.

Dennoch nagten Kummer, mehr vielleicht noch ein still verborgener Ingrimm an dem Herzen des jugendlichen Scharfrichters. Auf seiner Stirn thronte finsterer Stolz, und in seinem tiefen Blicke lag etwas, das Manchen erbeben machte. Einige hielten das unheimliche Feuer seines Auges für Hohn, Andere meinten, es brodele und lodere die ganze Glut einer unersättlichen Lust nach Rache darin. Dies Alles waren aber wohl nur Vermuthungen, denn der so verschrieene junge Mann war leutselig, sanft und freundlich gegen Jeden, mit dem seine Stellung ihn in Berührung brachte, und Niemand wußte ihm einer harten oder ungerechten, lieblosen Handlung zu zeihen.

Da ihn Niemand störte, warf er sich mit Eifer auf das Studium der Medizin und bald hieß es, der junge Scharfrichter sei im Besitz vieler Geheimmittel, die jedes Gebrechen, jede Krankheit zu heben vermöchten.

Bei dem weit verbreiteten Volksglauben, der damals viel mehr als jetzt Schäfern und Scharfrichtern noch eigenthümliche Kräfte zusprach, war es nicht zu verwundern, daß der ehemalige Student der Arzneikunst mehr als andere seiner Collegen verstehen mußte und, um Hülfe angegangen, sich schnell einen bedeutenden Ruf als Wunderdoktor errang. Zipser benutzte diese abergläubische Meinung der Menge, theils um wirklich Segen zu stiften, theils um sich selbst in Achtung zu setzen und gleichsam unentbehrlich zu machen. Die Gesellschaft, die den Mann in ihrer erbärmlichen Anschauungsweise verächtlich von sich gewiesen, mußte sich jetzt zu ihm flüchten, ihn bitten, vor seinem Ausspruche erbeben oder durch ihn zu neuer Hoffnung erwachen. Das sollte die einzige Rache sein, die er für das ihm zugefügte Unrecht an der Gesellschaft zu nehmen entschlossen war.

Einmal als glücklicher Arzt zu Ruf und Ansehen gelangt, ward Zipser von Jedermann hoch in Ehren gehalten. Freilich verkehrte man nicht offen mit ihm, aber man mied ihn auch nicht geflissentlich. Die Gesellschaft öffnete dem weisen Scharfrichter nicht ihre Salons, dafür ließ dieser die Hülfesuchenden stundenlang vor seinem Laboratorium warten und während dieser zu Ewigkeiten sich verlängernden Stunden in Angst und Qual fast vergehen. Eine verzeihliche Schadenfreude fühlte er sein Herz durchzittern, wenn Bekannte sich in diesem Fegefeuer begegneten und Einer sich vor dem Andern vor Scham und Verdruß verbergen wollte.

Zipser wußte recht wohl, daß die lautere Ehrlichkeit nicht halb so viel Erfolge erzielt, als ein gewisser erlaubter Charlatanismus. Darum nahm er keinen Anstand, sich mit etwas imponirendem Hokuspokus zu umgeben. Ohnehin war er ja nicht Arzt und durfte eben so wenig als Arzt auftreten, wie er es wollte. Von ihm – das wußte er zu genau – begehrte Jeder, mochte er den gebildeten Ständen angehören oder in bäuerlicher Beschränktheit erzogen sein, etwas Ungewöhnliches, wo möglich dem Wunderbaren Verwandtes. Der Glaube des wirklich Leidenden mußte bei ihm ungleich mehr wirken als die Mittel, die er ihm verordnete. Deshalb ging Zipser’s ganzes Streben nur dahin, den Hülfesuchenden vor Allem zu veranlassen, daß er an die Unfehlbarkeit seines Rathes Glauben habe. War ihm dies gelungen, dann sah er fast ausnahmslos die auffallendsten Wirkungen von seinen Mitteln. Oft würde er es selbst nicht für möglich gehalten haben, daß ein absolutes Nichts so große Dinge hervorbringen könne, hätte er nicht die sichere Gewähr der eigenen Augen gehabt.

Als Liebhaber von Thieren umgab sich Zipser mit sehr verschiedenartigen Quadrupeden. Außer einigen zottigen Hunden hielt er sich fortwährend zwei prächtige Katzen, eine schwarze und eine gelbe, die er liebevoll pflegte und ihnen mancherlei Kunststücke beibrachte. Unter andern lehrte er sie mit erhobenen Vorderpfoten geraume Zeit sitzen und auf einen stummen Wink sich umarmen. Dann mußten sie wieder auf sein Geheiß minutenlang in einen oblongen Spiegel sehen und taktmäßig die rechte Vorderpfote bewegen. Auch zu schnurren und mit gekrümmtem Rücken einher zu spazieren verstanden die gelehrigen Thiere, wenn er es befahl, und dann stiegen ihnen die Haare zu Berge, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft bewegt.

Mehr noch als diese Vierfüßler flößten denjenigen Individuen, welche Hülfe heischend in Zipser’s Behausung traten, drei große Raben ein. Diese Thiere betrachteten jeden Fremdling mit merkwürdig klugen Augen, umhüpften ihn, als hätten sie Auftrag erhalten seinen Charakter, seine Neigungen und Leidenschaften zu erforschen, und als ob diese Ocular-Inspektion wirklich etwas nütze, traten alle drei wunderlich dressirten Vögel schließlich vor dem Kabinet des Scharfrichters zusammen, und unterhielten sich schnatternd und lebhaft mit den Flügeln klappend unter einander, wobei sie nie versäumten, den Harrenden immerdar mit klugen und forschenden Augen zu betrachten. Erst auf die laut werdende Stimme ihres Gebieters zogen sich die Raben zurück, und nun erst öffnete sich die Thür des Kabinettes und dem Eintritte in das Innere stand nichts mehr entgegen.

In späteren Jahren machte der Anblick des schnell gealterten Mannes einen bleibenden Eindruck auf Jeden, der nicht erst noch in künstlicher Weise gesteigert zu werden brauchte. Zipser aber blieb bei seinen früheren Anordnungen und stieg durch dies konsequente Verfahren nur noch mehr in der Achtung der Halbgebildeten.

Unter Menschen sah man den alten Mann niemals, doch zeigte er sich bisweilen öffentlich. Dies geschah jedoch nie anders als zu Roß und in einem nicht gerade phantastischen aber doch stark auffallenden Kostüme. Zipser ritt stets einen feurigen Rappen, den er trefflich zu tummeln verstand. Sein volles weißes Haar bedeckte ein niedriger schwarzer Hut mit feuerrothem Futter, und um die Schulter schlug er jederzeit, mochte das Wetter kalt oder heiß, trocken oder feucht sein, einen faltenreichen schwarzen Mantel, der ebenfalls mit hochrothem Zeuge ausgeschlagen war. Bisweilen gaben ihm seine Lieblingsvögel eine kurze Strecke das Geleit, in der Regel jedoch verweilten sie auf der Schwelle der Hausthüre und bewegten nur unter lautem Krächzen die Flügel, wenn ihr Gebieter auf dem ungeduldigen Rappen in raschem Laufe davon sprengte.

Hatte die weltliche Gerechtigkeit irgendwo ein todeswürdiges Verbrechen zu bestrafen, so fehlte gewiß der eben so sehr bewunderte als gefürchtete Scharfrichter in seiner seltsamen Tracht, hoch zu Rosse sitzend, nicht. Jüngere Kollegen mochten den erfahrenen Mann gern bei derartigen traurigen Vorkommnissen sehen. Sie meinten, die Ausübung ihrer Pflicht werde ihnen dann leichter. Manche glaubten sogar, Zipser verstehe die Kunst, das Schwert zu feien, wodurch selbst ein ängstlicher oder noch ungeübter Anfänger in der Handhabung desselben fest und sicher werde.

Diese Ansicht war eine so allgemein verbreitete, daß Zipser sogar mehrmals officielle Einladungen erhielt, der Vollstreckung eines Todesurtheils beizuwohnen.

Auch diese eigenthümliche Auszeichnung benutzte der alte Mann zu seinem Vortheile. Er that immer geheimnißvoller, zeigte sich mit jedem Jahre zurückhaltender und trug einen Ernst zur Schau, der die Meisten scheu vor ihm zurückweichen machte.

In der mehr als fünfzigjährigen Ausübung seines Berufes war Zipser verhältnißmäßig nur wenige Male in die Nothwendigkeit versetzt worden, persönlich als Nachrichter auftreten zu müssen. War es geschehen, so hatte er sich der blutigen Aufgabe mit männlichem Ernst und mit der ganzen Würde eines Mannes, welcher im Auftrage eines Höheren gleichsam ein Gottesgericht zu vollziehen hat, entledigt. Man sah ihn aber in solchen Zeiten wenigstens drei volle Wochen lang gar nicht, wie er sich auch nach vollzogenem Urtheile längere Zeit vor Jedermann verborgen hielt.

Zipser’s Familienleben galt nicht blos für ein glückliches und musterhaftes, es verdiente diesen Namen auch wirklich. Selten [663] mögen Ehegatten so einträchtig mit und neben einander gelebt haben, als der frühere Student der Medizin mit der bescheidenen, still-glücklichen Mathilde. Nach langer, kinderloser Ehe beschenkte Mathilde den geliebten Mann spät noch mit einer Tochter. Die Geburt dieses Kindes raubte leider der Mutter das Leben, und Zipser sah sich als Mann, der bereits das Herannahen des Alters spürte, und der längst schon den Ehrenschmuck des Alters, hell glänzendes Silberhaar trug, verlassener denn je vorher. Das Kind blieb indeß am Leben, gedieh sichtlich, wuchs unter den Augen des Vaters auf, der es mit der zärtlichsten Liebe hegte und pflegte, und erblühte zu einer der schönsten Jungfrauen.

Da Zipser, der von Jahr zu Jahr immer eigensinniger ward, mit Niemand Umgang pflog, lernte auch Sabine wenig oder gar nicht die Menschen kennen. Das junge Mädchen fühlte nicht selten eine gewisse Leere in und um sich, und hätte sich Wohl gern jubelnd dem Leben in die ausgebreiteten Arme geworfen, wäre nur der eigensinnige Vater dazu zu bewegen gewesen. Das Vorurtheil allein stand der Verwirklichung eines solchen Wunsches jetzt nicht mehr im Wege. Die Zeiten hatten sich geändert, die Ansichten der Welt waren milder geworden. Suchte man auch den Nachrichter und seine Angehörigen nicht gerade auf, um innigen Umgang mit diesen zu pflegen, so kehrte man ihnen doch auch nicht mehr verächtlich den Rücken, oder mied und floh sie gar wie Aussätzige oder von Gott Gezeichnete. Die größere Bildung hatte den Fluch finsterer Jahrhunderte von den ehedem Geächteten genommen. Im Stillen mochte diese Umkehr zum Bessern den alten Mann wohl freuen, äußerlich ließ er sich nichts davon merken, und sein gemessenes, abgeschlossenes Wesen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber blieb unverändert, wie es gewesen, seit die Verachtung der vorurtheilsvollen Menge ihn zwang, Schutz in dem Hause zu suchen, das er jetzt mit seinen reichen Schätzen sein wohlerworbenes Besitzthum nannte.

Ein junges Mädchen von Sabine’s Schönheit konnte jedoch nicht lange in dem seitwärts gelegenen Hause verborgen bleiben. Wer das fröhliche Kind, das mit rührender Liebe dem greisen Vater anhing, nicht am Tage sah, der fand wohl einmal Gelegenheit, unter dem Schleier der Nacht einen, wenn auch nur flüchtigen Blick auf die Schöne zu werfen. Denn noch immer war der alte Mann Vielen ein Rather und Helfer. Seine Aussprüche wurden befolgt und geglaubt, als wären es Orakel, und da Jedermann das Aufsehen eines täglichen Besuches scheute, so blieb nach wie vor das einsame Haus ein Wallfahrtsort geringer und vornehmer Leute.

Zipser vermuthete sehr bald bei den vielen jugendlichen Besuchern, die freilich allerhand Leiden zu haben behaupteten, geheime Absichten, und war sogleich entschlossen, diesem Zulauf junger Männer ein Ziel zu setzen. Er gedachte seiner Jugend, seines Elends, der langen schmerzensvollen Jahre, welche die Thorheit der Menschen ihm bereitet. Die Tochter vor ähnlichen Erfahrungen zu bewahren, hielt er für die erste und heiligste Pflicht eines Vaters.

„Es ist nicht gut,“ sagte er sich, wenn er ungestört in seinem stillen Laboratorium saß, zu seinen Füßen die beiden freundlich spinnenden Katzen, hinter ihm auf der Lehne des hohen Stuhles einen der gezähmten Raben, „es ist nicht gut, daß mein Kind aus dem Zauberkreise heraustritt, in den mich das Verhängniß gestoßen hat. Jetzt ist sie glücklich in diesem Kreise, denn sie kennt keine anderen; erführe sie dereinst, wie man früher von Leuten dachte, die ihres Vaters Gewerbe treiben, so würde ein dunkler Schleier über den sonnenhellen Glanz ihres bisherigen Lebens fallen, und Sorge, Angst, Reue, Unzufriedenheit wären ihre unzertrennlichen Begleiter. Das soll und darf nicht geschehen. Ich werde also das Kind verheirathen.“

Sabine erfuhr nichts von diesem Plane ihres Vaters, bald aber stellte sich erst in längeren Zwischenräumen, dann öfterer ein junger Mann ein, den der Vater stets freundlich begrüßte, mit dem er gern und viel sprach, und den er offen vor Andern auszeichnete. Mit Georg ging er sogar Arm in Arm spazieren, ihm reichte er nicht blos, ihm drückte und schüttelte er sogar die Hand. Georg war aber der Erbe der größten Scharfrichterei in einer nur wenige Meilen entfernten Grenzstadt. Zipser hatte den Vater Georg’s schon gekannt, und beide Väter hatten eine Ehe ihrer Kinder für wünschenswerth gehalten.

Es dauerte auch wirklich nicht lange, so entspann sich zwischen den jungen Leuten ein Verhältniß, das schon nach wenigen Monaten zu einem stillen Verlöbniß führte. Sabine reichte dem stattlichen Manne aus inniger Herzensneigung ihre Hand, Georg schien mehr bezaubert von der auffallenden Schönheit des jungen Mädchens, als von ihrer wahrhaft weiblichen Anmuth für immer gefesselt und in tiefster Seele beglückt. Er war noch zu wenig in die Welt gekommen, daher von jeder angenehmen Erscheinung leicht hingerissen, von Natur aber flatterhaft und unbeständig.

Sabine’s Vater kümmerten so leichte Jugendfehler nicht. Er kannte seine Tochter, ihre hingebende Liebe, ihre Aufopferungsfähigkeit, und deshalb zweifelte er keinen Augenblick, daß es ihr sehr bald gelingen werde, Georg mit unlösbaren Banden an sich zu fesseln, mit ihrem heiß liebenden Herzen auch das seine ganz zu erobern. Bald indeß bemerkte er, daß der junge Mann seines Vertrauens nicht würdig sei. Georg vernachlässigte Sabine mehr und mehr, kürzte seine Besuche ab, und blieb endlich ganz aus. Deshalb von dem rechtlichen Vater seiner Verlobten zur Rede gestellt und an seine Pflicht erinnert, erklärte er, niemals sich verheirathen zu wollen. Er fühle, setzte er entschuldigend hinzu, daß er eines so edlen Geschöpfes wie Sabine nicht werth sei, und daß, zwinge man ihn zur Ehe, das größte Unglück daraus entstehen könne.

Zipser, den tiefen Schmerz seiner getäuschten Tochter in innerster Seele mitfühlend, legte sich jetzt auf freundliches Zureden, und führte Georg zu Gemüthe, daß er Sabine das Herz breche, und an seinem einzigen Kinde zum Todtschläger werde.

„Würd’ ich’s,“ entgegnete der leicht Erregbare unmuthig, „wer anders trüge dann die Schuld, als Sie? Nicht ich habe Sabine gesucht, Sie haben mich ihr zugeführt. Mir selbst fällt nichts zur Last, als ein Irrthum des Herzens.“

Der greise Scharfrichter neigte sinnend das weißlockige Haupt, und jener Zug finsterer Strenge, der sich frühzeitig seiner Stirn eingegraben hatte, trat jetzt schärfer als sonst hervor.

„Besinne Dich, und mache uns nicht unglücklich,“ sagte er nach einer Weile. „Ich lasse Dich nicht, das bedenke!“

„Sie wollen mich doch wohl nicht bannen?“ erwiederte Georg lächelnd, mit dieser Antwort zugleich auf das geheimnißvolle Wesen des Alten anspielend, dem er weit und breit seinen Ruf verdankte.

