Die Gartenlaube (1855)/Heft 2
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No. 2. | 1855. |
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Die weiße Rose.
„Ich will Dein Glück gründen, aber sei offen!“
Osbeck’s Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln.
„Immer noch Bedingungen,“ murmelte er, „nachdem ich mich so gedemüthigt habe?“
„Unser Haus birgt ein Geheimniß, mit dem Dein plötzliches Erscheinen im Zusammenhange steht.“
Franz’s Verlegenheit mehrte sich.
„Du kannst mein Geheimniß wissen – ich habe Gründe, so rasch als möglich die Schweiz zu erreichen.“
„Und darf man diese Gründe wissen?“ fragte Robert mit wachsendem Mißtrauen.
„Die Zeit vergeht, Robert, willst Du mich retten? Ich wiederhole es: ich bin ein Bettler, der Dich um ein Almosen anfleht!“ rief Franz, ihm die Hände entgegenstreckend.
Der Kaufmann war unschlüssig, was er beginnen sollte. Hatte er auch nur schwache Gründe zu seinem Argwohn, so flüsterte ihm dennoch eine Stimme zu, die ihm das Mark durchschnitt: Du lieferst dem Nebenbuhler die Mittel, daß er mit der Geliebten entfliehen kann.
„Es ist mir unmöglich, sofort zu entscheiden,“ sagte er. „Doch so,“ fügte er rasch hinzu, „damit Du siehst, daß ich nicht rachsüchtig bin, daß ich die empfindliche Beleidigung, die Du mir durch Schmähung meines todten Vaters zugesagt, großmüthig vergesse, werde ich Dich persönlich begleiten, und eine Extrapost soll Dich in kurzer Zeit weiter befördern. Erwarte mich, ich hole Geld!“
Robert wollte das Zimmer verlassen, doch ehe er noch die Schwelle erreicht, trat der greise Georg hastig ein.
„Herr Robert?“ fragte er.
„Hier bin ich!“
„Man fragt nach Ihnen.“
„Wer? Wer?“
„Ich glaube,“ flüsterte ihm Georg zu, „ein Polizei-Commissar.“
„Gerechter Gott!“ rief Franz erbleichend.
„Er folgt mir auf dem Fuße. Zwei Soldaten haben die Hausthür besetzt.“
„Dann bin ich verloren!“ stammelte Franz, der fast zusammenbrach.
„Was ist das?“ fragte der Sohn vom Hause. „Sucht man hier einen Verbrecher?“
Franz erblickte die Börse am Boden. Hastig ergriff er sie und rief.
„Ich reise zu Fuß – auf der Stelle! Georg, führen Sie mich durch eine Seitenthür – um Gottes Willen zögern Sie nicht!“
„Sie werden nicht reisen, Herr Franz Osbeck!“ rief eine Stimme. „Im Namen des Königs verhafte ich Sie!“
Der Polizei-Commissar stand auf der Schwelle der geöffneten Thür, Hinter ihm sah man zwei bewaffnete Soldalerr.
„Mein Herr,“ sagte Robert entrüstet, „man verfolgt Sie, und Sie wagen es, unser Haus zu betreten? Sie häufen Schmach über Schmach auf unsere Familie! Aus Rücksicht für meine Mutter,“ wandte er sich zu dem Commissar, „bitte ich Sie, alles Aufsehen zu vermeiden.“
„Sie constatiren, daß dieser Herr Franz Osbeck ist?“
„Ja!“
„So wird es von ihm abhängen, daß ich meiner Pflicht ohne Aufsehen genügen kann.“
„Sie werden es!“ flüsterte Franz in schmerzlicher Ergebung. „Und Du, Robert, magst es dereinst vor Gott verantworten, daß Du einen unglücklichen Menschen, der so nahe an einem glücklichen Ziele stand, in das Verderben geschleudert hast. Hier bin ich, mein Herr, nehmen Sie mich hin! Ich frage nicht nach dem Grunde meiner Verhaftung, denn ich kenne ihn.“
Umgeben von den Soldaten verließ Franz das Haus der Wittwe Simoni. In den Sälen ahnte man diese Ereignisse nicht, die fröhlichen Gäste schlossen den glänzenden Ball erst mit dem Anbruche des Morgens. Als Robert sich nach Helenen erkundigte, erfuhr er, daß sie sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, nachdem sie der Commerzienräthin den letzten Dienst geleistet hatte.
Kurz vor der Mittagstafel – es war um drei Uhr am Neujahrstage – hatte zwischen Madame Simoni und ihrem Sohne Robert eine sehr heftige Scene statt. Beide befanden sich in dem eleganten Boudoir der alten Dame, die sich mit der Summe von dreitausend Thalern den Titel einer Commerzienräthin gekauft hatte, da sie der richtigen Ansicht war, daß man in einer Residenzstadt ohne Titel nicht leben könne. Die Mutter hatte bereits eine vollständige Toilette gemacht: sie trug ein faltenreiches Kleid von grauem Atlas und auf dem hohen Busen eine schwere Kette, die man für den Orden des goldenen Vließes hätte halten können, wenn statt der schimmernden Diamantuhr ein goldenes Lammfell daran gehangen hätte. Unter einem feinen pariser Häubchen, die eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren nicht verschmäht haben würde, glänzte die künstliche Haartour in kastanienbraunen Locken, und zwischen [18] ihren aufgeworfenen Lippen sah man die Emaillezähne aus der Fabrik des berühmtesten französischen Dentisten. Der Sohn war mit jener gediegenen Einfachheit gekleidet, die den reichen Kaufleuten von fünfundzwanzig Jahren eigen zu sein pflegt.
„Robert,“ sagte sie bebend vor Aufregung, „Du wirst mit mir zu dem Präsidenten fahren! Ich habe es in verflossener Nacht auf dem Balle versprochen, und wenn ich mich nicht blamiren will, so muß ich Wort halten.“
„Gut, fahren Sie allein, Mutter!“ sagte der junge Mann, der aus dem kostbaren Teppich auf und ab ging.
„Auch Du wirst erwartet.“
„Ich habe nichts versprochen!“
„Aber ich!“ rief die Commerzienräthin mit ihrer durchdringenden Altstimme, und indem sie das Gewicht ihrer fleischigen Hand auf ein Mahagonitischchen fallen ließ, daß es laut erseufzte. „Wenn meine Aufforderung nicht genügt, so befehle ich es Dir!“ fügte sie mit der Alles vergessenden Heftigkeit hinzu, die ihre Abstammung verrieth, nämlich die aus einer rheinländischen Fabrikantenfamilie, die durch den Schweiß armer Arbeiter ein Kapital zusammengescharrt hatte, das unter fünf Erben vertheilt war. Zwei Fünftheile, nämlich das Erbe der Madame Simoni und das ihres Bruders, des Vaters des unglücklichen Franz, hatten den Grund zu dem hamburger Handelshause gelegt.
