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Die Gartenlaube (1856)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 26. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Mesmer in Wien.
Von L. Mühlbach.
(Schluß.)

Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich jetzt wieder ausschließlich der Künstlerin zugewandt, und mit bewundernder Theilnahme folgte man ihrem herrlichen Spiel und dem meisterhaften Vortrag dieses erhabenen Trauermarsches aus Gluck’s Orpheo.

Auf einmal stockte sie und hielt mitten in einem angefangenen Takt inne. Ihre Augen hefteten sich mit entsetztem Ausdruck bald auf die Noten, bald auf ihre Hände, welche mit hastiger Beweglichkeit über die Tasten hin und her fuhren. Ihr Vater, welcher neben ihr stand, und ihr die Notenblätter umgewandt hatte, betrachtete sie mit einem kalten, spöttischen Blick. Er sah die tödtliche Angst, die aus ihren Mienen sprach, er sah, wie sie bleich geworden war, und mit einem Ausdruck des Entsetzens ihre hüpfenden Finger betrachtete. Jetzt schien sie sich innerlich zusammenzuraffen und fest und sicher spielte sie weiter. Aber nur wenige Takte, alsdann stockte sie abermals, und ein vollkommener Mißton unterbrach ihr Spiel.

Therese schauderte, sie wagte es nicht, hinüber zu sehen nach Mesmer, der unbeweglich, mit niedergeschlagenen Blicken da stand; mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen.

Aber nun auf einmal schien wieder Leben und Kraft sie zu durchströmen und mit erneuerter Energie spielte sie weiter. Wie Schmetterlinge flatterten jetzt ihre Hände über die Tasten hin, wie Perlen rollten die Läufe auf und nieder und dazwischen, in mächtigen, vollen Accorden ertönte die feierliche, majestätische Melodie des Trauermarsches.

Das Publikum, ganz hingerissen von Bewunderung, war kaum noch im Stande, seinen Enthusiasmus zurückzuhalten und die Künstlerin nicht mitten im Spiel mit einer Beifallssalve zu unterbrechen.

Plötzlich aber legte Herr von Paradies seine Hände mit einer ungestümen Bewegung auf die kunstfertigen Finger seiner Tochter, und machte sie verstummen.

„Du spielst schon seit langer Zeit nicht mehr die Noten, welche dastehen!“ rief er entsetzt. „Das, was Du da spielst, ist eine freie Phantasie aus der Oper „Orpheo“, aber es ist nicht der Trauermarsch, der hier vor Dir liegt. Ich frage das verehrte Publikum, ob ich Recht habe, oder ob das wirklich der berühmte Trauermarsch ist, den wir Alle kennen, und der hier auf dem Pulte steht?“

Eine tiefe Stille trat ein, dann sagte eine ernste Stimme: „Nein, das war nicht der Trauermarsch, aber es war eine schöne und herrliche Zusammenstellung von Melodien aus dem Orpheo.“

Herr von Paradies stieß einen Schrei aus, und mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes die Arme um den Nacken seiner Tochter legend, rief er: „O, mein armes, geliebtes Kind, es ist also doch wahr, was ich so lange und mit so bittrem Schmerz befürchtete! Das Wunder bestätigt sich nicht, und meine arme geliebte Therese ist blind und wird blind bleiben so lange sie lebt!“

„Vater!“ schrie Therese, entsetzt emporspringend, „Vater, Du weißt –“

„Ich weiß, daß Du blind bist,“ rief er, sie unterbrechend, und sie fest in seine Arme drückend. „Komm, meine arme Therese, komm, und weine nicht! Verzage auch nicht, noch ist Dein Vater da, der wird Dich stützen und führen, und Dir seine Augen leihen und für Dich sehen. O, mein Kind, mein Kind, Gott vergebe es Denen, welche in unsern Herzen so trügliche Hoffnungen entzündeten! Jetzt ist Alles verloren, Alles hin! Du bist und bleibst blind, und Dein armer Vater kann nur über Dich weinen.“

Das Publikum hatte mit tiefer Rührung diesem glühenden und schmerzlichen Ausbruch der väterlichen Zärtlichkeit zugehört, hier und da sah man die Damen ihre Batisttücher an die Augen drücken, hörte man halblaute Worte der Theilnahme.

Nur Herr Professor Barth ließ sich nicht fortreißen von der allgemeinen Rührung, und als er an dem erbleichten Antlitz seines Freundes Ingenhaus gewahrte, daß auch dieser voll Mitgefühls für den schmerzbewegten Vater sei, flog ein höhnisches Lachen über seine harten Züge hin.

In diesem Augenblicke tönte ein gellender Schrei von Theresens Lippen, mit Ungestüm suchte sie sich aus seinen sie umschließenden Armen frei zu machen.

„Vater, laß mich los!“ rief sie. „Ich bin nicht blind, ich bin geheilt! Mesmer hat mir mein Augenlicht wieder gegeben, und ich kann sehen, aber was ich sehe, ist fürchterlich, o fürchterlich!“

Und mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie ohnmächtig wieder zurück in die Arme ihres Vaters.

Er hob sie in seine Arme empor, sein bleiches, schmerzzuckendes Antlitz mit einem flehenden Ausdruck dem Publikum zuwendend, grüßte er es zum Abschied mit einer leichten Bewegung des Hauptes, und schwankte dann mit seiner rührenden und traurigen Last der Ausgangsthür des Saales zu.

Das Publikum blickte ihm schweigend und tief gerührt nach, bis die Thür hinter ihm geschlossen, dann erhoben sich Alle mit geräuschvollem Stuhlrücken. – Das Schauspiel war zu Ende, aber [338] der Streit nicht, und wie Herr Professor Barth mit Ingenhaus langsam durch die Menge, die sich dem Ausgang zudrängte, sich Bahn machte, hörte er zu seinem Verdruß gar viele und angesehene Personen, welche erklärten, daß sie vollkommen überzeugt worden von der Heilung der Blinden, und daß sie keinem Zweifel mehr unterliegen könne, daß Mesmer ihr wirklich das Augenlicht wieder gegeben habe.




IV.
Die Katastrophe.

Erst nach stundenlangem Bemühen gelang es, Therese aus ihrer tiefen Ohnmacht zu erwecken; man hatte sie sanft auf den Divan ihres Zimmers gebettet, und ihre Mutter hatte leise weinend voll zärtlicher Sorge sich um sie beschäftigt, während ihr Vater mit grollenden Mienen, mit finstern Blicken neben dem Divan stand und das Erwachen Theresens erwartete.

Mit einem tiefen Seufzer schlug sie jetzt die Augen auf und blickte befremdet und verwundert umher. „Wo bin ich?“ flüsterte sie leise.

„Du bist in Deinem Zimmer, Du bist bei Deiner Mutter,“ rief ihre Mutter, sich über sie neigend, und ihr Antlitz mit Thränen und Küssen bedeckend.

„Nein, nein, ich bin im Concertsaal,“ flüsterte sie, matt und wie im Traum, „da sitzen sie Kopf an Kopf gedrängt und stieren mich an mit diesen kalten, neugierigen Dolchen, welche sie Augen nennen, und die meinem Herzen so wehe, ach, so wehe thaten. Da sitzen sie und klatschen in die Hände wie die Wilden aus kindischer Freude über die Thränen und Seufzer meiner Seele, welche sich zu Musik krystallisirten. Aber ich muß spielen, ich muß! Laßt mich los, ihre Augen sind auf mich gerichtet und höhnen mich! Läßt mich! Ich bin nicht mehr ohnmächtig! Laßt mich wieder zum Flügel gehen und spielen!“

Sie wollte sich aufrichten, aber ihr Vater drückte sie in die Kissen zurück. „Bleibe, mein armes Kind, bleibe,“ sagte er mit vor Rührung zitternder Stimme. „Du irrst Dich, Du bist nicht mehr im Concertsaal, und wenn Du sehen könntest, würdest Du erkennen, daß Deine Mutter Dich nicht täuscht, daß Du wirklich in Deinem Zimmer bist. Aber ach, mein armes Kind, es ist vergeblich, uns noch länger zu belügen, habe doch Vertrauen zu Deinen Eltern, gestehe es uns nur, Du hast, nur Mesmer zu gefallen, uns die Wahrheit verborgen, aber Du bist nicht geheilt, die Kur ist nicht gelungen, Du bist blind.“

„O, mein Gott, seine Worte und seine Stimme klingen wie Wahrheit, und doch weiß er, daß er eine Lüge spricht,“ rief sie mit durchdringendem Schmerzensschrei, indem sie mit unwiderstehlicher Gewalt sich von dem Divan aufrichtete, und gerade und frei sich ihren Eltern gegenüber stellte. „Ich weiß jetzt Alles, Alles,“ fuhr sie athemlos fort. „Die Ohnmacht hielt vorher noch meine Sinne gefangen, jetzt aber bin ich erwacht und sehe Alles! Ja, mein Vater, ich sehe! Ich sehe dort am Fenster die blühenden Topfgewächse, welche Mesmer mir gestern brachte, dort drüben steht mein Flügel und die schwarzen und weißen Tasten scheinen mir zu winken und mich zu sich zu rufen. Zwei aufgeschlagene Bücher liegen auf dem mit einem schweren bunten Teppich bedeckten Tisch, der in der Mitte des Zimmers steht, daneben liegen Zeichnungen, Malereien und Kupferstiche. O, mein Vater, sage, ob ich das Alles nicht richtig gesehen, und nicht richtig bezeichnet habe!“

„Du weißt, daß es so aussieht in Deinem Zimmer,“ sagte ihr Vater achselzuckend, „und deshalb ist Deine Schilderung richtig.“

„Und dann,“ fuhr sie athemlos fort, „dann sehe ich auch Euch Beide! Ich sehe das liebe, sanfte Antlitz meiner Mutter, welches mit zärtlicher Theilnahme mir zugewandt ist, und deren liebe, milde Augen um mich geweint haben! Ich sehe das strenge ernste Antlitz meines Vaters; dieselbe Wolke, welche schon im Concert seine Züge umdüsterte, lagert noch auf demselben, und es ist mir, als ob aus seinen Augen ein böser, fremder Dämon mich anschauete. Was ist das, mein Vater? Was hat Dich plötzlich so verändert und umgewandelt, daß Du Deine Therese nicht mehr liebst, daß Du ihr Verderben willst und ihr Glück verleugnest?“

„Ich will nicht länger das Spielwerk eines Betrügers sein,“ antwortete ihr Vater finster. „Ich will nicht, daß ganz Wien mich als einen gläubigen Narren verlache, der an die lächerlichen Wunderkuren des Herrn Mesmer glaubt, während alle Welt den Charlatan durchschaut. Ich will endlich den Muth haben, es laut zu bekennen, daß wir betrogen sind, daß Therese noch immer blind ist!“

Ein gellender Schmerzensschrei tönte von Theresens Lippen, ihre ganze Gestalt erbebte wie im Krampf des Schmerzes.

„Nein, es ist nicht wahr, ich bin nicht blind!“ rief sie außer sich. „O mein Gott, erbarme dich mein, sende mir Hülfe in meiner Noth! Ich bin allein, ganz allein, Mesmer, Mesmer –“

Auf einmal verstummte sie, und ihr Antlitz nahm einen freudigen Ausdruck an, ihre Wangen übergoß ein süßes Erröthen. Mit vorgebeugtem Kopf, die halb geöffneten Lippen von einem seligen Lächeln umspielt, die weit geöffneten strahlenden Augen der Thür zugewandt, schien sie zu horchen und auf ein kommendes Glück zu lauschen. Jetzt erbebte ihre ganze Gestalt, und wie durchschauert von Glück murmelte sie leise:

„Er kommt, er kommt!“

Die Thür ward hastig geöffnet und Mesmer’s hohe, gebieterische Gestalt erschien auf der Schwelle. Mit einem Freudenschrei flog Therese zu ihm, und mit glühender Gewalt seine beiden Hände ergreifend, zog sie ihn vorwärts.

„Kommen Sie, Meister,“ sagte sie athemlos. „Jetzt ist Alles gut, jetzt sind Sie da, und Niemand kann mir mehr etwas anhaben. Ihre Hände werden mich schützen, Ihr Arm wird mich aufrecht halten.“

Sie schmiegte sich an ihn und lächelte selig, als er sanft seinen Arm um sie legte, und dann mit seiner Rechten leise aber ihr Antlitz hin fuhr. Ihre großen Augen zu ihm aufschlagend, schaute sie tief in die seinigen, die fest auf ihr ruhten.