„Gewiß!“ versetzte Zipser und blitzte den Treulosen mit so zornigem Auge an, daß es diesem eiskalt überlief.

„Sabine wird einen Bessern finden als mich, und glücklich werden,“ sagte Georg einlenkend. „Junge Mädchen sind auch Täuschungen unterworfen. Hat sie sich ausgeweint, so vergißt sie mich. Thränen werden sie nur noch schöner machen.“

„Ich will aber nicht die Schande erleben, die Du mir zuzufügen gedenkst,“ erwiederte Zipser. „Es wissen’s Hunderte, daß Ihr mit einander verlobt seid. Trittst Du zurück, so verfällt das arme Mädchen in Unehre, und die Leute reden Uebles von ihr.“

„Dann bringen Sie mich meinetwegen um,“ versetzte der ungeduldige Georg. „Genug, ich heirathe nicht, und wenn der Himmel einfällt!“

„So fahre zur Hölle!“ rief Zipser ergrimmt, und hob drohend die Hand gegen den Jüngling. Sich aber rasch besinnend, ließ er den Arm sogleich wieder sinken. „Es ist gut,“ fuhr er gemäßigt fort. „Ich habe jetzt Deinen Sinn erkannt, und werde nun thun, was ich für Recht erachte. Dein Freund bin ich nicht mehr, begegnet Dir aber früh oder spät auf Deinem Lebenswege ein Feind, so gedenke des alten Zipser, dessen Herz Du von Dir gestoßen hast. Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal, ehe ich für immer die Augen schließe.“

Zipser kehrte Georg den Rücken und ging von dannen.

Dem flatterhaften jungen Fant ward nicht wohl bei diesem Abschiede. Er hätte sich den alten Mann lebensgern versöhnt, denn er fürchtete ihn, wie er ihn achten mußte, Sabine aber zu heirathen, war ihm nicht möglich, er wußte selbst nicht recht, weshalb, und so war denn jede Verbindung abgebrochen.

Von dieser Zeit an begann das junge Mädchen zu kränkeln. Getäuschte Liebe, Sorge um den Vater, der immer finsterer ward, Gram und Kummer nagten an Sabine’s Herzen, und ließen sie sichtbar verblühen. Zipser aber gab noch immer nicht alle Hoffnung auf, den verblendeten Jüngling doch wieder an sich zu ketten, und da er Zeit genug hatte, sich ungestört mit seinen Gedanken zu beschäftigen, so grübelte er fortwährend darüber nach, wie er es wohl am klügsten anzufangen habe, um der liebesiechen Tochter den ungetreuen Bräutigam wieder zuführen zu können. Ob dies auf Umwegen, mit List oder auf sonst eine passende Weise geschehe, war [664] ihm gleichgültig. Er wollte nur, daß Georg demüthig wieder kommen, und reuig um die jetzt verschmähte Hand seiner Tochter bitten solle.

Seit Jahr und Tag schon harrte damals eine Kindesmörderin ihres Urtheils. Es war ein blutjunges, armes Mädchen von seltener Schönheit, schlank und voll, blendend weiß von Teint, mit üppigem, rabenschwarzem Haar. Ihr Vertheidiger, der eine schwer zu bekämpfende Neigung in seinem Herzen für die schöne Klientin sich regen fühlte, bot Alles auf, der Unglücklichen wenigstens das Leben zu retten. Das arme, fast zurechnungslose Geschöpf hing mit schwer zu begreifender Zähigkeit am Leben. Sie wollte nichts vom Tode hören, und mehr denn einmal war sie ihrem Vertheidiger zu Füßen gefallen, hatte seine Kniee mit zarten Armen umschlungen, und mit leidenschaftlichen Worten ihn angefleht, er solle sie doch nur vom Tode erretten. Allein alle Vertheidigungskünste prallten ab an der ehernen Brust der Richter, die, weil neuerdings das Verbrechen des Kindermords sich mehrmals wiederholt hatte, an der Ueberführten, der That Geständigen, ein Beispiel statuiren wollten. Die Beklagenswerthe ward zum Tode durch das Schwert verurtheilt, und das Urtheil vom Landesherrn bestätigt.

Schon einige Wochen vor diesem richterlichen Erkenntnisse sagte Zipser seiner nächsten Umgebung, wie auch Solchen, die zu ihm kamen, um seine Hülfe in Anspruch zu nehmen, daß er alsbald ein Todesurtheil zu vollstrecken haben werde. Forschte Jemand weiter, so sprach er geheimnißvoll: „Angezeigt ist mir noch nichts, aber ich weiß es. Das Schwert hat sich gerührt!“

Er deutete dann mit respektvoller Scheu auf das breite Richtschwert, das in rothsammetner Scheide auf einem Haken an der Wand seines Kabinettes hing. Dies Sichrühren des Schwertes war nach des alten Mannes Behauptung ein untrügliches Zeichen, daß es nächstens gebraucht werden solle.

Als nun die Kunde von der Verurtheilung der erwähnten Kindesmörderin auch Zipser erreichte, zweifelte er keinen Augenblick, daß ihm schon in den nächsten Tagen von obrigkeitswegen Anzeige davon gemacht werden würde. Zu seinem größten Erstaunen geschah dies aber nicht. Der Nachrichter der Nachbarschaft, der ehemalige Verlobte seiner Tochter, Georg, erhielt den Auftrag, die Verurtheilte hinzurichten.

Zipser lächelte und schüttelte sein weißes Lockenhaupt.

„Georg!“ sprach er zu sich selbst, „Georg soll dem jungen Blut den Kopf abschlagen? Und mit meinem Schwert? – Das müßte mit Kräutern zugehen! Mein Schwert soll richten, denn es hat geklungen, ich aber gebe mein Schwert nicht aus der Hand.“

Er ließ sich gegen Niemand aus über sein Glauben und Wähnen, im Stillen nur zog er Erkundigungen ein. Was er hörte, bestätigte, daß Georg zur Vollziehung des Urtheils bestimmt worden sei. Der junge Nachrichter sollte sein Meisterstück machen. Zipser wiegte nachdenklich sein Haupt und ein schadenfrohes Lächeln spielte um die fest geschlossenen Lippen.

Drei Wochen noch hatte Georg Zeit sich vorzubereiten auf die schwere Pflicht, die ihm von obrigkeitswegen auferlegt ward. Zipser behauptete, die Obrigkeit handele in diesem Falle ungesetzlich, willkürlich. Die Verbrecherin gehöre in den Bezirk der Stadt, in welcher er selbst als Nachrichter angestellt sei, und deshalb gebühre ihm die Vollstreckung des Urtheiles, Einspruch thun aber wolle er nicht, da es sich hier um die Einführung eines Neulings handele; dennoch bezweifle er, daß Georg Muth und Kaltblütigkeit genug haben werde, um den Befehl der Obrigkeit auch wirklich vollziehen zu können.

Der greise Mann stieg jetzt wieder zu Pferde, was er längere Zeit unterlassen hatte, und in seinen auffallenden Mantel gehüllt, ritt er hinaus auf die Richtstätte, wo bereits Vorbereitungen getroffen wurden. Diesen Ritt wiederholte er regelmäßig alle Tage, umkreiste in ziemlicher Entfernung den Richtplatz regelmäßig drei Mal und sprengte alle Mal, wenn es zwölf Uhr Mittags schlug, im wildesten Galopp zurück nach seiner Wohnung.

Wozu sollten diese nutzlosen Ritte dienen? Keiner konnte sich dies erklären, Jedermann aber sprach davon, und ehe noch acht Tage vergangen waren, raunte Einer dem Andern zu, der alte Zipser habe die Richtstätte in den Bann gethan, weil man ihm sein Recht nicht geben wolle, sondern einen Andern, einen jungen Laffen ihm vorziehe. Er selbst schwieg, nach andern acht Tagen aber sahen Einige mit wahrem Entsetzen, daß auch die drei Raben ihrem geheimnißvollen Herrn bei seinen Besuchen des Richtplatzes folgten und jedes Mal, wenn er seinem Rappen die Zügel schießen lasse, mit lautem Gekrächze hinter ihm herflögen.

Diese Ritte des alten Mannes und sein unerklärliches Treiben während derselben konnte Georg nicht verborgen bleiben. Zwar ließ er sich nichts merken, wohl aber ward ihm nicht dabei. Unwillkürlich gedachte er Zipser’s drohenden Worten und der vielen Gerüchte, die über ihn umgingen. Wenn er nun wirklich im Besitz von Geheimmitteln war, die Andere nicht kannten, wenn er einen Gebrauch von verborgenen Naturkräften machte, deren Wirkung nur er selbst vorauszuberechnen verstand: konnte er dann ihn nicht mit heimlich gelegten Schlingen umgarnen und sein ganzes zukünftiges Glück tückisch zerstören?

Einige Tage vor der Urtheilsvollstreckung trieb Georg die Angst nach der Richtstätte. Gern wäre er am hellen Tage dahin gegangen, aber er fürchtete dem unheimlichen Greise zu begegnen, und ein Zusammentreffen mit diesem seinen Feinde wollte er um jeden Preis vermeiden. Er wartete deshalb die Dunkelheit ab, wo er in so verrufener Gegend Niemand zu treffen besorgen durfte.

Die Stätte, wo das Hochgericht stand – ein hohes, halbrundes Gemäuer, aus dessen mit Nesseln und Ginster verwachsenem Innern eine steinerne Treppe nach einer nur wenige Fuß breiten Plattform führte – war öde genug. Hüben und drüben breitete sich unbebautes, dürres Wiesenland aus, wo in der guten Jahreszeit große Heerden weideten, weshalb der fast eine Quadratmeile haltende Distrikt gewöhnlich nur die Viehweide genannt wurde. Eine Menge theils großer, theils kleinerer Vertiefungen – die Ueberbleibsel alter Lehmgruben, bildeten jetzt trübe Tümpel voll rauschenden Schilfes, die von zahllosen Unken bevölkert waren. Der melancholische Ruf dieser Thiere verstummte weder Tag noch Nacht, klang aber im falben Zwielicht der Dämmerung schauerlich und jagte jeden Wanderer rasch über das unwirthliche, von Allen gemiedene Land.

Georg ging absichtlich recht langsam durch die schmalen, wenig betretenen Pfade, welche sich schlangenartig um die rauschenden Tümpel wanden, in deren Tiefe die Unken stöhnten. Er achtete genau auf jeden Gegenstand. Das Unbedeutendste entging seiner Aufmerksamkeit nicht, auf jedes Geräusch horchte sein Ohr, das scharfe Auge durchdrang weithin das farblose Dunkel. Es begegnete ihm jedoch nichts Auffallendes oder gar Störendes. Selbst im Mauerrund des alten Richtsteines raschelten nur ein paar Blindschleichen im Ginster. Festen Schrittes erstieg der junge Mann die Treppe und trat hinaus auf den steinernen, umfriedeten Rand. Da stand der Stuhl, welcher die Verurtheilte aufnehmen sollte. Georg befühlte das Holz, umschritt es, trat an die Umfriedigung und blickte nach der Stadt, deren Thürme aus nebligem Dunst schwarz und finster emporragten. Der Schein eines einzigen Lichtes glimmerte über der braunen Heidefläche. Georg kannte die Gegend genau, er wußte, wo jenes Licht brannte, und ungestümer fühlte er sein Herz pochen.

(Schluß folgt.)




Ludwig Devrient und Hoffmann.

„Sie sind der Teufel, oder Ludwig Devrient – gestern Abend – Shylock – Sie werden mich wieder in’s Theater ziehen, das mich bis jetzt mit seinen Spielereien anekelte. Sie werden Geld kosten – viel Geld – denn Sie sind ein Künstler, den man viel sehen muß! Spott und Verachtung allen Künsteleien, – aber wer dem heiligen Berufe so mit allen Körper- und Geisteskräften lebt wie Sie, daß bei der höchsten Spannung der Seele auch der Körper angestrengt wird, daß zuletzt, und so wird’s bei Ihnen kommen, mit dem vollen Ausströmen der Akkorde auch der Geist mit ausgehaucht wird – der ist mein Mann. – Reichen Sie mir die Hand, ich bin Hoffmann.“ –

So redete der berühmte Dichter der „Nachtstücke,“ „der Serapionsbrüder“ etc., T. A. Hoffmann, in der ihm eigenthümlichen raschen herausgestoßenen Weise seinen gleich berühmten Zeitgenossen,

[665]

Ludwig Devrient und E. T. A. Hoffmann.

Ludwig Devrient, nach der Vorstellung des Kaufmanns von Venedig, an – und von dieser Stunde umschlang ein Band der Freundschaft zwei Männer, welches nur der Tod zerreißen sollte. – Ludwig Devrient, der genialste Schauspieler Deutschlands, heute ein König, morgen ein Bettler, bald der arme Lorenz Kindlein mit dem weichen Gemüth, bald der furchtbare Richard, der tödtlichhassende Shylock, der wahnsinnige Lear, – schuf sich eine Welt auf den Brettern – und ein Königreich im menschlichen Herzen, welches er durch seine Kunst unbeschränkt beherrschte, in allen Fibern beben und erzittern ließ, und in einem Augenblicke zum Weinen oder Lachen brachte.

Die tragische, wie die komische Muse hielten gleichen Schritt mit seinem Genius – er war zum Schauspieler geboren, wie Rafael zum Maler, Shakespeare zum Dichter. Er gehörte nicht zu den sogenannten denkenden Schauspielern unserer Tage, welche den Mangel an Darstellungskraft und Beruf durch erkünsteltes Studium und kleinliche Detailmalerei zu übertünchen suchen, er schaffte aus dem Ganzen und Vollen, begabt mit dem Götterfunken des Genies und einer fast dämonischen Schöpferkraft.

Kein Wunder, daß sich dieser, man möchte fast sagen, in ihrer Art unbändigen Natur, die ihr verwandte eines Hoffmann anschließen [666] mußte, dessen Phantasie in den Regionen einer düstern Geisterwelt schwelgte, den immer Ahnungen geheimer Schrecknisse verfolgten, die in sein Leben treten würden, der Doppelgänger und Schauergestalten aller Gattungen wirklich um sich sah, wenn er sie schrieb, und deshalb so ergreifend wahr in seinen Schilderungen wirkt, weil er identisch mit ihnen wurde.

Während dieser an seine Spukgestalten glaubte und eine sich marternde Einbildungskraft ihn zerstörte – klagte Jener über die fieberhafte Glut, die sein Leben so schnell aufrieb.

„Wir Beide, Hoffmann, kranken an einer Wunde,“ sagte einst Devrient in einer fast schrecklichen Aufregung – „uns haben sie in’s Hirn gehauen.“

„Oder in’s Herz,“ fügte der Leidensgefährte leise hinzu und mochte dabei jenes Verhältnisses gedenken, das seines Mißverhältnisses wegen die Blüthe seiner Jugendkraft für immer abgestreift hatte – dem er zwar die vertraute Bekanntschaft mit der Tiefe des menschlichen Herzens verdankte – aber auch jene Zerrissenheit seiner Seele, deren Spuren bis an seinen Tod noch kenntlich waren. [1]

Hoffmann, der zu Berlin als Kammergerichtsrath starb, und dem seine Freunde ein Denkmal setzten, auf dem zu lesen: „Ausgezeichnet im Amte, als Dichter, als Tondichter und Maler“ – der nach und nach im Zerfall mit sich selbst sich einer ungewöhnlichen Lustigkeit hingab, die fast in’s Possenhafte ausartete – der wenige Zeit vor seinem Scheiden dem eintretenden Freunde Hitzig zurief, als ihm zur Heilung der Rückenmarksschwindsucht das Rückgrat gebrannt war: „Riechen Sie nicht noch den Bratengeruch?“ diese Chamäleons-Natur, genannt Hoffmann, in dessen Brust, mehr als in der jedes andern Menschen, zwei Seelen wohnten, von denen die eine dem Himmel zuflog, die andere, mit „herber Liebeslust“ an der Erde hing, der ferner wenig Notiz davon nahm, als die unglückliche Schlacht bei Jena mit tödtlichen Streichen sein Vaterland traf, aber bei dem Tode seines berühmten Katers „Murr“ Thränen des tiefsten Schmerzes vergießen konnte, – ihn wollen wir auch kennen lernen in seinem Lebenselemente, in der Weinstube – wo er mit seinem Freunde und Zeitgenossen Ludwig bis spät nach Mitternacht bei schäumendem Champagner saß, umgeben von einem Kreise staunender Hörer und begeisterter Bewunderer.