„Befehlen? Befehlen?“ fragte Robert kalt und ruhig, indem er stehen blieb. „Sie vergessen, Mutter, daß ich großjährig bin. Niemand hat mehr das Recht, mir Befehle zu ertheilen.“
Die Lippen der alten Dame begannen zu beben, und eine dunkele Röthe färbte ihre fleischigen Wangen. Gewaltsam setzte sie dem Ausbruche ihres Zornes einen Damm entgegen, indem sie einen Augenblick schwieg. Ihre schwarzen Augen schossen glühende Blicke auf den ruhigen Robert.
„Deine Großjährigkeit, mein Sohn, spottet also der mütterlichen Autorität!“ sagte sie tonlos nach einer Pause. „Gut, ich will es gelten lassen; aber ich gebe dir zu bedenken, daß der letzte Wille Deines Vaters mich so lange des Genusses seines Vermögens, seines ungetheilten Vermögens, versichert, als ich mich desselben zu Deinen Gunsten nicht entäußerte. Doch bin ich die Herrin des Hauses Simoni, und wenn Du nicht mehr mein Sohn sein willst, so bleibt mir nur noch übrig. Dich als meinen Commis zu betrachten. Enterben kann ich Dich nicht. aber so lange ich athme, bleibst Du Commis! Jetzt wähle zwischen Beiden! Den Sohn werde ich der Tochter des Präsidenten vorstellen – den Commis schicke ich nach Hamburg zurück in das Comptoir, wohin er gehört! Du kennst mich, mein eiserner Wille hat Deinen Vater geleitet, er wird auch Dich im Zaume zu halten wissen. Gestern noch sprach ich ermahnend; heute befehle ich Dir. O, ich kenne die Gründe Deiner Weigerung! Du steigst entweder heute mit mir in den Wagen, um zu dem Präsidenten zu fahren, oder morgen, um nach Hamburg zu reisen!“
Robert hatte seine Ruhe nicht verloren; mit einer höhnenden Eleganz steckte er seine rechte Hand, die ein kostbarer Diamantring schmückte, in die Brustöffnung der weißen, mit Gold gestickten Atlasweste, stützte sich auf die Lehne des Divans, auf dem die Commerzienräthin saß, und sagte lächelnd.
„Es ist wahr, Mutter, mein verstorbener Vater hat Ihnen eine gewisse Gewalt über mich gegeben, und wie ich vermuthe, unter Ihrem Einflusse, denn Sie bekennen ja selbst, daß Ihr eiserner Wille ihn geleitet hat; aber, Mutter, der Commis, der sechs Jahre die Arbeiten des Herrn Simoni theilte, der bei seinem Tode die Leitung des Geschäfts übernahm, hat auch ein gewisses Geheimbuch übernommen, das über Dinge Aufschluß giebt, die sehr unangenehme Folgen haben könnten. Senden Sie den Commis nach Hamburg, indem Sie ihn als Sohn nicht gelten lassen wollen, so wird er ein verborgenes Fach erschließen, das nur er kennt und zu dem nur er allein den Schlüssel besitzt … –“
„Robert, Robert!“ rief erschreckt die Mutter.
„Sie sehen, daß ich großjährig bin! Und weil ich es bin, werde ich mir eine Lebensgefährtin nach meinem Geschmacke wählen. Muß ich dabei auch Vieles preisgeben, so werde ich immer noch genug behalten, um mit Helenen ein sorgenfreies Leben führen zu können.“
„Mit Helenen?“ stammelte die Commerzienräthin. „Mensch, bist Du von Sinnen?“
Robert erhob sich und trat einen Schritt zurück.
„Ich glaube, ich bin noch nie bei so klarem Verstande gewesen, als eben jetzt. Wer will es mir, dem reichen Mann, verargen, wenn ich mir eine Frau aus lauterer Neigung nehme? Besäße Helene eine Million, sie würde mich nicht glücklicher machen können als jetzt, wo sie mir ein vortreffliches Herz, Schönheit und Tugend zur Morgengabe bringt. Ich drohe nicht, Mutter, weil ich mich noch immer als Ihren Sohn betrachte; aber ich bitte Sie, mir in dieser Angelegenheit freie Hand zu lassen, und mich Ihren ehrgeizigen Plänen nicht zum Opfer bringen zu wollen. Entweder Helene oder keine wird meine Gattin. Und haben Sie wirklich das Glück Ihres einzigen Sohnes im Auge, wie Sie mich so oft versicherten, so werden Sie meine Verbindung mit dem reizenden, unglücklichen Mädchen, das Ihre Achtung im hohen Grade besitzt, nicht hindern, sondern nach Kräften zu befördern suchen. Mutter,“ bat er leidenschaftlich, „ich kann ohne Helene nicht leben – zwingen Sie mich nicht, zu Mitteln der Verzweiflung zu greifen. Meiner Liebe opfere ich Alles, Alles; ich schleudere jedes Hinderniß zurück, das sich mir entgegenstellt, aber ich bedecke die Hand mit Thränen des Dankes, die mir das Mädchen meiner glühenden Liebe entgegenführt!“
Der junge Mann warf sich auf einen Sessel. Sinnend betrachtete ihn die Commerzienräthin, der die Tiefe der Leidenschaft nicht entgehen konnte, die in der Brust Roberts so rasch Wurzel gefaßt hatte. Ihr eiserner Wille beugte sich der Mutterliebe, und sie empfand ein inniges Mitleiden mit dem Sohne.
„Zu dieser Drohung hat ihn die Verzweiflung getrieben!“ dachte sie. „Was bleibt mir übrig, als nachzugeben? Ich kenne ihn, sein Charakter gleicht dem meinigen. Es steht zu viel auf dem Spiele: die Ehre unsers Hauses und dann … Beides kann ich der sinnlosen Leidenschaft eines Verliebten nicht preisgeben. Ich muß vorsichtig, sehr vorsichtig handeln.“ .
Als Robert den Kopf erhob, sah sie Thränen über seine Wangen rollen. Er wollte sich entfernen.
„Bleibe, mein Sohn!“ sagte sie mild. „Ich habe nicht geglaubt, daß Helene einen so tiefen Eindruck auf Dich ausgeübt hat. Du kennst sie erst seit einem Monate – hast Du Dich auch geprüft?“
„Sie kennen mich, Mutter,“ antwortete Robert mit leise erregter Summe. „Ich bin kein Knabe mehr, der bei jeder glänzenden Erscheinung aufjauchzt und sich nach ihrem Besitze sehnt. Wenn ich Ihnen den Wunsch aussprach, den Winter hier zu verbringen, so ward ich von dem Gedanken an Helene beseelt, ich wollte sie erforschen, und mich um ihre Neigung bewerben. Sechs Wochen haben hingereicht, um mich einen Engel kennen lernen und anbeten zu lassen, und was beschließen Sie nun, Mutter?“
„Du wirst meinen Entschluß vernehmen, wenn ich mit Helenen über diesen Punkt eine Unterredung gehabt habe. Daher fordere ich von Dir ein Versprechen.“
„Nennen Sie es!“ rief Robert, dessen Augen hell erglänzten.