„Ich lese in Ihren Blicken, Meister, daß Sie nicht mit mir zufrieden sind?“ fragte sie angstvoll. „Ja, Sie zürnen mir, weil ich mich heute im Concert so kindisch und ungeschickt benahm. Ich weiß es wohl, Meister, es war thöricht und linkisch, aber wie ich den Saal durchschritt und plötzlich ausschauend diese vielen Köpfe erblickte, diese vielen neugierigen, feindlichen Gesichter, diese Blicke, die wie Nadelstiche meine ganze Gestalt verwundeten, da kam die alte Angst wieder über mich und das Entsetzen vor den Menschengesichtern, und da schien es mir wieder, wie ich vorwärts schritt, als ob die Wände mir entgegen kämen, um über mir zusammenzustürzen, und ich konnte nicht vorwärts, denn ich fürchtete den Tod.“

„Und was war es, was Sie im Spiel auf einmal beunruhigte?“ fragte Mesmer sanft.

„O, das war wieder kindisch,“ sagte sie lächelnd. „Ich kann es immer noch nicht lernen, von den Noten zu spielen und dann wieder meine fliegenden, zappelnden Finger zu sehen. Das verwirrt mich, das macht mich befangen, die Noten und die Finger hüpfen dann wie im wilden Tanze durcheinander, und ich weiß nicht mehr, was ich spiele und was ich sehe.“

„Und das Alles ist so natürlich und so wahr,“ sagte Mesmer traurig, „denn auch das Sehen hat seine Sprache und die müssen Sie erst lernen! Aber man wird Ihnen keine Zeit dazu lassen, armes Kind, man wird Sie wieder hinein zwingen in die Nacht und das Schweigen, meine arme Therese!“

Sie warf ihre beiden Arme um seinen Nacken, und hielt sich krampfhaft fest an seiner hohen Gestalt. „Retten Sie mich, Meister, retten Sie mich!“ rief sie flehend.

Er neigte sich über sie und streichelte ihr Haar, und ließ seine strahlenden Blicke lange auf ihrem Antlitz ruhen.

An der andern Seite des Zimmers stand Herr von Paradies und neben ihm seine Gattin, welche in tiefer Bewegung ihrer Tochter zugehört hatte, und jetzt leise ihre Hand auf ihres Gatten Arm legte.

„Sage mir, was dies Alles zu bedeuten hat?“ flüsterte sie leise. „Was quälst und marterst Du die Arme so sehr? Was leugnest Du auf einmal, daß sie sehen kann, da Du doch –“

„Still,“ unterbrach sie ihr Mann leise. „Höre nur dies, wenn Therese nicht mehr blind ist, werden wir die kaiserliche Pension verlieren, und können mit unsern Kindern betteln gehen!“

„Ach, arme Therese,“ flüsterte seine Frau tief aufathmend. „Arme Therese, jetzt weiß ich Alles! Du wirst blind bleiben müssen Dein Leben lang.“

„Ich bin gekommen zu Ihrer Hülfe, Therese,“ sagte Mesmer jetzt, nachdem Therese von seiner Hand beschwichtigt, wieder still [339] und sanft geworden war. „Ich weiß Alles, was hier vorgeht,“ fuhr er fort, seine zürnenden Blicke auf Theresens Eltern heftend. „Sie wollen dieses arme Kind wieder zurückstoßen in ihre Nacht. Aber so schnell soll es Ihnen nicht gelingen. Meine Ehre, mein Name, meine Zukunft und das System einer neuen Wissenschaft, deren Vertreter ich bin, steht auf dem Spiel. Ich werde für Therese und für mich selber kämpfen gegen Ihre Grausamkeit. Sie wissen es, daß diese Aufregungen, diese Kämpfe geeignet sind, Therese wieder blind zu machen, und Sie werden sie doch nicht schonen! Ich bin also gekommen, sie von hier fortzuführen, und sie mit mir in meine Villa zu nehmen zu meinen andern Kranken. O, seien Sie ruhig. Niemand wird dabei etwas Anstößiges finden, denn Therese wird da sein unter dem Schutz meiner Frau, der ich heute zum ersten Mal vergebe, daß sie meine Frau ist, denn sie macht es mir möglich, Therese zu beschützen und über ihr zu wachen, auf daß sie vollständig gesunde. Therese, mein Wagen wartet vor Ihrer Thür. Sind Sie bereit, mit mir zu gehen und bei mir zu bleiben, bis Ihre Kur vollendet ist und Ihre Augen stark genug sind, um das Weinen und die Menschengesichter vertragen zu können?“

„Aber ich werde es nicht dulden!“ sagte ihr Vater, heftig näher schreitend. „Therese ist meine Tochter, und Niemand als ich allein hat zu entscheiden, was mit ihr geschehen soll. Therese verläßt mein Haus nicht, sie bleibt unter dem Schutze ihrer Eltern!“

„Sie geht mit mir!“ sagte Mesmer mit einer Stimme, welche mächtig war wie Donner. „Ihr habt sie in meine Kur gegeben, und so lange sie krank ist, gehört sie ihrem Arzte. Komm Therese, ich trage Dich zum Wagen!“

Leicht wie eine Feder hob er sie empor, und wandte sich mit ihr der Thür zu. Mit einem Ausruf des Zornes stürzte Herr von Paradies ihm nach, während seine Frau zur Erde niedergesunken war und betete.

Wie Mesmer eben die Thür öffnen wollte, stand Herr von Paradies vor derselben, und deckte mit seinem Rücken den Ausgang.

„Lassen Sie uns gehen!“ rief Mesmer glühend und mit flammenden Blicken.

„Gehen Sie, aber lassen sie meine Tochter hier!“

„Nein, sie geht mit mir! Ihr sollt sie nicht wieder blind machen!“

Er suchte mit dem rechten Arm, welchen er frei hatte, während Therese in seinem linken Arm ruhte, Herrn von Paradies von der Thür fortzudrängen. Als dieser sich widersetzte, drang ein wildes, spöttisches Lachen von Mesmer’s Lippen, die Riesengestalt richtete sich in ihrer ganzen Größe auf, sein starker, muskelkräftiger Arm hob die kleine zierliche Gestalt des Herrn von Paradies empor, und schleuderte sie weit hinein in das Zimmer.

„Lebt wohl und fürchtet nichts,“ rief er mit lauter Stimme, „Therese bleibt bei mir! Aber noch ist Euere Pension nicht verloren, noch könnt Ihr ja sagen, daß sie blind ist, denn ich nehme sie mit mir, um sie zu heilen!“

Aber alle Bemühungen und Kämpfe Mesmer’s waren vergeblich.

Das Schreckbild der gefährdeten Pension machte Herrn von Paradies grausam und unempfindlich gegen die Thränen seiner Tochter, gegen die Versicherungen Mesmer’s, daß er Therese für immer zu heilen im Stande sei, wenn man sie nur noch einige Zeit seiner Pflege und Aufsicht anvertrauen wollte.

Herr von Paradies hatte kein Mitleid mehr, Therese mußte durchaus blind bleiben, damit ihre Eltern den Genuß der Pension behielten. Er jammerte und klagte laut in ganz Wien, daß Mesmer ihm seine Tochter geraubt habe und sie ihm vorenthalte; bald nahm ein Theil des Publikums Partei für ihn, und suchte Alles in Bewegung zu setzen, um dem unglücklichen und zärtlichen Vater wieder zum Besitz seines geliebten Kindes zu verhelfen. Herr von Störk, der Leibarzt der Kaiserin, wußte endlich, gedrängt von den Aerzten und den Gönnern des Herrn von Paradies, einen kaiserlichen Befehl zu erwirken, dem gemäß Mesmer das Fräulein Therese von Paradies wieder ihrem Vater übergeben sollte.

Mit diesem schriftlichen Befehl begab sich Herr von Paradies in Begleitung seiner Frau in das von Mesmer bewohnte und ihm gehörige Haus, und forderte seine Tochter zurück. – Eine herzzerreißende Scene war die Folge davon. Therese in Thränen zerfließend, warf sich ihrem Vater zu Füßen, und flehte um Gnade, und schwur, daß sie wirklich sehen könne, wirklich geheilt sei! Als er unempfindlich blieb gegen ihr Flehen, rettete sie sich in Mesmer’s Arme.

„Ihr Vater“, erzählt Mesmer selbst, „wollte sie mit Gewalt wegnehmen und drang mit dem Degen in der Faust wie ein Rasender auf mich ein. Man entwaffnete diesen Wüthenden, aber Mutter und Tochter fielen mir ohnmächtig vor die Füße, die erstere vor Zorn und Schmerz, die letztere, weil sie ihr barbarischer Vater mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen hatte. Die Mutter erwachte bald wieder, aber wegen des Schicksals der Tochter blieb ich in der äußersten Unruhe; sie fiel immer wieder in Convulsionen und Rasereien, ja sie wurde auf’s Neue blind! Ich besorgte, es möchte ihr das Leben, wenigstens die Vernunft kosten, dachte an keine Rache, vernachlässigte alle rechtlichen Mittel und suchte blos die Unglückliche, welche in meinem Hause geblieben war, zu retten.“[1]

Indeß dies Bemühen Mesmer’s war vergeblich. Herr von Paradies kehrte mit dem verschärften Befehl, ihm Therese auszuliefern, wieder, und das unglückliche Mädchen mußte gehorchen.

Von nun an war und blieb sie blind, denn Mesmer war nicht mehr da, ihre gläubigen Augen sehend zu machen, und mit dem Lichte seiner Augen die Nacht der ihren zu durchbrechen. Er verließ Wien, in welchem er so vielfache Verfolgungen erduldet hatte, und wandte sich nach Paris.

Professor Barth und Doctor Ingenhaus triumphirten. Therese von Paradies blieb blind und gab als Blinde noch viele Concerte. Ob sie jemals sehend gewesen, ob ihre ganze Heilung nur eine Mystification Mesmer’s gewesen? das ist eine Frage, die niemals entschieden worden. Denn noch jetzt, wie damals, läugnen es die Männer der Wissenschaft, beschwören es die gläubigen Mesmerianer. [2]




Lebensbilder aus dem englischen Parlamente.
I.
Einführung. – Der Parlamentarismus, wie er scheint, ist, war und sein wird. – Eröffnung des Parlaments.

Wie überhaupt die falschesten Vorstellungen über England, aus frühern Zeiten vererbt und so wie Glaubensartikel in der Welt geltend und coursirend, vorherrschen, obgleich sie längst aus dem Leben gewichen oder zu Schatten geworden, so hat man besonders über das Parlament die feierlichsten und erhabensten Ansichten, und blickt mit Beschämung von den schläfrigen und machtlosen „Kammern“ zu Hause auf diese alte, souveraine, gesetzgebende Macht, vor der sich die Krone eben so demüthig beugt, wie jeder Unterthan dieser Krone in den drei vereinigten Königreichen Großbritanniens, und in fünfzig, über alle Erdtheile, Längen- und Breitengrade vertheilten Kolonien. In Deutschland wird dieser alte Heiligenschein um das englische Parlament durch tägliche Auszüge aus der schlesinger’schen „lithographischen Korrespondenz“ in den Zeitungen, durch gewissenhafte Excerpte aus den Parlamentsreden, durch Leitartikel in der kölnischen Zeitung und für den zweimeiligen Umkreis Berlins speciell durch die Raisonnements [340] Bernstein’s in der ,Berliner Volkszeitung“ abgeputzt und so im alten Glanze conservirt. Der gemüthliche „Constitutionalismus“ Deutschlands, der für seine Interessen zärtlich eingenommen weder kalt prüft, noch scharf sieht, sondern mit der religiösen Flamme für den Geldbeutel und die Industrieen der Besitzenden im Herzen glaubt, liebt und speciell hofft, daß in Deutschland mit der Zeit wohl auch etwas „Ober- und Unterhaus“ möglich werden könne, wird in seiner Kurzsichtigkeit besonders von der kölnischen Zeitung gepeppelt. Er glaubt einmal und ist viel zu „gesinnungstüchtig“, als daß er sich durch Thatsachen oder wohl gar durch Wissenschaft sollte in der Festigkeit und Ehrenhaftigkeit seines „Standpunktes“ incommodiren lassen.

Hat England nicht mehr Geld, als jede andere Nation? Und welch’ eine Flotte! Welche Größe! Welche Kolonieen! Welche Preß- und Versammlungsfreiheit! Sogar verbotene Sonntagsmusik! – Und was haben wir in Deutschland zu unserm Hering mit Kartoffeln? Nun, zunächst keine verbotene Sonntagsmusik. Das ist mehr werth, als wir uns vorstellen. Die englische Preß- und Versammlungsfreiheit ist in England viel stärker durch Parlamentsgesetz verboten, als bei uns. Gegen Parlamentsgesetz sind diese Güter und Bedürfnisse gebildeter Völker in England allgemeiner Brauch, Sitte und Gewohnheit geworden, durch die Macht der „Naturgeschichte des Volks“. Die Preßfreiheit ist durch Parlamentsgesetz noch so streng verboten, daß z. B. noch Jeder, der im Parlamente nachschreibt und es veröffentlicht, gesetzlich Prügel und Pranger bekommen müßte. Nichts als Mode, Naturgeschichte, daß die „Behörden“ und das Parlament eben so wenig an Erfüllung dieses Gesetzes mehr denken, als an Bestrafung des Schneiders, der gesetzlich verbotene übersponnene Knöpfe an den Rock seines Kunden nähte. Sir Benjamin Hall, der neue Gesundheitsbeamte Londons, Mitglied des Parlaments und der Regierung, ließ vorigen Sommer plötzlich Sonntags Nachmittags in den grünen, blühenden Kensington Gardens von London von Militär-Musikcorps seit Jahrhunderten streng verbotene Musik machen. Dieses Frühjahr ließ er von bewaffneten Werkzeugen des Gesetzes dieses alte, heilige Sonntagsgesetz, das Ideal mancher Frommen in deutschen Vaterländern, in vier Parks von lauter Staatsblasinstrumenten verhöhnen, und versprach den Deputationen, welche um Wiederherstellung der Sonntagsheiligkeit flehten und flennten, er werde, sobald es seine Mittel erlaubten, auch Buden für Wurst und Schinken und sonstige gemüthliche Volksgerüche neben die ungesetzlichen Musiktribünen bauen lassen.

