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Die Gartenlaube (1856)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[285]
Wie gefällt Ihnen meine Braut?
Von Heinrich Smidt.
(Schluß.)

Unterdessen war es dem Onkel Bastian im Kopfe herumgegangen, daß der Peter mit seiner Waldgans zur Tante Emerentia gegangen sei und diese günstig für seine Pläne stimmen könne.

Da ihm der Gedanke unerträglich war, die Einfalt vom Lande in der Familie zu haben und sie vielleicht in seinem Hause empfangen zu müssen, machte er sich sofort auf den Weg, um dies Schreckliche zu verhindern, und trat in das Zimmer der Schwester, als diese gerade über die arme Johanna das Anathema ausspräch. Er blieb unfern der Thür stehen, den Hut auf dem Kopf behaltend und rief:

„Was geht hier vor?“

„Ich sterbe!“ sagte Tante Emerentia plötzlich schwach.

„Das wäre kein Unglück!“

„So ein junger Naseweis!“

„Aha, der Neffe! Um seinetwillen bin ich hier. Da steht er und hat die Mamsell Liebste bei der Hand. Er will sie heirathen. Was sagst Du?“

„Nimmermehr!“

„Du willst es nicht? Bravo! Ich will es auch nicht. Bravissimo! So eine Duckmäuserin!“

„So ein Weltkind!“

„So eine Kopfhängerin!“

„So eine Sabbathschänderin!“

„So eine Bauerneinfalt!“

„So eine Kokette!“

„Soll nicht in die Verwandtschaft!“

„In Ewigkeit nicht!“

„Schwester Emerentia!“

„Bruder Bastian?“

„Wir sind selten einig!“

„Niemals!“

„Aber diesmal sind wir es. Die Jungfer da –“

„Wird Peter’s Frau nicht. Punktum!“

„Abgemacht! Ich komme sobald nicht wieder daher.“

Onkel Bastian sprach es und war auf und davon.

Johanna schwamm in Thränen, und Peter, dem selbst das Weinen näher war als das Lachen, führte sie, ihr tröstlich zusprechend, in das Haus der Frau Muhme.

Geduldig hörte diese die Klagelieder der jungen Leute an und sagte darauf: „Nichts ist so schlimm als es Anfangs aussieht. Man muß nur den Muth nicht verlieren. Als ich von meinem Vater, der bei einer kleinen Truppe Schauspieler war, gezwungen ward, auf dem Theater zu tanzen und zu springen, wollte ich mir auch die Augen aus dem Kopfe weinen, weil die Eltern des jungen Mannes, mit dem ich halb und halb versprochen war, von einer Theaterprinzessin nichts wissen wollten. Am Ende ging es leidlich; mein’ Bischen Comödienspielen hat mir oft genützt und den guten Franz habe ich doch schließlich zum Manne bekommen. Darum sage ich Dir, mein Kind, daß Du Deine Sache dumm gemacht hast. Was der Mensch nicht ist und nicht sein kann, muß er den Narren zu gefallen oft scheinen – das will ich Dir später deutlich machen. Jetzt bleibst Du bei mir und der Peter geht auf das Gut zurück. Wenn er über’s Jahr wieder kommt, um den Pacht zu bringen, wollen wir weiter von der Geschichte sprechen.“

Das wollte weder dem Peter noch der Johanna in den Kopf; aber sie mußten sich fügen. Nach einem herzbrechenden Abschiede fuhr Peter zur Stadt hinaus, und wer kann sagen, wie lang ihm das nun folgende Jahr geworden. Endlich aber, wie denn Alles einmal ausläuft, kam auch der lang ersehnte Tag heran, und Peter fuhr, was seine beiden Rappen laufen konnten, vom Pachthofe herunter.




II.

„Brr!“ rief der Kutscher zur Mittagsstunde, und die Kalesche hielt, statt bei dem Onkel oder der Tante, vor dem Hause der Muhme. Peter sprang heraus und meinte, die Johanna werde ihm nun gleich um den Hals fallen. Aber sie kam nicht. Verdutzt ging er in das Haus und in die Stube, wo die Muhme auf seine stürmischen Fragen gelassen antwortete, die Nichte sei nicht daheim, denn Onkel Bastian gebe heute ein Gala-Diner, und Johanna mache daselbst schon seit längerer Zeit die Honneurs des Hauses. Kopfschüttelnd entfernte er sich und kam, wie im wachen Traum in dem Hause des Onkels an.

Das war ein Durcheinander und Uebereinander, und wie viele galonnirte Diener auch umherliefen, er fand kaum Einen, der ihm Rede stand und halb hinhorchend erwiederte:

„Sprechen Sie doch selbst mit dem gnädigen Fräulein! – August, führen Sie diesen Mann, der mit dem gnädigen Fräulein zu sprechen hat.“

August that es und ging mit ihm durch mehrere Zimmer; fragte Jeden, wo das gnädige Fräulein sei, und ob Keiner dieselbe gesehen habe?

[286] „Das gnädige Fräulein ist im Salon und zeigt dem alten Herrn die neuen Tafelaufsätze, welche sie aus Paris hat kommen lassen,“ antwortete ein Anderer. „Komm nur, es ist genug zu thun. Der Mann kann ja hier warten.“

Die Diener liefen weg. Peter stand da und faßte sich an den Kopf. Er glaubte, daß er träume. Der Lärmen dauerte fort, aber es kam Niemand, der ihn zu dem Onkel führte, wie es doch sonst der alte Balthasar stets gethan. Der aber war nirgend zu sehen und überall im Hause fremde Gesichter.

Endlich kam Johanna und mit ihr der Onkel. Der alte Herr war nicht wieder zu erkennen. Sein ganzes Gesicht strahlte wie Sonnenschein, und zu Johanna sprach er nie anders, als: „Mein Püppchen! Wie willst Du das blaue Zimmer arrangirt haben?“ Oder: „Sage mir, mein Herzchen, was räthst Du mir für Mittwoch Abend?“

„Mittwochs nach der Oper habe ich Spiel und Souper angeordnet,“ sagte sie leichthin. – „Ah! Guten Tag, Peter! Läßt Du Dich auch einmal sehen? – Ueberhaupt,“ fuhr sie wieder gegen den Onkel gewendet fort, „ist die ganze Woche besetzt und höchstens über den Donnerstag wäre zu disponiren. Aber auch für den Abend können Sie nichts voraus bestimmen, denn der Baron Verbreuil wird von Paris zurückkommen, und Sie wissen wohl, er nimmt es übel, wenn man seine erste Soiree nicht wenigstens eine Stunde besucht. Es ist zwar langweilig da, aber was will man machen.“

„Du hast ganz recht, mein Täubchen,“ sagte der Onkel, ihr einen Kußfinger zuwerfend. „Wie gesagt, Deine Ideen sind immer die besten. Weiß der Himmel, wie Du es nur anfängst! Ah, da ist ja auch der Vetter vom Pachthofe. Guten Tag, Vetter Peter.“

„Guten Tag, Onkel Bastian,“ sagte dieser stotternd. „Ich bringe –“ das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Petit paysan!“ sagte der Onkel, wie entschuldigend zu Johanna. „Man muß es ihm zu Gute halten.“

„O, nicht doch!“ entgegnete sie rasch. „Man muß ihn im Gegentheil informiren, und ich denke, es soll bald gethan sein.“

„Da hörst Du es, was Dir bevorsteht!“ sagte Onkel Bastian lachend. „Was bringst Du denn, kleiner Peter?“

„Den Pachtzins, wenn es erlaubt ist!“ antwortete er kleinlaut, und Onkel Bastian, die Brieftasche nehmend, sprach: „Hier, Täubchen! Ein Beitrag zu Deiner Garderobe. Es wird nöthig sein, denke ich.“

„Sehr nöthig!“ entgegnete sie, mit einem leichten Knix dankend. „Ich war mit meiner Börse fast am Rande, und die Modistin schickte mir gestern ein bedeutendes Conto. Nun, ich lasse die Herren allein!“ Darauf sich ausschließlich zum Peter wendend, sagte sie: „Wir sehen uns wohl bei der Tafel?“ und war alsbald im nächsten Zimmer.

Der Onkel lachte: „Das hättest Du Dir wohl nicht gedacht? Ja, ja! So kann man sich in Leuten irren. That der armen Johanna im vorigen Jahre himmelschreiendes Unrecht. Freilich habe ich es ihr später abgebeten.“

„Ist es denn nur möglich?“ fragte Peter kopfschüttelnd. „Das Mädchen, auf das Sie so gescholten, ist jetzt bei Ihnen Alles in Allem? Ach, Onkel, Herzensonkel, wie gefällt Ihnen denn nun meine Braut?“

„So über alle Maaßen, daß ich sie selbst heirathete, wenn sie nur einen so alten Kerl möchte. Aber Braut? Was will ein solcher Bauer mit dieser Perle der Gesellschaft? Schwatzen wir keinen solchen Unsinn. Du hast gehört, daß Du bei Tafel erscheinen sollst; darum gehe in Deinen Gasthof, und mache eine möglichst anständige Toilette. Allons! Punkt vier Uhr wird bei mir servirt. Und dann ist auch Johanna zurück, die wohl jetzt bei der Tante Emerentia sitzt und scheinbar ihrem Geize huldigt, eigentlich aber, um ihr den Geschmack am Weltleben beizubringen, was mein größtes Gaudium sein soll, wenn es gelingt.“

Peter ging wie im Rausche davon und kam in gleicher Weise zurück. Er stand wie verloren unter der Menge und wurde nicht bemerkt. Johanna hatte für ihn kaum einen flüchtigen Gruß. Sie war so sehr von Herren umlagert, die sich eifrig um sie bemühten; sie hatte für Jeden ein freundliches Wort, eine witzige Pointe, ein angenehmes Kompliment, und als der Kammerdiener anzeigte, es sei angerichtet, wäre schier ein gefährliches Ueberstürzen eingetreten, denn Alle wollten ihr den Arm bieten. Sie aber zog sich mit Grazie zurück, ging allein voran und nahm ihren gewohnten Platz an dem obern Ende der Tafel ein.

Peter hatte sich auf den unscheinbarsten Platz gesetzt, und da sich kein Mensch mit ihm abgab, hatte er vollauf Gelegenheit, zu sehen, was um ihn her vorging. Er gewahrte, daß Försters Johanna in diesem reichen Hause der Anfang und das Ende aller Dinge sei; die einzige Sonne, um welche sich die übrigen als gehorsame Planeten drehten; und daß hier von dem untersten Diener an bis zu dem Onkel hinauf Alle nach ihrer Pfeife tanzten. Zuletzt wurde ihm ganz wirr im Kopfe. Eben so unbemerkt, wie er sich niederließ, stand er auf und ging zum Saal und zum Hause hinaus. Schweigend saß er in seinem Stübchen. Er hatte so vieles Unerwartete erlebt, und konnte den Schlüssel dazu nicht finden. Die Johanna sah noch eben so gut und herzig aus, wie sonst im Forsthause und doch war sie ganz anders; sie stand ihm so fern, daß es ihm schien, als habe er sie gar nicht gekannt, oder sie doch fast bis auf die Erinnerung vergessen. Endlich erbarmte sich seiner der Schlaf und versetzte ihn in das heimische Forsthaus, wo er mit dem alten Herrn Förster seine Pfeife rauchte und eine Parthie Deutsch-Solo spielte, während Johanna am Spinnrade saß und freundlich zu ihm hinüber lächelte.

Mit dem anbrechenden Morgen waren freilich diese lieblichen Bilder verschwunden, und Alles mahnte ihn dringend an seine Pflicht. Hatte er doch gestern in der Verwirrung ganz vergessen, zur Tante Emerentia zu gehen, die dies Versehen gewiß sehr übel vermerkte. So steckte er denn das nöthige Geld ein und machte sich zur schicklichen Stunde auf den Weg zur Tante. Die alte Barbara, die ihm schon auf der Schwelle entgegen kam, sagte auf die Bitte, ihn zu melden, daß sie hier nichts mehr zu sagen habe, und nur noch aus Gnade und Barmherzigkeit im Hause geduldet werde. Sie werde es aber sogleich dem Fräulein sagen. Damit ging sie hinein, kam aber alsbald in Johannens Gesellschaft wieder.

Peter fuhr bei diesem Anblick vor Staunen und Schrecken zurück. War das die prächtige Dame von gestern? So scheu, so demüthig und mit einem so armseligen Fähnchen bekleidet, daß der härteste Stein ein Erbarmen gefühlt hätte.

„Bist Du es denn wirklich, Johanna? fragte er stotternd.

„Ja, mein lieber Peter, ich bin es,“ antwortete sie in einem singenden Tone. „Gott hat große Dinge an mir gethan, als er mich in dies fromme, christliche Haus gesandt hat, wo ich Alles kennen lernte, was allein zum wahren Heil dient, und der guten Barbara hier, die ich wie eine Schwester liebe, sowie der tugendsamen Jungfrau Emerentia, die ich wie eine Mutter verehre, bin ich dafür ewig dankbar.“

Es ist ein braves Kind,“ sagte Barbara, sich die Augen trocknend. „Und sie braucht so wenig, fast noch weniger als ich.“

„Man kann den wahren Beruf des Lebens nicht eher würdig erfüllen, bis man sich von allen irdischen Bedürfnissen losmachte,“ fuhr Johanna fort. „Darnach strebe ich, bin aber noch weit vom Ziele entfernt. Von tausend Dingen, die der Mensch zu seinem Dasein nöthig glaubt, macht er sich leicht bis auf die unentbehrlichsten los, und auch diese lassen sich noch beschränken. Du, mein armer Freund, schmachtest freilich noch in den Banden des schnöden Weltlebens. Aber höre auf mich, die zur Erkenntniß gekommen ist, und ich werde das Glück haben, Dich auf die Bahn des Heils zu leiten, die allein zum wahren Frieden führt. Jetzt aber wird es schicklich sein, daß Du Dich zu der Tante begiebst. Folge mir.“

Tante Emerentia empfing den Neffen in der gewohnten Weise.