Während der Wein im Glase seine Perlen warf, sprudelten diese beiden engverschwisterten Naturen ihren Geist hervor und entluden die elektrischen Funken ihres Witzes in gegenseitiger Berührung. Dort, in jener Ecke, welche noch heute mit seinem Bildnisse geziert ist, saß – es sind kaum vierunddreißig Jahre her – der geniale Schauspieler mit dem scharfgezeichneten Gesicht, das in seiner dunkeln Färbung und in seinem kühnen Schnitt den südlichen Franzosen nicht verleugnen konnte. Mit den feuerwerfenden Augen hing er an den nervös zuckenden Lippen Hoffmann’s, der irgend ein keckes Capricio seiner Erfindung oder eine skurile Erzählung zum Besten gab. Dann ließ Devrient aus der tiefen Brust sein hohles Lachen ertönen, oder er warf eine kühne Bemerkung dazwischen, schneidend wie ein greller Blitz. Arm in Arm schritten die Freunde oft mit Morgengrauen erst aus der Weinstube auf die Straße, wo Hoffmann dann immer über den Teufel klagte, „der seinen verfluchten Schwanz auf Alles legte“ – und Devrient dabei schwere Seufzer ausstieß, oft so kläglich und schmerzlich, daß eines Nachts der Wächter um Hülfe schrie – glaubend – ein Gespenst müsse in der Nähe sein.

In Hoffmann’s Tagebuche ist wiederholt zu lesen: „Abends mit Mühe heraufgeschraubt durch Wein und Punsch“ – und gleichsam sich selbst tröstend und entschuldigend setzt er dann gewöhnlich hinzu: „Wenn ich mich selbst fantasmatisire, – so hat Niemand was drein zu reden.“ – Nicht ohne schmerzliche Berührung können wir dies Geständniß eines sonst so ausgezeichneten, glänzenden Geistes vernehmen – besonders als der Dichter später, auf dem Sterbebette, tief sein wüstes Leben beklagte und in die Hände seines Freundes feierlichst gelobte: ein anderes Leben zu führen, sobald ihn Gott noch einmal errette. Sein Wunsch ging ihm nicht in Erfüllung, ihm, der „nur leben, leben wollte – sei es unter welcher Bedingung“ – der sich zuletzt fast verzweiflungsvoll an ein Dasein klammerte, das, wie er tief genug fühlte, er durch eigene Schuld so umdüstert hatte.

Die Weinstube von Lutter und Wegener in Berlin, an der Ecke des Gensd’armenmarktes und der französischen Straße, noch heute berühmt durch ihre beiden Stammgäste Ludwig Devrient und Hoffmann, war leider der Ort, wo die beiden Geister nicht allein sich gegenseitig entzündeten und mit einander im edelsten Wettstreite aufflackerten – er war auch Ursache und Zeuge ihres allmäligen Sinkens. Er sah oft zwei Männer mit geisterbleichen, abgespannten und todtmüden Gesichtern einander gegenüber sitzen und sich anstarren mit dunkeln Vorahnungen von einem Geschick, das selbst hervorgerufen, sie am Ende doch noch erreichen müsse. Dann preßte der Eine die schmalen dünnen Lippen zusammen und trommelt auf dem Tische, als könnte er dadurch die Mahnung des eigenen Gewissens verscheuchen, während der Andere in seinen schwarzen Locken wühlte, wobei der Brust sich jene unheimlichen Seufzer entrangen, die genau denen glichen, womit er als Geist im Hamlet die Zuschauer bis in’s innerste Mark erschütterte.

Die Art und Weise, wie sich Hoffmann über Ludwig Devrient’s Leistungen nach der Vorstellung äußerte, war sehr lakonischer Art; er kniff ihn jedesmal in die Seite, wenn er mit ihm zufrieden war – leiser bei einer minder vorzüglichen Rolle – stärker und stärker, je mehr ihm diese behagt hatte. Erhielt Devrient von ihm einen Knuff, daß er bald vom Stuhle fiel, so war dies seine höchste Wonne, und er zog dann die gewaltigen Brauen so hoch in die Höhe, „als ob der Stirnknochen mitgehen sollte.“

Ludwig Devrient war zum ersten Male als Lear aufgetreten. Eine Schaar von Gästen erwartete nach der Vorstellung den Künstler in der genannten Weinstube. Hoffmann saß bereits in seiner Ecke, und hatte mit besonderer Aufmerksamkeit einen Stuhl umgelehnt. Er schien heute düsterer und schweigsamer als je, und kritzelte nur mit dem Bleistifte auf der Speisekarte umher – sonst saß er regungslos wie eine Bildsäule. So oft einer der Anwesenden zu ihm trat, und ihn mit Fragen um sein Urtheil über Devrient’s Lear bestürmte, blickte er kaum auf – ein tiefer Zug aus dem Glase war die einzige Antwort. Hoffmann war in seiner angegriffenen Stimmung, wie immer, wenn er etwas Außerordentliches erlebt hatte.

Die Thür öffnete sich, und herein trat ein Mann, fast bis über die Ohren in einen Pelz gehüllt, den Hut tief in der Stirn. Instinktmäßig geht er auf den umgelehnten Stuhl zu, nickt still gegen Hoffmann, winkt dem Kellner, der mit der bewußten Flasche Sekt herbeieilt, und sie so geräuschlos als möglich entpfropfend, vor ihn hinstellt. Devrient, denn nur Devrient mit dem weit aufgerissenen Auge und der Adlernase kann jener Mann sein, wird jetzt vom Kellner seines Mantels entledigt, und wir sehen ein Gesicht, auf dessen Zügen noch der Wahnsinn Lear’s unvertilgbar geschrieben zu stehen scheint. Noch glaubt man Thränen zu sehen in dem Auge, das weinte über den Undank der Kinder; noch scheint auf den bleichen Lippen der Fluch über Goneril und Negan zu schweben, oder noch scheint dieser Mund verzweiflungsvoll zu klagen über das liebste Kind, Cordelia, die „niemals, niemals, niemals wiederkehrt.“

Fast wehmüthig blickt der Künstler auf seinen Freund, der ihn nur still, durch sein bekanntes kurzes Kopfnicken grüßt, während ihm von allen übrigen Seiten die begeistertsten Lobessprüche aufgedrungen werden. Doch auf diese hat Devrient nur sein verlegenes Lächeln zu erwiedern, mit dem er so gern auswich, und das ihm den Anstrich eines ängstlichen Kindes gab, das scheu und sorgsam die Menge flieht, und dem Wesen dieses außerordentlichen Mannes beinahe zur andern Natur geworden war.

Ueber eine Stunde haben die Beiden schweigsam nebeneinander gesessen – Jedem liegt ein Alp auf der Brust – die Gäste haben sich fast alle entfernt – der „Leibkellner“ nimmt bereits seinen „Wachtstuhl“ am Ofen ein – da – auf einmal schreit Devrient, hoch vom Stuhle fahrend, laut auf – er hat den fürchterlichsten Stoß von Hoffmann in die Rippen bekommen. Hoffmann ist also außerordentlich mit seinem Lear zufrieden, und dankerfüllt sinkt der Künstler dem Freunde an die Brust.

„Sehen Sie, Hoffmann,“ fängt er nun erleichterten Herzens an, „die Kerls (auf die abgegangenen Gäste deutend), die können, schwatzen, was sie wollen – aber der Knuff hat mir wohlgethan. Die dümmsten Stellen haben sie heute applaudirt, und das leidlich Gute ging spurlos vorüber. Verrückt könnte man werden!“

„Sie haben zehn Teufel im Leibe!“ läßt sich nun Hoffmann aus.

„Aber Freund, ohne Teufel ist auch nichts. Der Teufel im Leibe gibt uns Schauspielern die Verwegenheit, ohne die keine Darstellung [667] möglich. Sehen Sie, ich weiß recht gut, wann und wo ich packe, wann ich in dem Herzen des Publikums mit einer wahren Wollust wühle. Ich kenne die Todtenstille recht gut, wenn der Athem stockt und das Haar sich auf dem Kopfe sträubt, und wenn die Damen nach dem Riechfläschchen greifen. Und das mache ich mit meinem Teufel. Schwitzen müssen die Bestien – schwitzen, sonst ist mit der todtkalten Masse Nichts zu machen!“

„Neben mir saß ein Mensch,“ erzählte Hoffmann wieder, „eine Art Färber oder Hutmacher, denn er hatte an allen zehn Fingern blaue Nägel, dem liefen die Thränen immer an der Weste herunter, und vertraulich flüsterte er mir zu: ach, der gute Herr Devrient muß doch viel ausgestanden haben in seinem Leben, das sieht man. So verwirrte Ihre Darstellung dem armen Teufel die Begriffe. Das ist das beste Publikum,“ setzte Hoffmann sehr nachdrücklich hinzu, denn er hatte bereits angefangen, zu fantasmatisiren, „nicht in den Ranglogen, im Parterre, auf der Gallerie wächst’s!“

Und nun begann wechselseitig bald eine Analyse über gutes und schlechtes Publikum, über Lear, über Theorie und Praxis, über die „Wisser und Macher“ – und immer, standen die beiden Geister sich anfangs noch so heterogen gegenüber, zuletzt trafen sie in einem Punkte zusammen, und schüttelten sich dann die Hände, und stießen auf den „geistigen Rapport“ an.

An der Stelle, wo jetzt Devrient’s Portrait prangt, sah man damals den Kopf eines Engels, den die beiden Freunde „ihren Genius“ zu nennen pflegten.

Wenn die Geisterstunde sie noch beisammen fand, wie dies wohl Tag aus, Tag ein geschah, erhob gewöhnlich Hoffmann drohend den Finger gegen Devrient und sagte sehr bedeutsam: „Der Genius mahnt!“ Devrient nickte dann stillschweigend mit dem Kopfe, machte einen schwachen Versuch, aufzustehen, Hoffmann zog dabei die Uhr zehnmal heraus, aber trotz des mahnenden Genius, Keiner von ihnen hatte die Kraft, aufzubrechen. Ja, oft fanden sie sich noch beim Glase, wenn schon das unheimliche Dämmerlicht der ersten Morgenröthe durch die Gardinen brach. Dann erhoben sie sich, und verließen, ermattet und abgespannt von den Ausbrüchen ihrer wildesten Phantasieen, schweigend die Stube.

Draußen aber, auf’s Neue belebt durch die scharfe Luft, die ihre Schläfe umwehte und die fieberheißen Stirnen kühlte, hatten die Geister noch keine Ruhe; und sah man an der Ecke des Gensd’armenmarktes im Dunkel der Nacht oder im Grau den Morgennebels zwei heftig gestikulirende Gestalten, so konnte man wetten: es seien die des Serapionsbruders Hoffmann mit der zerstörten Seele, und des Teufels Devrient mit dem weichen Kinderherzen in der Brust.

H. K–ö–g.




Flüchtige Reisebriefe aus der Schweiz von E. A. Roßmäßler.
Die internationale Seite an den Schweizreisen.
Friedrichshafen, den 23. September.

Als ich Ihnen vom Faulhorn aus von der geldgierigen doppelten Besteuerung des Besuchs der Reichenbachfälle schrieb, behielt ich mir vor, am Ende meiner Reise einmal die internationale Seite der Schweizbereisung zu beleuchten. Ich benutze dazu ein Abendstündchen am Bodensee, der mich auf seinen meergrünen Wellen eben wieder herüber an Deutschlands Gestade getragen hat. Das man aber von einer internationalen Seite der Schweizreisen reden könne, wird Niemand bestreiten, der sich daran erinnert, daß neben Uhren, den sogenannten Schweizer- und anderen Waaren auch eine bedeutende Menge Reisegenuß aus der Schweiz exportirt und dafür ein schöner Thaler Geld importirt wird. Die 14,500 Gast- und Wirthshäuser (so daß eins auf je 165 Schweizer kommen würde, wenn sie nur für diese bestimmt wären) weisen deutlich genug auf den außerordentlichen Reiseverkehr hin. Von mehreren Schätzungen des diesjährigen Reiseverkehrs, die ich hörte, lauteten die mittleren auf 30,000 Reisende. Auf den Kopf 50 Thaler durchschnittlich ist sicher eher zu wenig, als hinreichend; das macht in diesem Jahre anderthalb Millionen Thaler. Für eine Bevölkerung von etwa 2,300,000 Seelen eine hübsche Position auf dem Ausfuhr-Budget! Man darf sie aber höchst wahrscheinlich getrost auf zwei Millionen erhöhen. Diese Geldeinfuhr kommt ohne einen Abzug recht eigentlich der Bevölkerung zu Gute, fließt nicht in die eisernen Kästen der Kapitalisten; sie verdient mithin in hohem Grade die Beachtung des Bundesrathes, die sich einfach dahin zu richten hat, diese Geldquelle immer reicher fließen zu machen. Dies kann leicht dadurch geschehen, daß das Reisen in der Schweiz möglichst angenehm gemacht werde. Thäte der Bundesrath nichts dafür (was nicht der Fall ist, da mancherlei von oben herab geschieht, um das Reisen zu erleichtern), so hieße das, die nicht schweizerische Reisewelt der Schweiz tributär machen. Ich wiederhole, daß dies nicht der Fall ist, glaube aber, daß noch weit mehr geschehen könne und müsse, bevor die Eidgenossenschaft sagen kann, daß das Tauschgeschäft zwischen Reisegenuß und Reisegeld, würdig der erhabenen Vermittlerin, der Natur, ein internationales im humanen Sinne des Wortes sei. Ich weiß wohl, daß in dem Verhältniß des internationalen Verkehrs neben dem materiellen Vortheil die Humanität in der Regel wenig zu Worte kommt; aber hier ist das Verhältniß, wie sicher keins weiter, ein laut dazu aufforderndes. Die Eidgenossen sind in dem Besitz eines hohen, nicht nach Geldwerth zu schätzenden Gutes, der Schönheit ihrer Alpennatur, an welchem jeder Mensch das Recht des edelsten Mitbesitzes geltend machen kann. Dieser Mitbesitz läßt sich natürlich aber nur vom humanen Standpunkte aus geltend machen, und ist ihm von Schweizer Seite auch auf humane Weise zu begegnen, wobei ich jetzt keineswegs an den sittlichen Gegensatz inhuman denke, wozu kein Grund vorliegt.

Verschiedene Einrichtungen, z. B. die vereideten, geprüften und an eine feste Taxe gebundenen Alpenführer des Berner Oberlandes, zeugen von einer kantonal-, vielleicht bundesräthlichen Fürsorge für die Reisewelt; ich glaube auch annehmen zu dürfen, daß namentlich in dem am stärksten bereisten Kanton Bern im Kantonalrath ein besonderer Ausschuß für diese Seite der Verwaltung bestehe. Ob aber diese Vorsorge für diese Verkehrsfreunde – im geschäftlichen und im humanen Wortsinne – Bundessache sei, habe ich nicht erfahren können. Wenn es wider Erwarten nicht der Fall wäre, so scheint mir nichts näher zu liegen, als das hierin zur Zeit noch Verabsäumte nachzuholen. Man sage nicht, daß dies blos Sache der einzelnen und vorzugsweise bereisten Kantons sei. Die ganze Schweiz genießt die bedeutende jährliche Einnahme an Reisegeld der Ausländer, denn bekanntlich sind gerade die am meisten besuchten Kantons die am wenigsten erzeugenden, weil ihr Alpenboden dem zuwider ist. Die ebenen, nur schnell durchflogenen Kantons, führen ihre Bodenerzeugnisse den besuchteren zu, um sie in deren zahllosen Gasthäusern zu verwerthen. Die Bereisung der Schweiz ist also nicht Kantons-, sondern Bundesinteresse.