Aber plötzlich erwachte das grimmig beleidigte, entheiligte Gesetz. Rache folgt der Frevelthat! Nein, zwar wurde die verbotene Sonntagsmusik im wunderschönen Monat Mai auf’s Neue verboten, aber nur, um beinahe die ganze Bevölkerung Londons auf die Beine zu bringen und alle zugänglichen Hände und Wände mit stürmischen Placaten für Aufrechterhaltung der verbotenen Sonntagsmusik zu füllen. Der Sonntag des 24. Mai war ein merkwürdiger Tag in der Kulturgeschichte Londons. Die schlechtesten deutschen Straßenmusikanten aus Fulda, die alle Straßen Londons wochentäglich mit ihren entsetzlichen Mißtönen füllen zur Freude der Londoner und zur Qual der in musikalischer Beziehung viel höher gebildeten Hunde, standen an diesem Sonntag Nachmittage auf Primrose Hill inmitten einer Volksversammlung von mindestens 100,000 Menschen neben Reihen bärmütziger, rother Soldaten und Gruppen bleistockbeknüppelter Blauröcke von Policemen, und schmetterten ihre Mißtöne den Hügel hinunter über das endlos ausgebreitete London, aus welchem die halbfertigen Thürme des neuen Parlamentsgebäudes gar schwächlich und schmachvoll gegen die triumphirenden Mißtöne der Anarchie aus Fulda heraufblickten.

Das englische Parlament ist mächtig, aber die Musikjungen aus dem hessischen Fulda zeigten sich mächtiger. Die Sonntagsmusik, seit Jahrhunderten streng verboten, jetzt auf’s Neue streng verboten, stürzte sich an diesem Sonntage, jeden Ton und das englische Gesetz doppelt verhöhnend, ungestraft neben Polizei und Militär aus den rostigen, verwahrlosten Blechinstrumenten fuldaer Blaseflegel. Hunde versteckten ihre Wedel schmerzvoll vor dieser Musik, aber warum blieb der doppelt geschärfte und bewaffnete Arm des Gesetzes gelähmt gegen diesen Triumphhohn des schlechtesten Abfalls aus dem musicirenden Fulda? Der Henker mag’s wissen, wie sie’s machten. Bloßes Entsetzen vor diesen Mißtönen konnte es nicht sein, denn der Engländer kann in musikalischer Beziehung mehr vertragen, als das starknervigste wilde Thier. Furcht vor der Volksmenge, welche diese doppelt verbotene Musik bestellt hatte und beschützte, konnte es auch nicht sein, denn noch im vorigen Sommer schlugen ein paar Dutzend Policemen unter eine halbe Million stolze, freie, tapfere Engländer im HydePark und trieben sie vor sich her, wie ein Sturmwind die Spreu und schlugen dabei Köpfe entzwei, als wären’s Haselnüsse.

Nun, wodurch siegten denn die fuldaer Musikjungen über das glorreiche Parlament? Wodurch? Durch „Naturgeschichte.“ Die Ausrottung des kahlen, öden, auf Andacht und stillen Orgien beschränkenden Sonntags wird eine Naturnothwendigkeit geworden sein, ein Bedürfniß für das bierverdummte, in Arbeit und Rauch und Schweiß und Schmutz und geistige Verwahrlosung eingefesselte Volk, ein erwachtes, erkanntes Bedürfniß. Dem Parlamente stehen Soldaten und Polizei zur Verfügung, aber das Gute hat es vor den meisten andern Soldaten- und Polizeibesitzern voraus, daß es sich nicht mehr damit abstrapazirt, geschichtlich Verkommenes mit Gewalt aufrecht zu erhalten. So werden in England die Gesetze nicht abgeschafft, sondern man läßt sie sterben und in das Meer der Vergessenheit fließen. Daher die blühende Preß-, Versammlungs-, Secten-, Gewerbe- und Handelsfreiheit, obgleich jede dieser Freiheiten gesetzlich noch verboten ist. Alle Freiheiten Englands sind gesetzwidrig, aber stark und kräftig, weil naturgeschichtlich nothwendig aus „Land und Leuten“ herausgewachsen.

Was das Parlament Glorioses besonders für sich hat, die Kriegsflotte, die Soldaten, die Kolonien – das sind Alles Krebse, die an dem Marke Englands fressen. Der Krieg für die naturgeschichtlich unsinnig und unmöglich gewordene Abhängigkeit Amerika’s von England kostete 124,000,000 Pfund Sterling, und Amerika wurde frei, und setzte nur dadurch die Engländer in den Stand, die Zinsen von dem Kapitale dieser parlamentarisch-patriotischen Bornirtheit zu zahlen. Der Krieg zur Vertilgung der napoleonischen Dynastie kostete noch mehr als 124 Millionen Pfund Sterling, und Napoleon III. ist nicht nur Kaiser von Frankreich, sondern auch Dictator über die englische Diplomatie. Die Flotte gegen Rußland kostete im letzten Kriege 100 Millionen und führte weder Krieg, noch erwarb sie sich Verdienste um den „Frieden“, der schon deshalb kein Frieden ist, weil vier Paragraphen von den Bedingungen verloren gegangen, und der Krieg gegen die kaukasischen Völker auch vom „neutralen“ schwarzen Meere aus schon diesen Sommer erneuert wird. Die Flotte und die Kolonieen, die England ein Ansehen geben, als reich’ es um die Erde herum, sind Werkzeuge und Glorien des Parlaments und der regierenden Klassen, aber Tod und Verderben für die Engländer, die mit allem Gelde und allem Schacher und allem Plack und aller Qual diese tödtlichen Spielzeuge des Parlaments nicht mehr bezahlen können. Diese „Glorien“ können nur noch den Schwachkopf von Profession und die Leitartikelschreiber des gemäßigten, vornehmen Constitutionalismus bestechen, aber nicht den unbefangenen Menschen, der Thatsachen und Naturgesetze studirt, statt sich in dem Gewirr von Phrasen zu berauschen.

„Der Parlamentarismus, wie er ist“ (nicht wie er war und nicht wie er den Leuten „außer dem Hause“ erscheint), besteht aus einer Fusion und Confusion von Standes- und großen Capitalsinteressen, die mit einander streiten, aber sich immer zu „paaren“ und in „Compromissen“ zu einigen wissen, wenn es gilt allgemeine oder nicht vertretene Volks- oder schwächere Sonderinteressen oder auch Privilegien und Rechte der Krone niederzuhalten. Die englische Krone ist denn auch factisch längst bloßer Talisman, bloßer Heiligenschein für diese im Parlamente vertretenen feudalistischen und Kapitalsinteressen geworden, eben so leer und hohl, wie die Größe, und Freiheit und Bildung und hohe Civilisation des englischen Volks. Von je hundert Menschen der niedern Klassen können oft kaum zehn ihren Namen schreiben. Ihr ganzer Ideenkreis drückt sich in vierzig Wörtern aus, worunter sich die Hälfte auf Bier, Gin, Trunkenheit, Pfandhaus und ein Schöpsenbein Sonnabends Abends beziehen. Noch neulich sagte ein Lord im Parlamente während der Discussion über die seit Jahren spielende „Erziehungsfrage“: der gemeine Arbeiter müsse von der frühesten Jugend an arbeiten, weshalb man ihm den schlechtesten Dienst erweise, wenn man die Kinder derselben durch Unterricht von der Arbeit abhalte und ihnen die Arbeit verleide. Das klingt oder ist vielmehr viel schlimmer als die Geständnisse des Grafen Pfeil in einer berliner Kammer. Deutschland machte diese

[341]

Procession des Sprechers vom Unterhause nach dem Oberhause.

[342] Geständnisse moralisch todt, die Philosophie des englischen Lords ward vom Parlamente angenommen.

Dies zur Einleitung in eine kleine Reihe parlamentarischer Lebensbilder, aus welchen sich Jeder leicht den „Parlamentarismus“, wie er ist, vorstellen lernen kann.

Fangen wir mit dem Anfange an, der jährlichen steifen, lächerlich prunkenden Förmlichkeit der Eröffnung des Parlaments.

In der letzten Hälfte des Januar oder der ersten des Februar jedes Jahres, stellen sich eines Morgens eine Menge Volks, Weiber und Dienstmädchen mit Kindern und Fremde in zwei Reihen vom Buckingham-Palaste der Königin nach dem Parlamentsgebäude hin auf. Jungen klettern auf Bäume im St. James-Park und werden von Policemen in der Regel ganz freundschaftlich wieder heruntergenöthigt. Hinter der dünnen Doppelreihe von Menschen fährt manchmal eine Equipage mit sonderbar aufgeputzten Kutschern und Dienern hinten, die an alte Ritterschauspiele oder Kunstreiter oder Affen, die tanzen müssen, erinnern. Dann reiten wieder einige Exemplare der „Roßgarde“ auf und ab, schöne, ausgesuchte Riesen mit einem Putz, wie man ihn im Uebrigen blos an Figuren anbringt, die unter Glasglocken gestellt werden. So ein Kerl kostet als Gemeiner schon beinahe 3000 Thaler. Er sitzt auf einem Sattel von dem feinsten, weißen Vließe, das, wenn es naß wird, zusammenfällt und verdorben ist, ohne daß man es wieder ausschütteln kann, wie der gebadete Pudel sein Fell. Wahre Zierpuppen diese Leib-Roßgarde der Königin, deren Officierstellen als die fettesten und nichtsnutzigsten der feinsten Crème überflüssiger zweiter Lordssöhne privilegirt sind. – Später stellen sich sonderbar verkleidete fabelhafte Gestalten ein, die man sonst nirgend sieht, räthselhafte Beamte und Ruinen aus der Tower-Festung, die von alten Jahrhunderten her das Privilegium haben, vor der zum Parlamente fahrenden Königin in ihren alten, aus verschiedenen Jahrhunderten zusammengestoppelten Ritter- und Knappen-Kostümen zu Fuße einherzutrappeln. Seit vielen Jahren ist ein alter, sehr lahmer Ritter unter diesen Privilegirten, um dessentwillen die arme Königin immer ganz besonders langsam gefahren werden muß. So vergehen manche Stunden. Endlich setzt sich der Maskeradenzug vom Buckingham-Palaste aus in sehr unordentliche, zottelige, mit vielen Lücken versehene Bewegung. Die Königin, in einem Wagen mit einer großen Krone über sich, wird von lauter Privilegirten, Maskirten, Verkleideten, Entstellten unordentlich, langsam, mit grausamen, lächerlichen Förmlichkeiten, an denen sie kein Jota ändern darf, in’s Parlament geschleppt, damit sie die ihr vom Ministerio in die Hand gezwungene, jedesmal ausgesucht nichtssagende Thronrede, dem versammelten „Hause“ vorlese und es für eröffnet erkläre, ihm die Weihe, den Schein, das Privilegium, zwischen Krone und Volk Humbug mit beiden zu treiben, erneuere. Das Volk jubelt. Vor dem Parlamentsgebäude wird getrompetet, daß den Bläsern die Augen zum Kopfe herausstehen. Die Königin wird von Lords, in prächtigen, lächerlichen Schlepproben und oben unter Perrücken begraben, in Empfang genommen und in fabelhaft prächtige Räume, durch fabelhaft prächtige Corridors, gespickt mit der höchsten Auswahl weiblicher Aristokratie des Landes, in steifsten Förmlichkeiten geführt. Eine andere, fabelhafte Förmlichkeit, deren Details selbst die eingeweihtesten Engländer nicht capiren, bringt sie auf den Thron des unsäglich prächtigen Oberhauses. Um den Thron stehen merkwürdige Gestalten in Roben und Perrücken und der erste Herzog mit einem mächtigen Schwerte, das Niemand mehr schwingen kann, und noch mehr Humbug in andern Roben und andern Perrücken und moderne Offizierkleider, worin auch hohe Personen stecken, und andere Personen bis zum Kopfe ganz modern im Leibrock, aber oben mit einer Perrücke, daß sie kaum aus den Augen sehen können. Kein Mensch weiß, wozu diese Herren Perrücken tragen oder überhaupt da sind und Niemand kennt den geringsten Zusammenhang aller dieser Maskenwirthschaft ohne Witz und Sinn und Geschmack, mit der Gesetzgebung des Landes. Daß die Königin blos darüber lachen soll, wie sie öfter von ihrem gerührten Zwerchfelle zu thun genöthigt ward, kann unmöglich die wahre parlamentarische Bestimmung dieser Maskenunfreiheit sein.