Johanna aber sprach: „Es ist Vieles in ihm, was mir mißfällt. Aber wenn er mich wahrhaft liebt, wird er es ablegen und als ein anderer Mensch vor uns erscheinen. Jetzt aber würde es zunächst an der Zeit sein, von Geschäften zu reden, wenn Sie es ihm erlauben.“

Tante Emerentia warf einen freudestrahlenden Blick auf das Mädchen, und gab dem Neffen die Erlaubniß, zu reden. Dieser zählte das Pachtgeld auf und stattete den gewohnten Bericht ab. Die Tante erklärte sich zufrieden und bat Johanna, die Quittung zu schreiben. Zu diesem Zwecke verlangte das junge Mädchen von dem Peter die vorjährige Quittung, und als dieser sich entschuldigte, er habe sie nicht mitgebracht, weil er das nicht für nöthig gehalten, sagte sie strenge: „Nicht mitgebracht? Da sieht man es, wie gedankenlos Du doch eigentlich bist. Wäre sie jetzt zur Stelle, könnte man auf der Rückseite derselben die neue Quittung schreiben. Nun muß ich [287] ein neues Stück Papier nehmen, was recht gut gespart werden konnte. Du bist sehr unbedachtsam, lieber Peter.“

Die Tante lächelte beifällig; Barbara bekreuzte sich und Peter schaute darein, wie der Hammel durch die Stallthür. Johanna hatte unterdessen die Quittung geschrieben und sie der Tante zur Unterschrift darreichend, sagte sie: „Er hat ziemlich gut gewirthschaftet, aber perfekt ist er doch nicht. Wenn es erlaubt ist, mache ich ihn darauf aufmerksam, wo noch hier und da hätte gespart und ein höherer Ertrag erzielt werden können.“

Und nun fing sie an, das Licht ihrer ökonomischen Weisheit leuchten zu lassen, daß die Gesichter der beiden alten geizigen Weiber vor Freude wiederstrahlten und dem Peter grün und gelb vor Augen wurde. Als darauf die Tante das aufgezählte Pachtgeld einstrich und Johanna ihr einen Plan vorlegte, aus welchem sie bewies, wie der Pachtzins in kurzer Zeit zu verdoppeln sei, brach Jene gerührt in die Worte aus: „Du bist ein braves Kind!“ und schloß sie in ihre Arme.

Da hielt es den Peter nicht länger auf dem Stuhl. Er sprang auf und fragte sich: „Bin ich verrückt oder sind sie es?“

Johanna hatte der Tante die Hand geküßt und sagte: „Erlauben Sie es mir, so verlasse ich Sie jetzt und gehe meinem Berufe nach, so sauer es mir auch ankommt.“

„Ja, mein Kind,“ entgegnete Tante Emerentia. „Thue, was Dein Herz Dir zu thun befiehlt. Geh’ zu dem ergrauten Sünder und sprich ihm in’s Gewissen, damit er nach und nach dem weltlichen Tand entsage. Wenn Du das endlich zu Stande bringst, hast Du Dir einen ganz besonderen Platz im Himmel verdient.“

Sie begleitete sie mit den Augen bis über die Schwelle und sagte dann, zu dem Neffen gewendet:

„Mein Triumph ist, daß ich das Mädchen in das Haus meines Bruders gebracht habe. Sie hat Gnade vor seinen Augen gefunden, und es wird ihr über kurz oder lang gelingen, ihn vollständig zu bekehren. Dann soll große Freude in meinem Hause sein und ich will –“

Barbara schaute bedenklich darein, denn sie glaubte, ihre Herrin werde in der Herzensfreude allerlei leichtfertige Versprechungen machen. Aber, wenn sie es auch gewollt, sie kam nicht dazu, denn Peter unterbrach sie mit der hastigen Frage:

„Wie gefällt Ihnen meine Braut?“

„Ausnehmend, mein Söhnchen. Aber gegen die Heirath habe ich ein Bedenken, denn die Johanna ist für Dich viel zu gut. Mit dem Bescheid kannst Du Dich trollen.“

Peter war zum Hause hinaus, er wußte nicht wie. Aber auch draußen fand er nirgend Ruhe; ebenso wenig in seinem Gasthause, noch bei diesem oder jenem Bekannten. Als es zu dämmern begann, stand er, er wußte selbst nicht, wie er dahin gekommen, in der Stube der Muhme, die seine Herzensergüsse ruhig anhörte und dann sagte:

„Es ist gekommen, wie ich es mir dachte und ich es Euch sagte, als Ihr im vorigen Jahre in Kummer und Leid unterzugehen glaubtet. Der Mensch findet sich in Alles, und die Johanna, das muß ich sagen, hat sich ganz besonders zurecht gefunden. Wenn es mit der Pächterin einmal nicht mehr recht fort will, kannst Du Deine Zukünftige zuversichtlich auf das Theater schicken, sie wird Dir alle Ehre machen. Was aber sonst zu sagen wäre, das magst Du von ihr selbst hören, denn da kommt sie eben, und ich bin eine viel zu wohl erzogene Muhme, als daß ich Euere Vertraulichkeiten stören sollte.“

Peter hatte in den letzten beiden Tagen vieles Ungewöhnliche erlebt. Als er nun aber die Johanna vor sich sah, so blühend wie immer, aber in derselben Tracht, wie er sie daheim im Forsthause stets gesehen; als sie, ihn treuherzig grüßend, die Hand reichte und ihm einen herzigen Kuß gab, wie in früheren schöneren Tagen, da hatte er ganz den Kopf verloren und war in Gefahr, ihn nicht wieder zu finden.

„Setze Dich zu mir, lieber Peter; ich will Dir Alles sagen, und ich hoffe, Du wirst mit mir zufrieden sein.“

Das that Peter, und wie Johanna erzählte, fiel es ihm nach und nach wie Schuppen von den Augen. Die Muhme-Comödiantin als Lehrerin und das aufgeweckte Försterkind als Schülerin, der betrogene Onkel und die betrogene Tante tanzten an ihm vorüber. Er begriff Alles, und als Johanna endete, schloß er sie in seine Arme und rief jubelnd:

„Das danke ich Dir und werde zeitlebens darnach trachten, es Dir zu vergelten, Du liebe, herzige Johanna, Du!“

Sie hatten sich noch vieles zu erzählen, und als Peter endlich spät zu Hause anlangte, erließ er an Onkel Bastian und an Tante Emerentia ein feierliches Schreiben, worin er wiederholt um ihre Einwilligung zu seiner Heirath bat. Am andern Tage aber sprach er zur verabredeten Zeit zunächst bei der Tante ein, um selbst die Antwort zu holen, und fand seine Johanna bereits auf dem Schemel vor der Tante sitzend, und ihr aus einem erbaulichen Buche vorlesend. Mitten in dies fromme Werk aber platzte der Onkel Bastian herein und vor seine Schwester hintretend, sprach er in der polternden Weise, die er ihr gegenüber annahm:

„Schwester Emerentia!“

„Bruder Bastian?“

„Ich bin wieder daher gekommen.“

„Mitten in die Andacht, wie ein Heide.“

„Will aber das Christenthum predigen.“

„Predige! Ich höre.“

„In der Jungfer da habe ich mich geirrt.“

„Ich auch. Sie ist ein Schatz.“

„Eine Perle.“

„So häuslich, so wirthschaftlich.“

„So manierlich, so elegant.“

„So enthaltsam, so fromm.“

„So geistreich und witzig.“

„So demüthig und christlich.“

„So bezaubernd und bestrickend.“

„Ein Edelstein für das Haus.“

„Ein Diamant für die Gesellschaft.“

„Der Neffe wirbt um sie.“

„Wollen wir es zugeben?“

„Unbedenklich!“

„Schwester Emerentia!“

„Bruder Bastian?“

„Wir sind schon wieder einmal einig.“

„Es ist erstaunlich.“

Johanna und Peter ließen die beiden alten Leute nicht weiter reden. Sie zogen sie mit in ihre Umarmung, und es wurde in der stillen Stube der Tante Emerentia ungewöhnlich lebendig.

Als aber drei Monate später der Peter wieder in die Residenz kam; als er in dem Stübchen der Tante getraut war, und der Hochzeitsschmauß bei dem Onkel endete; als er mit seinem jungen Weibe zur Stadt hinaus und in die ländliche Einsamkeit hineinfuhr, sagte er, sie an sein Herz drückend:

„Du hast vortrefflich Comödie spielen gelernt; aber es wird mir doch lieb sein, wenn Du Dein Talent nicht weiter benutzest.“

„Sei ohne Sorgen,“ antwortete sie heiter. „Ich werde fortan nur auf einem einzigen Schauplatz auftreten und auch dort nur in der Rolle Deiner Geliebten.“




Die Umkehr.

Mit verdrießlichem Gesicht ging ein noch junger Bergmann eilig über den kleinen Marktplatz des Gebirgsstädtchens. Er hatte wohl auch, nach seiner Ansicht, alle Ursache, unwirsch darein zu sehen. Denn eben erst war er im Wirthshaus zum Sitzen gekommen und wollte seine Pfeife aus dem Kittel ziehen, um zu dampfen wie die Andern eben auch, da merkte er, daß er sie daheim gelassen. Und ohne Pfeife – das ging ja gar nicht! Darum sein eiliger Schritt über den Markt, um so schnell wie möglich nach dem Wirthshaus zurückzukehren, das ihm seit einiger Zeit doch gar so lieb und unentbehrlich geworden war.

[288] Folgen wir ihm, aber sputen wir uns; denn er hat’s ja eilig, wie wir schon wissen, und das Häuschen, wo er ebenerdig wohnt, liegt ganz draußen vor der Stadt.

Das Haus, das er vor noch gar nicht langer Zeit verlassen hatte, war erreicht. Er sucht den Drücker zur Thür hinter dem Schranke, wo er der Verabredung nach liegt, wenn die Frau ausgegangen, und die hatte eben gleichzeitig mit ihm das Haus verlassen, das Kind in der Wiege der Obhut des gütigen Gottes überlassend. Sie mußte fort, es war ein nothwendiger Gang. Er wollte fort, und hatte es doch nicht nothwendig.

Die Thür ist geöffnet. Ein paar hölzerne Stühle, ein Tisch mit ungefärbter Platte, eine Ofenbank, eine Commode, ein kleiner Spiegel an der Wand – da haben wir die ganze Herrlichkeit. Eins aber sehen wir doch in aller Schnelligkeit: es ist rein und sauber drinnen im Stübchen. Da muß eine ordnende Hand walten.

Aber nun schnell. Denn der Mann hat seine Pfeife zur Hand und will fort.

Da regt sich’s in der Wiege und das Kindlein darin läßt sein vergnügliches Lallen vernehmen.

Ob’s der eilige Vater hört? Ja – ja, er hört’s – und, wer weiß denn, was ihm heute gerade ist, er tritt an die Wiege – hatte er’s doch lange nicht gethan! – und sieht auf das Kind.

Es lächelt und regt sich lebhaft mit den Händchen dem Vater entgegen. Und wie der so in die dunkeln Augen des Kindes blickt, die unverwandt auf ihn gerichtet sind, da sehen wir, wie es zuckend über das Antlitz des Mannes fährt.

Ihm ist’s, wie er so hineinblickt in diese Kinderaugen, die Augen seines Kindes, als töne ihm daraus eine laute, ernste Sprache entgegen. Ihm ist’s, als sähe er dadrin einen Engel, der ihn milde anschaue, mild und doch auch ernst.

Was liegt nicht im Blicke des Auges eines Kindes! Wer da hinein sehen kann in diesen reinen Gottesspiegel der Unschuld und Reinheit, und nichts darin sieht als eben das blanke Auge – der hat nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen.

Dem Vater aber sprach die Stimme aus dem Auge seines Kindes in’s Herz und schmolz das Eis, das sich darum gelegt. Und wie er so dastand in tiefem Sinnen – es mochte wohl ein recht gewaltiges Kämpfen in ihm sein, denn die Brust hob sich ihm vom schweren Athmen – da trat die Frau herein.

Wohl erschrak sie vor dem ungewohnten Anblick, und eine ungewisse Angst wollte sie anfassen. Doch sah sie bald, daß sie keine Ursache zur Angst hatte.

Der Mann blickte sie an; und, das war auch schon eine hübsche Zeit her, daß er es nicht mehr so gethan. Und da sah er, daß die muntern Farben ihrer Wangen, die sie sonst geziert und die ihn sonst so gefreut, einem matten Bleich gewichen; er sah, daß in dem mager gewordenen Gesicht ein stummer, stiller Gram sprach.