Alle Reisehandbücher sagen, daß es in der Schweiz noch große Gebiete gebe, welche noch wenig oder nicht bereist werden, obgleich sie den am meisten bereisten in nichts nachstehen. Man fühlt jetzt im Berner Oberlande recht lebhaft das Bedürfniß, daß sich der Touristenschwarm doch etwas dünner vertheilen möchte. Mache man doch jene noch unbereisten Gebiete zugänglicher! Es würde dadurch die Fluth der Reisenden etwas breiter vertheilt und gleicherweise ihr Geld Mehreren als jetzt zu Gute kommen. Vielleicht sind die betreffenden Kantons oder Gemeinden zu arm, um für sich allein ihre verborgenen Schätze dem Reiseverkehr zugänglich zumachen. Wenn die Eidgenossenschaft den Reiseverkehr in ihrem Lande von dem höheren internationalen Standpunkte auffaßt, so wird dieses Unvermögen einzelner Kantons nicht länger hinderlich sein. Wahrlich es ist ein neidenswerther Vorzug eines Landes, eine reichfließende Einnahmequelle in der malerischen Schönheit seines Bodens zu besitzen. Wer sie einmal geschaut hat, der findet diese Schönheit so groß, daß er vielleicht einen Grund darin gegen die vorgebrachte Mahnung, mehr für die Touristenwelt zu thun, findet, weil die Größe der Schönheit die Beschwerde des Reisens vergessen mache und, was wohl nicht gering anzuschlagen sein möchte, der unbehinderte freie Zutritt zu der Schweiz die Mitbewerbung des benachbarten paßverschlossenen Tirol und Vorarlberg leicht überwinde. Allein für die meisten Touristen – wie ich die Vergnügungsreisenden unterscheidend nennen will, lieben nun einmal eine gewisse Behaglichkeit des Reisens, und je behaglicher es ihnen gemacht wird, desto lieber und öfter reisen sie.

[668] Zu den noch zur Zeit bestehenden Unbehaglichkeiten oder vielmehr Erschwerungen des Reisens in der Schweiz gehört etwas, was im Interesse der zahlreichen Führerschaft zu liegen scheint: der beinahe gänzliche Mangel an Wegweisern auf den eigentlichen, oft sehr schlecht unterhaltenen, Touristen-Pfaden. Mit dessen Beseitigung könnte leicht eine bestimmte Kennzeichnung dieser Pfade verbunden werden, um sie von den zahllosen Senner-Pfaden zu unterscheiden. Ich glaube, daß diese, dem unbemittelten Reisenden sehr dankenswerthen, Einrichtungen den Führern kaum Abbruch thun würden; denn der Reiche nimmt sich dennoch einen Führer, schon um seinen Reisebedarf tragen zu lassen, und der Aermere nimmt auch jetzt keinen, sondern sucht bei seinen Wanderungen in das Fahrwasser einer geführten Karavane zu kommen.

Die Bettelei ist in der Schweiz ein Gegenstand der allgemeinen Klage. Sie tritt einem in den verschiedensten Gestalten entgegen. Unbedingt zu beseitigen ist der unverholene Bettel und sicher von der Mildthätigkeit des Reisenden für ihn ein reichlicherer Zoll zu erheben, wenn in jedem Gasthof frühmorgens bei dem Bezahlen der Rechnung, wobei man in der Regel ganze Schaaren von Abreisenden sich um den Oberkellner drängen sieht, eine amtlich verschlossene Sammelbüchse ausgestellt oder meinetwegen geradezu vorgehalten würde. In diesem Augenblicke gibt jeder gern einige Centimen, und er hat sie dann auch gerade zur Hand. Auf der Wanderung gibt man oft blos deshalb den Armen nichts, weil man entweder keine kleine Münze zur Hand oder die Hände voll Alpenblumen oder Steine hat oder selbst zu bequem und eilig ist, um in der Tasche zu suchen. Ich bin oft von mit einem amtlichen Abzeichen am Hute versehenen Wegearbeitern angebettelt worden, angeblich, aber sicher nicht der Wahrheit gemäß, für die Besserung des Pfades, an dem der Mann eben vielleicht blos zum Schein ein Bischen herumkratzte. Ist die betreffende Gemeinde unvermögend, die Touristenpfade zu unterhalten, so wird jeder Reisende einen in würdiger Form eingeforderten kleinen Beitrag gern zahlen. Am häufigsten erscheint die Bettelei in einer entschuldbaren aber sicher von vielen Touristen nicht begriffener Form. Alle Minuten sieht man ein Kind an einer der Lattenthüren der Umzäunungen stehen, wodurch die Alpmatten nach ihrem Besitze abgegrenzt sind. Dieser Pförtnerzoll ist kaum eine Bettelei, sondern wurde wahrscheinlich blos dadurch nöthig, daß die Touristen diese Thüren offen stehen ließen und dadurch das Weglaufen des Weideviehes veranlaßten.

Das Feilbieten von Alpensträußchen, Früchten, werthlosen Mineralien will ich nicht zur Bettelei rechnen, obgleich das Feilgebotene seinem Werthe nach oft nur als eine Beschönigung des Bettelns erscheint. Aber unwürdig im höchsten Grade ist es, wenn wie z. B. am „Reichenbach“ und am Handeckfall die Zulassung zum Anblick nur gegen ein hohes Eintrittsgeld gestattet und durch unschöne, mindestens störende Vorbaue die Natur geradezu geschändet wird. Allerdings braucht der Besitzer der vor dem mittlen und oberen Reichenbachfall liegenden Alm den Pfad zu ihnen sich nicht als Servitut gefallen zu lassen. Aber dann lasse man ihn an dem Einkommen der in den Wirthshäusern Meiringens, wo man übernachtete, aufgestellten Büchse Antheil haben. Jene drei schmachvollen Bretterbuden, in denen die arme Natur eingesperrt ist, müssen weg! Ich schalte hier eine Stelle aus einem Artikel der Allg. Zeit. ein, welcher vor einigen Wochen über das Bettlerwesen in der Schweiz sprach: „Die widerliche Industrie der Bettlerschaaren, welche der Schweiz bald alle Romantik nehmen und den Fremden das Reisen gründlich verleiden werden, scheint sogar die hohe Protektion einzelner Kantonsbehörden zu genießen. Hier ein Beispiel. Wenn man das Zuger Dampfschiff in Immensee verläßt und den Weg nach Küßnacht einschlägt, so kommt man durch die hohle Gasse, wo bekanntlich Tell den Landvogt Geßler erschossen haben soll. Eine Kapelle, vor zwanzig Jahren restaurirt, steht am Eingange des Hohlweges. Ueber der Thür stellt eine werthlose Freske die Handlung vor; ein schlechter Vers erläutert das Bild. Ehedem war diese tiefe, buchendunkle Gasse mit der einsamen alten Kapelle ein recht geheimnißvoller Winkel, welcher Eindruck auf den empfänglichen Wanderer hervorzubringen geeignet war. Seit aber der Hohlweg aufgefüllt wurde, und die geldgierige Spekulation ein nüchternes, selbst überflüssiges Wirthshaus neben der Kapelle hinkleckste, hat diese Stelle viel von ihrer Romantik verloren. Seit diesem Sommer macht die dort getriebene Bettelindustrie den Platz völlig widerlich. In der Tellskapelle lauert nämlich ein alter Schwyzer, der in gelb und schwarzer Uniform, mit Armbrust und Pfeil bewaffnet, die Reisenden anfällt und mit den Worten begrüßt: „Syd se guet und gänd em alte Wilhelm Tell au es Almuese!“ Macht man ihm Vorwürfe über das Unschickliche der Maskerade, so sagt er keck: „Unseri Herre hän mi g’hieße!“ Sollte dies auch unwahr sein, so viel ist gewiß: die Behörden des Kantons Schwyz kennen diesen Skandal, und dulden ihn trotz der in öffentlichen Blättern wiederholt ausgesprochenen Rüge. Haben die Leute so wenig nationales Ehrgefühl, daß sie die Geschichte ihres Helden auf eine solche Weise lächerlich machen lassen? Es fehlt nur noch, daß dieser Tell den Schiller’schen Monolog einstudirt.“

Die Wirthshaustaxe ziehe ich nicht so unbedingt in das Bereich meiner Klagen, weil ich lieber von der Mitbewerbung als von dem Zwange ein Einschreiten erwarte. Freilich muß die Mitbewerbung sich dann frei bewegen können. Die Gasthäuser sind theuer, aber nicht in dem Grade, wie sie verschrieen sind. Bei den Klagen über theure Wirthshaus-Rechnungen in der Schweiz muß man billig in Anschlag bringen, daß gewiß viele jener Wirthe außer der kurzen Reisezeit, die durchschnittlich kaum mehr als drei Monate dauert, kaum einen anderen lohnenden Erwerb haben mögen. Eigentlich übervortheilt bin ich nur einmal worden, und zwar in einer sogenannten Pension in Interlaken. Diese Pensionen muß man meiden, wenn man nicht geradehin einige Tage ruhig liegen bleiben will. Man zahlt nämlich daselbst eine bestimmte Tagessumme und hat dafür Zimmer, Frühstück, Mittag- und Abendessen. Macht man während der Tage, daß man in einer Pension wohnt, Ausflüge, so zahlt man, wie billig, auch das Versäumte. So ging mir es und ich hätte mich nicht zu beklagen, wenn die Pension sich nicht auch zugleich als Hotel ankündigte. Es hatte den Leutchen gefallen, mich gegen meinen Willen als Pensionär zu behandeln. Die Pensions machen auf diese Weise jedenfalls die besten Geschäfte.

Ich bin weit entfernt, die Gartenlaube zu einer diplomatischen Note hinaufschrauben zu wollen, aber ein Schweizer, auf den seine Landsleute mit Recht stolz sind, hat die Novelle geschrieben: „Kleine Ursachen, große Wirkungen.“ Nützen meine Bemerkungen nichts, so schaden sie auch nichts und dabei bleibe ich: das Schweizreisen hat für die Eidgenossenschaft eine höchst bedeutungsvolle internationale Seite.




Die Leichenverbrennung.


In der Auffassungsweise der Naturwissenschaft sind die meisten üblichen Bestattungsweisen nichts anderes als Leichenverbrennungen. Denn gleichviel, ob die Leiber in der Erde unserer Kirchhöfe vermodern, oder auf offenen Schlachtfeldern verwesen, oder im Wasser verfaulen, oder im Organismus der Land- und Seeraubthiere (vom Haifisch abwärts bis zur kleinsten Fliegenmade oder Infusorienmonade) verdaut werden; immer ist der Hergang nach chemischer Ansicht derselbe, nämlich Aufzehrung der verbrennbaren (oxydirbaren) Körperbestandtheile durch den Luftsauerstoff, Verwandlung derselben in mehr oder weniger flüchtige, daher entweichende Kohlen- und Stickstoffverbindungen, und endliches Zurückbleiben der unverbrennbaren Bestandtheile, der sogenannten Asche. Und diesen Hergang nennt eben der Chemiker Verbrennung; wobei er die langsame und ohne Feuerentwickelung vor sich gehende, von der raschen, mit Erglühen des Brennstoffes (Feuer-) auch wohl Entweichen brennender Gase verbundenen (Flammenverbrennung) unterscheidet.

Wenden wir uns zur Leichenverbrennung im engeren Sinne, d. h. durch Feuer und Flamme, so lehrt uns zuvörderst die Geschichte, daß diese Bestattungsweise in allen Zonen und zu allen Zeiten geübt wurde und noch wird. Wir verweisen alle, eine ausführlichere Belehrung darüber Bedürftige auf das vor Kurzem erschienene fleißige Buch vom Oberstabsarzt Dr. Trusen:

[669]

Die Leichenverbrennung als die geeignetste Art der Todtenbestattung oder Darstellung der verschiedenen Arten und Gebräuche der Todtenbestattung aus älterer und neuerer Zeit, historisch und kritisch bearbeitet. (Breslau, bei Korn. 1855. 8.),“

eine Schrift, welche in den nichtärztlichen Zeitschriften oder Lesekreisen bei weitem nicht die ihm gebührende Kenntnißnahme und Würdigung gefunden zu haben scheint. Dasselbe Buch hat dem Referenten eigentlich den Anstoß gegeben, seine eigenen, seit Jahren mit sich herumgetragenen Ansichten und Projekte über diese Angelegenheit zu Papiere zu bringen.

Das Leichenverbrennen und das Leichenvergraben schließen sich nicht aus (wie wohl Mancher glaubt), sondern sie gehen und gingen bei den meisten Völkern des Erdballes Hand in Hand; mit Ausnahme der neueren Kulturvölker, bei denen wohl mehr der Holzmangel als gewisse religiöse Glaubenssätze (z. B. an Seelenwanderung),

Leichenverbrennung.

das Begraben als einzigen Modus obwalten ließen. Wir finden bei Trusen, daß auch bei solchen Völkern, welche dem Begraben huldigten, doch einzelne Fälle von Verbrennung (wie von Einbalsamiren) vorkommen. Und zwar scheint das Verbrennen allenthalben das Vornehmere zu sein; nur reiche Leute können das Brennmaterial (oft kostbare, wohlriechende Holzarten oder Harze) bezahlen; der gemeine Mann wird allenthalben in die Erde verscharrt, wo nicht gar den Geiern zum Raube liegen gelassen.

Wir wollen hier nicht weiter untersuchen, inwieweit das Verbrennen ästhetischer ist (denn darin liegt doch wohl das Vornehmere?), als das Vergraben. – Wir halten uns an die praktische Frage: „welche von beiden Bestattungsweisen ist vortheilhafter 1) für die Gesundheit? und 2) für den Wohlstand der Bevölkerungen?“ Hier fällt die Antwort, in beiden Beziehungen, Alles wohlerwogen, zu Gunsten der raschen Verbrennung und gegen die Beerdigung aus.

In einer beerdigten oder an der Luft faulenden Leiche gehen die chemischen Zersetzungsprozesse nicht nur langsamer, sondern auch in einer ganz anderen Weise vor sich, als bei rascher Verbrennung. Es bilden sich hierbei Luftarten (Fäulnißgase), welche, von lebenden Menschen eingeathmet, sehr giftig und krankheitserzeugend sind (sogenannte mephitische Gase und Miasmen). Lesen wir die erschütternden Mittheilungen, welche hierüber während des Krimfeldzuges von englischen und französischen Berichterstattern gemacht wurden:

„Die Leichen haben das Bestreben, wie lebendige Körper, sich zu vervielfältigen. Diejenigen Männer, welche bis vor Kurzem noch unsere tapfern Soldaten waren, sind jetzt unsere verderblichsten Feinde. Ihre Leiber, dünn oder gar nicht mit Erde bedeckt, hauchen ein pestilenzialisches Miasma aus, welches so sicher wie Pulver und Blei tödtet. Zwar ist ein Bischof gesendet worden, um die Gruben einzusegnen, in denen man die Leichen aufthürmt; aber die Ansteckung trotzt der Einsegnung wie dem Weihwasser. Unsere eigenen Verbündeten, die uns bis zum Tode treu waren, die uns mit ihren Schwertern retteten: sie vergiften uns durch ihre Fäulniß. Die Leiche des Schlachtrosses, welches seinen Reiter tapfer durch den Tag von Balaklava trug, liegt am Wege und zieht seinen siegreichen Reiter nachträglich zum unvermeidlichen Fatum hinab.“

So weit unser Verfasser, der damit schließt, schon damals für die Krimarmee, das Verbrennen der Leichen wieder in Vorschlag zu bringen. – Dieselben Nachtheile, welche er den Schlachtengräbern der Krim zuschreibt, sind schon vor hundert und mehr Jahren von den Aerzten gegen das Beerdigen innerhalb der Kirchen und im Inneren der Städte geltend gemacht worden. Erstere Unsitte, welche im Mittelalter viele mörderische Seuchen in den Städten erzeugt hat, ist jetzt wohl ziemlich allenthalben verbannt; aber der Uebelstand, daß Kirchhöfe noch im Innern der Städte und in der Nähe bewohnter Orte liegen und Luft und Brunnen vergiften, dieser alljährlich hier oder da zu mörderischen Seuchen Anlaß gebende Uebelstand herrscht noch weit verbreitet, namentlich da wo schnell wachsende Städte immer und immer wieder die nach Außen verlegten Kirchhöfe einholen und einschließen.

Bei rascher Verbrennung[WS 1] werden die meisten der giftigen [670] Gase sofort auf dem Scheiterhaufen mit zerstört, dessen vielfarbige leckende Flamme sie bilden; was davon entweicht, hat die unschädlichere Form von Kohlensäure, Ammoniak und den verschiedenen im Ruß befindlichen brenzlichen Stoffen, wovon unten gleich mehr. Auch werden diese Stoffe hier von der erhitzten Luft nach oben geführt; sie können sich nicht in die Erde sickern und verbreiten sich nicht in der zum Aufenthalte des Menschen dienenden untersten Schicht der Atmosphäre (dem Boden des Luftmeeres, welches wir bewohnen).