„Du wirst die Ehre Deines Vaters im Auge behalten, und unser Familiengeheimniß wie ein heiliges Vermächtniß bewahren. Mein verstorbener Bruder kannte seinen leichtsinnigen Sohn zu gut. Franz gehört nicht mehr zu unserer Familie. Wie hast Du Dich seiner entledigt?“
„Die Polizei erleichterte mir dies Geschäft.“
„Wie?“
„Man hat ihn gleich nach Ihrer Entfernung verhaftet.“
„In meinem Hause?“ „Leider ja!“
„Entsetzlich !“ rief die Commerzienräthin. „Die Polizei war in meinem Hause?“
„Beruhigen Sie sich, Mutter, es hat kein Mensch diesen ärgerlichen Actus erfahren.“
„Es ist schon genug,“ fuhr die Alte entrüstet fort, „daß man einen Landstreicher bei mir vermuthete!“
„Die Sache beunruhigt mich nicht, da ihr Zusammenhang sehr einfach ist. Franz, auf der Flucht begriffen, ist in dem Hotel angekommen, und hat dort nach unserer Wohnung gefragt. Da er verfolgt wird, kannte die Behörde seine Spur, sie wußte selbst durch den Telegraphen, daß er hier eintreffen würde, und so suchte man in allen Wirthshäusern. Man fand ihn bei uns und führte ihn in aller Stille fort. Diesen Morgen schon war ich bei dem Polizei-Commissar, und habe ihm die Anzeige gemacht, daß der Flüchtige es versucht habe, von mir Geld zu erpressen. Wie man [19] mir sagte, ist Franz einer der gefährlichsten Volksaufwiegler, er hat selbst an einem Straßenkampfe thätigen Antheil genommen, er, der ausgetretene Offizier – man macht ihm jetzt den Prozeß, und wie dieser ausfallen wird, läßt sich denken. Fürchten Sie nichts, Mutter, indem der Staat sich eines gefährlichen Feindes entledigt, leistet er auch uns einen großen Dienst. Es ist nur zu bedauern, daß sein Prozeß gerade hier anhängig gemacht wird.“
Ein Diener trat ein und meldete, daß der Mittagstisch bereit sei. Robert führte seine Mutter in das Speisezimmer.
„Wo ist Demoiselle Helene?“ fragte sie den Diener.
„Sie ist unwohl, und läßt ihre Abwesenheit entschuldigen.“
„Die durchwachte Nacht hat das gute Kind angestrengt!“ sagte die Mutter zu dem Sohne.
Nach Tische fuhr sie allein zu dem Präsidenten. Robert schrieb einen langen Brief an den Geschäftsführer in Hamburg. Mit dem Beginne der frühen Dämmerung verließ Helene, fest in einen Mantel gehüllt und das Gesicht tief verschleiert, das Haus der Commerzienräthin. Sie achtete des stürmischen Schneewetters nicht; hastig eilte sie durch die Straßen.
Um dieselbe Zeit zog ein Mann an dem schweren Glockenzuge eines großen, finstern Gebäudes, das einsam zwischen den letzten Häusern des westlichen Stadttheils lag. Gleich darauf ward die Pforte eines großen, mit Eisenstäben beschlagenen Thores geöffnet, vor dem eine Schildwache langsam und schweigend auf- und abging. Der Mann trat in eine Bogenhalle, deren dunkles Gemäuer bei dem Scheine einiger Gasflammen von angesetztem Eise blitzten. Er durchschritt diese Halle und trat in einen Hof, der rings von hohen, finstern Gebäuden eingeschlossen ward. Rechts zeigten aufgestellte Gewehre und ein Posten an, daß sich hier eine Wache befand.
„Wohin?“ fragte der Soldat.
„Zu dem Inspektor des Staatsgefängnisses.“
Der Soldat deutete ihm die Wohnung desselben an, und der Mann, indem er seinen Mantel fester anzog, trat in eine Thür, erstieg eine Treppe und gelangte auf einen freundlichen Corridor. Er mußte hier schon bekannt sein, denn ohne zu wählen, klopfte er an eine Thür. Im nächsten Augenblicke stand er vor einem greisen Militär, der ihn ernst und gemessen, aber freundlich empfing.
„Herr Advokat Petri,“ sagte er, „was verschafft mir so spät noch das Vergnügen, Sie in meinem finstern Reiche zu begrüßen?“
Der Advokat, ein Mann von vielleicht zweiunddreißig Jahren mit einem weißen, fein geschnittenen Gesichte, großen, lebhaften Augen und einem kurzen, schwarzen Backenbarte, legte zwanglos seinen beschneeten Hut auf einen Stuhl.
„Herr Major,“ sagte er, „ich komme so eben aus der Wohnung des königlichen Staatsanwaltes, den ich leider nicht antraf, weil er sich in Gesellschaft befindet. Sie kennen meine geschäftlichen Beziehungen zu ihm, und darum werden Sie ermessen, daß er mir die Erlaubniß, einen politischen Gefangenen zu besuchen, nicht verweigern würde. Gestützt auf meine Stellung als öffentlicher Advokat und Notar, der vor den Schranken des Geschwornen-Gerichts nicht unbekannt ist, richte ich an Sie die Bitte, mir den Zutritt zu einem Gefangenen zu gestatten – die Erlaubniß des Staatsanwalts glaube ich verbürgen zu können.“
„Sie fordern viel, mein Herr!“ sagte ernst und bedächtig der Greis.