Das Alles sah er heute erst so deutlich, seit das Kind ihn angeblickt. Die ganze Zeit daher hatte er keinen Blick dafür gehabt. Denn wenn er seine Schicht verfahren hatte und zu Hause den Grubenkittel gewechselt und die Mahlzeit verzehrt, die ihm das harrende Weib bereitet, dann litt es ihn nicht mehr in der Stube, die ihm doch sonst sein Alles war. Seit er in böse Gesellschaft gerathen war, deren Spötteleien über seinen häuslichen Sinn er nicht den rechten Ernst entgegengesetzt, wie er von Tag zu Tag tiefer in die wirrenden Kreise gezogen worden, und die Gewohnheit hatte ihn gepackt mit ihrer Kraft.

Heute – er mag dies heute glücklich preisen, das ihn retten will vor dem vollen Abfall – heute war sein Blick frei geworden. Was er in der ganzen Zeit nicht gesehen, weil er’s nicht wollte, das sah er jetzt.

Daß die Frau so abgehärmt aussah, das schnitt ihm tief in’s Herz. Erst wußte er nicht recht, wie er anknüpfen sollte, denn das Anknüpfen ist nicht leicht, wenn eine lange Zeit zwischen dem Zerreißen liegt. Endlich fand er’s doch. Er fühlte nun seine Schuld, und wo es einmal zum Fühlen der Schuld gekommen, da kommt es auch zum Bekenntniß und zur Sühne.

Daß sie so bleich aussehe, meinte er, komme wohl daher, daß sie sich um ihn gräme und daß sie auch viel mehr arbeiten müsse als sonst, wo er selbst mit Hand angelegt an Dies und Jenes, was nothwendig war im Haus.

„Nun, ein Jedes thut eben nach seiner Schuldigkeit,“ entgegnen die Frau in freundlich-ernstem Ton.

Da war denn nun Rede und Gegenrede im Gang und wir hörten es Alles mit an, wie sie so sanft und darum so gewichtig an sein Herz pochte, und wie dies Herz, das so lange sein Erz verschlossen hatte, sich aufthat, und wir sahen es mit an, wie der Mann das Kind aus der Wiege nahm und es mit einem unaussprechlichen Gefühl des Dankes herzte, und wie das Kind zwischen Vater und Mutter war ein Mittler und himmlischer Friedensstifter. Das Alles hörten und sahen wir und fühlten, daß hier wieder einmal der Herr mächtig war in dem Schwachen.

Da gingen wir denn langsam zur Thür hinaus und drückten sie leise hinter uns zu und freuten uns, wie wir es lange nicht so im Herzen gekonnt.

Nach der Hand, denn das Paar war uns werth und theuer geworden, hörten wir immer nur von seinem Glücke und Frieden. Denn von jenem Tage an war er nicht wieder in’s Wirthshaus gegangen und ließ die Spötter spotten, bis sie nicht mehr spotten konnten, denn sie waren alle elend verkommen, der Eine so, der Andere so.

„Wer umkehren will,“ hatte er gesagt, „der muß ganz umkehren. Das ist die rechte Umkehr.“




 Album der Poesien.
 Nr 15.
 Der Slawone.

Purpurn zieh’n die Abendwolken,
Hohe Ulmen steh’n im Kreise
Um den kühlen, klaren Weiher,
Neigen sich und flüstern leise.

5
Hingestreckt im braunen Laube

Ruht der Braune, der Slawone;
Feuchten Glanz im Feuerauge,
Blickt er in der Bäume Krone.

„Stephan, Bruder, lieber Bruder,

10
Warum mußtest Du erblassen?

Endlos weit vom Heimathlande
Liegst Du einsam und verlassen.

Dachtest nicht der Vaterhütte:
Schwarz und eng’ ist die berußte,

15
Doch die freien Winde spielen

Um sie auf der weiten Putzte.

Dachtest nicht der Heideschenken,
Nicht der glatten Spiegelseeen,
Drin sich goldne Sterne baden,

20
Drüber heil’ge Lüfte wehen.


Dachtest nicht der schlanken Dirne:
Wird sich härmen, beten, klagen,
Wird die dunkeln Haare raufen,
Wird die treue Brust zerschlagen.

[289]

25
„Einsam wandr’ ich lange Tage,

„Ihr die Trauerpost zu bringen.
„Sink’, o Nacht, auf schöne Zeiten,
„Da wir froh zusammen gingen!“

Purpurn zieh’n die Abendwolken,

30
Hohe Ulmen steh’n im Kreise

Um den kühlenm klaren Weiher,
Neigen sich und flüstern leise.

 R. Chop.

[290]
Die ersten Schritte auf japanesischem Boden.

„Du gingest aus, Deines Vaters Eselinnen zu suchen, und fandest ein Königreich.“ Die Engländer können sich in gewissem Sinne mit diesem Glücke des ehemaligen Eselhirten, nachmaligen Königs Saul für diesen ihren letzten Krieg trösten. Esel wurden von vielen Seiten ganz eben so gesucht, wie Eulenspiegel, auf seinem Pferde sitzend, umherfragte, ob Niemand sein Pferd gesehen habe; aber nur Wenige fanden dafür ein Königreich. Die Amerikaner, die bei aller Freiheit eben so neutral geblieben waren, wie wir Deutsche, von denen Manche für die „Freiheit und Civilisation“ gern mitgemacht hätten, fanden es zuerst. England hatte eine seiner vielen Flotten im chinesischen Hafen von Hongkong, welche im Frühlinge 1855 unter Commodore Elliot Befehl bekam, nach Norden hinauf zu segeln, um bei Kamtschatka und da herum nach russischen Schiffen und Prisen herumzukrebsen. Sie fanden aber nichts Gescheidtes, und einmal besonders viel Pech statt Prisen. Aber sie fanden, was sie gar nicht gesucht, ein Königreich, sogar ein Kaiserthum, Japan, und eroberten es, wie die Amerikaner eben auch gethan, ohne nur eine Knallbüchse abzufeuern. Ja, sie eroberten es wirklich, obgleich sie zunächst nichts gewannen, als die Erlaubniß, im Hafen von Hakodadi einzulaufen, und sich da zu kaufen, was sie brauchten. Das sieht nach gar nichts aus und ist doch mehr werth, als alle auf Hunderttausendfachen Leichenfeldern zurechtgestoppelten Friedensbedingungen für Europa. Die Verträge Amerikas und Englands mit Japan verbürgen den soliden Anfang eines produktiven, bildenden und allen Betheiligten ersprießlichen Verkehrs und Austausches von geistigen und materiellen Ueberflüssen in den betreffenden Ländern. Der Ueberfluß des einen ist der Bedarf des andern, wofür es seinen Ueberfluß dem andern Lande als Bedarf giebt. So gewinnt Jeder, ohne daß er sich zum Schwindel und zum Betruge zu erniedrigen braucht. Das Pförtchen, welches sich Amerika und England in Japan eröffnet haben, gewinnt durch den Umstand ein ganz besonderes kulturhistorisches Interesse, daß Japan über zwei Jahrhunderte allen Völkern der Erde hermetisch verschlossen war. Nur die verwandten Chinesen durften etwas Geschäfte mit den Japanesen machen. Was die Holländer auf einer an Japan angebauten, gegen das Land aber verschlossenen Bretterbude an Geschäften machten, ist nicht der Rede werth.

Jetzt klingt’s gleich von vorn herein ganz anders. Seitdem sich England und Amerika den Hafen von Hakodadi vertragsmäßig geöffnet haben (und das ist noch kein Jahr her), liefen nicht weniger als 75 amerikanische und englische Schiffe ein.

Uns interessiren besonders das erste englische Schiff und die ersten Schritte auf japanesischem Boden, schon deshalb, weil wir davon ein ziemlich ausführliches Bild, ein ganzes Buch haben. Kapitain Bernhard Whittingham, von Elliot eingeladen, ihn auf dem Argonautenzuge gegen russische Schiffe zu begleiten, folgte diesem Rufe und schrieb ein Buch über die ganze Expedition, die auch in dem Hafen von Hakodadi einlief, und den japanesischen Behörden und der Stadt selbst einen Besuch abstattete. In Folge davon kam der Vertrag zwischen England und Japan zu Stande, der ersterem dieselben Rechte einräumt, welche sich schon Amerika freundschaftlich ertrotzt hatte.

Hakodadi, an der Südostküste der nach Nipon größten Insel des japanesischen Reichs, Jesso, in der Provinz Matsmai, ist die Königin eines der besten und geräumigsten Naturhäfen in der Welt. Er besteht aus einer, über eine deutsche Meile weit in’s Land hineinlaufenden Bucht des großen oder stillen Oceans, gegen dessen oft furchtbare Wogen ihn unerschütterliche Felsen schützen, die nur eine verhältnißmäßig enge Einfahrt in die beinahe halbkreisförmige Bucht zulassen. Am südlichen Rande dieser Bucht erhebt und streckt sich Hakodadi am Wasser entlang und hoch hinauf in ein großartiges Amphitheater von waldigen Bergen, aus denen Häuser, Tempel und Villen hell hervorblicken, von waldigen Bergen, die zuletzt weiß und kahl bis über die Schneelinie sich erheben und in einem Kegel eines ausgestorbenen Vulkans zuspitzen. Ob er jetzt vielleicht wieder durch den Tod der japanesischen Hauptstadt Yeddo lebendig geworden ist? Die ersten Berichte von dem Erdbeben, welches am 15. November Yeddo größtentheils zerstört und über 30,000 Einwohner in seinen Berstungen und Klüften verschlungen haben soll, lauteten entsetzlich. Nähere Kunde scheint bis jetzt noch nicht angekommen zu sein.

Unten am Wasser entlang vor der Stadt strecken sich Bollwerke, blos von künstlerisch behauenen und ohne jedes Bindemittel verbundenen Steinen gebaut. An ihnen entlang wimmelt es von Booten aller Größen und Formen. Am niedrigen, fruchtbaren Gestade nisten bis über die Sehweite hinaus nach beiden Seiten Häuser und Hütten, Meiereien und Dörfer zwischen Gärten und Bäumen. In den Gebirgsterrassen herrschen besonders Birken, Buchen und Fichten vor. Hakodadi liegt mit Mittel-Italien und dem südlichen Frankreich unter gleichem Breitengrade.

Das englische Geschwader erschien Anfangs Juni vorigen Jahres im Hafen von Hakodadi, wurde aber durch die Nothwendigkeit einer Reihe von Ceremonien, welche die japanesische Staatswürde um sich barrikadirt hat, und die alle erst durchgemacht werden mußten, lange aufgehalten, ehe sie den eifersüchtig nach dem Ideal der Schutzzöllner verschlossen gehaltenen Boden betreten durften.

Erst mußten sich die englischen Befehlshaber bei dem Hafenmeister von Hakodadi einführen. Dann entstand die wichtige Frage: darf der Gouverneur von Matsmai den englischen Commodore bei sich sehen oder muß ersterer seine Aufwartung vorher dem Commodore machen? Die Sache war schwer zu entscheiden. Der Gouverneur half sich aus diesem kitzeligen Dilemma, wofür es keine Vorbilder und Instruktionen gab, durch Krankheit und befahl seinem Lieutenant, den Anfang zu machen, und sich auf das Flaggenschiff des englischen Geschwaders zu begeben. Dieser erschien denn auch eines schönen Morgens in allem Pompe amtlichen Auftretens auf einem von zwanzig Ruderern getriebenen Boote, in dessen Mitte ein langer, oben mit Leder überzogener Speer als Zeichen des Ranges gehalten ward, begleitet von einer Menge anderer, schwarz und weiß (der japanesischen Nationalfarbe) bewimpelter Boote. An der Außentreppe des englischen Flaggenschiffes angelangt, erhob sich der Gouverneur-Lieutenant, während die Ruderer alle in ersterbender Ehrfurcht auf die Nase fielen, um ihm blos Rücken zu zeigen. Die Audienz bestand in Auswechselung einiger höflichen Reden durch Dolmetscher und einer Einladung von Seiten des japanesischen Beamten, sich dem Gouverneur vorzustellen.

Zwei Tage darauf landete der englische Commodore mit Gefolge, und ward einige Stufen empor in ein Haus geführt, wo die Gäste von japanesischen Beamten mit Thee bedient wurden, während sie auf den Gouverneur warteten. Die Fenster hatten Scheiben von weißlich-braunem Papier und außen gegitterte Läden, um Wind und Regen abzuhalten. Der Boden war durch’s ganze Haus mit dicken Matten bedeckt, auf welchen die Herren alle schweigend und mit bloßen Füßen einherschritten, da Jeder die Schuhe auszieht, ehe er in ein solches dickwattirtes Haus eintritt. Der Japanese liebt es nicht, klappernde und polternde Schritte in seinem Hause zu hören. Alles geht daher unhörbar, barfuß oder in Socken auf dicken, dreifachen Stroh- und wollenen Matten umher. In den dunkeln Tempeln mit seltsamen Figuren, Chiffern, Schnitzwerken und Götzenbildern hat dieses unhörbare und nur dämmernd sichtbare Umhergleiten schweigender Gestalten etwas gar unheimlich Feierliches und ist geeignet, eigenthümliches „Graueln“ der Andacht und Furcht vor geahnten, unbegreiflichen, unsichtbaren Geistern und Göttern hervorzurufen und zu nähren. Solche Gewalten über den schwachen Menschen braucht besonders der Despotismus und weiß ihn gut zu benutzen und auszubeuten.