Ist die Königin endlich glücklich auf den Thron gebracht, wird nach dem versammelten Unterhause geschickt und dieses aufgefordert, zu erscheinen. (Die Details der Förmlichkeiten sind auch hier so langweilig, daß wir unser Bild nicht damit verderben wollen.) Jetzt tritt zunächst der feierliche Moment der Procession „des Sprechers“ (Vorsitzender) im Unterhause nach dem Oberhause ein, vor dem Jeder den Hut abnehmen, den Jeder feierlich ansehen muß. Diese Procession ist in ihrem Haupttheile nach dem Leben in Holz geschnitten und hier mit abgedruckt worden. Da ist sie. Man muß es sehen, um’s zu glauben. Ja, so ist sie. So sieht sie aus, nur daß die Gesichter manchmal noch feierlicher, noch dümmer, noch hypokritischer aussehen. Sollen wir das Bild nun noch erklären? Da müßten wir einen Drehorgeltext und eine Drehorgel dazu haben und spielen und singen dazu. Da dies aber hier nicht zu machen ist, überlassen wir das Bild dem Leser unerklärt, damit er sich selbst einen Vers daraus mache.

Hinter der feierlichen Procession des Sprechers wird’s lustig. Die reichen Fabrikanten, Compagnie-Directoren, reich gewordene Shopkeepers, Juristen, Baronets und „Sir’s“ des Unterhauses, dicke, kugelige, feiste Herren, dünne, schmächtige Stutzer mit zu weiten Röcken, kahlköpfige, krumme, alte Gentlemen u. s. w. drängen sich so schulbubenmäßig herein, daß sie manchmal den Eingang verstopfen, rückwärts, vorwärts purzeln, sich gegenseitig auf die Hühneraugen treten und sich überhaupt geberden, daß die Königin, eben so wenig als andere Leute das Lachen verbeißen können. Hat sich das Unterhaus im Oberhause endlich auf seinen besondern Bänken zurechtgefunden, überreicht ein hoher Staatsmann der Königin knieend die Thronrede. Andere Herren knieen auch mit, ich weiß nicht, wer Alles. Die Königin liest das Glaubensbekenntniß des Ministeriums über die Lage des Landes laut und deutlich ab. Die Telegraphen spielen dabei nach allen Himmelsgegenden und die Jungen auf der Straße schreien die noch nicht gehaltene Thronrede für einen Penny aus. Das Haus ist eröffnet. Die Herren gehen nach Hause. Die Welt, besonders die politische und Zeitungsleitartikelschreiber, wetzen ihren Scharfsinn und bewaffnen das Auge politischen Tief- und Fernblickes auf das Wundervollste, um den Lesern in allen Sprachen zu deuten, was das Alles bedeute und bedeuten könne, was die Königin gelesen und was sie verschwiegen. Die Papiere auf den Börsen horchen, ob sie vor Schreck fallen oder vor Freude himmelhochjauchzend steigen sollen und fallen und steigen nach Herzenslust und Herzensangst über die Thronrede, bis nach 24 Stunden Alles vergessen ist und beide „Häuser“ nach Ueberwindung parlamentarischer Förmlichkeiten anderer Art endlich zum Geschäft übergehen.

Aus diesem angeblich weltwichtigen Geschäftsleben des Parlaments wollen wir dem Leser einige charakteristische Bilder herausheben und möglichst so einrahmen, daß man leicht rathen kann, was noch Alles über diese Rahmen hinaus sich bilden und gruppiren mag.




Aus dem Hause für das Haus.
I. Die kindlichen Spiele.

Verlaßt einmal auf Augenblicke eure Geschäftswelt, ihr Erwachsenen, die ihr Liebe zu Kindern besitzt, und kehrt mit mir ein in der kleinen Welt der Spiele und der kindlichen Belustigungen. Diese Welt ist ein Heiligthum. Es giebt darin Rosen ohne Dornen, denn das Spiel ist eben die freie und freudige Regsamkeit des kindlichen Geistes. Aber die Welt des Spiels ist auch eine Charakterschule, und tausend Neigungen werden darin vorgebildet, die später als Angelpunkte im Menschen hervortreten. Ist es daher nicht wichtig für alle Erzieher, dieses Feld der Spiele genau zu überwachen und sich darin zu orientiren? Wir wollen jetzt einmal die kleinen Spielhelden beobachten und uns dabei leise ein paar Wörtchen in’s Ohr sagen.

Da sitzt ein kleines blondes Lockenköpfchen in einer Fluth von Spielsachen. Da giebt es Wagen, Pferde, Soldaten, Mühlen, Gärten, Theater und was sonst die elterliche Zärtlichkeit aufzutreiben gewußt hat. Das arme Kind weiß jetzt [343] nicht, wornach es zuerst greifen soll. Es nimmt einen Gegenstand nach den andern, untersucht ihn mit seinem wißbegierigen Auge, probirt ihn, und – legt ihn weg. Was ist gewonnen? Die Langeweile hat es sich vertrieben, aber es hat nicht das Geringste für seinen Geist gewönnen. Durch solche Spiele, ich nenne sie die Zeitvertreibspiele, wird leicht im Kinde eine Unruhe, ein Zerstreutsein hervorgerufen, welches für dasselbe ein schlechter Schulkamerad und ein noch schlechterer Gast im Berufsleben wird. Solche Kinder wollen dann in der Schule nicht eine halbe Stunde ihren Geist auf einen Gegenstand richten; und kommen sie in ein Geschäft, so muß der Herr oft hinter jedem Auftrage ein derbes Ausrufungszeichen machen, damit sie nicht durch ihre Träumerei und Zerstreutheit, die sie in ihrer Jugend durch’s Spiel gelernt, Unheil anrichten. Unser blondes Lockenköpfchen würde viel besser daran sein, wenn es wenig Spielsachen, aber solche hätte, die fesseln und ausdauernd beschäftigen. Aber gehen wir weiter. Da ist ein Kinderball. Es geht sehr heiter zu. Wir würden es auch sein, wenn wir nicht mit unsern Augen über den Augenblick hinausschweiften. Wir sehen im Hintergründe Leidenschaften, die bald herantreten werden. Da taugt schon die Eitelkeit, die Putzsucht, die Gefallsucht, und da die Kinder recht wohl wissen, was das Tanzen bei den Erwachsenen zu bedeuten hat, der Wunsch auf, bald auch sein Liebeskrämchen machen zu können.

Das ist nicht zu trüb gesehen. Die Erfahrung steht als Zeuge auf. Verfasser dieser Zeilen weiß, daß sich Mädchen und Knaben nach Kinderbällen Briefe geschrieben, zum Spazierengehen eingeladen, und, so zu sagen, ein nettes Vorspiel der Liebe in Kinderschuhen gegeben haben. Außerdem hat das Tanzen im heißen Klima des Tanzsaales für Kinder viel Nachtheiliges hinsichtlich der Gesundheit, und nicht mit Unrecht nennt daher Jean Paul Kinderbälle die Vorreigen zum Todtentanz. Aber an diese Kinderspiele knüpft sich noch manches Andere, welches die Verfrühung mitbringt. Da kommt das Billardspiel, das Kartenspiel, hier und da wohl auch das Rauchen etc. Wie traurig ist ein solcher Vorfrühling der Lust und des Vergnügens für die Jugend. Wenn dann die eigentliche Zeit kommt, wo das Gemüth Kraft genug hat, sich in die Reihen der Freuden zu schwingen, wie arm, wie beklagenswerth sind dann die armen Opfer der Verfrühung. Abgestumpft bereits genießen sie nur halb, und das Poetische, was in dem Jünglings- und Jungfrauenleben liegt, hat ihnen zum großen Theil ihr kindisches Spiel abgestreift. Hört nur zu, wenn junge Leute von 18–20 Jahren unter sich reden, ist es nicht oft die Eitelkeit des Lebens, die sie anklagen, und der raffinirte grobsinnliche Genuß, den sie loben. Das kommt davon, wenn man den Zeiger an der kindlichen Lebensuhr zu rasch umdreht. Unwillkürlich fällt mir dabei das Wort ein, was ich in einer Zeitschrift gelesen: „Die jungen Sprossen unsrer Familien sehen, nach einem gewissen verweichlichten Typus gemessen, gut aus. Sie haben glatte hübsche Gesichtchen, aber ohne die Spur jener kräftigen Entwickelung, die der Species Mann gebührt. Sie sind dünn und knieschüssig, und sehen aus, als ob sie blasirt zur Welt gekommen. Wie kann das anders sein. Sie kriechen aus der Wiege in den Tanzsaal, und von der Amme zum Tanzmeister; kaum haben sie die Kinderklapper weggeworfen, so greifen sie zum Billardstock etc.“

Weg von diesen Bildern der Zerstreuung und Verfrühung! Wir betreten ein anderes Feld. Hier sehen wir zwei Reihen von Kriegern. Es wird eine Schlacht aufgeführt. Freilich wird es dabei etwas heiß zugehen; vielleicht fliegen auch einige große und kleine Kugeln als Kopfnüsse herum. Ein entsetzliches Schauspiel für manche Menschen, die darin nur Rohheit und Gefahren sehen. Aber diese Kraftspiele sind mir zehntausendmal lieber, als die Spiele der Ofenhockerei und Verfrühung. Sie geben dem Kinde ein Bewußtsein seiner Kraft, und nur wer dieses Bewußtsein recht übt und wach erhält von Jugend auf, erlangt die schöne Mannestugend, welche man Muth nennt. Glaubt ihr denn, der Muth ließe sich befehlen? Nicht doch. Es giebt Menschen, die haben Mittel und Gewalt in den Händen, Ungeheueres zu leisten, und leisten doch Nichts, weil ihnen das Gefühl des Muthes abgeht. Man hat sie von Jugend auf geschnürt, gebiegelt und dresiirt, und jede Regung der Kraft beschnitten, was Wunder, wenn sie später geistig erlahmt sind. Die Gefühle, die in der Jugend genährt werden, das sind die Grund- und Bausteine zum spätern Charakter. Da seht Napoleon den Großen in der Militärschule zu Brienne. Die Kugeln von Schnee saußen ihm um den Kopf, er wankt nicht; und das unschuldige Spiel hat vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß er später auch die bleiernen vertragen konnte. Kraftspiele sind für die Jugend eine Vorschule der Mannestugenden, und wenn dabei nicht der Anstand verletzt wird, oder böser Ernst sich einmischt, sind sie besser als träge Kopfhängerei. „Man bedenke nur,“ sagt Jean Paul, „daß die Jahre zwar das Licht vermehren, aber nicht die Kraft und daß man leichter dem Lebenspilger einen Wegweiser besoldet und mitgiebt, als ihm die Beine und Flügel, die man ihm wider das Verlaufen und Verfliegen abgesägt, wie einer Statue wieder restaurirt.“ Daß man diese Gefühle der Selbstständigkeit und des Muthes auch anders, wie z. B. durch’s Turnen, nähre, ist nur zum Theil wahr. Freilich stärkt das Turnen den Körper und somit auch den Geist, freilich macht es gewandt und giebt dann dem Geiste ein gewisses Vertrauen, aber die Fessel des Unterrichts, wie locker sie auch gezogen ist, beengt doch noch, und daher kann das Turnen die Wirkung nicht hervorbringen, die das freie, ungebundene Spiel hervorruft.