„Ich weiß es; wenn ich aber noch hinzufüge, daß ich der Vertheidiger des Gefangenen sein werde –“
„Ihre Vollmacht?“
„Ich stehe im Begriffe, sie mir zu holen. Sie erinnern sich, daß dieser Fall zum ersten Male stattfand, als ich Ihren Sohn, der jetzt in Amerika lebt, vor dem ersten Schwurgerichte vertheidigte. Daß ich die Schranken der Gesetzlichkeit nicht überschreite, wissen Sie.“
„Wer ist der Gefangene?“
„Franz Osbeck, ein Kamerad und Gesinnungsgenosse Ihres Sohnes. Sie dienten Beide als Offiziere bei einem Jägerregimente.“
„Er ward in verflossener Nacht verhaftet!“ murmelte der Greis. „Ich erfuhr es diesen Mittag durch den Polizei-Commissar.“
„Muß der Besuch heute noch stattfinden?“
„Der Gefangene weiß nicht, daß ich in der Residenz Advokat bin – wie kann er mich zu seinem Vertheidiger wählen? Außerdem muß ich erfahren, in wie weit er gravirt ist, denn habe ich keine Aussicht auf einen günstigen Erfolg meiner Bemühungen, so bin ich gezwungen, ihn seinem Schicksale zu überlassen.“
Der Major überlegte einen Augenblick, dann sagte er, nicht ohne einige Ueberwindung:
„Da mir nur die sichere Verwahrung des Gefangenen obliegt, glaube ich keine Pflichtverletzung zu begehen, wenn ich Ihnen Franz Osbeck auf eine halbe Stunde anvertraue.“
Er zog eine Glocke. Eine Ordonnanz trat ein. Der Major, der eine Liste durchgesehen hatte, sagte:
„Man gebe dem Schließer Befehl, diesem Herrn die Zelle Nro. 11 zu öffnen.“
Nach einigen Höflichkeitsphrasen verließ der Advokat den Major. Der Soldat führte ihn in einen andern Flügel des Staatsgefängnisses, und bald ward ihm die bezeichnete Zelle geöffnet. Mit der Laterne des Schließers in der Hand, überschritt er die Schwelle eines kleinen, viereckigen Gemachs, aus dem ihm eine angenehme Wärme entgegenquoll, zugleich aber auch jene eigenthümliche Luft, die man nur in Gefängnissen vorfindet. Nachdem er die Thür hinter sich geschlossen, blieb er ruhig stehen. Franz lag völlig angekleidet auf einem Matratzenbett. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt, und schien den Eintretenden kaum zu bemerken. Eine unheimliche Stille herrschte in dem Raume; selbst der Sturm, der den Schnee an das kleine mit starken Eisenstäben vergitterte Fenster trieb, war nur wie das Rauschen eines fernen Flusses zu vernehmen.
„Er ist's!“ flüsterte der Advokat, von dem Anblicke des bleichen Gefangenen tief ergriffen.
Franz schlug endlich die Augen auf. Als er den Fremden mit der großen Laterne des Kerkermeisters erblickte, richtete er sich verwundert empor.
„Ich habe um Licht gebeten,“ sagte er. „Bringen Sie mir endlich das Verlangte?“
„Franz! Franz!“ rief der Advokat, indem er sich ihm näherte und die Laterne auf einen Tisch setzte.
Der Gefangene saß wie erstarrt auf seinem Bette. Er schien in dem Gedächtnisse nach dem Manne zu forschen, der so theilnehmend seinen Namen ausgesprochen.
„Mein Gott, täuscht mich ein Traum?“ fragte er sinnend.
„Nein, armer Franz, die traurige Wirklichkeit empfängt Dich, und Julius Petri – –“
Der Gefangene stieß einen durchdringenden Schrei aus.
„Julius, Julius!“ rief er mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke. Und zugleich flog er an die Brust des Freundes, der seine Arme ausbreitete, und die bebenden Lippen des Gefangenen mit Küssen bedeckte. Wahre, innige Freundschaft bewegte die Brust der beiden Männer, daß sie auf Augenblicke den verhängnißvollen Ort ihres Wiedersehens vergaßen.
„Ich ziehe Dich zu mir auf das elende Lager eines Gefangenen,“ sagle Franz. „Aber ich bin kein Verbrecher,“ fügte er schmerzlich hinzu; „Du kannst mir ohne Bedenken die Freundeshand reichen. Mein Sinn war zu frei, Julius, und deshalb mußte man ihn in diese engen Kerkermauern zwängen.“
„Erspare Dir jede Rechtfertigung, armer Freund! Ich bin gekommen, um Dir die Hand, die alte, treue Rechte zu bieten. Und wenn ich nach dem Grunde Deiner Gefangenschaft frage, so geschieht es nur, um mich zu informiren, daß ich die rechten Mittel zu Deiner Rettung wählen kann.“
„Zu meiner Rettung? Zu meiner Rettung?“ rief Franz schluchzend. „Julius, Du weißt, daß ich kein Feigling bin, daß ich mehr als ein Mal dem Tode die Stirn geboten – aber halte mir die Thränen zu Gute, die mir jetzt der Gedanke an die Freiheit erpreßt, schilt mich nicht feig, wenn ich jetzt vor dem Tode, selbst vor einer langen Gefangenschaft zittere. Mein Herz ist mit Banden an das Leben gefesselt, die ich weder den Muth noch die Kraft besitze, zu zerreißen. Nicht um zu athmen, um die Freuden des Daseins zu genießen, will ich leben; sondern um zu lieben, um der frei anzugehören, die allein mein Leben ausmacht. Du kennst sie, Julius, Du selbst mußtest sie achten und lieben –“
„Helene!“ murmelte der Advokat. „Ihretwegen verlohnt es sich der Mühe, zu leben.“
[20] „Du kennst sie,“ fuhr Franz wie begeistert fort, „Und von diesem Engel an Schönheit und Tugend reißt mich eine menschliche Gewalt, die Macht der Verhältnisse, denen ich im Uebermuthe meines Glückes spottete. Helene hängt an mir in treuer Liebe, sie leidet, wenn ich leide, und sie ist glücklich, wenn ich glücklich bin. Mit einem Muthe, den ich Verwegenheit nennen muß, reiste ich durch das Land, in dem man nach mir fahndet. Ich trotzte den Gefahren, die sich mir überall entgegenstellten, und schon glaubte ich mich dem Ziele, der freien Schweiz, nahe, als mich mein Verhängniß ereilte.“
„Du wolltest nach der Schweiz,“ fragte verwundert der Advokat, „und nimmst diesen Weg, da es Dir doch freistand, einen minder gefahrvollen zu wählen?“