Die Unterredung mit dem Gouverneur war ebenfalls kurz und etwas unbeholfen durch Dolmetscher. Die Hauptsache kam nachher, nämlich Benutzung der erwirkten Erlaubniß, sich die Stadt anzusehen. Freilich wurden die seltsamen, angestaunten Fremden, sobald sie aus dem hölzernen Verschlage des Zollhauses heraustraten, ehrerbietigst von Polizei in Empfang genommen, die zwar nicht nach Paß und Legitimationen fragte, und auch Niemanden arretirte, aber vor den Engländern gebieterisch vorausschritt und den Leuten winkte und befahl, Thüren und Fenster gegen die Blicke der Fremden zu schließen, und sich selbst unsichtbar zu machen. Vor der Polizei hört auch in Japan aller Spaß auf, und so gehorchten die Leute vor ihr, um hinter ihr desto eifriger ihrer eigenen Natur und Neugier zu folgen. Hinter ihr öffneten sich mit wahrer Hexerei von Geschwindigkeit Thüren und Fenster [291] wieder und Köpfe und ganze Personen schossen heraus, um mit großen Augen, die jetzt selbst ihre nationale Kleinheit und Geschlitztheit verloren, mächtig auf die Fremden zu starren. Also selbst in Japan ist die Natur mächtiger, als die Polizei, welche deshalb wohl nichts Besseres thun könnte, als den ohnmächtigen, aber doch demoralisirenden Kampf gegen die Natur der Dinge und Menschen aufzugeben.

Die Engländer spazierten durch weite, gerade, reine Straßen zwischen größtentheils kleinen Häusern von geraden und quer und schief mit einander verbundenen Balken, deren Zwischenräume mit Brettern und Birkenrinde ausgefüllt und deren Dächer mit Schindeln und ebenfalls Birkenrinde, und diese mit Steinen, bedeckt waren. An ihnen hin liefen größtentheils gedeckte Gallerieen und Veranda’s, so daß man im Schutz und Schatten an den Häusern hingehen kann. Vor manchen Häusern und um alle Tempel fand man große Gärten und Parks in Miniatur, d. h. alle Bestandtheile großer Garten- und Parkanlagen auf den kleinsten Raum zusammengedrängt, z. B. auf einer Fläche von 80 Fuß Länge und 50 Fuß Breite um einen Tempel kleine, dichte Wälder von Zwergbäumen, kleine Felsengebirge, Flüsse, Brücken, Fußsteige, Blumenbeete, Rasenflächen, ganze meilenweite Landschaft in ein kleines, umrahmtes, reelles Naturbild verdichtet. Man nennt dies den holländischen Gartenstyl, aber es ist der ächt japanesische, den die Holländer sich aneigneten, als sie noch eine meerbeherrschende Nation waren.

Die Japanesen, welche den Engländern zu Gesicht kamen, traten alle als robuste, rührige, kurze und stämmige Leute auf, dunkelgelb gehäutet mit schwarzen, kleinen, chinesisch schiefen, geschlitzten Augen. Ihre Backenknochen stehen weit hervor, oft weiter, als die plattgedrückte Nase. Was der Nase an hervorragender Bedeutung fehlt, kommt den hervorquellenden, rothen Lippen zu Gute. Die Mädchen schienen dabei alle hübsch zu sein. Auch wir wissen, was manchmal der Fehler eines Stumpfnäschens für eine Tugend werden kann, zumal bei den ausgebildeten, rosigen Lippen, den runden, rothen Backen, vollen, runden Formen, weißen Zähnen, die mit den kleinen, glänzenden, mandelkernförmigen Augen um die Wette lachen und in die Welt hinein schallen. Bei den Japanesinnen kamen noch luxuriöses, schwarzes Haar und in der Regel kleine, strumpf- und schuhlose Füßchen hinzu. Es nimmt uns daher nicht Wunder, daß in Japan, wie wir aus anderer Quelle wissen, auf die naivste und excessivste Weise gelebt und geliebt wird. Die Japanesen sind von Natur heiter, gutmüthig, vergnügungssüchtig, verstehen nichts von Hypochondrie und Grillen, und tanzen und singen und trinken daher bei ihren häufigen Festlichkeiten bis zum Umfallen. Bei dem schönen Geschlechte dauert freilich die Freude und Schönheit nicht lange. Sie verheirathen sich oder vielmehr werden verheirathet oft schon im dreizehnten und vierzehnten Jahre, und tragen vom Hochzeitstage an schwarzgebeizte Zähne, die Lasten des Haushalts, der Feldarbeit und großer Fruchtbarkeit. Letztere wimmelte und wuselte in großer Menge, größtentheils ganz nackt, vor den Thüren und unter den Veranda’s umher. Es wurden nur wenig Bettler und Krüppel bemerkt. Nur Augenkrankheiten scheinen nicht selten zu sein. Es zeigten sich verhältnißmäßig viele Leute mit schlimmen Augen, von denen oft das eine oder andere ganz verloren gegangen war.

Die Kleider, welche bei uns Leute machen, fallen in Japan allerdings national, aber doch sehr verschieden aus, schon wegen der großen Sommerhitze und strengen Winterkälte. Die Hauptunterschiede hängen aber außer von Stand und Vermögen, speciell von den gesetzlichen Klassen und Kasten in den feudalistisch-bureaukratisch geschiedenen Gesellschaftsschichten Japans ab. Crethi und Plethi trägt im Sommer so wenig als möglich eine Robe und ein paar Unterhosen, oft auch blos irgend ein Stück Zeug, die ärgsten Blößen zu decken. Die Kinder laufen in ganz vorsündenfall-paradiesischem Zustande umher. Dagegen putzen sich die höheren Klassen gern nach den neuesten Moden der Hauptstadt Yeddo aus, besonders mit halbdurchsichtigen Flor- und Gazestoffen. Im Winter trägt man starke Roben und dicke Unterbeinkleider von Baumwolle, wofür die Beamten privilegirte Seide nehmen. Außerdem unterscheiden sich letztere von dem „beschränkten Unterthanenverstande“ schon an der großen Zehe, welche in deren wollenen Socken eine besondere Abtheilung hat, wie bei uns, der Daumen im Fausthandschuh. Ueber den Socken trägt man Schuhe von Strohgeflecht, befestigt mit weißen Bändern oder hübsch geflochtenen Strohseilen. Im Ganzen sitzt ihnen aber die Kleidung nach unsern Begriffen eben so schlecht, wie sie selbst sitzen, indeß ist die Tracht immer noch nicht so niederträchtig, wie unser Leibrock mit einer „Angströhre“ von Hasen-Harnisch auf dem Heldenschädel. Sie kauern auf eine bedauernswerthe Weise mit aufgespannten Knien, wobei sie die Füße in den Schlafrock verstecken, in einer Position, die bei uns der civilisirte Sterbliche nur einsam auf Feld und Flur im höchsten Drange der nach dem Gesetze des höhern Absoluten zu absolvirenden drängenden Nothwendigkeit riskirt. Das nennen aber die Japanesen sitzen. Sie haben durch diese Sitte des Sitzens ungeschickte, dicke Kniee bekommen und einen unangenehmen Gang.

In socialer Beziehung sind die japanesischen Institutionen und Gebräuche ächt feudalistisch. Die Klassenunterschiede scheinen nicht erzwungen zu sein, sondern aus den Anschauungen und Ansichten der verschiedenen Klassen selbst hervorzugehen. An der Spitze aller Klassen stehen die Adeligen und Beamten, die mit der größten Verachtung auf den reichsten Kaufmann herabsehen (vorausgesetzt, vermuthe ich, daß sie ihn nicht anpumpen wollen). Die Adeligen haben das Privilegium, zwei Schwerter zu tragen. Ein Kaufmann kann durch vieles Geld blos das Privilegium eines Schwertes erkaufen. Abgesehen von den Details der Formalitäten, wodurch sich die Gesellschafts- und Standesklassen unterscheiden, ist der japanesische Feudalismus dem englischen ziemlich gleich. Ungeachtet aller Phrasen und Kämpfe gegen die Privilegien der Grund und Geld, Staat und Königthum besitzenden Klassen in England, hält sich der Feudalismus doch ganz gut. Sie haben im jetzigen Kriege durch lauter absichtlichen und wirklichen Unsinn das englische Heer, hundert Millionen Thaler und den Nimbus Englands todt geschlagen, sie haben Kars absichtlich fallen lassen, aber das Alles rührt sie nicht, erschüttert ihre Macht und Stellung nicht, weil der Glaube an den Besitz und die Macht in der Servilität der Volksmassen wurzelt, weil diese Servilität, die Ehrfurcht vor Geld und Macht ihre Religion ist.

Die Japanesen sind aber ganz im Gegensatz zu den Engländern, den größten Fleischfressern unter allen Thieren, durchaus Vegetarianer, d. h. sie genießen blos Pflanzenkost und statt des Fleisches ungeheuer viel Fische, die an den Küsten in furchtbaren Massen wimmeln und den Fischern, welche das Meer oft beinahe mit ihren Booten bedecken, tonnenweise in die Netze laufen. Unter den Gemüsen herrschen im Anbau und der Kost Bohnen, Erbsen, süße Kartoffeln, Mohrrüben, ungeheuer große Radieschen und Obst vor. Ihre Bäume tragen eine Art Birnen, die wie Kinderköpfe groß werden, aber sehr wässerig schmecken.

Industrie der Japanesen lernten die englischen Gäste auf eine brillante Weise kennen. Die Japanesen sind ja auch nicht dumm und hassen den Fremden, der Geld hat und ihnen was abkaufen will, durchaus nicht aus purer Vaterlandsliebe, wie man dies wohl früher geglaubt hat und womit auch die Schutzzöllner in unsern verschiedenen Vaterländern die bessern und wohlfeileren Güter des Lebens, welche das Ausland bietet, vom heimischen Markte ausschließen möchten.

Man hatte in einem Tempel unweit des Zollhauses expreß für die Fremden, d. h. um englisches Geld einzufangen, einen glänzenden Bazar, eine verkäufliche Industrie-Ausstellung aufgebaut: lackirte Waaren der feinsten, reinsten und seltensten Farben (die Kunst des Lackirens wurde durch Holländer aus Japan nach Europa gebracht), die zartesten, durchsichtigsten Tassen und Vasen, Kannen und Töpfchen vom feinsten Porcellan, Fächer, Seidenwaaren, Gaze-und Florgewebe vom zartesten Hauche, seltsame, hübsche Krüge u. s. w. Matrosen und Offiziere kauften nach Kräften und haben so gewiß ein gutes Andenken und nicht mehr zu tödtende Lust, mit Fremden zu handeln und die Güter des Lebens, der Industrie und Kunst auszutauschen, in Japan zurückgelassen. Die Japanesen sind ein gebildetes, industrielles Volk auf dem üppigsten, auch mineralreichen Boden. Allerdings sind sie trotz natürlicher Anlage in ihrer Isolirtheit und Insularität in vielen ideellen Dingen, die nur durch ideellen Austausch mit andern Völkern vorwärtskommen, zurückgeblieben, z. B. in allen Naturwissenschaften, besonders in der Medicin, und, was damit zusammenhängt, in religiösen Ansichten. Die Medicin ist in den Händen weiblicher Personen, die Alles mit einer Arznei curiren, die bei uns in keiner Apotheke vorkommt und überhaupt nur durch [292] den Gebrauch Menschen verschlechtert, nämlich mit der Trommel. Wenn Jemand krank ist und Hülfe verlangt, wird zur Frau Doctorin geschickt, welche sich mit ihrer Trommel einstellt, sie dem Kranken an’s Ohr hält und nun lostrommelt und dazu Beschwörungsformeln summt, bis der böse Geist der Krankheit vertrieben und der gute der Gesundheit wieder Monarch ist im Körper. Was sie thun, wenn sich der böse Geist nicht austrommeln läßt, wird nicht gesagt. Wahrscheinlich begraben sie ihn mit sammt dem Todten. (Uebrigens ist diese Austrommelungsmethode noch lange nicht so schlimm als unsere alte Brech-, Purgir-, Blutegel-, Aderlaß- und Bullen-Praxis.)

Der buddhistische Religionskultus wird in dunkeln, dick mit Teppichen belegten, mit hölzernen Figuren, Zeichen und Götzen ausstaffirten Tempeln prakticirt. Die schweigende, schleichende Dunkelheit wirkt schauerlich durch die dämmernden Fratzen und betäubende Räucherung auf den Altären, vermischt mit Geruch von Fischen, welche die Gläubigen täglich den hungrigen Götzen (die ihre Magen in den Priestern haben) darbringen.

Das sind einige zusammengedrängte Beobachtungen, welche die Engländer während ihres Spaziergangs durch Hakodadi machten. Doch beschränkten sich nicht Alle auf die Stadt. Einige fuhren auf einem Flusse tief in’s Land hinein und stiegen in einer lachenden, kultivirten Gegend aus, mit schönen, auf beiden Seiten umblühten und lebendig umhegten Straßen, kleinen Bächen an Hecken entlang, in üppiger Vegetation nistenden Hütten und Häusern und nackten Kindern davor und schelmisch hinter Gebüsch hervorblickenden, rothwangigen Bauermädchen und freundlichen Bauern mit Strohsandalen und langen grauen Kitteln, struppigen, trotzigen, umherweidenden Pony’s und Behäbigkeit und Heiterkeit von allen Ecken und Enden. Die plumpen, rothwangigen Leute schienen den Fremden gern entgegenkommen zu wollen; aber die liebe Polizei winkte auch dieser natürlichsten Neigung zum Kosmopolitismus ein gebieterisches „Zurück“ entgegen. Indessen werden die Engländer binnen zehn Jahren bequemer und ungeschorner in Japan umherfahren, reiten, laufen, liefern und zulangen können als in dem vertragsmäßig befreundetsten Nachbarstaate und in abendländischen Staaten überhaupt, die, stolz auf ihre „Intelligenz,“ doch nicht wagen, den unschuldigsten Menschen ohne Paß und Legitimation, Sitten- und Pockenimpfungsschein für sein Geld laufen oder fahren zu lassen.