Doch gehen wir weiter. Hier spielen sie Schule; hier ist eine Hochzeit, hier ein feierlicher Aufzug und da gar ein Kram mit Käufern und Verkäufern. Die Sache sieht sehr unschuldig aus. Sie ist’s auch, aber daneben ungemein wichtig für die Zukunft. Wir stehen hier vor den Charakterspielen. Paßt nur auf, jedes Kind wird sich am liebsten in einer Rolle sehen, zu welcher es immer Neigung verspürt, die mit seinem Temperamente, mit seinem kindlichen Ideal am meisten übereinstimmt. In diese Rolle lebt es sich hinein, und gründet sich eine Traumwelt, die ungemein verführerisch ist, weil sie das Ideal ohne Schattenseite, die Befriedigung des kindlichen Geistes ohne Ernst und Schmerz ist. Was Wunder, wenn sich daher bei diesen Spielen Neigungen zu Berufsarten, zu Lebensverhältnissen ausbilden, die später weder durch Vorstellungen noch durch Zwang wieder ausgerottet werden. „Ich weiß selbst nicht wie es kommt,“ sagt dann der junge Weltbürger, „ich habe einmal nur zu diesem Stande Neigung.“ Die Spiele seiner Jugend waren die Schule dieser Neigung. Ein mir bekannter Knabe trieb als 5jähriges Kind immer sein Spiel als Fleischer, und die Eltern lächelten dazu. Mit 14 Jahren erklärte er, zu der Seinen Mißvergnügen (sie hatten ihn für den Kaufmannsstand ausersehen), daß er nie etwas Anderes ergreifen würde, als dieses Handwerk. Jeder Charakterzug, den die Kleinen im Spiele annehmen, läßt eine Spur zurück im Kindesherzen, und wenn ein Spiel recht oft sich wiederholt, so kann die Neigung, das Gefühl des Kindes, welches gleichsam in’s Spiel verpuppt war, auch plötzlich in der Wirklichkeit erscheinen. Daher, meine Lieben, wollen wir die Charakterspiele unsrer Kleinen sorgfältig überwachen, daß nicht böse Dämonen sich dabei in die jungen Herzen schleichen und damit wir das Interesse des Kindes an den Lebensverhältnissen bei Zeiten erfahren, um es noch lenken zu können, je nachdem es die Umstände erfordern.

Aber was hören wir hier? Es werden Räthsel gerathen. Ei, wie strengen sich die kleinen Köpfchen an! Jedes möchte gern zuerst die Nuß knacken. Hier haben wir ein geistiges Spiel, dabei wird das Gehirnturnen geübt. Wer sollte sich darüber nicht freuen! „Ohne Denken,“ sagt schon Bürger, „gleicht der Mensch dem Ochs und Eselein.“ Bekommt das Kind Unterricht, so muß es zwar unaufhörlich am Denkseile laufen; aber man glaube ja nicht, daß die Schule allein im Stande sei, den Geist zu schärfen. Ich mag die vernünftigen Methoden des Unterrichts, die jetzt fast überall regieren, in keiner Weise antasten, aber so viel ist mir gewiß, das gezwungene Denken in Schulen, was gewissermaßen ein gepeitschtes Laufen ist, hat nicht soviel Behaglichkeit, nicht so viel Wohlthuendes, wie das Denken im Spiel, und ist eben daher auch nicht so erfolgreich. Solch’ geistige Spiele sind noch: das Damenspiel, das Bauspiel, wo Verstand und Phantasie zugleich thätig sind, die Rechenspiele etc. Bei allen diesen Spielen kann sich die Blüthe des Witzes und des Scharfsinns recht schön entfalten. Von der Bildung des Witzes war Jean Paul ein großer Freund. Er trieb daher auch mit seinen Zöglingen eine Art Vergleichspiele. Jeder witzige Gedanke eines Kindes wurde sofort in ein Buch eingetragen. Er hat uns deren einige mitgetheilt. So sagte ein Knabe: Jeder Mensch wird von vier Dingen nachgemacht, vom Echo, vom Schatten, Affen und Spiegel. Ein anderes Kind bemerkte: Die Dümmsten putzen sich am meisten, so sind die dümmsten Thiere, die Insekten, am buntesten etc.

[344] Freilich darf man auch dieses Gehirnturnen nicht übertreiben, da sonst der Körper leiden muß, von dem ja der Geist zehrt bei allen seinen Thätigkeiten. Körper und Geist sind Systeme von Kräften, in welchen ein ununterbrochener Ausgleichungsprozeß stattfindet. Daher stört die allzugroße körperliche Anstrengung den Geist, und ebenso die allzu lange, allzu heftige geistige den Körper.

Aber betrachten wir zum Schluß noch eine freundliche Gruppe von Kindern. „Ringel Ringel Rosenkranz,“ so ertönt es aus frischer Kehle und die muntern Beine sind Zeichen lustiger Herzen. Das ist ein angenehmes Feld. Hierher, ihr Trübsinnigen und Lebensüberdrüssigen, damit ihr seht, was ein befangenes und heiteres Leben ist, hierher, ihr Zopfpädagogen, damit ihr lernt, was man thun muß, um Kinder zu erfreuen. Ihre Erfindungsgabe ist bei diesen Belustigungsspielen oft sehr groß, und nicht selten nehmen sie die drolligsten Wendungen. Aber redet um Himmelswillen nicht hinein, jedes Ausrufungszeichen, was ihr dabei macht, wird zu einem Eiszapfen für die junge Freude. Nicht gegängelt zu werden, frei zu hüpfen, das ist ja eben die Lust für das Kind. Solche Belustigungsspiele sind ächte Freudenquellen. Und da bei heiterer Stimmung wir viel leichter in’s Kindesherz säen und pflanzen, so sind diese Spiele so wichtig wie alle Uebrigen. Sollte auch hier und da einmal eine Unart zum Vorschein kommen, so wollen wir nicht gleich den Kriegszustand erklären. Es ist damit wie mit den Maikäfern. Wer alle vom Baume herunterschütteln will, streift manche Blüthe mit ab. Wer gar so pedantisch jede kindliche Regung, die nicht in die Etiquette paßt, ausrotten möchte, der erstickt auch manches edle kindliche Gefühl, welches später im Kinde reiche und schöne Früchte getragen haben würde.

So haben wir in der Kürze die hauptsächlichsten kindlichen Spiele beobachtet. Vielleicht hat Mancher dabei an seine Kindheit zurückgedacht und meine Worte bestätigt gefunden. Vielleicht ist Mancher auch aufmerksamer auf die Spielplätze seiner Familie, sieht wohl auch jetzt den kleinern Spielern in die Karte und lenkt und leitet, wenn auch für die Kleinen unbewußt, den Gang und die Art der Spiele. Dann hätten meine Zeilen den Zweck vollkommen erreicht. Das nächste Mal wollen wir der Musik der Kinder lauschen, wie sie in heutiger Zeit auftritt und dabei unseren Gedanken ein wenig nachgehen. Auf Wiedersehen!




Ein spanisches Schattenbild.

Wenn auch „Räubergeschichten“ keineswegs in das Gebiet der Gartenlaube gehören, so trage ich doch kein Bedenken, in Folgendem eine solche den Lesern zu erzählen. Natürlich ist dabei meine Absicht nicht, einem verdorbenen Geschmacke zu fröhnen; und auch darauf will ich die Mittheilung meiner Räubergeschichte nicht stützen, daß sie auf buchstäblicher Wahrheit beruht, und der jüngsten Vergangenheit angehört. Sie soll vielmehr ein grelles Schlaglicht auf die Zustände eines Landes werfen, welches Keime genug in seinem Schooße birgt, um unter einer bessern Pflege in schnellem Emporblühen ein reiches und glückliches zu werden, während es jetzt davon beinahe das Gegentheil ist.

Spanien ist dieses Land, und indem ich an die schlichte Erzählung gehe, kann ich es füglich den Lesern überlassen, ihre Folgerungen zu ziehen auf die Gesittung des spanischen Volkes und auf die Beschaffenheit der Regierung, unter deren Walten noch im Jahre 1849 solche Dinge möglich waren, solche freche Verhöhnung der Staatsgewalt und solch’ panisches Schrecken der Bevölkerung über die am hellen Tage vor Tausenden verübte That. Ich schalte blos noch ein, daß ich meine Erzählung im Wesentlichen aus einem Manuscripte über „Spaniens Handelsverbindungen mit dem Auslande, Deutschland insbesondere, Zollwesen und Industrie“ entlehne, welches der Verfasser, mein verewigter Freund Julius Tucht, sächsischer Consul in Barcelona, der von der vorletzten Cholera-Epidemie daselbst weggerafft wurde, leider unvollendet hinterlassen hat.

Wenn man die Festungsmauern Barcelona’s verläßt und durch die Puerta de Isabel segunda in derjenigen Richtung sich landeinwärts wendet, welche dem Hafen gerade entgegengesetzt ist, so dauert es geraume Zeit, ehe man die letzten Außenwerke des Gewerbfleißes der zweiten Stadt des Königreichs im Rücken hat. Der breite und, in Spanien leider eine Seltenheit, vortrefflich erhaltene vierfache Reit- und Fahrweg zeigt an seinen beiden Seiten eine Menge Belustigungsorte, welche an Schönheit und Geschmack der Gärten und Gebäude den ersten pariser Anstalten dieser Art nicht nachstehen. Links und namentlich rechts liegen ganz dicht an der Straße, die Tag und Nacht den regsten Verkehr zeigt, eine Menge ländlicher Ortschaften mit den Quinta’s der reichen Barcelonesen. So kommt man endlich in die große, ganz städtisch aussehende Landgemeinde Sanz, in welcher einige Spinnereien und Kattunfabriken von der erheblichsten Bedeutung ihre hohen Dampfessen durch die fortwährend von wirbelnden Straßenstaubwolken erfüllte Luft emporragen lassen. Ich selbst habe mich mehrmals überzeugt, welch’ reges Leben den ganzen Tag über in Sanz auf den Beinen ist, welches fast nur eine einzige, mindestens eine halbe Stunde lange Gasse bildet.

Hier traten am 10. April 1849 in den Vormittagsstunden ein paar bewaffnete Strauchdiebe (trabucaires) in das besuchteste Kaffeehaus des Ortes und drohten Jeden der Anwesenden mit ihren weitrohrigen Trabucos niederzuschießen, der sich nicht ruhig verhalten würde, lasen dann eine Liste vor, auf welcher die Namen von sechs Personen verzeichnet waren, von denen fünf, unter ihnen der Alcalde des Ortes, zufällig gegenwärtig waren, welche von ihnen festgenommen, geknebelt und aus dem Hause geführt wurden, wo sie unter sprachlosem Entsetzen der übrigen Anwesenden in eine bereit stehende Tartane gepackt wurden. Furcht und Entsetzen hatte dem inzwischen zusammengekommenen Haufen Neugieriger die ganze Kraft gelähmt, so daß die Räuber unangefochten mit den geraubten fünf Personen, unter denen auch ein reicher Franzose sich befand, unangefochten die Straße entlang und zum Dorfe hinausfuhren, ohne daß Jemand auch nur Miene gemacht hätte, sie aufzuhalten. Erst eine halbe Stunde später, nachdem die Räuber längst in Sicherheit waren, läutete man die Sturmglocke, jedenfalls mehr deshalb, um dem schwächlichen, geschriebenen Gesetz gegenüber wenigstens mit Etwas aufkommen zu können, als in der ernstlichen Absicht, den Bandoleros die bewaffnete Gewalt auf die Fersen zu hetzen, welche dem ritterlichen und kecke Abenteuer liebenden Sinne des spanischen Volkes für eine Art Heroen gelten.

Mehrere Wochen verflossen, ohne daß man den Räubern auf die Spur kam; die öffentliche Meinung sprach sich sehr laut darüber aus, und der Raubanfall erhielt eine gewisse Berühmtheit, die in Spanien jeder kühnen Handlung, sei sie gut oder böse, zugestanden wird. Endlich gelang es dem Sicherheitscommissar Serra y Monclus, in das undurchdringlich scheinende Dunkel zu dringen und dem Gesetze wie den unglücklichen Betheiligten ihr Recht zu verschaffen.

Die Räuber hatten unter steter Todesandrohung die Gefangenen, denen sie die Augen verbunden, mit sich fortgeschleppt; man führte sie die Kreuz und Quer über mehrere Flüsse (ohne Zweifel Llobregat und Noya), zuletzt, nachdem man sie 20 Stunden ohne Nahrung gelassen, in ein bewohntes Haus, wo man sie alle Fünf zwang, in einen tiefen, feuchten Brunnen hinabzusteigen, in den kein Tageslicht drang. Hier reichte man den armen Gefangenen in einem Korbe einige schlechte Lebensmittel hinunter und nöthigte sie, einen Brief an ihre Familien zu unterzeichnen, in welchem gesagt wurde, daß ein grausamer Tod ihrer harre, wenn sie nicht bald ein Lösegeld von 900 Unzen Gold (ungefähr 20,000 Thaler) zahlten. Diesen Brief wußte man auch wirklich in die Hände eines Anverwandten eines der fünf Gefangenen zu bringen.

Es war in dem Briefe vorgeschrieben, derjenige, der das Geld zu bringen habe, müsse auf einem Esel reiten, eine rothe Mütze tragen und würde die Person, die zur Empfangnahme des Lösegeldes geschickt werde, daran erkennen, daß dieselbe ihm die Hälfte einer unregelmäßig ausgeschnittenen Karte zum Vergleich mit der andern Hälfte, die man in jenen Brief gelegt, vorzeige. Zugleich war der Weg vorgeschrieben gewesen und die Banditen hatten ihre Maßregeln so gut genommen, allenthalben Spione [345] aufgestellt, daß auf diesem Wege ihre Spur nicht verfolgt werden konnte.