Von der ökonomischen, finanziellen Seite betrachtet, ist das jetzt allgemein übliche „Zur-Erde-Bestatten“ eine der unverantwortlichsten Stoffverschwendungen, welche im Stoffkreislauf der Erde vorkommen. Denn gerade die Bestandtheile und Zersetzungsstoffe der thierischen Leichen: die stickstoffigen Gase, die Kohlensäure, die phosphorsauren Erden (Knochensalze), sind die unentbehrlichen Nahrungsstoffe für die Pflanzenwelt überhaupt und für die Nutzpflanzen insbesondere, namentlich für die Körnerfrüchte. Während wir mit enormen Kosten von den Gegenfüßlern her um die halbe Erde herum den Guano einführen, bleibt das eben so stickstoff- und phosphatenreiche Material der menschlichen und thierischen Körper unbenutzt tief in den Gruben liegen, oder entwickelt sich nur langsam und spärlich aus der Erde der Kirchhöfe, um einen nutzenlosen Pflanzenwuchs zu düngen. Dem Einwand, daß heutzutage das zu den Scheiterhaufen zu verwendende Holz gar nicht mehr zu bezahlen sein würde, begegnen wir zunächst damit, daß die Kosten für Särge, Aufputzung der Leiche und nichtswürdige Allotrien (z. B. Citronen für lachende Leichenweiber) nachweisbar bei allen Wohlhabenden und selbst dem unteren Bürgerstande Angehörigen, weit mehr betragen, als ein paar Klaftern Brennholz kosten würden. Außerdem bietet die neuere Wissenschaft und Technik ausreichende Brennstoffe und Verbrennungsweisen dar, wobei alles Holz erspart wird und aus den Verbrennungsprodukten noch viel werthvollere Stoffe, als die bloßen Düngemittel, gewonnen werden können. Diese in’s Werk zu setzen und so einen durch bloße Gewohnheit und Indolenz bisher noch verzögerten Fortschritt der Staatsökonomie und der öffentlichen Gesundheitspflege zu machen, scheint uns eine der nächsten Aufgaben unserer Zeit.

Wir denken uns diese moderne Leichenverbrennung etwa in folgender Weise verwirklicht:

Aus Steinkohlengas (oder sobald die Technik die elektrische Zerlegung des Wassers im Großen zu betreiben gelehrt haben wird, aus purem Wasserstoffgas) wird mit Beimischung eines Stromes atmosphärischer Luft (durch Gasometer, beziehentlich Luftpumpe oder Riesenblasebälge) eine mächtige, verzehrende Stichflamme (a) erzeugt. Diese strömt in einen gewölbten Raum, über die auf einen Rost oder Blech (wahrscheinlich von Platin herzustellen!) ausgestreckte, allenfalls in ein Gewebe von unverbrennlicher Asbestleinwand eingehüllte Leiche. Zur Beleuchtung und damit die Leidtragenden mit eigenen Augen Zeugen des Bestattungs- (d. i. Verbrennungs-) Prozesses sein, auch sich von der Identität der Asche überzeugen können, ist der Raum an mehreren Stellen mit Fenstern aus einem dicken und schwer schmelzbarem Glase versehen. Die Verbrennungsprodukte, unter denen sich mehrere für Industrie und Handel wichtige Stoffe (besonders Blausäure, Ammoniumsalze, brennbare Fette nach Art des Photogen und Paraffin) befinden, werden theils durch Abzugsrohre (b) aufgesaugt, und in kältere Räume zum Auffangen übergeführt, theils auch wohl in Gefäßen (c), welche man (z. B. mit Schwefelsäure gefüllt) am Boden der Verbrennungskammer aufstellt, absorbirt und concentrirt.

Da der Verbrennungsprozeß hierbei auf eine ganz reinliche und gesunde Weise vor den Augen der Angehörigen vor sich geht, denen es auch frei steht, die Asche des Bestatteten zu sich zu nehmen (außerdem wird sie, wie es die Naturgesetze verlangen, dem Acker zurückerstattet): so mag wohl Niemand behaupten, daß diese Bestattungsweise unästhetischer sei, als die jetzige, welche den Körper einem scheußlichen Wurmfraße und Moder anheimgibt. Auch das religiöse Bedürfniß wird dabei seine volle Befriedigung finden, indem die Angehörigen an den Fenstern der Verbrennungskapelle singen, beten und geistlichen Zuspruch, oder die Abschieds- und Ehrenreden ihrer Freunde hören können. Blumenschmuck und dergleichen ist ohnedies nicht ausgeschlossen. – Bald würde auch die Kunst sich dieses Gegenstandes bemächtigen, und z. B. durch geschickte Anwendung der sauerstoffreichen z. B. Zündsalze, den Hergang vereinfachen und ihm alles für ungeübte Augen Schreckende benehmen.

Der Vorschlag ist ganz einfach. Jeder chemisch Gebildete begreift seine Ausführbarkeit und auch seine praktische Wichtigkeit. Es handelt sich nur darum, daß die Sache im Großen auf eine leicht zu handhabende Weise ausgeführt werde, am besten in einer der großen Hauptstädte Europa’s, wo täglich Dutzende von Leichen, welche Niemand reklamirt, auf Gemeindekosten bestattet werden müssen. Vielleicht geben die praktischen Engländer, denen ohnedies die Kirchhöfe Londons als unaufhörliche Gift- und Pestquellen schon lange Sorgen machen, das erste Beispiel einer für das Wohl der Menschheit so wichtigen Neuerung!

Herrmann Richter.




Die französischen Tugendpreise.


„Tugendpreise!“ ruft wohl Mancher, „welch’ ein empörender Gedanke! Die keusche Tugend aus ihrem heiligen Dunkel an das grelle Tageslicht zerren, eine frivole Komödie mit ihr aufführen und zuletzt sie gar noch mit Geld ablohnen! Hat die Tugend einen Preis? Geht sie etwa auf Gewinn aus? Wer, der nur etwas gesundes Gefühl sich bewahrt hat, nur einige Scheu vor dem Göttlichen, nur eine Ahnung von dem wahren Wesen der Tugend in sich trägt, kann sie auf solche Art entwürdigen wollen? Das ist ja das wirksamste Mittel, alle echte Tugend im Volke auszurotten, denn man verdreht dadurch gänzlich alle seine Begriffe, und hält ihm statt ihrer eine schamlose heuchlerische Fratze als das Ideal der Vortrefflichkeit vor, dem er nachstreben soll, und zwar nachstreben, um vielleicht in der Tugendlotterie einen Preis von so und soviel hundert oder tausend Francs zu erhaschen und öffentlich genannt und gepriesen zu werden! Denn es fühlt doch wohl ein Jeder, daß kein wirklich Tugendhafter, Keiner, der das Bewußtsein einer wahrhaften Edelthat in sich trägt, hingehen wird, um seine eigene Vortrefflichkeit den Preisrichtern anzurühmen und eine baare Belohnung dafür zu verlangen! Somit also wird durch diese pompöse Farce, zu der sich sogar eine „Akademie der moralischen Wissenschaften“ hergibt, unter dem heiligsten Namen nur die frevelhafteste Gaunerei aufgemuntert und zur öffentlichen Bewunderung und Nacheiferung emporgehalten. Das ist aber wieder echt französische Komödie, nichts als Komödie, auch das Reinste und Edelste muß zu einer Komödie herabgezogen werden!“

Gemach! gemach! – Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß der Gedanke, der Tugend öffentliche Geldpreise zu ertheilen, auf den ersten Blick etwas sehr Verletzendes hat, so läßt sich der Sache doch vielleicht auch eine Seite abgewinnen, von der aus jener Widerwille sich nicht nur mildern, sondern wohl gar in sein Gegentheil umwandeln dürfte. Unser imaginärer Gegner hat in seinem ganz löblichen Eifer die triftigsten und meistgehörten Einwürfe gegen die schöne Stiftung des edlen Monthyon herausgepoltert; um sie nun in der Kürze zu beantworten und zu widerlegen, können wir nicht besser thun, als die Sache ganz einfach für sich selbst reden zu lassen.

Der Ursprung dieser Tugendpreise ist wohl vielen unserer Leser schon bekannt. Der reiche französische Baron von Monthyon hinterließ nach einem ungewöhnlich langen, ganz nur der Linderung menschlichen Elendes und der Förderung alles Guten gewidmeten Leben, als er 1820 starb, sein großes Vermögen verschiedenen wohlthätigen Anstalten, und bestimmte einen Theil davon zur Vermehrung des Kapitals, welches er bereits 1782 der Akademie der moralischen Wissenschaften zu dem Zwecke anvertraut hatte, daß sie von den Zinsen desselben alljährlich eine Anzahl Preise an solche Personen ertheilen solle, die sich durch eine Reihe edler und aufopfernder Handlungen besonders ausgezeichnet haben. Wir heben das Wort „Reihe“ ausdrücklich hervor, denn der weise Stifter dachte richtig, daß eine vereinzelte That des Muthes, der Menschenliebe und Aufopferung, vielleicht nur einem augenblicklichen Impulse entsprungen, noch keineswegs wirkliche Tugend begründe, [671] deren Wesen eben nur in einer andauernden Uebung alles Edlen, Reinen und Vortrefflichen beruht.

Der Preise sind im Ganzen sechzehn; einer von 4000 Francs, einer von 3000, zwei von 2000, drei von 1000 und zehn von 500; welche dreizehn letzteren „Medaillen“ genannt werden. Die jährlich vertheilte Summe beträgt also im Ganzen 19,000 Francs oder 5000 Thaler.

Die Geringfügigkeit der einzelnen Preise, verbunden mit der Vorschrift, nach welcher sie eben nicht vereinzelten Großthaten, sondern nur einer fortgesetzten, ausgezeichnet edlen Handlungsweise zugesprochen werden, erledigt schon vollständig jenes erste Bedenken, als könne sich niedere Gewinnsucht dadurch irgendwie zu einer heuchlerischen Spekulation aufgemuntert fühlen. Könnte es doch gelingen, die Menschen durch die Aussicht auf eine etwaige Belohnung von höchstens 1000 Thalern zu einem tugendhaften, aufopfernden Lebenswandel zu bekehren! Es ließe sich schon allein im Interesse der Gesellschaft gar keine lohnendere Verwendung des Geldes denken, und es wäre dann wenigstens nicht mehr der „Mammon, der in’s Verderben führt.“ Auch ist wohl zu bemerken, daß es sich hier durchaus nicht um eine, oft nur erheuchelte „Frömmigkeit,“ sondern um wirkliche Thaten handelt, und daß der Baron seine Stiftung deshalb nicht irgend einer Kirche, die Preisvertheilung nicht der Geistlichkeit übertragen hat, sondern einer rein weltlichen Körperschaft von Gelehrten, Philosophen und Staatsmännern. Da nun diese Zeichen nur zur Anerkennung echten, unzweifelhaften Werthes dienen, so versteht es sich wohl von selbst, daß Diejenigen, welchen sie zugesprochen werden, sich nicht selbst darum beworben haben können. Ein solcher Fall ist nie vorgekommen und gar nicht denkbar. Vielmehr werden diese Edlen, die in echter Demuth ihrer eigenen Erhabenheit sich völlig unbewußt sind, meist zu ihrer größten Bestürzung durch die Aufmerksamkeit der Akademie überrascht, bis zu welcher der Ruf ihres stillen und segensreichen Waltens gedrungen war, und nicht selten haben sie mit achtungsvoller Entschiedenheit die ihnen zugedachte Auszeichnung zurückgewiesen. Was nun durch die öffentliche Vertheilung solcher Preise, die man im Stillen als Unterstützungen würdiger und bedürftiger Personen wohl gelten ließe, bezweckt werden soll? Nun, doch wohl die Förderung der Tugend, aber nur auf ganz andere Weise, als es anfangs den Schein hatte. Nicht als Sporn oder Strebziel sollen diese Preise dienen, sondern ein, an sich selbst zwar gleichgültiges, nebenbei aber doch nicht selten wohlthätiges Mittel sind sie, durch welches das Gute, welches ihre Empfänger bisher nur im Verborgenen geübt hatten, nun auch in den weitesten Kreisen zu einem segensvollen Wirken gebracht wird. Und daß sie dies gar wohl vermögen, wird Jedem durch die nachfolgenden, einer früheren Preisvertheilung zu Grunde liegenden Thatsachen an sich selbst fühlbar werden; oder hätte die Barmherzigkeit jenes Samaritaners so gar nichts weiter gewirkt, als nur die Rettung jenes Einen, unter die Räuber Gefallenen?

Unter mehr als hundert geeigneten Fällen, die in den letzten sechs Monaten vor jener Preisvertheilung zur Kenntniß der Akademie gekommen waren, wählte sie nebst mehreren anderen die folgenden als die würdigsten aus, und ist es nicht ohne Interesse für uns, daß zwei der so Ausgezeichneten, obwohl von Geburt Franzosen, doch deutscher Abstammung sind.

Den ersten Preis von 4000 Francs erhielt ein alter Soldat und Schuhmacher, Namens Miller. Dieser arme und großherzige Mann hatte der Reihe nach fünf ganz fremde Kinder adoptirt, die er und sein braves Weib ohne alle Unterstützung mit der zärtlichsten Sorgfalt auferzogen. Das erste dieser Kinder war eine Waise, die Miller während des schreckenvollen russischen Feldzuges im Schnee fand. Das war seine Kriegsbeute, die er als den kostbarsten Schatz durch all’ die folgenden blutigen Ereignisse treu bewahrte und sicher in die Heimat brachte. Eine so vortreffliche Erziehung gab er seinem Schneesohne, daß dieser jetzt kommandirender Stabsoffizier in der französischen Armee ist. Ein zweites dieser angenommenen Kinder Miller’s ist Landpfarrer; ein drittes ist anständig als Schustermeister etablirt, und ein viertes dient eben seine Conscriptionsjahre in der Armee ab. Das fünfte Kind ist ein Mädchen, das von ihrem Vater, einem brutalen und liederlichen Soldaten, in frühester Jugend verlassen und durch Miller und sein Weib dem Laster und Elend entrissen wurde. Nach mehreren Jahren kam der unnatürliche Vater zurück, und die Liebe der Pflegeeltern für sein Kind ausbeutend, nahm er es ihnen und verlangte eine große Summe für seine Zurückstellung. Miller war arm, allein er brachte freudig die schwersten Opfer, um seine angenommene Tochter wiederzuerlangen, die sich solcher Liebe werth gezeigt hat und jetzt die treue Pflegerin des ehrwürdigen, hochbetagten Paares ist. Schon seit Jahren arbeiten die Alten daran, dem Mädchen eine gesicherte Existenz zu gründen, und die 4000 Francs, welche Miller von der Akademie empfing, werden sicher dies Ziel wesentlich gefördert haben.

Es liegt in diesem dunkeln aber so wohlthätigen Leben des fleißigen alten Soltaten ein tiefer und mehr als gewöhnlicher Reiz. Indem er fünf hülflose Kinder nicht nur vor Mangel und Elend, sondern auch vor Unwissenheit und Laster rettete, sie unter den größten Schwierigkeiten auferzog und durch unermüdliche Ausdauer so weit brachte, daß sie die von ihnen behauptete ehrenvolle und nützliche Stellung im Leben einnehmen konnten, that er mehr, als nur ein gutes und menschenfreundliches Werk, er verfuhr, – wie die Franzosen sehr richtig unterscheiden – mit weiser Tugend, mit einer Tugend, die, hinausblickend über die Nächstliegenden Rücksichten, mehr noch das allgemeine Wohl im Auge hält, als das blos individuelle. Diese Betrachtung war es denn auch, was die Akademie vornehmlich bewog, Miller den ersten Preis zuzuerkennen. Wer aber möchte wohl dem Verdachte Raum geben, daß dieser edle Mann, der in seiner entfernten Provinz vielleicht nie von der Akademie und ihren Monthyon-Preisen gehört, auch nur entfernt an diese armselige Summe dachte, als er mit treuer Ausdauer alle Kräfte seines Daseins an die Durchführung seiner schönen, selbsterwählten Aufgabe setzte?

Obwohl wir, bei all’ unserer Sympathie für die französischen Arbeiterklassen, keineswegs für sie ausschließlich Gefühle und Tugenden beanspruchen wollen, die so allgemein und so weitverbreitet sind, als der Mensch und die menschliche Natur, so müssen wir doch bei der Betrachtung all’ der herrlichen Beispiele christlicher Liebe und Selbstverleugnung, die jedes Jahr bei Gelegenheit der Monthyon-Preise kund werden, die tiefe Wahrheit der von Michelet in seinem Buche „Das Volk“ ausgesprochenen Thatsache anerkennnen, daß gerade die ärmsten Glieder der Gesellschaft jederzeit am bereitetsten sind, gleich jener alten Wittwe, ihr Alles hinzuopfern, und zwar nicht nur, wo Pflicht und Neigung sie dazu auffordern, sondern oft für den ersten unglücklichen Fremden, der ihren Pfad durchkreuzt. Ist dies vielleicht, weil die Armen am besten wissen was es heißt, zu leiden? Ist es, weil sie selbst den Kelch bis auf die bitteren Hefen geleert, daß sie so gut verstehen, mit dem Betrübten zu trauern und mit dem Weinenden zu weinen?