Sprache und Musik in der Natur.
Dritter Artikel.
Die Ausdrucksweise der verschiedenen Thiere. – Das Lamm und das Pferd. – Ein Katzenconcert. – Orgelspiele mit Katzen und Schweinen. – Der Hund als größtes Sprachgenie unter Thieren. – Die Dichter des Waldes. – Die Musikorgane der Vögel. – Ein Waldconcert. – Truthahn und Schwan. – Der Hahn und sein Harem. – Raben, Saatkrähen und Papageien.

Die Art und Weise, wie sich lebendige Wesen unter dem Himmel, in der Luft, auf und unter der Erde äußern, ihre Freuden und Schmerzen laut werden lassen, Andern mittheilen oder um ihrer selbst willen ausschreien, bildet eine so vielstufige Tonleiter, die wie die geträumte Jacob’s wirklich bis in den Himmel reicht. Die Phantasie mag selbst Engel darauf auf- und niedersteigen lassen. „Die jungen Löwen brüllen nach ihrer Beute und suchen ihr Fleisch von Gott. Und er vernimmt ihre Stimme und stillt deren Hunger.“ Freilich so energisch wissen nur wenige Thiere ihre Petitionen dem Himmel vorzutragen, wie der Löwe. Bekanntlich weiß er sich auch selbst Fleisch zu verschaffen, wenn der Himmel es ihm nicht zuschickt. Das Gebrüll ist fürchterlich, hat aber nur einen sehr einfachen Sinn. Ueberhaupt kann man den Mammalien oder Säugethieren nur selten eigentliche articulirte Töne, vocalisirte Sprache abhorchen; wenigstens haben sie fast stets nur verdorbene und verquetschte Vocale, wie die Engländer. In Ton und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks den Insekten und Reptilien weit überlegen, halten die Säugethiere doch mit dem wortkargsten Vogel keinen Vergleich aus. Die Vierfüßler schreien in der Regel nur aus Schmerz und Hunger. Kaninchen, Hasen und dergleichen Geschöpfe aus der Familie „Lampe“ kreischen nur auf, wenn man sie bei den Ohren nimmt oder der Hund ihnen Zahnschmerzen verursacht, und in höchster Gefahr hat selbst der niedrige, gemeine Maulwurf ein feiges Grunzen. Der brasilianische Maulwurf quiekt je vier Mal rasch hinter einander durch die Nase, was Leute, die mit diesen unterirdischen Flötentönen nicht vertraut sind, sehr in Verlegenheit setzt. Nur der schlaue Indianer erkennt genau die Stelle, von wo die unterirdischen Töne kommen und fängt sich deshalb sicher seinen „Tucutuco.“ Aber von diesen schwachen, unbestimmten Pressungen kleiner Lungen, von dem ungeschlachteten Grunzen des Schweines bis zu dem lustübermüthigen Bellen des Hundes oder dem herzrührenden Klageton des Kameels, welch’ eine Stufenleiter von Tönen blos zwischen zwei Sprossen der Hauptleiter! Die Schweine- und ähnliche niedrige Thiersprache hat keine Consonanten, wie jeder blos elementare Ton ebenfalls blos auf die Vocale deutet. Consonanten sind in der Thier- wie Menschensprache Noten höherer Entwickelung und individueller Stimmungen.

Deshalb ist auch die englische Sprache, obgleich aus zwei sehr gebildeten Sprachen combinirt, und deshalb, an sich reich, geistig und für Ausdruck feinerer, tieferer psychologischer und individueller Stimmungen und Gefühle sehr arm, ihres Reizes und ihres Reichthums durch die Engländer beraubt worden, weil sie alle nicht unbedingt nöthigen Consonanten in der Aussprache vernachlässigt oder ganz weggeworfen, und nur die Vocale, aber auch diese verquetscht und zwischen die natürlichen sechs Vocalstufen hinein corrumpirt, übrig gelassen haben. Die Consonanten gingen ihnen verloren, weil sie den Geist dazu verloren; sie verloren den Geist dazu, weil sich die englische Kultur immer mehr zum Geldmachen, zur Eroberung und Behauptung von Reichthum und Rang gebrauchen ließ, und in der bisherigen Richtung, zumal durch den Einfluß des Goldes in Australien und Californien, alle Reste von Geist, Gemüth, Individualität und Menschenwürde verlieren muß.

Die Consonantenlosigkeit in der Sprache der Thiere, das für unsere Ohren unbestimmte Gebrüll und Geblöke unserer Hausvierfüßler schließt aber nicht bestimmten Ausdruck und Individualität aus. Das Lämmchen findet seine Mutter bald aus Tausenden blökender Schafe heraus. Welch’ einen Reichthum von Nüancen hat demnach die Natur in die einzige, nicht sehr melodische Note der Schafmutter gelegt! Das Pferd hat blos Laute für bestimmte Leidenschaften und Schmerzen. An seinem Wiehern tritt übrigens die Erziehung ganz besonders entschieden hervor. Es findet mit guter Schule und Behandlung immer mehr Modulationen und Variationen für seine kultivirten Stimmungen und Gefühle. Das wilde Pferd der Steppen und Prairien wiehert blos schrill eintönig. Wie sanft und zart wiehert das fein erzogene Roß unter den Liebkosungen seines Meisters! Die Stimme des sterbenden Kulturpferdes wird nie von Denen vergessen, die in der reißenden Fluth oder zwischen dem Gebrüll der Kanonen auf dem Schlachtfelde Zeuge seines Todes waren. Der schrille Trompetenton, mit welchem das freie Pferd in der Wuth der Leidenschaft einen Nebenbuhler und Feind angreift, klingt schreckenerregend, zumal wenn man dazu die starre Mähne und den glühenden, glotzenden Zorn seines Auges sieht.

Die Sprache und die Musik der Katzen kennt Jeder in schrecklicher Erinnerung an stille Mitternächte, als sie ihn aus dem Schlafe gesungen. Aber sie verlieren das Entsetzliche und werden oft bis zum unsterblichen Göttergelächter komisch, wenn man sie concertiren sieht. Mit welcher Gravität und Majestät sitzt der tapferste und schönste Hinz in der Mitte einer bewundernden Anzahl von Schönen! Er zieht feierlich einen tiefen Ton durch verschiedene Grade von Verstimmung hindurch und schielt dazu fürchterlich, als wollte er Knoten in die Augen knüpfen. Die um ihn sitzenden Damen setzen zu verschiedenen Zeiten ihre Alt- und Discantmißtöne ein. Eine ärgert sich über die andere, wie das Primadonnen immer thun: die Fuge der Eifersucht und Rivalität wird immer wilder, menschenrasendmachender, steinerweichender; immer weiter reißen sie die bärtigen Schnauzen auf und immer [293] wüthender zeigen sie ihre Zähne. Mit fürchterlichem Schielen folgt heimtückisch und plötzlich ein Hieb von der Seite. Es zischt und sprudelt, die Krallen werden thätiger und thätiger. Es erfolgt eine zischende, sprudelnde, spuckende allgemeine Keilerei und ein allgemeines Davonlaufen. Sie gehen dann einzeln durch die stille Nacht spazieren, bis eine Sängerin die andere wieder erblickt. Still und tückisch nebeneinander sitzend, beginnen sie erst mit Mäßigung ein Zankduett, vielleicht gar in Moll; jede zieht ihre Register so lang und virtuosenhaft als möglich; aber immer will’s eine besser können als die andere, so daß unter allgemeinem Zischen und eintretenden Pausen das Duett allemal zu einem Duell wird, welches mit dem schrecklichsten Gekreisch und gegenseitigem Davonlaufen endlich plötzlich verstummt. Nun legt sich der aufgeweckte Schläfer ordentlich zurecht, denkt: na endlich! und will sofort den versäumten Schlaf nachholen. Doch halt, jetzt haben ein paar andere Primadonnen einen Kampf auszufechten und diesmal ganz dicht unter Deinem Fenster. So, wenn Du Ohren hast, zu hören, höre! Singe, wem Gesang gegeben in dem deutschen Dichterwald! Sie haben auch ihre Poesie, ihre Lust und ihre Leiden. Also laß sie singen und schwitze Angst dazu! Du kannst immer noch Gott danken, wenn sie Dir nicht betrunken etwas vorsingen. Haben sie sich aber im Genusse der Valerianwurzel berauscht, wie sie dies zuweilen thun, besonders in Frühlingsmondscheinnächten, so ist’s um Deinen Schlaf geschehen. Sie springen und sprudeln, kreischen und krächzen und kollern sich umher wie die schlimmsten Tollhäusler und geben Dir eine furchtbar deutliche Anschauung von der Etymologie und inhaltschweren Bedeutung des klassischen Ausdrucks: „Katzenjammer.“

Die zieh- und dehnbare Vielstimmigkeit der Katzen brachte einmal einen blödsinnigen, müssigen Hofmann auf den Einfall, eine Katzenorgel zu construiren. Er sammelte und stimmte eine große Menge Katzen, fesselte sie in einen großen dazu construirten Kasten, der mit einer Klaviatur so versehen war, daß bei jedem Druck einer Taste eine Nadel auf je einen bestimmt-notirten Katzenschwanz drückte. Die Besitzerin des Schwanzes schrie dabei natürlich ganz in ihrer eigenen Melodie auf und bildete so mit ihren ähnlich beklavierten Collegen eine laute Orgel, in der jede Pfeife ihren eigenen Blasebalg hatte. Der Hofmann lernte spielen und die Welt lachte. Ich weiß nicht, wenn und wo es war, aber ein anderes Genie construirte einmal eine ähnliche Orgel aus lebendigen Schweinen, die dadurch gespielt ward, daß der Virtuose nach Noten an den arrangirten Schwänzen zog. Vor einem abgelebten Despoten, den nichts mehr erheitern konnte, ich glaube vor Ludwig XI. (oder war’s ein Medicäer?), ließ man einmal Schweine tanzen, die man zu diesem Zweck mühsam unterrichtet und in die Tanzschule geschickt hatte.

Einfach, aber schon ganz sprachähnlich ist die Art, wie sich gesellschaftliche Thiere gegenseitig Mittheilungen machen. Sowohl Elephanten als Affen (auch Gemsen u. s. w.) stellen Schildwachen aus, wenn sie sich eine Mahlzeit durch Raub verschaffen. Bei herannahender Gefahr giebt die Schildwache einen Ton von sich, der blos bei solchen Gelegenheiten gehört wird. Daß Affen bald die Worte und Befehle ihres Herrn verstehen und mit militairischer Präcision ausführen, hat ja wohl Jeder zur Genüge gesehen.

Das größte Sprachgenie unter den Vierfüßlern ist der kultivirte Haushund. Er spricht und versteht durchaus eine gelernte Sprache. Die wilden Hunde bellen nicht. Haushunde, die wieder in die Wildniß gerathen, verlieren die Gabe des Bellens wieder in der zweiten, dritten Generation. Der gut erzogene und klug und menschlich behandelte Haus- oder Schooßhund ist ein Geschöpf vom feinsten Gefühl und größten Scharfsinn und mit wahrer Beredsamkeit dafür hinten und vorn, vom Kopf bis zum letzten Endchen des Schwanzes. Seine Gefühle sind tief. Mancher Hund ist auf dem Grabe seines Herrn gestorben, und hat hartnäckig jede Verführung zum Essen und Leben abgewiesen. In einer Naturgeschichte fand ich die Versicherung, daß er es eben so wohl bis zum wirklichen Weinen als zum reellen Lachen bringen könne. Daß er menschliche Worte auf’s Genaueste verstehen lernt, dafür giebt’s unzählige Beweise. Er denkt, und macht Schlüsse. Ein Hund verfolgte einen Raben, der etwas sprechen gelernt hatte, über die Wiese. Der Rabe, der unverschämteste Bursche, wenn’s sein muß, fühlt schon beinahe des Hundes Zähne in seinen beschnittenen Flügeln und sieht ein, daß ihn nichts mehr retten könne, als die unverschämteste Courage. So dreht er sich plötzlich ’rum, und schreit dem Hunde fürchterlich in’s Gesicht: „Dieb! Dieb!“ Der Hund steht wie versteinert. Eine menschliche Stimme! Er dreht sich um, klemmt den Schwanz zwischen die Beine und läuft davon, so schnell ihn die Beine tragen, ganz niedergeschmettert, ganz außer Fassung. Er muß gedacht, Schlüsse gemacht haben, um sich so zu erschrecken, so in die Flucht schlagen zu lassen.