„Ich mußte es, Julius. Nach der unglücklichen Wendung der Dinge gelang es mir, nach Holland zu flüchten. Ich durfte Helene nicht mit mir nehmen, wenn ich sie nicht des Elendes eines armen Flüchtlings theilhaftig machen wollte. Von Amsterdam aus, wo ich am Hafen durch Lasttragen mein Brot kärglich verdiente, unterhielt ich einen Briefwechsel mit ihr. Wie gern wäre sie mir gefolgt, wenn sie die Mittel zur Reise gehabt hätte. Ich verdoppele meine Anstrengungen, um diese zu erschwingen. Tag und Nacht arbeitete ich am Hafen, und dabei nährte ich mich von trocknem Brote, um die Kosten meiner Existenz zu verringern. Meine Börse ward täglich schwerer, aber mein Körper, Julius, ward täglich hinfälliger, bis ich nach einiger Zeit auf das Krankenlager sank. Trostlos und jammernd lag ich in meiner elenden Dachkammer, und das sauer erworbene Geld verschlang die Krankheit wieder. Da kam ein Brief von Helenen, sie schrieb mir, daß sie mit einer englischen Familie, die sie zufällig kennen gelernt, nach Zürich gereist sei. Bei allen Heiligen beschwor sie mich, die Reise zu ermöglichen, und ihr in das freie Land zu folgen. Wenn Du diesen Brief erhältst, schloß sie, bin ich bereits unterwegs. Ich habe keinen Augenblick gezögert, das Anerbieten der liebenswürdigen Lady Lindsor anzunehmen, da ich in dieser Reise die einzige Möglichkeit unserer baldigen Wiedervereinigung erblicke. Ich bin so eine arme Waise, die nichts an die Heimath fesselt, die seit Deiner Entfernung nicht einmal eine Heimath mehr hat. Ach, Julius, dieser Brief entzückte mich, aber er schmetterte mich auch danieder. Meine Krankheit artete in ein schleichendes Fieber aus, es vergingen Wochen, selbst Monate, und ich konnte nicht an die Reise denken. Da ich Helene’s Adresse nicht wußte, war es mir auch unmöglich, ihr den traurigen Behinderungsfall mitzutheilen. Du kannst Dir meine peinliche Lage denken. Der Sommer und der Herbst verfloß, ehe meine Gesundheit zurückkehrte. Meinem Arzte, einem wackern Holländer, hatte ich mich anvertraut, und seiner Großmuth verdanke ich es, daß ich Geld, anständige Kleider und einen holländischen Paß erhielt. Die Krankheit hatte mich um zehn Jahre älter gemacht, und darauf bauend, daß man mich nicht so leicht erkennen würde, reiste ich wohlgemuth nach R., um zu sehen, ob Helene zurückgekehrt sei. Von einer ihrer Freundinnen erfuhr ich denn, daß sie sich noch in Zürich befinden müsse, da man sie seit dem Juni nicht wieder gesehen habe. Was war wohl natürlicher als die Annahme, daß sie dort meiner wartete? Ich reiste von R. ab, den kürzesten Weg nach der Schweiz wählend. Auf einer Poststation fiel mir die Staatszeitung in die Hände, und zu meinem nicht geringen Erstaunen fand ich darin die Anzeige, daß die Wittwe Simoni aus Hamburg das Bürgerrecht in der Residenz erworben und für ein bedeutendes Geschenk, das sie der Stadtarmenkasse gemacht, den Titel einer Commerzienräthin erhalten habe. Ich lebte nicht gerade in offener Feindschaft mit der Schwester meines Vaters, deshalb beschloß ich, da meine Kasse erschöpft war, die Residenz zu berühren, wo mich Niemand kannte, und bei meiner Tante um eine Summe nachzusuchen, mit deren Hülfe ich nicht nur das Ziel meiner Reise erreichen, sondern auch den Grund zu einer bescheidenen Existenz legen konnte. Die reiche Wittwe, dachte ich, hat die Armenkasse beschenkt, sie wird den armen Neffen, dessen Vermögen sie besitzt, nicht ohne Unterstützung von sich weisen. Ich kam in der Sylvesternacht hier an. In dem Hotel fragte ich nach der Wittwe Simoni, erfuhr ihre Wohnung, und daß sie einen glänzenden Ball gäbe. Es war nicht schwer, das Haus zu finden, ich sprach meine Tante, bat, flehte, und – ward abgewiesen.“
„Das ist mehr als grausam!“ sagte entrüstet der Advokat. „Hätte man Dir das Vermögen Deines Vaters zukommen lassen, ich zweifle nämlich nicht einen Augenblick an der Rechtmäßigkeit Deiner Forderung – Du wärst heute sicher in andern Verhältnissen. Man will Dich verderben, armer Freund, der Erbe des Compagnons muß so bei Seite geschafft werden. Das Ende Deiner Geschichte kenne ich nun: von R. aus, wo man Dich gesehen und erkannt, wurdest Du verfolgt. Ehe Du hier ankamst, vigilirte die Polizei auf Dich, und es konnte nicht schwer werden, Dich zu ermitteln.“
„Du weißt noch nicht Alles, Julius.“
„Nun?“
„Die reiche Wittwe, die der Armenkasse Geschenke macht, rief durch eine Glocke nach ihrer Gesellschaftsdame – denke Dir meinen freudigen Schrecken, als ich Helenen eintreten sah!“
„Ist’s möglich, Helene?“
„Sie befindet sich in dem Hause meiner Tante. Wie sie dorthin gekommen, weiß ich nicht. Ach, ich hätte ihr mögen zu Füßen fallen, denn sie erschien mir wie ein lichter Engel in der Nacht meines Elends. Aber ein Blick von ihr, den ich verstand, hielt mich zurück. Zugleich deutete sie auf die weiße Rose an ihrer Brust, das letzte Geschenk meiner Liebe. An ihrem Arme verschwand das sorglose Weib aus dem Zimmer – die Thür schloß sich hinter meinem Teufel und meinem Engel. Julius, ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig, und was ich nun mit Robert, meinem Vetter, verhandelte, weiß ich nicht mehr. Ich dachte nur an das Glück, mit ihr zu entfliehen, es gab keine Vergangenheit mehr für mich, die Zukunft war mir Alles – da trat die Gegenwart mit ihrem ganzen furchtbaren Gewichte dazwischen – ich ward verhaftet und fortgeschleppt. Als ich aus meiner Betäubung erwachte, befand ich mich im Gefängnisse.“
„Armer Freund!“ seufzte der Advokat.
„Fast möchte ich glauben,“ sagte Franz mit einem schmerzlich bittern Lächeln, „daß ich meines Verstandes nicht mächtig bin, wie die Wittwe behauptete, als ich das Vermögen meines Vaters beanspruchte. Mein Kopf ist wüst, ich kann mir aus dem Chaos von Begebenheiten keinen Begriff gestalten, und Lebensüberdruß kämpft mit der Sehnsucht nach dem Leben.“
Pariser Bilder und Geschichten.
Ist man allzusehr angewidert von dem pariser Leben, von dem Geschrei auf dem Markte, wo Gewissen zu Dutzenden feilgeboten werden, wo Jeder sein ernstes oder komisches Stück spielt, um sich geltend und Geld zu machen, wo Ehrgeiz und Habsucht, Lüge und Unnatur unter verschiedenen Masken um die Wette laufen und drängen, wo jedes Stückchen Vorzug an Leib und Seele geschmückt und aufgeputzt als Aushängeschild benutzt und ausgebeutet wird, wo Jeder nach seiner Art, der eine mit den Händen, der Andere mit den Füßen, Der mit dem Kopfe, der Andere mit dem Herzen, der Eine mit der Feder, der Andere mit dem Pinsel, um das goldene Kalb, den Götzen des Jahrhunderts, tanzt; bedarf man der Erholung, der Beruhigung, der Läuterung, so findet man sie, wenn man das Glück hat, Beranger, den Lieblingsdichter des französischen Volkes, besuchen zu können. Da findet man einen Greis von 74 Jahren mit der Frische des Geistes, mit der Einfalt des Herzens wie ein Kind, der lächelnd zurückblickt auf sein langes inhaltreiches Leben, das spiegelrein und spiegelhell, unberührt von all den schmutzigen Einflüssen geblieben, welche es unausgesetzt belagert. In dieser Wohnung weht es Einem so friedlich, so wohlthuend an. Man glaubt es zu fühlen, daß hier den schlimmen Gästen draußen, all’ den Gelüsten und Begierden, der Einlaß streng versagt wurde. Es fällt Einem das Lied [21] ein, in welchem der Dichter seine geliebte Lisette und die lustigen Freunde beim Wein erwartet und die Glücksgöttin, welche unten an die Thüre pocht, ihres Weges gehen heißt.