Es wurde hierauf wirklich von den Verwandten ein Bote mit Geld abgeschickt und drei der Gefangenen wurden für das verlangte Lösegeld von 500 Unzen freigegeben und auf denselben Schlangenwegen nach Hause geführt; die beiden andern wurden zurückbehalten. Man führte sie indeß zu größerer Sicherheit aus dem Brunnen weg und in die enge Höhle eines Weinberges, wo man sie abermals auf alle mögliche Weise bedrohte und mißhandelte, bis endlich auch für sie das Lösegeld gekommen war.

Inzwischen hatte die Polizei alle zur Entdeckung führen könnenden Anzeichen benutzt, alle Mittel dazu in Bewegung gesetzt und überhaupt eine Thätigkeit entwickelt, die ihr diesmal alle Ehre machte. Sämmtliche benachbarte Gebirge und Höhlen wurden untersucht – und an solchen ist ganz Catalonien überreich – man nahm einige verdächtige Personen gefangen, kam aber während mehrerer Tage zu keinem Ziel und es schien fast, als ob alle Bemühungen vergeblich sein sollten. Endlich, von zwei der gewesenen Gefangenen begleitet, fanden der Sicherheitscommissar und seine Agenten in der nahe gelegenen Stadt Badalona den bewußten Brunnen, in dessen Seitenwände jene während ihres traurigen Aufenthalts mit den Fingernageln Zeichen eingegraben hatten, die sie gleich wieder erkannten. Der Eigenthümer und die Frau des Hauses mit einer vierzehnjährigen Tochter, welche später bekannte, die Geliebte eines der Bandeleros zu sein, wurden festgenommen und bei der Haussuchung fand man 200 Unzen in Gold, die Leuchte und den Korb, die man in den Brunnen hinabgelassen, wenn man den Eingesperrten zu essen gegeben, ein Taschentuch und mehrere andere Beweisstücke in dem Koffer des Mädchens verborgen. Man erfährt, daß das Oberhaupt der Bande, der das Unternehmen geleitet, Jaime Battle, sich in Arenys befinde, einem Städtchen am Meere ungefähr 6 Leguas von Barcelona; der Commissär Ramon Lerra eilte mit einem Trupp mozos de escuadra (einer vortrefflich organisirten Landgensd’armerie) in das bezeichnete Haus. Man klopft an die Thür, heischt zu öffnen und da dies nicht geschieht, stößt man sie ein. Es war zur Zeit der Dämmerung und die in dem Hause befindlichen Räuber wehrten sich aufs Verzweifeltste, schießen auf die Mozos und verwunden mehrere, müssen sich aber bald ergeben. Zwei der Banditen versuchten es noch, sich über das Dach zu retten; die tapfern Mozos aber eilen ihnen nach und erschießen den Einen, den zweiten Anführer der Bande, Anternio Roura aus Vich, der vom Dach herunter auf die Straße stürzt und nehmen den Andern Jaime Battle, der eine herkulische Stärke besitzt, nachdem er bereits verwundet ist und sich furchtbar vertheidigt hat, gefangen.

Binnen wenigen Tagen wurden auch noch die übrigen bei dem Raube und dem Verhehlen des Gestohlenen Betheiligten gefangen genommen und nach Barcelona geführt und Allen der Proceß gemacht. Eilf von den Thätern wurden öffentlich mit der Garotte erdrosselt, und zwar vier, unter denen der Anführer, vor den Thoren von Barcelona; drei in Sans vor dem Kaffeehause, wo die That stattgefunden und die übrigen vier neben dem erwähnten Brunnen in Badalona.

Schon im Jahre 1849 zeigte sich ein merkwürdiger Unterschied in der Sicherheit der Landstraßen und seitdem gehörten Raubanfälle auf öffentlichen Straßen immer mehr zu den Seltenheiten.
(R.) 




Ein Besuch auf Liu-Kiu.

Auf der Abendseite des großen europäisch-asiatischen Festlandes liegt das britische, auf der Morgenseite dagegen das japanische Inselreich, beide jedoch so weit von einander verschieden, als sie es kaum der Entfernung nach sind. Vom Inselreiche des Westens aus hat das Volk Englands eine Herrschaft gegründet, welche den ganzen Erdball umspannt, in deren Gebiete die Sonne nie untergeht. Wandere, wohin du willst, in allen Theilen der Erde, in allen Zonen, allen Gegenden findest du englische Kolonieen; auf allen Meeren weht Englands Flagge, in allen Ländern findest du Albions Sohn als Kaufmann. Besuche die Häfen Englands und du findest Schiffe, die von den verschiedensten Ländern des Erdballs heimgekehrt sind, oder im Begriff stehen, dahin abzufahren. Durchreise die Häfen seiner Kolonieen und Stationen und du findest die Fahrzeuge aller Nationen, vom Kanot des Neuseeländers und Südseeinsulaners bis zu dem stattlichen Schraubendampfer des Europäers. Wie verschieden dagegen das Inselreich des Ostens! Der Japaner hat sich von der ganzen übrigen Welt streng abgesondert, nur einigen wenigen Völkern einen äußerst kärglichen Handelsverkehr gestattet, seine Flagge einzig auf seine Meere beschränkt, und so einen Handelsstaat gegründet, wie er nicht allein nicht zum zweiten Male existirt, sondern sich selbst kaum denken läßt. Ein buchtenreiches Land von außerordentlicher Fruchtbarkeit, eine zahlreiche Bevölkerung (7–8000 Bewohner auf die Quadratmeile) von nicht unbedeutender geistiger Befähigung und Ausbildung, großen metallischen Reichthum im Innern der Berge, Steinkohlen, der große Betriebsfaktor des britischen Inselreichs, in außerordentlicher Menge, eine fleißige, geschickte und betriebsame Bevölkerung und dennoch kein Handelsverkehr mit den Nationen des Erdballs!

In solcher Abgeschlossenheit hat Japan viele Jahrhunderte verbracht, denn nur auf wenige Jahre trat es vor fast 300 Jahren mit den Portugiesen in Verkehr, um nach dessen gänzlicher Abbrechung im Jahre 1637 eine äußerst beschränkte Handelsverbindung mit den Holländern einzugehen, die unter dem Vorwande, „Holländer, aber nicht Christen“ zu sein, für Gewährung einiger unbedeutender Handelsvortheile die schmachvollsten Bedingungen eingingen. Mit Schlauheit und Konsequenz wies Japan die lockendsten Anerbietungen Englands, Rußlands und China’s zurück, gestattete seinen eigenen Bewohnern keinen Aufenthalt in fremden Ländern, und weigerte sich selbst, die von Stürmen nach benachbarten Küsten verschlagenen eigenen Bewohner wieder aufzunehmen, wenn sie auf fremden Fahrzeugen in ihr Heimathsland zurückgebracht wurden. Diese Hartnäckigkeit versuchten in unsern Tagen die nordamerikanischen Freistaaten durch Absendung eines Geschwaders unter dem Commodore M. C. Perry zu brechen, und ob Bruder Jonathan das, was ihm anscheinend gelang, auch in Wirklichkeit gelungen ist, muß die Zeit lehren. Wir aber begleiten den Commodore Perry an der Hand unseres deutschen Landsmannes W. Heine auf seiner Expeditionsreise und nehmen zugleich Gelegenheit, des letzteren trefflichen Bericht [3] auf’s Wärmste zu empfehlen.

Commodore Perry nahete sich dem japanischen Gebiete am 26. Mai 1854, als am Morgen mit Tagesanbruch man vom Schiffe aus eine der Liu-Kiu-Inseln in Sicht bekam. Ihre Südwestspitze besteht aus senkrecht aus dem Meere emporsteigenden Felsen, während die andern Seiten sich ziemlich sanft in üppig grünende von schönen Baumgruppen unterbrochene Felder abflachten, und so einen überaus anmuthigen Anblick gewährten. Man fuhr vorüber, wie im Laufe des Tages wohl noch an zwanzig andern, bis endlich um fünf Uhr die Ankerketten im Hafen von Napa fielen.

Schon am nächsten Morgen kamen zwei Boote aus Napa und überbrachten die Geschenke des Hadji-madji oder Bürgermeisters, in zwei Ochsen, einigen hundert Eiern, Gemüsen und süßen Kartoffeln bestehend. Auf dies Verfahren bereits durch frühere Reisende aufmerksam gemacht, war beschlossen worden, ohne Entschädigung dafür nichts anzunehmen, und so mußte der Hadji-madji sich bequemen, ein Gegengeschenk anzunehmen. Nur Wenige von der Mannschaft waren an diesem Tage an’s Land gegangen, wogegen am folgenden einer weit größeren Anzahl die Erlaubniß dazu gegeben ward. Unter ihnen war auch unser Landsmann Heine.

Die Stadt Napa, deren Häusergruppen sich auf unserer Illustration links im Mittelgrunde zeigen, ist der bedeutendste Handelsplatz der Liu-Kiu-Gruppe und liegt auf der Hauptinsel dieses Namens. Ein Fluß, für chinesische Dschunken tief genug, bildet den innern mit steinernen Vertheidigungswerken versehenen Hafen, während der äußere, in welchem die amerikanischen Schiffe ankerten, durch eine halbmondförmige Krümmung der Küste von dem [346] Lande, und durch eine Reihe von Korallenriffen von der Seeseite eingeschlossen wird. Nur drei Einfahrten waren verblieben. Die Stadt dehnt sich längs der Küste aus und mag in vielleicht 4000 Häusern gegen 20,000 Bewohner enthalten. Die Straßen sind breit, mit großen Korallenblöcken gepflastert und werden in dem von Reicheren bewohnten Stadttheile von Mauern zu beiden Seiten begränzt, durch welche die Eingänge zu den dahinter liegenden Wohnhäusern führen. Niemand wagte, sich den angekommenen Fremdlingen zu nähern, viele aber sahen neugierig hinter Mauern, Bäumen und aus den Seitenstraßen hervor, ergriffen aber sofort die Flucht, sobald einer der Amerikaner nur Miene machte, sich ihnen zu nähern oder gar sie anzureden. Während einer zweiten Landung auf Liu-Kiu glückte es unserm Landsmanne, in Gesellschaft eines seiner Freunde eine genauere Kenntniß von der Stadt und dem Innern der Häuser zu erlangen. Beide waren während der Nacht am Lande geblieben, hatten sich von den Moskitos tüchtig stechen lassen, und waren darauf am andern Morgen längs des Flusses den Schnepfen nachgegangen. Eben war die Sonne aufgegangen, es war früh am Morgen, die Straßen noch völlig menschenleer.

Napa, auf der Insel Liu-Kiu.

Unsere Abenteurer befanden sich gerade in dem der untern Stadt entgegengesetzten, etwas höher gelegenen Stadttheile, dem Aufenthaltsorte der wohlhabenderen Klassen. Alle Thüren der Höfe, Gärten und Häuser standen offen, so daß Diebe eine hier unbekannte Klasse der menschlichen Gesellschaft zu sein schienen, und in Wahrheit gehören Eigenthumsvergehen in Japan zu den fast unerhörtesten, jederzeit aber mit dem Tode zu bestrafenden Verbrechen. Die Versuchung war zu groß, Räume, welche man bisher dem Eindringen der Fremdlinge beharrlich verschlossen hatte, standen jetzt offen, wer könnte da widerstehen! Unsere Freunde gelangen durch das in der 8–10 Fuß hohen Mauer befindliche Eingangsthor in den mit Buchsbaumhecken und nett gehaltenen Blumenbeeten versehenen Hof. In ihm liegt das einfach aus Holz erbaute Haus, das vorn eine oder einige Vorhallen besitzt, hinter welchen die Wohngemächer liegen. Hölzerne Schieber bilden in ihnen die Scheidewände; man kann sie beliebig entfernen und dadurch die Zimmer bald vergrößern, bald verkleinern. Nach der Hofseite zu sind sie meist weggenommen. Ist schlechtes Wetter, so setzt man Fenster von geöltem Papiere ein, wird dagegen die Wärme zu groß, so läßt man Jalousien aus gespaltenem Rohre herab, durch welche man zwar aus dem Hause die äußeren Räume sehen kann, die aber keinen Blick in das Innere des Hauses verstatten.

Da sich nirgend nur irgend ein Bewohner des Hauses sehen oder hören ließ, so ward die Entdeckungsreise fortgesetzt, und man gelangte in den eigentlichen, an der Rückseite des Hauses gelegenen Garten. Er ähnelte ziemlich den chinesischen Ziergärten, war aber kleiner und dabei geschmackvoller angelegt und mit schönen Blumen geschmückt. In der Mitte befand sich ein Wasserbassin, dessen Ränder mit Muscheln und allerlei bunten Steinen verziert waren, und in dessen Tiefe Goldfischchen sich lustig herumtummelten. Da die Jalousien des Hauses offen waren, so näherte man sich ihnen vorsichtig und lugte durch die Oeffnung. Auf den dicken Strohmatten, welche den Boden aller japanischen Wohnungen bedecken, lagen drei Frauen und zwei kleine Kinder im tiefsten Schlafe, nicht ahnend, daß ein paar freche Fremdlinge gewagt hatten, bis in’s Allerheiligste der guten Insulaner zu dringen. Leise, wie man gekommen, ward auch der Rückzug genommen, hatte man doch die Neugierde befriedigt und das Innere eines japanischen Privathauses gesehen, ohne selbst beobachtet zu sein.