Zu diesen milden Seelen gehörte auch Anne Billard, eine alte Näherin, der die Akademie eine Medaille von 500 Francs zusprach, und die so überaus arm war, daß sie oft viele Tage nach einander nur von Gemüseabfall lebte, den sie in der Straße aufklaubte, oder von so schimmeligem, verdorbenem Brote, daß der elendeste Gefangene es weggeworfen haben würde. Und dennoch fand Anne Billard selbst in diesem Abgrunde der Noth und des Elenden noch die Möglichkeit, mehr wahre Wohlthätigkeit zu üben, als so manche Tochter des Reichthums und des Ueberflnsses. Eine alte Gouvernante, die einst bessere Tage gesehen hatte, war durch vier Jahre ihr Gast; dieser folgte ein invalider Soldat, der lange schon sein siebzigstes Jahr hinter sich hatte; und nach diesem kam ein polnischer Flüchtling, dessen Name sogar Anne unbekannt blieb. In dieser Weise verbrachte sie die letzten dreizehn Jahre. Ihre rückhaltlose Mildthätigkeit allein hat sie so arm gemacht, denn ihr unausgesetzter Fleiß hätte sie jetzt längst allem Mangel enthoben. Aber ob sie gleich alt und schwach wird, trägt Anne ihr Loos doch ohne Murren, sucht kein Lob und spricht nie von dem Guten, das sie gethan. Viele ihrer Nachbarn und Bekannten staunten oft über die Tiefe ihrer Armuth; wurde sie aber um Aufschluß darüber angegangen, so antwortete sie einfach: „Es ist eben Gottes Wille so!“

Derselbe Geist der Demuth und Selbstverleugnung durchwaltet auch die ganze Handlungsweise des Arbeiters Rouy, eines anderen von Denen, die eine Medaille von 500 Francs erhielten. Die Schwiegereltern Rouy’s hatten vor Jahren aus bloßem Mitleid ein armes blödsinniges Mädchen adoptirt, das aus Widerwillen gegen seine Schwäche von den eigenen Eltern verlassen worden war. Als diese Leute nun selbst alt und hülflos wurden, nahm sie Rouy sammt ihrem Pflegekinde freudig bei sich auf. Kurz darnach starb seine Schwester, deren Mann sehr liederlich war, und hinterließ einen kleinen Jungen. Der Wittwer verheirathete [672] sich bald wieder, und nachdem ihm seine zweite Frau ebenfalls ein Kind geboren hatte, ging er davon und ließ seine Familie im größten Elende zurück. Rouy benahm sich jetzt auf eine wahrhaft bewundernswerthe Art. Nicht nur nahm er sogleich seiner Schwester Kind zu sich, sondern auch das andere, denn sein Zartgefühl, – – um das ihn so manche überfeinerte Delikatesse beneiden dürfte – duldete nicht, daß der Bruder seines kleinen Neffen darbe, während dieser sich einer liebevollen Versorgung erfreute. So erhält nun Rouy außer seiner eigenen Familie fünf hülflose Wesen lediglich durch seiner Hände Arbeit; aber wie edel auch seine Handlungsweise ist, hat ihn doch noch Niemand überreden können, daß er irgend mehr gethan hätte, als einfach nur seine Pflicht. Und ist denn nicht auch wirklich die Barmherzigkeit eine hochheilige, gebieterische Pflicht?

Ein anderer charakteristischer Zug verschiedener Individuen, welchen die Akademie Preise zuertheilte, ist die unermüdlich hingebungsvolle Krankenpflege, durch welche mehrere edelsinnige Frauenzimmer sich auszeichneten, auf deren Geschlecht begreiflicherweise diese Form der Wohlthätigkeit sich zumeist beschränkt. Diese Frauen sind in der Regel äußerst arm, einige unter ihnen sogar schwächlich und verkrüppelt, aber Alle haben in jeder Beziehung die erhabenste Selbstverleugnung bewährt. Ja noch mehr: obwohl fortwährend am Krankenlager der Unglücklichen und Nothleidenden anzutreffen, erhalten sie sich doch, einsam und ohne Stütze, lediglich nur durch ihren eigenen Fleiß. Wir sagen „sie,“ denn mit sehr geringfügigen Unterscheidungen ist das Leben des Einen dieser edlen Wesen das Leben Aller; – ein Leben großherziger Nächstenliebe und Selbstopferung.

So, ob wir nun von Susanne Monnet sprechen, die während der Pflege ihrer alten und hinfälligen Mutter zuerst den erhabenen Ruf vernahm, der sie alle irdischen Gedanken aufgeben hieß, um sich ganz nur den Kranken und Armen zu widmen; oder von Bertine Guidin, der verkrüppelten aber edlen Bauerndirne, deren karger Tagelohn von 4 Rgr. während der ganzen letzten dreiundvierzig Jahre zum größeren Theile den Unglücklichen der Gemeinde zufloß; oder von Katherine Quéron, die – nachdem sie mit der bewundernswürdigsten aller christlichen Tugenden, der Vergebung des erlittenen Bösen, sich den Peinigern ihrer Jugend geopfert hatte – durch ihren rastlosen Eifer und die selbstvergessendste Hingebung, namentlich während der Cholera, sich den schönen Namen der „Vorsehung des Dorfes“ erwarb, – ob wir nun von Einer dieser oder von allen Dreien sprechen wollten, immer müßten die Worte kalt und matt erscheinen, mit denen wir versuchten die That zu schildern, welche diese, in ihrer Dunkelheit so erhabenen Lebensläufe verklärten.

Katherine Quéron unterscheidet sich jedoch selbst von ihren Gefährtinnen noch durch einen bemerkenswerthen Zug. Sie lebt in einem abgelegenen Dorfe, wo ein Arzt nur selten zur Hand ist. Dieser Umstand veranlaßte sie, bei ihrer Krankenpflege die verschiedenen Symptome der Krankheiten und die Wirkungen der Heilmittel mit besonderer Aufmerksamkeit zu studiren. Ihre Erfahrung wurde mit der Zeit sehr bedeutend, und sie hat nicht nur mehrere überraschende Kuren gemacht, sondern es gelang ihr auch Viele wieder herzustellen, an deren Rettung die Aerzte selbst verzweifelt hatten. In Anerkennung der seltenen Ausdauer und Geisteskraft, mit der sie sich, vom reinsten Wohlwollen getrieben, so schätzbare Kenntnisse angeeignet hat, bestimmte ihr die Akademie einen Preis von 2000 Francs.

Wir wollen diesen Bericht mit einem Falle beschließen, der uns erkennen läßt, welcher fast unglaublichen Selbstverleugnung das menschliche Herz fähig ist und welcher Reichthum gottgleicher Liebe noch immer diese, scheinbar nur der niedrigsten Selbstsucht hingegebene Erde heiligt.

Fanny Müller war Dienstmädchen in einem Pariser Hotel. Unter den Gästen befand sich ein geflüchteter italienischer Offizier, der an einer schweren Wunde litt, die zu verbinden Fanny’s tägliche Aufgabe war, wodurch sie näher mit ihm bekannt wurde. Nach einiger Zeit kündigte ihm der Eigenthümer die Wohnung. Des Italieners Hülfsmittel waren gänzlich erschöpft, und er sah sich dem äußersten Elende preisgegeben. Fanny’s Lohn betrug ungefähr zehn Thaler des Monats, wovon sie bereits eine hübsche Summe zurückgelegt hatte, die sie jetzt dem unglücklichen Ausländer zu widmen beschloß. Sie miethete eine kleine Wohnung für ihn, möblirte sie, und da er genug musikalische Kenntnisse besaß, um Unterricht zu geben, suchte sie ihm Schüler zu verschaffen, was ihr auch zum Theil gelang. Des Italieners kleiner Sohn befand sich damals mit seiner Mutter in London, kam aber jetzt nach ihrem plötzlichen Tode zu seinem Vater zurück. Obwohl ihre Last hierdurch verdoppelt wurde, klagte Fanny nicht. Sie fuhr fort, den Italiener zu unterstützen, und bestritt die ganze Erziehung seines Sohnes.

Nicht lange jedoch, so wurde der verwundete Offizier unfähig, seine Schüler zu besuchen, und verfiel daher gänzlich Fanny’s Fürsorge. Ihre bescheidenen Mittel waren nun erschöpft; doch, auf bessere Tage hoffend, borgte sie Geld von ihren Bekannten. Ihre Lage wurde jedoch schlimmer und schlimmer. Die Gläubiger mahnten, und nur durch Opfer, die in ihren Verhältnissen ungeheuer waren, vermochte sie ihre Forderungen zu befriedigen; allein sie that es, und die Schulden wurden bezahlt.

Fanny war seit Langem an einen braven jungen Mann aus ihrem Geburtsorte, im Norden Frankreichs, verlobt. Ihr Bräutigam, Pierre Bat, hatte durch jahrelangen Fleiß endlich die Summe von 2000 Francs gesammelt, und kam jetzt voll freudiger Hoffnungen nach Paris, um sein Mädchen aus dem Joche der Dienstbarkeit zu erlösen, und als Hausfrau heimzuführen, denn sein Schatz reichte hin zur Begründung eines kleinen Anwesens. Fanny liebte ihren Bräutigam mit der ganzen Glut ihres edlen Herzens. Sie erhob keinen Widerspruch gegen sein Verlangen, aber sie erzählte ihm, was sie gethan, wie ohne sie der arme Verwiesene im Elende umkommen, sein Sohn in Unwissenheit aufwachsen mußte; sie sagte ihm nur dies, und frug dann, was sie jetzt thun solle? „Wie Du bisher gethan,“ war Pierre Vat’s Antwort; und ihr seine 2000 Francs, sein ganzes sauer erworbenes Vermögen zur Fortsetzung ihres barmherzigen Werkes zurücklassend, kehrte er allein wieder nach seinem Dorfe zurück.

Seitdem ist der Verbannte gestorben. Nicht ein Sou von Pierre’s Ersparnissen ist mehr vorhanden – die ganzen 2000 Francs gingen für die Erhaltung des Italieners und seines Sohnes hin. Fanny ist noch immer in Paris, wo sie angestrengt arbeitet, um der Waise eine seiner Lebensstellung entsprechende Erziehung zu geben. Pierre und sie müssen getrennt leben; fünfzehn der schönsten Jahre ihres Lebens verflossen über dieser schweren Aufgabe, und Jahre der Anstrengung mag es noch erfordern, ehe sie die zu ihrer häuslichen Einrichtung nöthige Summe zusammenbringen. Doch arbeiten sie getrost fort, aufgerichtet durch ein glaubensfestes Vertrauen und eine mehr als irdische Hoffnung.

Hülfe kam endlich von einer Seite, woher sie am wenigsten erwartet wurde. Ein alter Geistlicher, der sie Beide seit vielen Jahren kannte und ihre geduldige Hingebung bewunderte, sandte einen Bericht dieser Thatsachen an die Akademie. Die Folge dieses Schrittes war, daß Fanny Müller, um ihre Verbindung mit Pierre Vat zu ermöglichen, eine Medaille von 500 Francs erhielt. Möge des Himmels Segen immerdar auf diesem hochherzigen Paare ruhen.

Solcher Art sind Diejenigen, welchen die Monthyon’schen Tugendpreise zu Theil werden. Ueber ihre geduldige Hingebung, ihre aufopfernde Nächstenliebe, ihre ungeheuchelte Demuth kann jetzt der Leser selbst urtheilen. Wenig dachten sie an eine Belohnung, als sie ihr edles Werk trieben! Und wollte Gott, daß statt sechzehn, hundert Preise jährlich vertheilt würden, und nicht nur in Frankreich, sondern in jedem christlichen Lande; wäre es auch nur, damit noch etwas Dauernderes und Würdigeres in den Annalen der Völker der Bewunderung der Zukunft überliefert werde, als die Berichte blutiger Triumphe.

Es ist uns unbekannt, wiefern die Akademie Sorge trägt, die jährlich zu ihrer Kenntniß gelangenden und von ihr ausgezeichneten Edelthaten dem Volke in den weitesten Kreisen bekannt zu machen; allein gewiß, eine Reihe entsprechender Darstellungen solcher Lebensläufe würde zugleich die schönste Volksbibliothek und das wirksamste aller Erbauungsbücher bilden. Die Vollbringungen des Genies, so herrlich und fördernd für das Ganze sie auch immer sein mögen, wirken doch nur drückend und entmuthigend auf den Betrachter, der von ihnen auf sich selbst zurückgeht, und kein ähnliches Vermögen in sich fühlt; oder aber, sie entzünden eine niedere, selbstische Ehrsucht, die nur nach Ruhm und eitler Auszeichnung dürstet, gleichviel, ob sie durch Segen oder durch Fluch errungen werden soll. Nicht so bei diesen Bildern; hier wird nicht die Phantasie gereizt, der Hochmuth und Egoismus aufgestachelt, sondern das Herz wird ergriffen, [673] und mit brünstigem Verlangen nach einem ähnlichen segensvollen Wirken entflammt. Diese demuthsvollen, mild leuchtenden Vorbilder aber, weit entfernt, den Schwachen kalt und stolz in seine Nichtigkeit zurückzuweisen, sprechen vornehmlich und aufmunternd zu einem Jeden: „Du kannst es auch, sobald Du willst; darum gehe hin, und thue desgleichen!“




Bessemer’s Eisenfegfeuer.

In natürlichem Zustande findet man das Eisen so massenhaft auf der Erde, ja als ganze Gebirge in Amerika, daß es, außer dem Preise des Aufnehmens und Fortschaffens, fast gar nichts kosten würde. Aber in diesem natürlichen Zustande klammert sich eine Menge schlechte Gesellschaft an das noble Eisen, wie Speichellecker und Spione an jede noble Größe, und zwar so fest, daß es durch eine ganze Menge Fegfeuer getrieben werden muß, ehe man es erträglich von dieser schlechten Gesellschaft reinigen und in seinem noblen, zähen, dauerhaften, festen und scharfen reinen Zustande gewinnen kann. Ohne uns hier auf die Technik der Eisenproduktions-Industrieen – eine gar gewaltige Industrie und Wissenschaft – einzulassen, bemerken wir nur, daß das natürliche Roheisen im Durchschnitt erst durch sechs höllenheiße Fegfeuer – jedes ein kostbarer industrieller, chemischer Prozeß – schwitzen und fließen muß, ehe es nur als rohe Eisenbarre vom Grobschmied verarbeitet werden kann. Und der macht noch lange keine Damascener Klingen, keine haardünne Nähnadeln und andere Eisenkunstwerke, in welchen der Preis der Eisenbarre um mehr als das Zehntausendfache erhöht und veredelt erscheint. Das Haupthinderniß für den Eisenverbrauch d. h. die Civilisation, den Wohlstand und die Völker im Groben und Großen, für Acker- und Handwerkszeuge, Bauten und Bildungen aller Art, Großindustrie, kosmopolitische Straßen und Brücken zu Wasser und zu Lande, liegt bisher in der Kostbarkeit der sechs ersten Fegfeuer, aus welchen es zuerst für den Hammer brauchbar hervorgeht.

Wer diese sechs Fegfeuer vereinfachte, aus sechs wohl gar eins machte, der wäre auf einmal einer der größten Wohlthäter der Menschheit. Die Meisten werden wohl schon gelesen haben, wie sich die Engländer seit mehreren Wochen rühmen, in dem Londoner Civil-Ingenieur Mr. Bessemer diesen Heiland gefunden und der Welt geliefert zu haben. Wir bemerken hier gleich, daß die Erfindung Bessemer’s selbst noch eines bedeutenden Fegfeuers bedarf, da sie in der Ausführung bis jetzt sehr unsicher ist und oft mißlingt. In der Sache selbst ist sie aber richtig. Das Mittel, diese sechs kostbaren Fegfeuer in ein verhältnißmäßig billiges einziges zusammenzudrängen und so die Hauptwaffen der Civilisation aller Menschheit zugänglicher zu machen, ist gefunden.


Suchen wir hier, mit Vermeidung bestimmter wissenschaftlicher und praktischer Technik, die Sache durch Bild und Wort klar zu machen.