Eine alte Frau, Freundin und Vertraute des Sängers, ordnet auf's Beste den schlichten Haushalt, ein Stück seiner Natur muß wohl durch langen Verkehr auf sie übergegangen sein, denn sie ist wie er heiter und milde, von derselben ungekünstelten Gutmüthigkeit. Man wird von den Beiden mit Herzlichkeit empfangen und behandelt. Da ist Alles ächt und nichts Förmlichkeit. Wie im Liede so im Leben hat Beranger die Glücksgöttin von sich geschickt. Gewinn und Auszeichnung, nach denen Tausende vergeblich rennen und ringen, hat er mit der Ueberlegenheit eines Weisen, mit der Entschiedenheit eines großen Mannes von sich gewiesen. Im Jahre 1830, nachdem man zu Paris die ältere Linie der Bourbons vom Throne gestoßen, jubelte man überall in Frankreich und da das französische Volk, sinnlich, wie es ist, immer den Vertreter einer siegreichen Idee braucht und sucht, um sich an ihm seiner überschwenglichen Begeisterung zu entledigen, fiel dieses Mal die Wahl auf den populären Sänger, dessen Lieder nicht abgelassen, gegen die Restauration und ihre Träger durch bittern Hohn zu kämpfen und das gestürzte Kaiserreich zu verherrlichen. In allen Theatern wurde seine Büste gekrönt. Paris machte den Anfang, die Provinzen folgten. Wie begreiflich, waren nun für Beranger die Stufen zu jeder beliebigen Stelle gebaut. Seine Freunde, und unter diesen besonders der Banquier Jacques Lafitte, den die Umwälzung zum Finanzminister emporgetragen, drangen in ihn, irgend ein einträgliches Amt anzunehmen.
Nein, meine Freunde, nein. ich will nichts werden,
Gebt Andern Würden, Titel, Sterne,
Der Herr hat mich für Höfe nicht gemacht!
So sprach er, so that er.
Im Jahre 1818 gab ihm das Volk selbst eine Anstellung.
Ohne daß er sich um die Gunst bewarb, wurde er in die constituirende Kammer gewählt. Ein einziges Mal, nur um seine Wähler nicht zu beleidigen, verfügte er sich in das Palais Bourbons, wo die Volksvertreter tagten, dann gab er seine Entlassung. „Was soll ich dort," sagte er, „Redner giebt's nur zu viel und Lieder singen kann ich besser zu Hause."
Von vielen Mitgliedern der französischen Akademie aufgefordert, um die Aufnahme in diese Anstalt, dem Ziele jedes künstlerischen und gelehrten Strebens, zu werben, weil den Statuten gemäß die Ernennung nicht anders erfolgen kann, wies er die Zumuthung zurück. „Ich gehöre nicht in die Gemeinschaft dieser Herren," gab er stets zur Antwort.
Mit derselben Uneigennützigkeit verfuhr der Dichter bei Veräußerung seiner Werke, die ihm bei ihrer ungeheuern Verbreitung Reichtümer einbringen mußten, wenn er nach Gebühr seinen Vortheil gesucht hätte; statt dessen überließ er sie dem Herrn Perrotin gegen die unglaublich mäßige lebenslängliche Rente von 800 Frcs. (214 Thaler) jährlich. So daß Beranger nun der freiwilligen Erkenntlichkeit des Verlegers eine reichere Ausbeute seines Talentes verdankte.
„Es sind zwölf Jahre, mein lieber Perrotin," schreibt der Dichter an diesen würdigen Verleger, „daß ich Ihnen all' meine Lieder, welche ich gemacht und noch machen werde, gegen die lebenslängliche Rente von 800 Franken überließ. Da das Wohlwollen des Publikums sich nur fortwährend erhält, haben Sie aus freiem Antrieb und zu wiederholten Malen diese Rente vermehrt, die bei ihrer ursprünglichen Ziffer zu belassen Ihnen meine Unterschrift das Recht gab. Noch mehr, Sie haben nicht aufgehört, mich mit [22] kostspieligen Aufmerksamkeiten zu überhäufen, die ich kindlich nennen kann." Das sind gewiß schöne seltene Herzenszüge, die sich zwischen Dichter und Verleger aussprechen.
Beranger ist ein Volksdichter, wie die moderne Zeit keinen aufzuweisen hat. Er singt für seine ganze Nation, für die Höhen wie für die Tiefen, wie für die Mitte. Man möchte ihn das Herz Frankreichs nennen. Alle Gefühle des Volkes, all das Selbstbewußtsein, die Sinnlichkeit und Frivolität, all seine Entrüstung, all seine Heiterkeit und Selbstvergessen, und all die Großmuth, Zartheit und Ritterlichkeit, der Leichtsinn und die jugendliche Laune, der Witz und die Leidenschaft, der militärische Dünkel und wirkliches Heldenthum, die mittelalterliche Ruhmsucht und die moderne Begeisterung, das singt und lacht, tändelt und zürnt, das grollt, höhnt und prahlt aus seinen Liedern heraus. Darum zieht jeder Laut aus seinem Munde hin durch das ganze Leben und findet sein Echo bei Millionen.
Die politischen Schauspieler, zu deren Rolle es gehört, sich tief ernst und überaus tugendhaft zu geberden, stellen sich von der Unsittlichkeit in den Liedern Beranger’s empört. Sie lügen. Denn in der Zurückgezogenheit, wenn die Maske unnöthig ist und sie sich beim Wein der unterdrückten und jugendlichen Anwandlung überlassen, um einen Moment ungezwungener Fröhlichkeit zu genießen, dann singen sie nach Herzenslust Lieder von Beranger. Sie lachen und weinen natürlich und sind ganz seelenvergnügt.
Unter dem ersten Kaiserreiche wurde Beranger von Arnault, Mitglied des Instituts, dem Hofpoeten Fontanes, der durch die Gunst des Kaisers zu hohen Würden gelangt war, empfohlen und von diesem seinem Secretariat unter dem Titel „Commis Expeditionaire“ beigegeben. Eines Tages hörte Fontanes den jungen Angestellten die Strophen des „Königs von Yvetot" singen. Die Frische, der Humor, die Milde und Gutmüthigkeit des Spottes zogen den hochgestellten Poeten, den Großherrn der Universität, dem all diese Gaben fehlten, unwiderstehlich an. Er erbat sich die Strophen und brachte sie dem Kaiser, der, wie er wußte, in den seltenen Mußestunden, die ihn seine Laufbahn gestattete, heitere Zerstreuungen liebte. Napoleon I. durchlas die Verse und brach in lautes Gelächter aus.