Die Reisenden konnten sich das Vergnügen nicht versagen, ihre Wanderung auch nach den tiefer gelegenen Stadttheilen fortzusetzen. Die Scene wurde allgemach lebendiger und auf dem Marktplatze angekommen, fanden sie den Handel bereits im besten Gange. Mehrere hundert Frauen der niedern Stände saßen hier hinter Körben und Verkaufsständen, und boten Schweinefleisch, Geflügel, verschiedene Gemüse, als Bohnen, Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken u. s. w. feil. Während das so ganz unerwartete Erscheinen der Fremdlinge einige zur sofortigen Flucht veranlaßte, blieben die andern ruhig sitzen, und da nunmehr jene sahen, daß man diesen kein Leid zufügte, so kamen sie auch bald wieder. Heine kaufte eine schöne Wassermelone, die beim Frühstück verzehrt, trefflich mundete. Ein gleichbeliebter und vorzüglicher Artikel schienen eine Art süßer Käse zu sein, die, in Würfel unserm limburger ähnlich geformt, auf Kohlen geröstet oder auch gleich frisch gegessen, recht angenehm schmeckten.

Beim Weitergehen gelangte man an den innern Hafen, in welchem viele japanische Dschunken lagen, von denen in den letzten acht Tagen ungefähr 16–20 eingelaufen sein mochten. Hier war es auch, wo man dem ersten japanischen Nobile, an seinen zwei im Gürtel getragenen Schwertern zu erkennen, begegnete. Ein Theil seines Kopfes war glatt geschoren, das übrig gelassene [347] Haar aber sauber gekämmt, geölt und auf dem Wirbel in einen Knoten geschlungen, der Bart zwar dünn, doch sorgfältig gepflegt. Seine Kleidung bestand in einem langen, grau und weiß gewürfelten Gewande mit weiten Hängeärmeln und war aus einem äußerst feinen, durchsichtigen Stoffe gefertigt. Ueber diesem Gewande trug er ein anderes Stück von demselben Stoffe, nach Art der schottischen Plaids eigenthümlich um Brust und Schultern, gefaltet, so daß es fast einem Panzer glich. Außer den bereits erwähnten zwei Schwertern, mit denen er auf Befehl seines kaiserlichen Herrn sich den Bauch aufzuschlitzen hat, trug er im Gürtel noch einen Fächer, ein kurzes Pfeifchen mit äußerst kleinem Kopfe in seidenem Ueberzuge, einen kleinen seidenen Tabacksbeutel und endlich in der Hand einen papiernen, schwarzlackirten Sonnenschirm. Auch er ging an den Fremden vorüber ohne scheinbar die mindeste Notiz zu nehmen, wogegen sie natürlich dasselbe thaten. Zuletzt besuchten diese noch einige Dschunken, wurden hier mit Thee und Sacky (eine Art Liqueur) bewirthet und von der japanischen Mannschaft freundlich und leutselig, doch nicht ohne die überall bemerkbare Scheu aufgenommen, da alle wußten, wie streng der Umgang mit Fremden geahndet ward.

Da unter der Mannschaft des Schiffes sich auch ein Daguerreotypist befand, so machte sich Heine mit diesem auf, Gruppen von Eingebornen aufzunehmen, ganz wie man sie auf den Straßen und Plätzen der Stadt unbeweglich, gleich Statuen, und rauchend im Schatten schöner Bäume fand. Alle waren dazu bereit, so wenig sie auch anfangs unsern Zweck erriethen, und ließen sich behufs besserer Gruppirung an die betreffende Stelle führen, wo sie steif und unbeweglich verharrten, bis man mit der Hand ein dankendes Zeichen gab, nun aber nicht wenig erstaunt, ihre ehrenwerthen Persönlichkeiten in gleich wunderbarer Weise und kurzer Zeit so treu wiedergegeben zu finden. Im Allgemeinen fand man die Eingebornen höchst mild, artig und liebenswürdig. Nie war man Zeuge eines Actes von Bestrafung, noch eines Zankes oder einer Rohheit. Schwere Arbeit schien auch hier das Loos der niederen Klassen zu sein, während alle nur einigermaßen vornehmeren Männer einen großen Theil des Tages an angenehmen schattigen Plätzen saßen und Taback rauchten oder aus mitgebrachten kleinen, hübsch lackirten, mehrere Schubfächer enthaltenden Kästen allerlei Eßwaaren verzehrten und dazu Thee oder Sacky tranken.

Die Mannschaft der amerikanischen Flotille hatte bereits am 29. Mai die Ehre, den Regenten der Liu-Kiu-Inseln in einem officiellen Besuche an Bord zu sehen, nachdem einige Vorverhandlungen über den Zweck ihres Hierseins vorhergegangen waren. Er ward mit allen kaiserlichen Ehren empfangen, bewirthet und überall im ganzen Schiffe herumgeführt. Der Regent war ein ehrwürdiger Greis, welcher während der Minderjährigkeit des erst 12 Jahre alten Fürsten das Regiment führte. Sein Gefolge bestand größtentheils aus alten Männern mit langen Bärten; das Haupthaar war von allen Seiten aufwärts gekämmt und auf dem Scheitel in einen zierlichen Knoten geflochten, durch welchen zwei Metallnadeln gesteckt waren. Die Kleidung bestand aus einem langen Kaftan mit weiten Aermeln und war aus einem feinen Stoffe gefertigt. Ein Gürtel hielt dieses Kleidungsstück zusammen und trug zugleich den Fächer, die Tabackspfeife und den seidenen Beutel. Unter dem Kaftan trugen die vornehmeren Männer noch ein feines Hemde, weite bis an’s Kniee reichende Beinkleider und genähte Strümpfe, in denen sie auf dem Schiffe, wie sie es auch in ihren Häusern zu thun pflegen, herumgingen, da sie die übrige Fußbekleidung aus Höflichkeit im Boote zurückgelassen hatten. Die Salutschüsse beim Abschiede versetzten sie in nicht geringen Schrecken, mehrere fielen beinahe um.

Commodore Perry beschloß, nach diesen Formalitäten eine Expedition in das Innere der Insel abzusenden, und da unser Heine sich unter den vier Hauptpersonen derselben befand, so haben wir Gelegenheit uns vom Zustande des Landes zu unterrichten. Der Weg führte von Napa aus über wohlangebaute Felder, unter denen ein Theil Reisfelder, nach Schuy, der eigentlichen Hauptstadt der ganzen Insel. Die Straße, 18–20 Fuß breit und mit Steinblöcken gepflastert, war meist mit Bäumen bepflanzt, welche einen recht angenehmen Spaziergang bildeten. Auf den Feldern war man eben beschäftigt, Reis zu pflanzen. Sämmtliche Felder sind terrassenartig angelegt und werden dadurch reichlich bewässert, daß kleine Kanäle das Wasser oberhalb liegender Quellen der nächsten Terrasse zuführen, welche es, nachdem sie überrieselt der folgenden zusendet, wo es denselben Zweck zu erfüllen hat. Hierdurch wird der Boden stets sumpfig erhalten. Im Frühjahr werden erst kleine Stücken mit Reis besäet, die dadurch gewonnenen Pflanzen aber später, wie bei uns die Kohl- und Krautpflanzen, weiter verpflanzt. Eben war man hiermit beschäftigt, doch fand man auch Felder, auf denen der Reis in vollen Aehren stand.

Schon von Napa aus war die Expedition von drei Eingebornen begleitet, jedenfalls Personen von gewissem Range, welche sie fortan keinen Augenblick mehr verließen, und augenscheinlich dazu abgeordnet waren, zu erspähen, was die wunderlichen Fremdlinge wohl vorhätten. Es war eine ältere und zwei jüngere Personen. Alles, was man that, ward von jedem Einzelnen gewissenhaft niedergeschrieben, und diese Niederschriften Abends verglichen. Trennte sich einer der Amerikaner von den übrigen, so konnte man gewiß sein, daß ihm einer der Späher folgte. Als das mitgenommene Gepäck sich für die als Lastträger begleitenden Chinesen zu schwer erwies, so wurden von den Spähern sofort einige Eingeborne aufgefordert, die Last zu tragen, und wenn auch diese müde waren, so nahm man oft Leute von der Feldarbeit weg, welche dem erhaltenen Befehle auch sofort Folge leisteten. Ebenso sorgten die drei Begleiter für die nöthigen Lebensmittel, und nur nach vielen Bemühungen gelang es später, sie zur Annahme von Bezahlung zu bewegen. Dicht vor Schuy, das wie Napa, doch in einem etwas großartigerem Style erbaut war, nöthigten die Begleiter in einem der Einkehrhäuser (Kunk-kwa) einzusprechen und Erfrischungen einzunehmen. Es war von Holz gebaut und glich in seiner Einrichtung dem bereits oben beschriebenen. Der Wirth, eine Art Magistratsperson, klatschte nach vorangegangenen Verbeugungen in die Hände, worauf Diener erschienen, welche für jeden ein hölzernes Tellerchen nebst einer Porzellanschale mit brennenden Kohlen und einer Aschenbüchse zum Ausklopfen der Pfeife brachten. Auf ein zweites Zeichen wurden kleine Tassen mit Thee, jedoch ohne Milch und Zucker herumgereicht. Das Zimmer war mit Teppichen belegt, die man jedoch nur mit den Strümpfen betrat. Diese Herbergen, sowie die Empfangsceremonien blieben sich überall[WS 1] vollkommen gleich. Die ganze Reise dauerte sechs Tage und führte durch äußerst fruchtbare, wohlangebaute Gegenden, in denen kein Plätzchen unbenutzt gelassen war. Ueberall ward man auf das Leutseligste aufgenommen und behandelt, mit Lebensmitteln versehen, wie sie eben das Land darbot, meist in Hühnern, Eiern, Fröschen und gesalzenen Fischen, Gurken, Kürbissen, eingemachten Zwiebeln, Reis und einer Art süßer Kartoffeln bestehend. Die Bezahlung ward von den uns begleitenden Beamten besorgt und war ungemein mäßig. Ueberall wo man einkehrte, war die höchste Sauberkeit vorherrschend, Höfe und Gärten sorgfältig gefegt und mit feinem, weißem Flußkies bestreut. An den Eingängen fanden sich stets Wasserbehälter, in denen man Gesicht, Hände und Füße wusch, was für Hand und Gesicht auch vor und nach dem Essen regelmäßig und streng beobachtet ward. Nirgend fand sich Ungeziefer, die leidigen Moskitos ausgenommen. Von dem Gesehenen reich belohnt und belehrt, kehrte man endlich nach Napa zurück, um von hier aus der Einladung des Regenten von Liu-Kiu zu folgen, wobei man die Sitten der Bevölkerung recht genau kennen zu lernen Gelegenheit hatte.

Schon am Morgen des 6. Juni war die Rhede mit den Booten aller Schiffe bedeckt, welche die für die Procession bestimmten Abtheilungen mit ihren Officieren an’s Land bringen sollten. Man wollte imponiren, hatte deshalb Alles aufgeboten, und sich dabei möglichst an die Sitten der Japaner angeschlossen. Commodore Perry ward in einem Tragsessel von Chinesen getragen, Militair zog voran und folgte, die Musikcorps der verschiedenen Schiffe, so wie die Trommler waren nicht vergessen und stolz flatterte das Sternenbanner der Vereinigten Staaten. So ging der Zug in lustigem Geschwindmarsch nach der Hauptstadt Schuy, an deren Thore der Regent unter einem großen Sonnenschirme einherschreitend und mit der Würde und Gravität eines ehemaligen Dogen von Venedig den Commodore empfing. Alle Großwürdenträger waren versammelt mit zahlreichem Gefolge, allein schon am Eingange in das Schloß bot sich ein unerwartetes Hinderniß, indem der Regent den Commodore nicht hier, sondern in seiner Privatwohnung empfangen wollte. Dem widersetzte man sich, da die Officiere eines englischen Schiffes auch im Schlosse empfangen worden waren, und so gestattete man endlich das Verlangte. Das Schloß war groß und mit weiten Höfen umgeben, in deren zweitem [348] die Empfangsceremonie stattfinden sollte. Nach Versicherung friedlicher und freundschaftlicher Gesinnungen überreichte man die mitgebrachten Geschenke, worauf unter vielen Verbeugungen Thee und Backwerk servirt wurden, letzteres aber nur vorläufig, da das Bankett in der Privatwohnung des Regenten hergerichtet war. Dahin begab man sich. Die Gewehre wurden in Pyramiden gesetzt, die mitgebrachten Geschütze aufgefahren und die Mannschaft mit einem Extra-Grog bewirthet. Für die vornehmeren Gäste waren in einer besonderen Halle Tafeln mit einer höchst bedeutenden Zahl kleiner Tellerchen gedeckt, sämmtlich mit allerlei Delikatessen versehen und recht nett angeordnet. Thee ward in den schon bekannten kleinen Täßchen gereicht, doch war dies Alles nur die Einleitung zum eigentlichen Mahle, welches aus 12 verschiedenen Sorten Suppen bestand, und deshalb ein königliches war, da nach dem Range des Gastes dieses bald aus 3, bald aus 6 oder 9 Gängen besteht. Alle Suppen kamen in Schüsselchen von der Größe einer Untertasse und bestanden aus Fleisch, Fisch, Gemüse, Eierklöschen u. s. w., waren aber durchgängig höchst schmackhaft bereitet, besonders eine Sorte, welche man als – Hundesuppe bezeichnete. Thee und Sacky machten den Schluß der Tafel. Zum Zuführen der kleinen Schaugerichte nach dem Munde bediente man sich schwacher Ebenholzstäbchen, welche mit dem Daumen und dritten Finger gehalten, mit dem Zeigefinger gelenkt wurden. Selbst die Suppe sollte so genossen werden, doch kam man dem amerikanischen Ungeschick durch Darreichung kleiner Porzellanlöffel entgegen.