Der große praktische Werth des Eisens vor allen anderen Metallen besteht hauptsächlich in der ungeheueren Zähigkeit und Zärtlichkeit, womit dessen Molekulen, Atome oder kleinste Theile an- und ineinander haften. Eine Eisen- und eine Eichenstange von derselben Große, Länge und Dicke verhalten sich in ihrer Kraft wie fünf zu eins; d. h. um erstere zu zerbrechen, gehört fünf Mal mehr Kraft dazu, als zur Durchbrechung der letzteren. Zu dieser fünffachen Eichenkraft des Eisens kommt aber auch als Haupttugend die unerschöpfliche Hämmerbarkeit, so daß es sich in jeder Form und Fassung, in jede Größe ziehen, verdichten, verdicken, verdünnen, biegen und schmiegen läßt. Der ungeheuere hohle Eisenbalken, der über die Menai-Meerenge hin England mit einer Meeresinsel verbindet, läßt Eisenbahnzüge durch sich hindurchschießen, ohne daß er sich nur rührt. Aber vorher war das Eisen nachgiebig genug, sich um diesen großen, hohlen Gedanken herumschmiegen zu lassen, die „Theorie hohl“ zu lassen, aber auch eine ungeheuere Praxis mit Dampf solid durch sich hin- und herzutragen.

Aber diese Festigkeit und Gefügigkeit des edelsten (nicht blos eines edeln) Metalles hängt von seiner Reinheit und, da es in

[674] der Natur stets in schlechter Gesellschaft, als da sind Kiesel, Kohle, Schwefel, Phosphor, Sauerstoff u. s. w. (an sich und in ihrer Sphäre gar keine schlechte Gesellen) gefunden wird, von unserer Kunst und Geschicklichkeit und den schweren Kapitalien, welche die Ausübung derselben erfordert, ab. In dem rohen Eisenerze finden sich diese chemischen und mechanischen Vergesellschaftungen in unentwirrbarer Confusion. Die sechs kostbaren Fegfeuer treiben nun zwar die flüchtigeren Gesellen Kohlenstoff, Sauerstoff u. s. w theils durch die Hitze direkt, theils durch Begünstigung neuer, chemischer Prozesse aus, aber nicht ganz, so daß nach allen diesen kostbaren hitzigen Arbeiten immer noch kleine Bruchtheile und geringe Prozente der ehemaligen Gesellschaft in dem sechsfach gereinigten Eisen zurückbleiben und dessen Hämmerbarkeit und Festigkeit beeinträchtigen. Aber diese Unreinheit ist nur noch chemisch von Bedeutung, für praktische Zwecke im Großen ist das dreifach gereinigte Gußeisen und das sechsfach gereinigte, drei Mal stärkere und elastischere Schmiedeeisen gut und praktisch. Das Haupthinderniß bleibt also immer noch die Kostbarkeit dieser sechsfachen Reinigung mit dem üblen Umstände außerdem, daß in den großartigsten Anstalten nur immer geringe Quantitäten auf einmal „gepuddelt“ werden können.

Um die Paulskirche in London läuft ein Eisengitter, das blos 7000 Pfund Sterling zu puddeln kostete. (Ich weiß nicht, ob der Ausdruck in Deutschland den bestimmten Sinn hat, wie in England. Hier versteht man unter dem „Puddling“-Prozeß die Ausreinigung des geschmolzenen Eisens oder Gußeisens zu einem hämmerbaren Zustande durch Austreibung von etwa vier Prozent Kohlenstoff.)

Diese 7000 Pfund Sterling Kosten würden sich unter dem Bessemer’schen Verfahren auf 230 Pfund reducirt haben.

Diese beiden Zahlen machen die ungeheuere Wichtigkeit der Bessemer’scher Erfindung mit einem Schlage Adam Riese’s anschaulich. Sie ist sehr einfach, wie alles Große, nicht nur thatsächlich aus der Luft gegriffen, sondern besteht auch thatsächlich blos aus Luft, welche durch die zum ersten Male geschmolzene Eisenerzmasse gleich mit solcher Macht und Masse getrieben wird, daß sich nichts in dem kochenden, sprudelnden, unreinen Brei halten kann, als blos das noble, solide Eisen. Luft, blos überall umsonst zu habende Luft für fünf Fegfeuer, die an Holz oder Kohlen jedes Mal einen kleinen Wald auffressen, abgesehen von der verzehrenden Hitze der Arbeit, der Kostbarkeit dazu gehöriger Lokale, Oefen und sonstiger Materialien. Nach Bessemer’s Erfindung wird die zum ersten Male geschmolzene Eisenerzmasse in ein Becken geleitet mit Löchern unten ringsum, durch welche aus ein paar mächtigen, dampfgetriebenen Blasebälgen Luft in die unreine, flüssige Eisenmasse gezwungen wird, so daß sie furchtbar aufkocht und statt sich durch diesen fürchterlichen Luftzug abzukühlen, nur immer hitziger und leidenschaftlicher quackert und gurgelt, weil der Luftstrom den bisher in Eisen gebundenen Kohlenstoff losreißt und entflammt mit sich fortreißt, so daß der schädliche Bestandtheil sich im Augenblicke seiner Entbindung immer sofort zu einem thätigen, brennenden Heiz- und Schmelzmaterial verwandelt. Zuerst brechen brennende Flammenbüschel und feuerspeiende Krater aus den Oeffnungen des Beckens oben hervor; dann schwillt die kochende Flüssigkeit innerhalb und schickt mit der hindurchrasenden Luft die nicht eisernen Bestandtheile, alle Unreinigkeiten auf die Oberfläche, wo sie sich wie eine erdige Kruste ansammeln. Schwefel und Phosphor müssen im Verbrennungsprozesse mit der Luft in die Luft hinaus. Kurz nach einer gehörigen Durchkochung und Durchblasung bleibt Eisen zurück, welches nach diesem einen Prozesse reiner ist, als sonst nach den üblichen sechs, d. h. aber, wenn das „wenn“ und „aber“ dabei gut gerathen sind. Das so rein geblasene Eisen hängt in seiner Qualität von der Dauer und Energie ab, womit Blasius hindurchfuhr und mitnahm, was nicht in die solide, noble Masse gehörte. Davon hängen nicht nur die verschiedenen Eisenarten ab, wie Gußstahl, Hartstahl und weiches Schmiedeeisen, sondern auch der Umstand, ob’s hernach überhaupt brauchbar sei. Die Operation ist eine große, grobe, aber zugleich auch eine sehr feine, die nur durch feine Praxis und genaue wissenschaftliche Einsicht gesichert werden kann.

Mr. Bessemer behauptet, in diesen Prozessen der Reinigung, d. h. der Verwandlung des Eisens zu verschiedenen Verbindungen mit weniger und weniger Kohle (Gußstahl, Hartstahl, Schmiedeeisen) eine Stufe sichern zu können, die er Halbstahl nennt, härter wie Schmiedeeisen und weniger zerbrechlich, als Stahl, welches für Zwecke, wo Leichtigkeit, Stärke und Dauerhaftigkeit vorzüglich erforderlich sind (also bei allen architektonischen Zwecken, für welche das Eisen in geometrischen Proportionen zunimmt), von der größten Wichtigkeit sein wird.

Das ist Bessemer’s Erfindung. Einige Minuten lang Luft in das erste Fegfeuer einblasen, und die andern fünf sind als unnöthige Eisen- und Brennmaterial- und Arbeiterquälerei gestrichen. Bester Stahl, jetzt bis 30 Pfund Sterling die Tonne, wird in jeder beliebigen Menge für ein Fünftel des Preises zu haben sein. Schmiedeeisen wird um ein Drittel des Preises fallen. England wird direkt jährlich 15 Millionen Pfund Sterling an Eisenproduktion sparen, d. h. es kann für 5 Millionen Pfund Sterling jährlich mehr produciren, ohne das Anlagekapital zu vergrößern. Das heißt für England noch viel mehr. Es bezieht sein gutes Eisen bis jetzt von Schweden, Rußland u. s. w. für 20 bis 30 Pfund per Tonne. Dies wird England mit Bessemer’s Prozeß für 6 bis 8 Pfund per Tonne selber und besser machen. Dies gibt eine Handels-, eine Kulturrevolution von der unermeßlichsten „Tragweite.“

Um die hiermit im Allgemeinen gegebene Sache noch in ihren Einzelheiten anschaulich zu machen, verweisen wir auf unsere Abbildung eines patentirten Bessemer’schen Apparates. Der Hauptschmelzofen ist wie andere construirt, und besteht aus einem gußeisernen Außenmantel und einer gemauerten innern Haut. Wir sehen auf der Abbildung beide Kopieen seiner Anstalt in Baxter-House, H. Pancras, London. Der Ofen in der Mitte ist der äußere, oben rund, gebaut auf ein starkes Fundament von Steinen. Die innere Konstruktion wird durch Sektionen, die drei abgezeichneten Durchschnitte, anschaulich. Der Schmelzofen besteht aus einem obern und untern Stockwerke. Die geschmolzene Eisenmasse wird durch eine Seitenöffnung in der Mitte aus dem Schmelzofen in den Reinigungsapparat geleitet. Unten in letzterem ist eine ähnliche Oeffnung zur Ableitung des gereinigten Metalls. Die Luft wird durch fünf Röhren von Unten hineingezwungen. Sie drückt mit etwa 10 Pfund auf jeden Geviertzoll, hinreichend, um sie durch die geschmolzene Masse hindurchzutreiben, und sie mit allen bewegten, kochenden, kleinsten Theilen derselben reinigend und ausbrennend in genaue Berührung zu bringen und die brennenden und chemisch sich zersetzenden fremden Bestandtheile mit furchtbarer Gewalt aus den beiden Oeffnungen oben mit sich fortzureißen. Die Richtung der Luft und der von ihr ergriffenen Unreinigkeiten ist durch Pfeile in dem zweiten Querdurchschnitte angezeigt.

Wir sehen unter No. I.: 1) Röhre für die Flamme aus dem Eisen; 2) Oeffnung zum Entweichen derselben; 3) Behälter für das geschmolzene Metall; 4) Eisen zur Weißglühhitze gebracht und geschmolzen; 5) Oeffnung zur Einführung des Metalls aus dem Schmelzofen; 6) Oeffnungen zur Einführung der Luft; 7) eine zweite der Art; 8) innerer Mantel; 9) Zapfen zur Ableitung des gereinigten Metalls.

II. B. Behälter für das geschmolzene Eisen; C. Luftröhre; D. Zapfen.

III. 1) Aeußerer Mantel; 2) innerer Mantel; 3) Luftweg durch die geschmolzene Masse; 4) Luftröhre in Verbindung mit einem Apparate zum Pumpen ; 5) Zapfen; 6) Luftweg in Verbindung mit B, den Behälter für die geschmolzene Masse vermittelst der hier eingezeichneten Röhren; 7) Ausweg für die Luft und die Unreinigkeiten.

Vermittelst dieser Verbildlichung wird die merkwürdige, bisher verwickelte, kostbare, schwere Arbeiten einem einfachen chemischen Prozesse überweisende Verwandelung des Roheisens in Schmiedeeisen und Stahl einleuchtend. Man sieht, daß der Apparat neben einem ordinären Schmelzofen steht, aus welchem die geschmolzene Eisenerzmasse in den patentirten Apparat geleitet wird. Hier wird durch mächtig eingezwungene Luft eine ganze Reihe reinigender und ausscheidender chemischer Prozesse durch die höchste Temperatur auf die hitzigste und schnellste Weise hervorgerufen, die bei kalter Luft entweder gar nicht möglich sind, oder viele Jahre brauchen würden, um zu vollenden, was hier in 20 bis 30 Minuten gründlich abgemacht wird. Der Sauerstoff der eingeführten atmosphärischen Luft bemächtigt sich zuerst der in Eisen versteckten Kohle und führt sie unter Entwickelung der heißesten Flamme als Kohlensäure mit sich fort. Dadurch wird zugleich kohlenstoffgebundenes Eisen frei, welches zum Theil mit Sauerstoff sich verbindend verbrennt, d. h. schnell verrostet oder zu Eisenoxyd wird. Aber so schnell und unter [675] solcher Hitze in Rost verwandelt, hat es in der hindurchbrausenden Luft keinen Augenblick Ruhe, sondern wird in der geschmolzenen Masse umhergetrieben und unterstützt dadurch die Ablösung anderer fremder Bestandtheile vom Eisen. Das flüssige Eisenoxyd scheuert und wäscht namentlich das Silicium (Kiesel) des Eisens von jedem Atome ab, und reißt es in der flammend brausenden Luft mit fort. Ebenso geht’s dem Schwefel, der bei niederer Temperatur ganz besonders hartnäckig am Eisen hängt, jetzt aber von den feurigen Armen des Sauerstoffs als schwefelsaures Gas an die Luft gesetzt wird.

Dieser Lüftungsprozeß wird etwa 20 bis 30 Minuten fortgesetzt, um hämmerbares gutes Eisen zu gewinnen. Zwanzig bis dreißig Minuten! Ja, da liegt der Haken. Manchmal kömmt’s auf eine Minute an. Bei der ungeheuern Feurigkeit und Schnelligkeit der chemischen Prozesse kann eine Minute zu lange Alles verderben, und die ganze Masse in spröde, krystallinische, unbeugsame zerbrechliche Schlacke verwandeln. Das Schlimmste ist, das die rechte Zeit nicht vom besten Chronometer gemessen werden kann. Sie hängt von der Masse des Eisenbreies, der Energie der Blasebälge und deren Luftzufuhr und andern Kleinigkeiten ab. Das läßt sich jedoch von feiner Beobachtung, Wissenschaft und deren Instrumente, mit denen man Quantitäten und Qualitäten der Körper auf’s Genaueste messen und reguliren kann, Alles überwinden.[2]

Und so steht zu hoffen, daß wir „fünffaches Eichenholz“ sehr wohlfeil als Bauholz und Mauerwerk, und tausenderlei wohlfeile Werkzeuge der Freiheit über die Erde und ihre Gewalten, der Fülle und Schönheit des Lebens, aus dieser Erfindung hervorquellen sehen.

„Heiland soll das Eisen sein,“ sang ein deutscher Dichter. Und ein anderer:

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte!“




  1. Deutet auf ein unglückliches Liebesverhältniß in Königsberg.
    Anmerk. d. Redaktion.
  2. Wie es scheint, ist bereits diese Schwierigkeit überwunden und Bessemer’s Erfindung durch eine sicherere von Uchatius in Wien, Eisenerz durch Schmelztiegel in Gußstahl zu verwandeln (in England bereits patentirt), geschlagen, um so mehr, als Bessemer’s Fegfeuer immer noch unvollkommen reinigen und namentlich Phosphor und Schwefel nicht ganz austreiben können.
    D. Redakt.


Blätter und Blüthen.



Aus Lengenfeld wird die Redaktion brieflich aufgefordert, den dortigen, so wie den im übrigen Medicinalbezirk L. wohnenden Lesern der Gartenlaube darüber Auskunft zu verschaffen, ob der Herr Bezirksarzt Dr. S. daselbst die Wissenschaft auf seiner Seite gehabt habe,

„indem er bei der Kirchenbehörde darauf angetragen hatte, daß sämmt-
„liche auf dem Friedhofe zu Lengenfeld stehende Bäume öffentlich ver-
„steigert und umgehauen werden, weil Bäume die Träger schäd-
licher Ausdünstungen seien.

Die Redaktion hat auf den Wunsch des Herrn Briefstellers dem Unterzeichneten diese Aufforderung zugefertigt, welcher hierauf Folgendes erwiedert:

„Aus dem Briefe geht hervor, daß die Bäume, etwa 20 an der Zahl, 30 bis 50jährige Linden, Kastanien und wilde Kirschbäume gewesen sind (denn dem bezirksärztlichen Gebote ist Genüge geschehen). Sie werden „die Träger“ schädlicher Ausdünstungen genannt, und damit ohne Zweifel entweder gemeint, daß die Bäume durch ihre Laubkronen das Entweichen der Fäulnißaushauchungen der Gräber, welche sich in den untern Luftschichten anhäufen, verhindern, sie gewissermaßen diese Aushauchungen in ihren Laubkronen festhalten; oder, daß die Bäume die in dem Boden durch die Wurzeln aufgesogenen Gase durch ihre Blätter in die Luft verbreiten. In einem wie im andern Falle ist die Wissenschaft anderer Meinung. Sie muß vielmehr sagen, daß die Bäume mit ihren tiefgehenden Wurzeln die Verwesungsstoffe als ihnen gedeihliche Nahrung aufnehmen, und dadurch wenigstens theilweise deren Empordringen und Mischen mit der atmosphärischen Luft verhindern. Die von den Wurzeln eingesogenen Stoffe werden aber von den Blättern nicht als solche wieder ausgehaucht, indem dieselben wesentlich blos Wasser in Gasform und Sauerstoff ausscheiden und in letzterem der Atmosphäre fortwährend das Element zuführen, welches allein das Athmen der Menschen und Thiere möglich macht (weshalb bekanntlich früher das Sauerstoffgas Lebensluft genannt wurde), während die Pflanze Kohlensäure (das Erzeugniß aller Verbrennungs- und Verwesungsvorgänge) als eins ihrer hauptsächlichsten Nahrungsmittel einsaugt, welche die Menschen und Thiere aushauchen. Dies ist das bekannte große Ausgleichungsgesetz zwischen den zwei organischen Reichen. Menschen und Thiere athmen Sauerstoff ein und hauchen Kohlensäure aus, bei den Pflanzen ist es umgekehrt. Kohlensäure ist jenen, in die Athmungswerkzeuge gebracht, tödtenden Gift, den Pflanzen ist sie gedeihliche Nahrung. – Durch Aushauchen der von den, Wurzeln aufgenommenen Gase können die Bäume also sicher nicht schaden, denn diese findet nicht statt.