„Kennen Sie die Melodie zu diesem Lied?" fragte er Herrn Fontanes.
„Ja wohl, Sire," antwortete der Poet und recitirte singend das Gedicht. Man denke sich das Erstaunen der Höflinge, als sie den Kaiser bei seinen Arbeiten den Rundreim des „Königs von Yvetot" vor sich hinsummen hörten. Der „Senator" wurde drauf in den Tuilerien förmlich heimisch. Man lachte, ohne im Mindesten Anstoß an dieser milden Satyre zu nehmen und Beranger gewann den Vortheil, sich ungestört seinen poetischen Arbeiten hingeben zu können.
Für die Armen, für die untern Volksklassen, für die Arbeiter, für die Grisette sind Beranger’s Lieder ein Bedürfniß geworden. Das arme Mädchen läßt sich von diesen Gesängen zum Lachen bewegen, Noth und Entbehrung vergessen lehren. Sie singt Beranger’s Lieder, um ihr kleines Dachstübchen mit heitern Bildern und ihren Kopf mit schönen, bunten Träumen zu erfüllen. Diese Verse trösten, erheitern und versöhnen mit dem Schicksal. Kann es verwundern, daß er ihr Abgott, dieser Poet, der sie erfreut, trotz aller Entbehrung? Für Beranger hat das Volk immer Kränze. Keine Dirne ist so verworfen, um nicht ein Winkelchen ihres Herzens rein zu erhalten, wo sie die Liebe zu dem Volksdichter aufbewahrt. Wo sich Beranger öffentlich zeigt, ist er den lebhaftesten Huldigungen ausgesetzt.
Ich war Zeuge einer rührenden und zugleich erhebenden Scene, die sich in der „Clauserie de Lilas," wo des Sommers Studenten und „Studentinnen," wie man hier sagt, sich dem Vergnügen des Tanzes hingeben und wo sich die Fröhlichkeit der Jugend in ungezwungener, anmuthiger Weise kund giebt. Zu dieser heißen Sommerunterhaltung kam Beranger. Der Greis, wahrscheinlich um sich an dem tollen Treiben, an dem Schauspiel ungekünstelter, ungesuchter Freude zu ergötzen. Kaum war er in den hellerleuchteten Garten getreten, war er auch schon erkannt. Beranger ist da! Beranger ist da! lief es durch die Reihen der Tanzenden die sich sogleich auflösten und den Dichter jubelnd und händeklatschend umringten mit dem Rufe. Es lebe Beranger! Es lebe Beranger! Die Mädchen küßten ihm Hände und Wangen und sagten ihm im lieblichen Wettstreit die zärtlichsten Worte.
Mit der Raschheit der französischen Nation wurde von den Studenten eine Feierlichkeit improvisirt. Aus den Blumensträußen, die da feilgeboten werden, flocht man Kränze; ein Reimkundiger verfertigte ein Gelegenheitsgedicht. Drei der schönsten Mädchen wurden ausgewählt, die dem Dichter Kränze brachten und eine Andere las ihm das frisch verfaßte Lied. Der Dichter dankte, auf’s Tiefste gerührt.
Alle Anwesenden waren ergriffen und begeistert. An’s Tanzen wurde nicht eher gedacht, als bis der Dichter sich entfernt hatte. - Der Moment war wunderschön und ich glaube, daß dieser unmittelbare Ausdruck einer innigen Verehrung auch dem Dichter wohlgethan haben muß, der sonst allen Ovationen so ängstlich aus dem Wege geht.
Beranger ist aber nicht nur Frankreichs erster Dichter, er ist auch Frankreichs größter Bürger; er ist ein Washington, hingebend an das Vaterland, muthig und anspruchslos; er schlug auch seine Schlachten, wenn auch mit einer andern Waffe, als dem Schwerte.
Obgleich ein Franzose, hat er sein ganzes Leben hindurch seine politische Ueberzeugung bewahrt, die allen Stürmen, allem Wechsel der Verhältnisse getrotzt.
Pierre Jean de Beranger ist am 17. August des Jahres 1780 zu Paris geboren. Obgleich seine Familie von Adel, hat sein Großvater das sehr bürgerliche Gewerbe eines Schneiders getrieben. Unter der Aufsicht dieses guten Mannes, der nichts weniger als streng war, blieb der kleine Jean bis in einem Alter von 9 Jahren, zu keinem Berufe ernstlich angehalten, sondern mit Kameraden seines Alters ein freies, unthätiges Leben in den pariser Straßen führend. Auf diese Weise geschah es, daß der kleine Beranger, wie viele andere Straßenjungen, mit dabei war, als das pariser Volk am 14. Juli 1789 die verhaßte Bastille stürmte. Er sah es mit an, wie von kräftigen Armen geschwungene Aexte die Pforten von Erz zertrümmerten. Das Schauspiel ist ihm, wie er sagt, stets gegenwärtig, und in der That hat er die Erinnerung ein halb Jahrhundert später nach seiner Art in singbaren Versen ausgesprochen. Das hat Beranger mit unserm Goethe gemein, daß er Altes, was ihn irgendwie angenehm oder unangenehm anregt, daß er jede wichtige Frage, die sich ihm aufdrängt oder ihm aufgedrungen wird, im Liede behandelt, so daß die gesammelten Gedichte die Geschichte seines Kopfes und Herzens enthalten.
Seine patriotische Begeisterung erhielt die erste Grundlage zu jener Zeit, da er, ein Kind, die Dinge kaum zu unterscheiden vermögend, den Fall einer Zwingburg vor Augen sah, deren Namen jeden Franzosen mit Schauder erfüllte.
Die Straßen von Paris wurden immer unruhiger und stürmischer und boten keinen geeigneten Aufenthalt für den Knaben mehr. So ungern sich der gute Schneider von dem kleinen Liebling trennte, er wich dem Gebot der Umstände und schickte den Knaben nach Péronne in der Picardie zu einer Tante, die einem Gasthofe vorstand, und welche streng und fromm war.
Beranger blieb kaum drei Jahre dort, dann trat er in das „patriotische Institut," welches von einem Mitglied der gesetzgebenden Versammlung, Ballue de Bellanglise zu Péronne gegründet wurde, und später zu einem Buchdrucker in die Lehre, der ihn wegen seiner außerordentlichen Geistesgaben, verbunden mit einer lebhaften Wißbegierde, sehr lieb gewann. Er gab ihm mit Auswahl zu lesen und war ihm bei gründlicher Erlernung der Sprache behülflich. Als Beranger eine Ausgabe des André Chenier gesetzt hatte, versuchte er sich zum ersten Male im Vers. Einige Strophen kamen dem Meister Buchdrucker zu Gesichte, und dieser weihte den poetischen Setzer in die Regeln der französischen Prosodie ein.