Nach etwa einer Stunde trat man in heiterer Stimmung den Rückweg an. Man gelangte unter den Klängen fröhlicher Weisen mit fliegenden Fahnen auf von schönen Kiefern beschatteten, über Hügel und üppige Felder sich hinschlängelnden Wegen bald in die Nähe der Schiffe, von denen die zurückgebliebene Mannschaft den fröhlich Heimkehrenden entgegen kam, nicht unerfreut über das gute Einvernehmen mit den Eingebornen, denn von dem ersten Besuche hing viel für die Folge ab, und einen solchen Empfang in einem Japan tributpflichtigen Lande, welches gleichsam die Eingangspforte zum Reiche selbst bildet, durfte man wohl für ein günstiges Anzeichen erachten. Am 2. Juli verließ das Geschwader Napa und langte am 8. bereits vor Niphon, in der äußeren Bai von Jeddo an.




Blätter und Blüthen.

Im Adlerhorst. Ueber den Adlerfang im algauer Hochgebirge werden in dem Berichte des naturhistorischen Vereins in Baiern interessante Details mitgetheilt. Die Räubereien, die die Adler in diesem Gebirge seit längerer Zeit an den Heerden verübten, waren namentlich im Mai 1851 bedeutender als je. Man hatte bald die Gewißheit, daß im Oythale auf der Ostseite des Oberzillerthales ein paar dieser Räuber den alten Horst an der Adlerwand bezogen hatten. Man sah bei hellem Wetter zuweilen einen oder beide Adler hoch im Aether gleich schwarzen Pünktchen schweben, majestätisch und ruhig mächtige Kreise ziehend, bald dem Auge entrückt, hinter den Seeköpfen, dem Himmeleck oder der wilden Höfats verschwindend, im nächsten Augenblicke hoch über dem Auge des Beobachters über das Thal ziehend. Die Höhe des Fluges mag mehr als 7000 Fuß über dem Meere und gewiß 4000 Fuß über der Thalsoole messen. Nicht selten wurde der Adler beobachtet, wie er mit Beute beladen nach der Adlerwand sich herabsenkte, um dort in der Höhe auf dem flachen Vorsprunge für sich und seine Nachkommenschaft die Schlachtbank aufzuschlagen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1851 stiegen vier erfahrene Steiger die Seewände hinan, die den Kamm bilden, unter welchem die Adlerwand senkrecht in’s Thal abfällt. Sie waren mit dem 450 Fuß langen Taue versehen, mittels welchem ein Waghals die Wand herabgleiten sollte, um den jungen Vogel aus dem Horste zu nehmen. Beim Morgengrauen des 4. Juli stieg der Forstgehülfe Karl Agerer von Fischen an den Wänden nach dem Horste hinaus, und näherte sich demselben bis auf etwa 40 Schritte, soweit einem kräftigen und unerschrockenen Steiger die Annäherung an dieser überaus steilen und zerrissenen Wand möglich war, denn Gang und Stand auf solchem Terrain mißt nicht nach Fuß, sondern nach Zollen. Vielfache Beobachtungen hatten ergeben, daß die Adler meist bei anbrechendem Tage und fast gewiß gegen zwölf Uhr Mittags zur Aetzung der Jungen in den Horst streichen. Dies gab die Möglichkeit, einen der Alten mit der Büchse zu erlegen. Drei Uhr Nachmittags war als die Stunde bestimmt, in der der kecke Waghals an dem Taue vom Kamm in die Tiefe zum Horst hinabgelassen werden sollte. Gegen ein Uhr gewahrte man den Adler hoch in der Luft in der Richtung des großen Seekopfes. Langsam und ruhig ließ sich der königliche Vogel nach dem Horste herab. Die Sonne glänzte durch seine weiten Schwingen, und nachdem er sich dem Schützen bis aus etwa hundert Gänge genähert, bemerkte man einen Stoß im Vogel, der ihn in seinem Fluge unmerklich rückwärts warf, und einen Augenblick darauf schlug der Schall des Schusses in das Thal herab. Der Adler hatte seinen Lauf verlassen und beschrieb einen mächtigen Halbkreis durch die Breite des Thales. Schon glaubte man an einen Fehlschuß, als plötzlich der Vogel zusammenbrach und in einen Fichtenwald herabstürzte. Nach einer halben Stunde wurde der Adler gefunden, es was das Weibchen und ziemlich bejahrt, denn das Gefieder war stark gebräunt, die Iris feuerfarben, die hintere Kralle fast drei Zoll lang, er maß mit ausgebreiteten Schwingen etwas über acht Fuß. Die Kugel war dem Thier rechts am unteren Ende des Brustbeins eingedrungen, und trotzdem hatte es seinen Kreisflug ohne Flügelschlag im weiten Raume fortgesetzt, bis ihm der Tod zum Herzen drang.

Nach drei Uhr wurde dann zum Adlerfang das Zeichen gegeben, und bald konnte man mit einem Fernrohre auf dem Kamme der Wand den Mann des Wagnisses erblicken, der in weißen Linnen gekleidet war, um ihn an der dunkeln Wand leichter unterscheiden zu können. Er setzte sich auf das Querholz an dem Ende des Taues und begann langsam und bedächtig die Fahrt in die grausige Tiefe. Der Mann war mit einer Hackenstange bewaffnet, um sich von den Ecken der Felswand abstoßen zu können, und unten in der Höhle des Horstes, die Hacke einschlagend, durch schaukelnde Bewegung die schmale Felsplatte vor dem Horste mit dem Fuße zu gewinnen. Alle diese gefährlichen Bewegungen konnte man vom Thale aus sehen, wie die weiße Gestalt, oft in drohendem Wirbel tanzend, dem Ausdrehen des Taues folgte, um, eine kleine Weile stillstehend, denselben schwindligen Tanz in entgegengesetzter Richtung zu beginnen. Endlich gelangte er der Höhle gegenüber an, und einige kräftige Schwingungen an dem Taue schleuderten ihn in den Horst. Sehen wir, was für ein Bild ein solcher Adlerhorst gewährt. Fast immer ist er unter einem überhängenden Felsen in einer seichten Höhle und an einer stets unzugänglichen Wand nachlässig gebaut, hat in der Mitte meist keine weiche Unterlage, welche mit einem Walle von starken und schwachen Aesten und Zweigen umgeben ist. In demselben und in der Umgebung sieht es bunt aus von den Resten des Raubes. Pelzwerk und Gebeine von Hasen, Murmelthieren, Schafen, Ziegen, Gemsen, Edelmardern und Wieseln, Federn und Hautstücke von Vögeln aller Art liegen und hängen an Gestein, Wänden und Gesträuch umher. Lange Röhrknochen und dicke Wirbel, Hornklauen und Vogelkrallen, Ballen von Haaren und Federn von dem Adler verschlungen, erstere schichtenweise vom Magensäfte aufgelöst und gänzlich verdaut, letztere gewöhnlich in faustgroßen Ballen wieder ausgespieen. – Im Horste befand sich ein junger Adler. Erschreckt von der ungewohnten Erscheinung duckte er sich tief nieder, der Jäger that einen kecken Griff in Rücken und Hals des Thieres und versicherte sich in demselben Augenblicke mit der andern Hand der beiden Unterschenkel, sie zwischen Fang und Kniee fest in die Faust nehmend, und brachte so den Vogel mit einem raschen Ruck unter den Arm der Hand, welche die Unterschenkel gepackt hatte. Nun schwang er sich mit dem geraubten Vogel aus dem Horste und fuhr in die Tiefe, wo der Weg in’s Thal möglich war. – Oft kommt es bei einem solchen Raube der jungen Adler vor, daß eines der Alten auf einen Felsen in der Nähe sitzend dem Vorgange in seinem Horste ruhig zuschaut, und es ist überhaupt eine Fabel, daß der Adler beim Raube seiner Jungen sich zur Wehre setzt. Kommt eines der Alten während des Fanges zum Horst, so geschieht es aus Unvorsichtigkeit, denn in den meisten Fällen läßt er im Heranziehen zum Horste pfeilschnell von der Richtung ab und flieht scheu und feig, sobald sein scharfes Auge die Gegenwart von Menschen entdeckt hat. Der Adler wird in dieser Beziehung mit dem Lämmergeier verwechselt, der allerdings oft den Kampf mit den Räubern seiner Brut aufnimmt. Dagegen sind schon oft Beispiele vorgekommen, daß Kinder von den Adlern angegriffen wurden und ein solches ist aus Graubündten bekannt geworden, wo in einem Bergdorfe ein Adler ein zweijähriges Kind wegtrug. Im Oythale erzählte man, daß ein heftiger Windzug und Aufwirbeln des Staubes eine Mutter veranlaßte, vor die Thür zu treten und nach der Ursache zu sehen. Da sah sie einen mächtigen Adler wenige Schritte von ihrem im Sande spielenden Kinde, dem er bei dem zweiten Fluge die Fänge in die Lenden geschlagen haben würde. Auch Hunde sind dem tollkühnen Vogel gegenüber in Gefahr, wie Pfarrer Linz berichtet, der bei einem Spaziergange auf eine Alpe, durch das Heulen seines großen fetten Pudels aufmerksam gemacht, einen Adler auf dessen Rücken sitzen und Schnabelhiebe auf den Kopf des Hundes führen sah. Durch lautes Rufen und Herbeilaufen ließ der Adler von dem übel zugerichteten Pudel ab. – Der Adler fängt sich leicht in Fuchseisen, wenn es in der Höhe seines Striches zur Winterszeit gelegt wird, sofern die Witterung im Eisen ihm ansteht und dasselbe rostfrei und gut gedeckt ist. – Nach den bisherigen Erfahrungen brütet der Adler das Ei etwas mehr als 30 Tage und dieselbe Zeit ist nöthig bis zum Flüggewerden des Vogels. Nach dieser Frist, in der fünften und sechsten Woche nach gebrochenem Ei, ist das Gelingen des Adlerfanges nicht mehr sicher. Jener junge Adler mochte vor ungefähr 4 Wochen das Ei gebrochen haben, seine Deckfedern waren schwarzbraun, dazwischen quoll weißer Flaum, was ihm ein buntes Aussehen gab. Seine Größe kam der eines starken Haushahns gleich.


Zur Beachtung!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Kerner: Franz Anton Mesmer S. 70.
  2. Wie weit Mesmer, der Erfinder des thierischen Magnetismus, ein Mann der Wissenschaft war, wie weit er just in diesem historisch-wahren Falle operativ zu Werke ging, um dann mit dem Ergebniß seiner wunderbaren Kraft zu prahlen, ob er selbst an seine Kraft glaubte oder nur ein gewöhnlicher Charlatan war, ob Therese überhaupt jemals sehend gewesen oder nicht – das zu untersuchen liegt nicht im Bereiche der Novellistik, deren Aufgabe es hauptsächlich mit ist, den Helden der Erzählung möglichst interessant hinzustellen. Ob dies der talentvollen Verfasserin gelungen, mögen unsere Leser selbst entscheiden. Was den thierischen Magnetismus selbst betrifft, so verweisen wir auf Gartenlaube Nr. 32. Jahrg. 1854.
    Die Redaktion.
  3. Reise um die Erde nach Japan am Bord der Expeditions-Escadre unter Commodore M. C. Perry in den Jahren 1853–1855. Deutsche Original-Ausgabe von W. Heine. Erster Band. Leipzig, Costenoble. Der von uns gegebene Holzschnitt von Kretzschmar, gezeichnet nach der Natur von Heine, ist diesem Werke entnommen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: überab