„Wie spricht der Hund?“ Gewöhnlich: „Wau! Wau!“ Aber große Philosophen haben einst behauptet, der Hund könne wirklich menschlich sprechen. Dr. Golt traute ihnen sogar mehrere Dialekte zu. Leibnitz, der große Philosoph, studirte einen sprechenden Hund, dem ein Junge in Sachsen dreißig Worte beigebracht haben sollte. Leibnitz wollte ihm etwas Latein beibringen, aber er blieb bei seinem „kuten Sächsisch, hären Se!“ das soll er aber so „reene“ gesprochen haben, wie der beste Dresdener, ganz ohne Unterscheidung von die harten B und weechen P, so daß Leute im anstoßenden Zimmer ihn wirklich für einen gebornen Meißner, wo man das reinste Deutsch spricht, gehalten haben sollen. Aber mit diesen erkünstelten Kunststücken geben sich Hunde von Ehre nicht mehr ab und halten sich an ihre natürliche Kunstsprache, welche in einsilbigen Wau-Wau-Variationen mehr ausdrücken können, als ein konstitutioneller Parlamentsredner der rechten Mitte. Dabei bleibt ihm immer noch das bittende Winseln, das Mondschein oder schlechte Musik verhöhnende Heulen, die bedeutsame Pantomimik des Schwanzes, das Petitionsrecht mit den Vorderpfoten, der pfiffige Ausdruck des Aufpassens mit schief gehaltenem Kopfe und einem aufrechtstehenden und einem niedergeklappten Ohre, dabei bleiben ihm unzählige Arten des Begreifens, des Ausdrucks von Lust und Leid, von Mitgefühl und Humanität.

Mit diesem Zeugniß kannst du zufrieden fein, Phylax! Aber, wie schön und reich auch deine Beredtsamkeit ist, singen kannst du nicht, Phylax, und wenn du Jenny hießest. Hinsichtlich deines Gesanges stehst du sogar in einem sehr üblen Rufe. Also couche! und überlaß die musikalische Sprache den lieben Leuten, die vom Blatte singen, den Dichtern des Waldes, den befiederten, beschwingten Noten. Glücklichste der Sterblichen, der Schwerkraft und Trägheit entledigte, in Sang und Klang, Luft und Aether erhobene Materie, fliegende, flatternde, farbige, leichte, lose, lockere Vögel, wer könnte euch hier unten, an den trägen Stoff gebannt, begreifen und euer zwitscherndes, trillerndes, flötendes, trompetendes, süßes, singendes Lebensglück leicht und gelehrt genug schildern! Eine alte, reiche, gelehrte Literatur über euer Leben und Lieben, euer Singen und Schwingen von Pallas Athene an bis zum neuesten Werke über Ornithologie enthält die größte Fülle menschlicher Weisheit, um euch zu begreifen; aber die Herren waren alle zu gelehrt und zu schwerfällig, eure naive, leichtsinnige Lebens- und Liederfreude zu capiren. Pallas Athene, die Göttin der Weisheit im alten Griechenland, gab dem blinden Seher Tiresias die Gabe, die Musik und Sprache der Vögel zu verstehen, um ihn für den Verlust seines körperlichen Augenlichtes zu entschädigen. (Eine schöne, trostreiche Wahrheit für Erblindete!) Diese Gabe erbte als eine besondere, göttineingegebene Weisheit fort auf andere griechische Weise, Helenus von Troja, Thales, Melampus u. s. w. Der weise Salomo soll die Bedeutung aller Sprachlaute der Thiere verstanden haben.

Plinius giebt sogar in seiner Naturgeschichte besondere Recepte, um die Bedeutung aller Vögelgesänge verstehen zu lernen. Der fabelhafte König Dag hielt sich Sperlinge, statt der Spione, welche ihm alle Tage die Neuigkeiten des Tages und die Thaten seiner Unterthanen hinterbrachten, so daß der Glückliche gar keine Polizei zu halten und keine Zeitungen zu lesen brauchte.

Gerbert von Sevilla, der große Meister „schwarzer Kunst“, verstand auch den Flug und Gesang der Vögel zu deuten. Benedict der Neunte, im zwölften Jahre schon Papst, kannte die Stimme der Vögel und ließ sich von ihnen erzählen, was in seinem Reiche passirt sei und passiren werde. Im russischen und griechischen Alterthume frug man Vögel statt der Minister und Staatsräthe in Angelegenheiten von Staats- und gelehrten Sachen und kam dabei besser weg, als heut zu Tage. Die Kraniche des Ibicus fungirten als Criminalpolizei. Gänse retteten das Kapitol, und von Gänsen ließen sich die ersten Kreuzzügler den Weg nach dem heiligen Lande zeigen. Ein deutscher Gelehrter (wie heißt er? Ich habe den Namen vergessen) studirte die Sprache der Gänse so genau, daß er ein Lexikon derselben anfing, welches zwei Franzosen, Dupont de Nemours und Pierquin de Gembloux, bis zu einem Lexikon der ganzen Thiersprache ausdehnten. Thomas Gardiner [294] dehnte den Plan noch weiter aus und gab vielfach Text und Noten der Natur- und Thiermusik. Wir lachen wohl über diese zu weit getriebene Weisheit. Die Sache hat aber nur insofern ihr Lächerliches, als man spezifisch ganz besondere, von der Menschensprache ganz verschiedene Arten der Verlautbarung innerer Lebensregungen in diese Menschensprache übersetzen wollte. Es wird dann eben eine ziemlich sinnlose Zusammenstoppelung von Vocalen und Konsonanten. Ist es doch schön lächerlich und ganz vergeblich, die ebenfalls sehr verthierte englische Sprache und Aussprache durch deutsche Vokale und Konsonanten wiedergeben zu wollen. Wer nach solcher Anleitung Englisch sprechen lernt, ist dem Vollblut-Engländer eben so unverständlich, wie der Chinese oder Böhme.

Thatsache ist, daß die Vögel unter allen Thieren die vollkommensten Sprach- und Musikorgane und Talent für die reichsten Variationen von Tönen und Melodien haben. Ihre Stimme hat zwei Köpfe, d. h. noch einen zweiten Luftröhrenkopf (larynx). Das weiß mancher Junge, ohne es zu wissen: er bläst aus der Gänse- oder Entengurgel noch ziemlich deren Töne, ohne daß er deren Kopf und obern Luftröhrenkopf dazu braucht. Die Nachtigall, anerkannte Königin aller gefiederten Sängerinnen, hat auch den vollkommensten und verhältnißmäßig größten Luftröhrenkopf. Außerdem haben Vögel allein einen Posaunenzug: sie können ihre Luftröhre verlängern und verkürzen, wie der Posaunist seine künstliche Luftröhre. Aber wie die Mozart’s geboren werden, ist auch bei ihnen der angeborne, innerliche, musikalische Sinn die Hauptsache. Sie singen mit Gefühl, mit musikalischem Genie. Welch’ ein Reichthum, welche Fülle von Variation und Individualität in dem lauten Walde des sonnigen, warmen Junimorgens! Woher kommt manchmal plötzlich die tödtlich schweigende Pause? Der Zaunkönig oder irgend ein kleiner, blauer munterer Bursche zirpte plötzlich eine Note des Schreckens in den allgemeinen Jubel. Jeder, selbst der stupide Truthahn, versteht sogleich deren Bedeutung. Ein Stößer schwebt oben, und Alles versteckt sich schweigend unter Gras und Zweige, und ruft die Küchlein und Kindlein unter Schutz und Fittige. So ist’s mit ihrer Freude und Glückseligkeit. Sobald im dämmernden Morgen ein kleiner Frühauf seinen Kopf unter den Flügeln hervornimmt und das Morgenroth anjauchzt, horcht und hört Einer nach dem Andern, wetzt seinen Schnabel und fängt an, in voller, frischer Lust mitzusingen, und nach einer Viertelstunde zirpt und zirkelt, wirbelt und warbelt, schmettert und schmachtet, quirkt und kixert der ganze Wald, als hätte jedes Blättchen seine Stimme und seinen Jubel. Und das geht dann in helläugigster, elastischster, hüpfender und flatternder Lust und Anstrengung fort bis in den heißen Mittag hinein. Dabei gukt es und neckt und liebt es in voller Unschuld und Frische, und auch der dünnste Zweig liefert ein paar Secunden den ätherischsten Wiegstuhl, und unter jedem Blatte, in jeder Baumritze steckt eine besetzte Tafel. Ohne Nahrungssorgen, ohne irdische Schwere, ohne Polizei und Rheumatismus, ohne Paßkarte und Sittenzeugniß sind sie stets nur laute Lust und Glückseligkeit, steht ihnen stets die ganze Welt offen. Die weiche, warme Luft ist ihr Reich, die sie von Frühling zu Frühling trägt oder im härtesten Winter ihnen doch nicht auf die dichtumfiederte Haut kommt. Die flüssige, freie Luft ist ihre Wohnung, ihre stets in Musik verwandelte Lebensquelle. Ungebunden und ohne Schwere und Beschwerde schwingen und schweben, singen und lieben sie in der größten Halle der Natur ihr ganzes Leben hindurch. Noch im Eie übt der kleine Gelbschnabel schon sein Stimmchen und sterbend singt er sich noch selbst sein Todtenlied, in welchem der glückliche, leichte Genius seines Innern sich glückselig wieder auflöst in das schöne, weiche, stets fließende und tönende Element alles lauten Lebens.

Natürlich gilt dies Loblied nicht von allem Federvieh in gleichem Maaße. Im Gegentheil ist die Gabe des Gesanges nirgend ungleicher vertheilt, als unter den Vögeln. Der krächzende Rabe ist ein Vogel, und die Nachtigall auch. Seevögel haben meist nur traurig-schrille, wehklagende Töne, da das Meer ihnen selten etwas Angenehmes vorspielt. Die eigentlichen Sänger und Wirbler leben in Wald und Feld unter angenehmen Eindrücken und mannigfachen melodischen Andeutungen des Windrauschens, Blättergeflüsters und menschlichen Naturgesanges.

Trut- und Putervögel sind die Clowns und Bajazzo’s unter den Vögeln der Abendwelt. Mit geschlossenen Augen tanzend und trippelnd und die närrischsten Bocksprünge auf einem Tannenzweige riskirend, kreischt und krächzt, rumpelt und rachzt, schnattert und gobbelt der Truthahn wie nicht gescheidt, und die Jungen und Schönen unten guken bedeutungsvoll zu, und stoßen bewundernde Beifallszeichen aus. Dadurch noch eitler und verrückter gemacht, bockspringt, kollert und kreischt er nur um so leidenschaftlicher, daß rings Wald und Berge echoend und verhöhnend antworten. Franklin wollte den Truthahn zur Würde des amerikanischen Wappens erheben. Da erzählten ihm Jäger von dem skandalösen Benehmen und Krakeelen dieses Patrons, so daß die Sache sofort aufgegeben ward. Eulen sind die Kopfhänger zu den Komikern. Sie kreischen einförmig und unheimlich in der Nacht (die weiße Eule stets in B-moll), und sind dadurch die Qual manches schwachen Sterblichen und Sterbenden geworden. Zuweilen quieken, schnarchen und zischen sie mit einer Musik, die von Katzen, Mäusen und Affen erlernt zu sein und deren Gesangstalente in eine große Komposition verschmelzen zu wollen scheint.

Unter den schwimmfüßigen Vögeln ist der Schwan alter traditioneller König in Gestalt und Gesang. Das Alterthum verband mit dem Gesange des sterbenden Schwans die höchste, rührendste Süßigkeit der Melodie. Er war Lieblingsvogel des Musengottes Apollo, und Aristoteles und Horaz glaubten, daß Dichterseelen nach dem Tode in Schwänen wieder lebendig würden, weshalb badende Schönheiten zuweilen auch durch Schwäne in große Gefahr geriethen. Leda mit dem Schwane ist sprüchwörtlich durch alle Zeiten gegangen, und von Malern verherrlicht worden. Homer vergleicht die aus ihren Schiffen zur Schlacht eilenden Griechen mit einer Heerde langhalsiger Schwäne, die hin und her flattern, kampflustig mit ihren Flügeln schlagen und laut singen. Auch im eisigen Norden sangen sie hoch über den Häuptern der Krieger, und riefen sie zum Kampfe und die Seelen der Gefallenen in die Walhalla der Unsterblichkeit. In neuerer Zeit haben die Schwäne entweder ihre Stimme oder wir die Ohren für ihren Gesang verloren. Noch segeln sie stolz und majestätisch auf spiegelblanken Fürstenteichen, aber sie sind in der Regel stumm und sehen die Leute an den Ufern nie in bester Laune an. Der Vogel des Apollo ist sehr in seinem alten Ruhme gesunken und Apollo selbst ein Hundename geworden.