Wären die Bäume unveränderliche, leblose, trockne Gebilde, wie es das erstorbene Laub, wenn es am Baume bliebe, während den Winters sein würde, so wäre es allerdings denkbar, daß in ihnen die schädlichen Aushauchungen eines Friedhofes festhaften könnten, denn die Luft besitzt in hohem Grade das Anhaftungsvermögen. Aber auch dann noch müßten wir die Luftströmungen hinwegdenken, welche nicht dulden, daß sich Gase in einem ihnen zugänglichen Raum dauernd ansammeln. Jeder Regen würde übrigens die an den todten Blättern anhaftenden Gase abwaschen, und in sich aufnehmen und als düngende Stoffe den am Boden wachsenden Pflanzen zuführen. Da wir nun obendrein wissen, daß die Pflanzen am Tage ohne Unterlaß Sauerstoff aushauchen (bei Nacht hauchen sie wie die Thiere Kohlensäure aus), der, wie es seine Eigenschaft, man könnte sagen, Leidenschaft ist, Alles zersetzt, so ist auch nicht anzunehmen, daß sich schädliche Ausdünstungen in dem Sauerstofflaboratorium, was eine Laubkrone ist, lange unverändert halten können. Ich kann deshalb die Bäume nicht für Träger solcher halten, und ist mir diese Auffassung derselben neu. In den pontinischen Sümpfen werden die Bäume als Luftreinigungsmittel angesehen.

Demnach muß ich, bis ich eines Andern belehrt werde, glauben, daß jene Bäume einer gut gemeinten, aber wissenschaftlich nicht gerechtfertigten Ansicht zum Opfer gefallen sind.

E. A. Roßmäßler.






Ein Affenstreich. Es war in schwüler Mittagsstunde unter der brennenden Sonne Indiens, als ein junger Engländer auf der Jagd zufällig an das stille Ufer eines abgelegenen Sees kam, wo seiner ein merkwürdiges Schauspiel harrte. Ein Patriarch des Urwaldes breitete seine mächtigen Aeste weit über das Wasser hinaus, und auf einem der untersten und stärksten lag in sich zusammengerollt eine Riesenschlange in sanftem Mittagsschlafe, während hoch über ihr ein kräftiger Pavian mit gespanntester Aufmerksamkeit das Nahen eines gewaltigen Krokodils beobachtete, das schlafend von der langsamen Strömung dem Baume zugetrieben wurde. In dem Augenblicke, wo das Krokodil gerade unter dem Aste durchkam, warf sich der Affe plötzlich auf die Schlange und stürzt mit ihr hinab auf den Saurier. Im Nu jedoch war er wieder am Ufer und auf dem Baume, von wo er in Sicherheit den weiteren Erfolg seines Streiches abwartete. Die beiden Ungeheuer, so heftig aus ihrem Schlafe aufgeschreckt, begannen sogleich einen Riesenkampf. Der Saurier hatte seine scharfen Zähne mitten in den Leib der Boa geschlagen, während diese den Gegner in ihren mächtigen Windungen zu erdrücken suchte und beide das bisher so stille Wasser in hohe schaum und blutbedeckte Wogen aufpeitschten. Je wilder der Kampf tobte, um so toller und freudetrunkner sprang der Affe auf dem Baume herum, kletterte herab bis dicht über die Feinde und weidete sich an dem Anblick ihrer Wuth und ihrer Schmerzen. Endlich ward es ruhig; die Schlange trieb zerrissen und leblos dahin, und auch den Krokodils Unbeweglichkeit ließ erkennen, daß es nicht minder besiegt als Sieger sei.

Mit Staunen und nicht ohne einiges Herzklopfen hatte der Jäger den ganzen Auftritt mit angesehen. Die fast teuflische List und Schadenfreude des Pavians reizte ihn jetzt, sich zum Rächer der beiden Opfer seiner Bosheit auszuwerfen und er sandte ihm daher zum Schlusse des Spieles eine Kugel zu; allein er fehlte, und höhnisch schnatternd entsprang der unverletzte Affe in den Wald. Wer weiß, ob er nicht selbst hier nur eine hochheilige Vehme an den Mördern seiner Verwandten geübt hatte?






Schuldisciplin in Dahomey. Eine der gebräuchlichsten und furchtbarsten Strafen für unfolgsame Jungen in Dahomey – dessen König einen sehr einträglichen Handel mit Weibern führt, die sammt und sonders sein Eigenthum sind – besteht darin, daß man ihnen rothem Pfeffer in die Augen reibt. Ihr Schreien und Brüllen bei dieser landesüblichen Operation übersteigt alle Vorstellung des Entsetzlichen, und es muß in der That auch Wunder nehmen, daß ihre Sehkraft nicht gänzlich dadurch zerstört wird. Doch ist kein Fall bekannt, wo ein dauernder Nachtheil aus dieser väterlichen Hinweisung auf den rechten Weg entsprungen wäre. Erwachsene Uebelthäter unterliegen zuweilen einer noch peinlichern Strafe ähnlicher Art: sie werden nämlich an Händen und Füßen unter dem Dache ihrer Hütte aufgehängt, und nun wie ein Schinken gründlich mit Pfeffer geräuchert. Das schöne Geschlecht jedoch hat keinen Anspruch auf diese Procedur, ihm ist in ganz Westafrika -ausschließlich – das Prügeln vorbehalten.

Auf diese, bei uns doch allzu kostspielige Verwendung jenes Gewürzes bezieht sich denn wohl auch der oft gehörte Wunsch, durch welchen einem Mißliebigen zu verstehen gegeben wird, er möge sich doch lieber gleich selbst nach dem gesegneten Lande begeben, wo der Pfeffer daheim ist, und ohne unbilligen Aufwand seine Besserungskraft an ihm bewahren kann.






Amerikanische Sonntagsfeier im vorigen Jahrhundert. Bekanntlich hatten die puritanischen Voreltern der Neuengländer nicht nur die sämmtlichen Vorschriften der Pharisäer über die Sabbathfeier auf den christlichen Sonntag übertragen, sondern wo möglich sie noch verschärft, bis endlich jede menschliche Regung, geistig oder leiblich, an diesem Tage mit dem schwersten Anathema belegt war. Höchst schüchtern fangen endlich die Amerikaner, wie die Engländer, an, sich von diesem, dem Geiste des Christenthumes so widersprechenden äußerlichen Formenzwang zu emancipiren, und wenigstens sind jetzt Vorfälle wie der nachstehende weder diesseits noch jenseits den atlantischen Oceans mehr zu gewärtigen. [676] Einige Jahre vor Ausbruch des Streites zwischen den amerikanischen Kolonien und dem Mutterlande befand sich der Kapitain eines englischen Kriegsschiffes auf Station in Boston, von wo aus er zu Zeiten Kreuzfahrten machte, um den englischen Handel zu beschützen. Es traf sich unglücklicherweise, daß er von einer dieser Fahrten gerade an einem Sonntage heimkehrte; und da er seine Frau in Boston gelassen hatte, eilte sie ihm entgegen an den Strand, wo er bei seiner Landung sie zärtlich umarmte und küßte. Dies gab den umstehenden sauertöpfigen Bostonern gewaltigen Anstoß und wurde für eine grobe Unschicklichkeit und schwere Verletzung des Sabbaths angesehen. Der Kapitain wurde denn auch gleich den nächsten Tag vor den Magistrat gefordert, der ihn mit vielen strengen Vorwürfen und frommen Ermahnungen verurtheilte, öffentlich vierzig Streiche weniger einen zu empfangen Der Kapitain verbiß so weit möglich seine Entrüstung, und da diese Strafe, ihrer Häufigkeit wegen, keine besondere Unehre nach sich zog, lebte er wie vorher in der besten Gesellschaft und wurde überall freundlich empfangen.

Endlich war seine Stationszeit abgelaufen und er wurde zurückgerufen. Er ging daher mit anscheinender Bekümmerniß, um Abschied von seinen würdigen Freunden zu nehmen; und damit sie vor ihrer gänzlichen Trennung doch noch einen vergnügten Tag mit einander verlebten, lud er die vornehmsten Magistratspersonen und Stadtältesten für den Tag seiner Abfahrt zu einem Mittagsmahle auf seinem Schiffe ein. Sie nahmen die Einladung an, und nichts konnte heiterer und gemüthlicher sein, als das Fest, welches er ihnen bereitet hatte. Endlich erschien der fatale Augenblick, der sie trennen sollte: der Anker war gelichtet, die Segel waren aufgespannt, und nur das Zeichen zur Abfahrt fehlte noch. Nachdem er gerührt Abschied von ihnen genommen hatte, begleitete der Kapitain seine ehrenwerthen Gäste auf das Verdeck, wo der Hochbootsmann mit seinen Leuten schon zu ihrem Empfange bereit stand. Hier dankte er ihnen nochmals für alle Freundlichkeiten, die sie ihm erwiesen hatten und deren Erinnerung, wie er versicherte, ihm nie entschwinden werde. War es ihm leider auch nicht möglich, das Genossene entsprechend zu erwiedern, so bliebe doch noch eine Artigkeit zwischen ihnen auszugleichen, die, weil es in seiner Macht läge, er ihnen auf’s Genaueste vergelten wolle. Er erinnerte sie nun an das Geschehene, und nachdem er seinen Leuten gewinkt hatte sie zu binden, ließ er Einem nach dem Andern von dem Hochbootsmanne mit der neunschwänzigen Katze vierzig vollwichtige Streiche weniger einen aufzählen. Unter dem Jubelgeschrei der Mannschaft wurden sie hierauf schnell in ihre Boote gepackt, und mit vollen Segeln verließ der Kapitain den Hafen.




 Das Lied von den Rosen.

Wolken kamen gezogen,
Wo sinnend die Jungfrau stand,
Die hatten viel glühende Rosen
Dem Abendrothe entwandt.

Sprach die erste: „Rosen der Freude,
Die bring’ ich, du liebliches Kind,
Zu schmücken zwei schelmische Grübchen –
Nimm! sie verblühen geschwind.“

Die andere: „Rosen der Liebe,
Die hege am Herzen fein!
Dann strahlen dir Wangen und Auge
Im lieblichen Wiederschein.“

Und wie die beiden entflogen,
Da sprach die dritte recht mild,
Und reichte zwei schneeige Blüthen
Noch zart von der Knospe umhüllt:

Sieh hier des Schmerzes Rosen!
Wenn alle die andern verglühn,
Dann werden, im bleichen Schimmer,
Dir meine Blumen erblühn.“

 Hermann Schulze-Delitzsch.[WS 2]




Die Familie als Schule der Natur von Berthold Sigismund heißt ein Büchlein, welches als zweites Bändchen der bereits früher angekündigten „Bücher der Natur“ so eben erschienen ist. Eltern, denen die naturwissenschaftliche Bildung ihrer Kinder am Herzen liegt, möchten wir dieses eben so sinnig wie unterrichtend geschriebene Buch dringend empfehlen. Es wird Allen eine sehr willkommene Gabe sein. Jeder Erwachsene, wenn er auch Grimm’s Grammatik nicht studirt hat, lehrt sein Kind die Sprache. So kann auch jeder schlichte Mensch, der mit der Liebe zu seinem Kinde die Liebe zur Mutter Natur verbindet, sein Kind anleiten, mit der Natur zu verkehren, mit ihr zu reden, sie zu verstehen und zu lieben, wenn er nur offene Sinne und Lust am Lernen hat. Und reichlich belohnt wird er nicht nur durch den spätern Dank des Kindes, sondern auch durch die Freude des Augenblicks. Auge und Herz gehen dem Vater auf, wenn er sein Kind in die Natur einführt, und die seligste Naturfreude weht ihm auf jedem Spaziergange an. „Kein echter Forscher wird alt,“ hat Novalis schön gesagt; der Vater, der auch noch so laienhaft mit seinem Knaben an der Hand zur Natur in die Schule geht, wird selbst zum naiven, morgenfrischen, glücklichen Kinde. Das Büchlein lehrt nun, wie Eltern ihren Kindern die Naturwissenschaften einpflanzen können. Es werden darin keineswegs ideale Anforderungen an Eltern und Kinder gestellt, sondern nur Laien vorausgesetzt, die ihre Kinder so gut als die Natur lieben; Laien, die wissen, daß die süßeste Methode, versäumtes Studium nachzuholen, darin besteht, dasselbe mit den eignen Kindern zu treiben. Wir können das hübsch ausgestattete illustrirte Buch allen Eltern mit Ueberzeugung empfehlen.




Als schönstes Festgeschenke für alle Familienkreise

empfehlen wir die

Gartenlaube. Jahrgang 1855
geh. 2 Thlr.,
eleg. geb. in gepreßte Decke 2⅔ Thlr.

Aus dem reichen Inhalte dieses Jahrganges, der an Gediegenheit den früheren nicht nachsteht, führen wir nur einige vortreffliche Beiträge an. Derselbe enthält unter Anderem:

Novellen von Gerstäcker, Bernd v. Guseck, W. O. v. Horn, Louise Otto, Elise Polko, A. Schrader, Ludwig Storch, A. Temme, (Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder), Feodor Wehl u. m. A.

Eine große Reihe Aufsätze von

Professor C. Bock über den menschlichen Körper im gesunden und kranken Zustande,

Naturwissenschaftliche Aufsätze und populär-chemische und physikalische Mittheilungen von Dr. H. Hirzel, Karl Müller, Prof. E. A. Roßmäßler, Dr. Willkomm,

Kulturgeschichtliche Bilder und Mittheilungen über Erziehungswesen von Prof. K. Biedermann,

Musikalische Briefe von Prof. J. C. Lobe,

Schilderungen – Reiseskizzen – Jagdabenteuer – Lebens- und Verkehrsbilder aus London, von Beta – Originalmittheilungen vom russisch-türkischen Kriegsschauplatze, mit Abbildungen – Briefe aus Amerika – Pariser Bilder und Geschichten – Schilderungen aus dem Volksleben – Interessante Mittheilungen aus Asien und Afrika – Skizzen aus Ungarn etc.,

Biographien und Charakteristiken mit vortrefflich ausgeführten ähnlichen Portraits von
Barth und Overweg – Beranger – George Cuvier – Goethe’s Eltern – Iskander Bei – Heinrich König – Palmerston – Jean Paul – Pelissier – Schiller in Volkstädt – Schiller’s Eltern – Schiller’s Frau – v. Schön – K. Simrock – Freiherr v. Stein – Max Waldau (Georg Spiller v. Hauenschild).

Von den zahlreichen künstlerisch-schön ausgeführten Illustrationen nennen wir nur folgende:

Die russische Armee – Die Bersaglieris – Des Adlers Horst – Das Castell der Semiramis in Wan – New-York aus der Vogelschau – Der Krim-Palast des Fürsten Woronzow – Rekrutenwerbungen in England – Die Krim aus der Vogelschau – Der Palast der Industrie-Ausstellung in Paris – Marseille – Ungarische Haideschenke – Galileo Galilei – Sebastopol und der Kampfplatz vom Fort Konstantin aus gesehen – Brest – Baschi-Bozuks vor einem Ueberfall – Helgoland – Verwundeten-Transport der Alliirten nach der Schlacht – Der Comer-See und seine Umgebung – Der Ocean auf dem Tische – König Ludwig von Baiern und Kaulbach – Aus dem Kampfe in der Krim – Französische Garde-Kürassiere – Odessa – Des Hochländers Rache – Sebastopol, Süd- und Nordseite.




Für die langen Winterabende ein Buch der Belehrung und Unterhaltung wie kein zweites.

 Leipzig, im December 1856.
Die Verlagshandlung.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Verbrenung.
  2. Vorlage: Schulz-Delitzsch