Und wie steht’s um das musikalische Talent Hennings, des Hahns und seines Harems? Unter allen musikalischen Haupthähnen nimmt Henning mit seinem stolzen Kamme und seinen steifen Beinen den ersten Rang ein: er braucht nicht „vom Blatte“ zu singen, sondern kräht sein Lied mit geschlossenen Augen, weil er’s auswendig kann. Aber ohne Spaß ist er wenigstens unter den stimm- und tonlosen Sängern der erste Tenorist. Seine Clarinrufe in der schweigenden Nacht ersetzen dem Bauer nicht nur die Uhr und den Nachtwächter, sondern dem schlaflosen Leidenden und dem verirrten Wanderer der Nacht auch oft die süßesten Tröstungen. Wenn sein mächtiger Ruf durch die schweigende Nacht schrillt, haben die Geister der Finsterniß ihre Macht verloren. Der trostlose Wanderer hört ihn weit hinein in seine Verirrung und weiß nun die Richtung, wo menschliche Wesen und Wohnungen zu finden sind. „Die erste Stimme wird gehört hoch im Himmel,“ heißt es im Koran. „Ein weißer Hahn ruft jeden Morgen die Chöre des Himmels zum Gebet; sein klarer Klang schwingt sich durch das Universum. Die Menschen in Sünde und Schlaf hören ihn nicht, aber alle Hähne der Erde vernehmen ihn und stimmen ein in das Lob des großen Allah.“ Die Christen hatten früher einen ähnlichen Glauben und gaben ihm Stellungen auf Kirchthürmen, woraus später der gemeine Wetterhahn ward. – Nach dem ersten Morgenrufe schläft der Hahn wieder etwas mehr als eine halbe Stunde, dann mahnt er zum zweiten Male an den nahenden Morgen. In manchen Jahreszeiten thut er’s auch ein drittes Mal. Bekanntlich antworten sofort alle Hähne der Nachbarschaft und selbst der nächsten Dörfer, so daß der erste Schrei oft Tausende erinnert, ebenfalls ihre Pflicht zu thun. Charakteristisch und wahrhaft heldenthümlich ist sein Siegesruf. Man hat Beispiele, daß er im Kampfe zum Tode verwundet, mit bluttriefendem Herzen erschöpft, aber als Sieger noch einmal mit aller Macht trompetenartig tapfer herauskräht, und dann niederfällt, um in dem verkündeten Glanze seiner Glorie zu sterben. Ueberhaupt liebt er es, nach jedem Kampfe und jeder Verlegenheit triumphirend auf eine Wand oder einen Zaun zu fliegen, mit den Flügeln zu schlagen und sein bekanntes Lied so tutti heraus zu trompeten, daß alles Geflügel der Nachbarschaft hört und zeigt, daß es sich seines Sieges freue. Hähne haben schon Schlachten der [295] Menschen gewonnen. Zwei Beispiele stehen historisch fest. Einmal zeigte der griechische Feldherr Themistocles den muthlos gewordenen Soldaten zwei kämpfende Hähne und rief: „Männer von Athen, seht diese Thiere fechten blos um eitle Ehre, Ihr aber für Eure Götter, Herde, Frauen und Kinder. Wollt Ihr verzagen?“ Und sie faßten Muth und gewannen die Schlacht.

Im Jahre 1793 war das Kriegsschiff Marlborough mit Admiral Berkeley schon mastlos und leck geschossen und die Schlacht verloren gegeben. Da flog Admiral Berkeley’s Hahn auf den Stumpf eines Mastes, klappte mit den Flügeln und trompetete kühn sein Kikiriki in Kanonendonner und Pulverdampf hinein. Da faßte Jeder Muth. Der Kampf ward erneuert und die Schlacht gewonnen.

Von der braven Henne mit ihren zärtlichen Locktönen für die rasch herbeitrippelnden Küchlein läßt sich in musikalischer Beziehung nicht viel Rühmliches sagen. Sie macht gar zu viel Aufhebens nach jeder vollbrachten That einer Eilegung, ist aber immer noch nicht so eitel und ruhmrednerisch wie viele Menschen, welche manchmal viel ärger gackern, wenn sie sich vorgenommen haben, das Ei einer That zu legen, das hernach oft ein Windei, manchmal auch blos Wind ist. Der Stern Alcyone als Henne am Himmel mit den Küchlein der sie umgebenden kleinen Sterne, der Ruf Christi an Jerusalem mit dem Bilde der Henne und ihrer Küchlein, und manche andere klassische Benutzungen der schützenden, mütterlichen Zärtlichkeit der Glucke werden hiermit eben nur in Erinnerung gebracht.

Eigenthümliche musikalische Schwätzer sind die Raben und dergleichen dunkelmanteliges Gelichter. Der Rabe hat eine eigenthümlich volubile Zunge, mit der er, besonders wenn sie gelöst ist, alles Mögliche nachplappern lernt. Die Alten, welche ihn für einen geheimnißvollen Weisen und Propheten hielten, studirten seine Stimme, unterschieden über 64 Noten darin und gaben jeder eine Bedeutung. In Griechenland und Rom fungirte er als Hauptwahrsager, bei den alten Deutschen als Prophet und bei uns hauptsächlich als unverbesserlicher Spitzbube. Früher hatte er noch viel mit Galgen und Rad zu thun. Ein unheimlicher Bursche bleibt er immer, weshalb ihn Dickens mit dem glücklichsten Humor und mysteriös zum steten Begleiter seines wahnsinnigen „Barnaby Rudge“ gemacht hat. Etwas Unheimliches hat der geschichtsberühmte Schwarzrock immer noch, nicht nur wegen der unbesiegbaren Leidenschaft des Stehlens um des Stehlens selbst willen, sondern weil er auch als sprechendes Kulturwesen sich am Liebsten an criminale Ausdrücke hält: Dieb! Spitzbube! Mörder! u. s. w.

Zahme Saatkrähen sind gefährlich. Man kennt Beispiele, daß sie brennende Kohlen wegtrugen, daß sie Papierstückchen aufpickten, in’s Feuer warfen und sich königlich über die aufflackernde Flamme amüsirten. Die Beredtsamkeit und die Sprachtalente der Elstern, Staare, Dohlen und ähnlicher dunkeler Collegen sind bekannt. Sie schwatzen gern und leicht alles Mögliche nach, wenn sie in menschlicher Gesellschaft leben. Auf Java lehrten die unterdrückten Eingebornen die Staare Rache an den Siegern. Sie riefen beim Anblick jedes Europäers: „Christ! Hund! Schweinefleischfresser!“ Papageien, Kakadu’s u. dergl. sind die Raben und Elstern der Tropen. Von Natur die schlechtesten Musikanten, haben sie doch eine große Vorliebe für Nachahmung menschlicher Worte.

Musik und Sprache, ja selbst parlamentarischen Takt und konstitutionelle Beredtsamkeit finden wir erst unter sprachlich besser ausgestatteten Vögeln, z. B. unter Sperlingen. Die Nachahmungsfähigkeit menschlicher Sprache kommt gerade stiefmütterlicher ausgestatteten Vögeln am Meisten zu. Die Beredtsamkeit und die Gesangskunst derselben sind in sich vollkommene Eigenschaften, die sie aus sich selbst, aus ihrem eigenen Genie und Herzen entwickeln. Was lernt die Lerche, der Kanarienvogel, die Nachtigall von Menschen? Sie lernen blos von ihren Eltern und andern Vögeln. Ausdruck, Individualität, Gefühl, Variation kommen aus ihrer eigenen gefühlvollen, liederreichen Brust. Man könnte Bücher darüber voll schreiben, wie es bereits über den Gesang der einzigen Nachtigall geschehen. Sie allein hat alle Vocale und mehr Consonanten als die Menschen in den fünfundzwanzig Hauptstrophen ihrer Liederthemata.




Die Vorschußvereine in Delitzsch und Umgegend.

Schon früher besprachen wir die in der Aufschrift genannten Vereine, und machen wiederholt auf die Schrift ihres Stifters aufmerksam:

Vorschußvereine als Volksbanken. Praktische Anweisung zu deren Gründung und Einrichtung, von Schulze-Delitzsch. Leipzig 1855. Preis: 10 Ngr.

welche bereits in Nähe und Ferne eine Anzahl gleicher Institute hervorgerufen hat, die noch täglich im Wachsen begriffen ist. Die Rechnungsabschlüsse dieser Vereine für 1855, welche uns vorliegen, ergeben nun so überraschende Resultate ihrer sich immer steigernden Wirksamkeit, daß wir bei der Wichtigkeit und Dringlichkeit der dadurch gelösten Frage wiederholt darauf zurückkommen, vor Mittheilung der Rechnungs-Details aber für diejenigen, welche das Büchelchen noch nicht kennen, die Grundzüge der Einrichtung der fraglichen Institute vorausschicken wollen.

Die Vereine sind, ohne alles Zuthun von Kapitalisten, ohne Unterstützung öffentlicher Fonds oder durch Privatleute, ohne Mitwirkung irgend einer Behörde, lediglich durch das Zusammentreten von meist unbemittelten Handwerkern und Arbeitern kleiner Landstädte gegründet. Der Grundsatz der Selbsthilfe, welchen der Verfasser des genannten Büchelchens bei sämmtlichen von ihm auf volkswirthschaftlichem Felde angeregten Organisationen angewendet wissen will, ist auf das Strengste durchgeführt, und hat in der Form der Solidarität sich dergestalt wirksam erwiesen, daß die nöthigen Geldmittel überall in mehr als ausreichender Weise beschafft werden konnten. Man bewirkte dies einerseits durch fortlaufende allmonatliche Beisteuern der Mitglieder, bei welchen ein bestimmter niedrigster Satz, als nothwendige Bedingung der Mitgliedschaft, so gegriffen war, daß ihn auch der unbemittelte Arbeiter aufzubringen vermochte (1 bis 2 Sgr.), während ihn jeder nach Belieben erhöhen durfte; andrerseits durch Aufnahme zinsbarer Darlehen unter solidarischer Verhaftung aller Theilnehmer. Die Monatssteuern wurden den einzelnen gutgeschrieben, blieben ihr Eigenthum, und nach Höhe derselben wird der Geschäftsgewinn unter sie vertheilt, der jedoch in der Kasse behalten und jenem Guthaben ebenfalls zugeschrieben wird, bis dasselbe eine gewisse bei jedem Vereine verschieden bestimmte Normalhöhe erreicht, über welche hinaus nicht mehr gesteuert und die Dividende ausgezahlt wird. So denkt man allmälig die Unternehmungen auf förmliche Actien zu fundiren, die man jedoch den Mitgliedern, welche zu deren Einzahlung beim Eintritt die Mittel nicht haben, durch die allmäligen Beisteuern und die Antheile am Gesellschaftgewinn erst bilden muß. So groß war aber der Anreiz der Dividende, daß selbst die Unbemitteltsten, als ihr Betrag für die ersten Jahre bekannt wurde, ihre mühsam abgesparten Beiträge verdoppelten, ja verdreifachten, und die Anfänge der Bildung kleiner Kapitalien für sie die erfreulichsten Fortschritte machten. Erst als man soweit, und das Gelingen der fraglichen Unternehmungen gesichert war, schlossen sich auch die bemitteltern Gewerbtreibenden an, theils weil man durch die den Kassen reichlich zufließenden Mittel in den Stand gesetzt wurde, durch bedeutendere Vorschüsse auch ihr Bedürfniß zu decken, theils auch nur weil sie die bedeutende Dividende lockte.

Natürlich konnte die Sicherheit der Vorschüsse nur eine persönliche sein, wollten die Vereine nicht ihren Zweck, dem Kleingewerbe zu helfen, verfehlen. Moralische und geschäftliche Tüchtigkeit sind also die Hauptgrundlagen, auf welche man bei den Vorschußempfängern sieht. Um aber hierüber ein in jedem Falle sicheres und verantwortliches Urtheil zu erhalten, von den nächsten Bekannten und Berufsgenossen, welche genauere Einsicht in den Gewerbs- und Vermögensstand eines Vorschußsuchers und dessen jeweilige Veränderungen haben, erwies sich die Bürgschaft als der untrüglichste Anhalt, welche, oder statt deren Pfand, immer gefordert wird, sobald die verlangte Summe das Guthaben um ein Nahmhaftes übersteigt. Da der Dienst, den sich die Mitglieder als Bürgen leisten, ein gegenseitiger ist, indem der Bürge selbst bald in die Lage kommt, des Bürgen zu bedürfen, so hat sich das deßfallsige richtige Verhältniß bald unter den Mitgliedern regulirt, und wo die Bürgen aussagen, da ist das stets das sicherste Zeichen, daß der Vorschußsucher kein Vertrauen verdient. Auf solche Weise sind Verluste Seitens der Vereinskassen durch Insolvenz der Schuldner überaus selten, und ist übrigens zu deren Uebertragung ein besonderer Reservefond gebildet.

Die Zinsen der Vorschußempfänger, welche die Hauptkasseneinnahme bilden, und von denen die Zinsen der Vereinsgläubiger, die Verwaltungskosten und die Dividende gedeckt werden müssen, hat man durchschnittlich auf 10% jährlich normirt. Bei dem raschen Umsatz im Kleingewerbe, wonach die Vorschüsse meist nur einige Monate gebraucht werden, den viel höhern wucherischen Zinsen, welchen sich unbemittelte Gewerbtreibende außerhalb der Vereine unterwerfen mußten, und dem bedeutenden Vortheil, daß sie stets auf eine ihren Verhältnissen entsprechendn baare Summe rechnen können, welche, richtig angewendet, ihnen einen weit größern Nutzen in ihrem Gewerbe gewährt, hat man diesen Zinssatz (5 Sgr. für 20 Thlr. auf 1 Monat) nie drückend gefunden. Da nun überdem der ganze Zinsenüberschuß in der Gestalt der Dividende den Mitgliedern wieder zufließt, und ihr Guthaben erhöht, so sind Anträge, den Zinsfuß zu reduciren, mehrfach von den Generalversammlungen zurückgewiesen, da die Reduktion höchstens 2–3 % betragen und nur auf Unkosten der Dividende geschehen könntn, wodurch ein Hauptreiz zum Sparen und der dadurch ermöglichten Erhöhung der Monatssteuern wegfallen würde.

Die Verwaltung liegt überall in den Händen von Ausschüssen, welche von den Mitgliedern aus ihrer Mitte erwählt und jährlich erneuert werden, von denen nur die Kassenbeamten, ihrer mühevollen und verantwortlichen Funktion halber, ein Honorar nach Procenten vom Geschäftsumsatz bestimmt, erhalten. Die beschließende Gewalt nebst der Aufsicht über die Verwaltung üben sämmtliche Mitglieder in den Generalversammlungen. – Dies vorausgeschickt lassen wir nun die Rechnungsabschlüsse der einzelnen Vereine folgen.

[296] Der Vorschußverein in Delitzsch (Stadt von 5000 Einwohnern) in der neuern Form seit dem Herbst 1852 thätig, zählte Anfang 1855 210, am Jahresschlusse 256 Mitglieder.

Auf Anreiz der Dividende, welche für 1854 171/2 Sgr. auf jeden vollen Thaler des Guthabens betragen hatte, hatten sich die Monatssteuern der Mitglieder von circa 300 bis auf 864 Thlr. 25 Sgr. 6 Pf. im Laufe des Jahres 1855 erhöht. An baaren Vorschüssen aber wurden an die Mtglieder aus der Kasse gereicht:

12,808 Thlr. in 359 einzelnen Posten von 3–220 Thlr. (die meisten zwischen 20 und 50 Thlr.) bis auf 3 Monate, und
07,010     – ältere Vorschüsse auf neue Fristen prolongirt.

Hiervon flossen 465 Thlr. 13 Sgr. 9 Pf. Zinsen der Vorschußempfänger nach dem Satze von 1/4 Silbergroschen vom Thaler auf den Monat, in die Kasse, wovon 136 Thlr. 27 Sgr. 10 Pf. Zinsen der Vereinsgläubiger, 32 Thlr. 9 Sgr. 6 Pf. Verwaltungskosten und 145 Thlr. Honorar der Kassenbeamten zu decken waren, so daß 150 Thlr. 22 Sgr. 3 Pf. Reingewinn für 1855 übrig blieb. Davon schlug man 2 Thlr. 29 Sgr. 3 Pf. zur Reserve, und schrieb den Rest von 147 Thlr. 23 Sgr. als Dividende den Mitgliedern mit 61/2 Sgr. (201/3 %) auf jeden vollen Thaler ihres Guthabens Ende 1854 zu, indem 682 solcher Thalereinheiten participiren. Der Betriebsfond stellte sich daher Ende 1855 heraus auf:

Thlr. Sgr. Pf.
3279 0 0 vom Vereine aufgenommen zu 41/2 und 5% verzinsliche Darlehen,
0014 0 0 unverzinsliche Darlehen von Ehrenmitgliedern,
1548 07 0 Guthaben der Mitglieder an eingesteuerten Monatsbeiträgen und Dividende,
0255 10 06 Reserve, als eigentlichem Vereinsvermögen.
==================
5096 17 06

Die Mitgliederzahl des Vereins war übrigens fortwährend im Steigen, und ist zu bemerken, daß seit 1854 eine zweite Vorschußkasse vom Stadtmagistrat gegründet und mit 3000 Thaler Gewinnüberschüssen der städtischen Sparkasse dotirt ist, welche den Verkehr der wohlhabenderen Gewerbtreibenden mehr an sich zieht, da sie strengere Sicherstellung und dagegen geringere Zinsen fordert.

II.

Der Vorschußverein in Zörbig (Landstadt von 3000–4000 Einwohnern 21/4 Meile von Delitzsch) hat seine Mitglieder im Jahre 1855 von 45 auf 80 gebracht, von denen übrigens die eigentlich unbemittelten Klassen durch die Forderung einer Actie von 5 Thalern, welche gleich beim Eintritt baar gezahlt werden muß, ausgeschlossen sind. Im Uebrigen hat er das delitzscher Statut angenommen und im Jahre 1855

10,187 Thlr. baare Vorschüsse in 303 einzelnen Posten von 5 bis 250 Thaler (Prolongationen sind nicht vorgekommen)

an seine Mitglieder gegeben, welche nach dem Zinssätze von 4 preußischen Pfennigen (1/3 Sgr.) vom Thaler auf den Monat (121/2% auf das Jahr), 285 Thlr. 27 Sgr. 2 Pf. Zinsen einbrachten. Hiervon waren an Unkosten zu decken:

Thlr. Sgr. Pf.
061 1 6 Zinsen der Vereinsgläubiger und Verwaltungskosten,
076 Honorar der Beamten,
137 1 6

so daß 148 Thlr. 25 Sgr. 8 Pf. als Reingewinn für 1855 übrig bleiben, wovon 146 Thlr. 7 Sgr. 6 Pf. als Dividende den 45 Mitgliedern am Ende des Vorjahres gleichmäßig mit 3 Thlr. 71/2 Sgr. für jeden gutgeschrieben, der Rest von 2 Thlr. 18 Sgr. 2 Pf. zur Reserve überwiesen wurden. Der Betriebsfond bestand Ende 1855 aus:

Thlr. Sgr. Pf.
1605 0 vom Vereine aufgenommenen verzinslichen Darlehne,
0653 07 6 Guthaben der Mitglieder an eingezahlten Actien u. Monatsbeiträgen, sowie gutgeschriebene Dividende;
0052 29 6 Reserve, als eigentlichem Vereinsvermögen;
2311 07

und sind für das Jahr 1856 die Zinsen der Vorschußempfanger auf 3 preußische Pfennige (1/4 Sgr.) vom Thaler auf den Monat (10%) ermäßigt, und wird die Dividende von jetzt ab ebenfalls nicht nach Köpfen, sondern nach der Höhe des Guthabens der Einzelnen vertheilt.

III.

Der Vorschußverein zu Bitterfeld (Landstadt von circa 4500 Einwohnern 11/2 Meile von Delitzsch) ist erst im Januar 1855 unter Zugrundlegung des delitzscher Statuts, gegründet, und begann das Vorschußgeschäft mit dem 1. April 1855. Da ihm gleich Anfangs 164 Mitglieder beitraten, so zählt er gegenwärtig bereits 252, und verspricht eine besonders gedeihliche Entwicklung.

Durch die seit Anfang Januar erhobenen Eintrittsgelder und Monatssteuern der Mitglieder, sowie mehrere vom Verein aufgenommene Darlehne wurde es möglich, in den 9 Monaten vom 1. April bis Ende Dezember 1855

3757 Thlr. baare Vorschüsse an die Mitglieder in 292 einzelnen von 3–60 Thlr. bis auf 3 Monate zu gewähren und
1076 Thlr. davon auf neue Fristen zu prolongiren.

Hiervon flössen 130 Thlr. 2 Sgr. 4 Pf. Zinsen der Vorschußempfänger, nach dem Satze von 4 preußischen Pfennigen (1/3 Sgr.) vom Thaler auf den Monat, zur Kasse, wovon 33 Thlr. 10 Sgr. 9 Pf. Zinsen der Vereinsgläubiger und 65 Thlr. 1 Sgr. 2 Pf. Gehalte der Beamten zu decken waren. Außerdem flossen an Eintrittsgeldern (à 5 Sgr.), Jahresbeiträgen (man vergleiche die angezogene Schrift) und durch Verkauf der Statuten 69 Thlr., und an eingesteuerten Monatsbeiträgen 259 Thlr. 6 Sgr. 6 Pf. in die Kasse, wogegen freilich die Kosten der ersten Einrichtung an Büchern, Inseraten, Statutendruck, Formularen etc. etc. 42 Thlr. 25 Sgr. betrugen. Da der Ueberschuß hiervon als Reserve angelegt und keine Dividende für 1855 an die Mitglieder gewährt wurde, so stellte sich der Betriebsfond Ende 1855 heraus auf:

Thlr. Sgr. Pf.
1675 05 vom Verein aufgenommene Darlehne,
0259 06 6 Guthaben der Mitglieder an eingesteuerten Monatsbeiträgen,
0057 25 2 Reserve, als eigentlichen Vereinsvermögen.
1992 0 6 8
IV.

Der im Jahre 1854 gestiftete Vorschußverein zu Eisleben (Bergstadt von 7000 Einwohnern), welcher ebenfalls das delitzscher Statut mit wenigen unwesentlichen Aenderungen angenommen hat, zählte Ende 1855 101 ordentliche und eine Anzahl Ehrenmitglieder. Er hat an seine Mitglieder an baaren Vorschüssen ausgegeben:

Im Jahre 1854 0735 Thlr.,
Im Jahre 1855 6416 Thlr.

welche an Zinsen, nach dem Satze von 21/2 preußischen Pfennig vom Thaler auf den Monat (81/3% auf das Jahr), der Kasse 138 Thaler 7 Sgr. 5 Pf. einbrachten, wovon nur 30 Thlr. 10 Sgr. 5 Pf. Zinsen der Vereinsglaubiger und 26 Thaler 3 Sgr. 6 Pf. Einrichtungs und Verwaltungskosten zu decken waren, da die Beamten für das Erste kein Honnorar für ihre Mühwaltung beanspruchten, so daß ein Reingewinn von 81 Thlr. 23 Sgr. 6 Pf. Ende 1855 verblieb. Hiervon wurden 9 Thlr. als Dividende denjenigen Mitgliedern gutgeschrieben, deren Guthaben Ende 1854 volle Thaler betrug, was, da nur 9 solcher vollen Thalereinheiten vorhanden waren, auf jede 1 Thaler, also 100% ausmachte. Der Rest von 72 Thlr. 23 Sgr. 6 Pf. wurde zur Reserve geschlagen, wohin überdem die Eintrittsgelder etc. etc. flossen, so daß am Schlusse 1855 sich der Betriebsfond dahin herausstellte:

Thlr. Sgr. Pf.
0460 0 unzinsbare Darlehne von Ehrenmitgliedern,
1600 0 vom Vereine aufgenommene verzinsliche Darlehne,
00180 23 6 Guthaben der Mitglieder an eingesteuerten Monatsbeiträgen und Dividende,
00118 08 6 Reserve, als eigentliches Vereinsvermögen.
2359 02
V.

Der Darlehnkassenverein in Eilenburg (Fabrikstadt von 10,000 Einwohnern 3 Meilen von Delitzsch) zählte am Jahresschlusse 1855 750 Mitglieder und ist 1850 gestiftet. Die Nachrichten über seine Wirksamkeit bis Ende 1854 sind ebenso wie über die des delitzscher Vereins in dem Schulze’schen Werkchen nachzulesen. Die förmliche Rechnung für 1855 wird gegenwärtig erst ausgearbeitet, doch ergeben die Bücher und Kassenabschlüsse vorläufig Folgendes. Es wurden im Jahre 1855

24,024 Thlr. baare Vorschüsse an die Mitglieder in 646 einzelnen Posten von 1–500 Thlr. ausgegeben, auf 1 bis 6 und 9 Monate, und
12,000 Thlr. ältere Vorschüsse auf neue Fristen prolongirt.

Hiervon hatten die Vorschußempfänger zu zahlen 5% Zinsen und außerdem 3–5% Verwaltungskostenbeiträge, je nachdem die Vorschüsse auf länger oder kürzer als 3 Monate und im letztern Falle wieder unter 20 Thlr. betragen und in wöchentlichen Raten abgezahlt werden; zusammen also 8–10% auf das Jahr, was für 1855 eine Kasseneinnahme ergab von:

Thlr. Sgr. Pf.
1902 10 2 und
0260 0 circa auf ausstehende Reste
2162 10 2

Hiervon waren zu decken:

1300 Thlr. circa Zinsen der Vereinsgläubiger
0780 Thlr. circa Gehalte der Beamten und Verwaltungskosten
2080

so daß der Reingewinn des Geschäfts für 1855 sich auf etwa 60 Thaler belaufen wird. Bei dieser geringen Dividende, deren Gründe man im Schulze’schen Werkchen nachlesen mag, ist der Anreiz zur Verstärkung der Monatssteuern Seitens der Mitglieder nur schwach, und haben diese Steuern für 1855 fast durchweg nur zu dem niedrigsten Satze von 1 Sgr. nicht mehr als zusammen 315 Thaler 11 Sgr. betragen. Der Betriebsfond stellte sich Ende 1855 heraus auf:

Thlr. Sgr. Pf.
29,683 27 vom Verein aufgenommene verzinsbare Darlehne,
01,479 16 2 Guthaben der Mitglieder und Reserve,
30,163 13 2

von welcher Summe 6–7000 Thlr. beim Banquier zinsbar belegt sind.

VI.

Von den im Laufe 1855 gegründeten Vorschußvereinen nach dem Muster der obigen in Meißen, Hildesheim, Celle, Marienburg, Brehna, Osterfeld etc. etc. liegen noch keine vollständigen Rechnungsabschlüsse vor, doch zeigt sich an den genannten Orten überall ein überraschend schnelles Aufblühen, und wir werden hoffentlich bald im Stande sein, weitere bestimmte Resultate daher berichten zu können. Für jetzt schließen wir, indem wir mit den Worten des bezeichneten Werkchens, welche wir in jeder Hinsicht bestätigt finden, die Vortheile dieser Vereine für den kleinen Gewerbstand dahin zusammenfassen, daß

1) derselbe dadurch in den Stand gesetzt wird, jederzeit eine den Verhältnissen angemessene,
     baare Geldsumme zu erhalten;
2) daß ihm die hohen wucherischen Zinsen erspart werden;
3) daß der Gewinn des Vorschußgeschäfts, bisher das Monopol der Kapitalisten,

in seine eignen Taschen zurückfließt, und nebst den kleinen, ihn nicht belästigenden Steuern, die Anfänge einer eignen Kapitalbildung bewirkt.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.