Hiermit war die Laufbahn Beranger’s entschieden. Zurückgekehrt nach Paris, wo er seinen Vater in glücklichen Vermögensverhältnissen fand, sagte er diesem. „Ich will ein Dichter sein." Vielerlei Versuche wurden gemacht, vielerlei größere Arbeiten theils in dramatischer, theils anderer Form wurden unternommen, allein diese Erstlingswerke mochten den strengen Forderungen, die der junge Dichter an sich selbst stellte, nicht entsprechen und wurden von ihm selbst dem Feuer Preis gegeben. Außer den Namen einiger ist keine Spur von den Jugendarbeiten des herrlichen Volksdichters geblieben. Ein außerordentlicher Verlust, wenn kein poetischer, so doch ein kunsthistorischer. Welch ein Interesse hätte es geboten, diese eigenthümliche Dichternatur durch alle Phasen ihrer Entwickelung zu verfolgen. So aber bleibt nichts übrig, als sich an dem Fertigen, Vollendeten zu erfreuen und den [23] äußern, theils defensiven, theils offensiven Kämpfen des Dichters Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Wohlstand des Vaters Beranger war nur ein vorübergehender gewesen. Der verwegene Mann hatte sich in den neunziger Jahren in royalistische Umtriebe eingelassen, die ihm Gewinn abwarfen. Doch war ihm diese Erwerbsquelle bald abgeschnitten, da die herrschende Gewalt von den geheimen Manövres Kenntniß erhielt; so daß er sich glücklich schätzen mußte, mit heiler Haut davon gekommen zu sein.
Die ganze Familie und mit ihr natürlich unser Dichter war mit einem Male dem drückendsten Mangel bloßgestellt.
Ohne Namen, ohne Anerkennung und dazu selber in Ungewißheit über seine Befähigung und vermöge seiner Bescheidenheit ohne Vertrauen zu derselben, faßte der junge Mann den verzweifelten Entschluß, nach Aegypten abzureisen, wohin die Eroberung des General Bonaparte viel Auswanderungen aus Frankreich zu jener Zeit veranlaßte. Er hoffte daselbst als Civilbeamter ein Unterkommen zu finden. Zum Glück berieth er sein Vorhaben mit Herr Parseval-Grandmaison, einem in diese Verhältnisse wohleingeweihten Mann, der ihn im Vaterlande zurückhielt.
Zwanzig Jahre alt, leichten Blutes spottete er seiner Armuth und sang lustig wie ein unbekümmerter Mensch seine Liebes- und Trinklieder und andere heitere Gesänge, die seitdem Frankreich auswendig gelernt, lustig in den Tag hinein. Er war glücklich und wohlgemuth in seiner Dachstube, wo sich viele gleichgesinnte Kameraden zu Spiel und Vergnügen bei Lied und Becher einfanden. Es wäre Alles ganz gut gegangen, wenn der Hunger nicht taube Ohren hätte und sich wegsingen oder weglachen ließe. Zufällig aber ist er stumpf und unerschütterlich wie das Geschick. Er stieg empor in die Dachstube des Dichters, machte die Lieder verstummen und zerstreute die fröhliche Schaar. Es half nichts. Beranger mußte sich gegen dieses drohende Gespenst ernstlich zur Wehre setzen. Er raffte seine Verse, wohlgeordnet und sauber abgeschrieben, zusammen, und sandte sie in einem versiegelten Packet an Lucian Bonaparte, dem kunstliebenden Bruder des ersten Konsuls, begleitet von einer Epistel, in welcher sich der Stolz des Mannes und des Poeten aussprach. Lucian berief den Verfasser der erhaltenen Verse zu sich in sein Hotel, munterte ihn zu fernern Arbeiten auf, frug nach dessen Verhältnissen und versprach, ohne darum angegangen worden zu sein, für die materielle Nothdurft des Dichters Sorge zu tragen. Eine Verpflichtung, welcher der würdige Mann auch dann noch nachkam, als er mit seinem mächtigen Bruder, der sich die Kaiserkrone auf’s Haupt setzte, zerfallen, sich selbst nach Rom verbannte.
Da sah denn der glückliche Beranger den Erbfeind aller Künstler ohnmächtig zu seinen Füßen hingestreckt. Nie erlosch in seinem Herzen die wärmste Erkenntlichkeit für seinen Gönner und Beschützer, doch ward es ihm erst nach dreißig Jahren, nachdem die jüngere Linie der Bourbons auf den Thron gelangt war, gestattet, seinen Dank laut und öffentlich auszusprechen. Die Censur unter dem Kaiserreich untersagte ausdrücklich die Verherrlichung des verbannten Prinzen, und während der Restauration durfte kein Bonaparte gerühmt werden.
Die großen politischen Bewegungen der Zeit regten ihn mächtig an, und auch diese wurden ihm Stoff zu Liedern, den er aber in einer Weise, wie Niemand vor ihm und Niemand nach ihm behandelte, dem er ein ganz besonderes Leben einzuhauchen verstand. Er machte den Spruch:
zu Schanden. Seine oppositionelle Wirksamkeit während der ganzen Dauer der Restauration ist eine so durchgreifende, wie sich ihrer kein Journalist und kein Redner, nicht Armand Carrel, nicht Manuel und nicht Colard rühmen können. Seine Gedichte: „Alte Kleider," „Gerichtliche Untersuchung durch die Hunde von Stand,“ „Die Censur," zeugen von der größten Unerschrockenheit, und letzteres hätte für den Dichter schlimme Folgen nach sich gezogen, wenn die Regierung nicht durch die Rückkunft Napoleon’s von der Insel Elba anderweitig beschäftigt worden wäre. Die wieder niedergesetzte kaiserliche Regierung trug ihm, um ihn zu befördern, eine Stelle bei der Censur an. „Wie!" rief er, „Sie wollen mich in den Stand einer „literarischen Kellerratte" erheben? Sehr verbunden." Er blib, was er war, mit einem mäßigen Einkommen unabhängig.
Als man im Jahre 1814 den Adjutanten des Kaisers Alexander ein Bankett gab, zu welchem unser Dichter geladen wurde, um die Unterhaltung durch seine Lieder zu beleben, sang er zum Erstaunen aller Anwesenden den Ruhm Frankreichs und gegen die Fremden. Im Jahre 1815 veröffentlichte er die erste Sammlung seiner Gedichte unter dem Titel. „Moralische und andere Lieder."
Wie ein Blitz schlug das Büchlein in die gesammte Nation, doch zog es ihm eine Zurechtweisung und eine Warnung von oben zu. Der zweite Band, welcher eine wo möglich noch größere Wirkung hervorbrachte, erschien im Jahre 1821. Das in demselben enthaltene Lied: Der Gott der guten Leute Le Dieu des bonnes gens wurde zum ersten Male von der Barrière „Mont Parnasse", in der Kneipe der „Mutter Saguet" gesungen, wo Thiers, Armand Carrel und Chenavard eine Gesellschaft versammelten, welche sich die „Gesellschaft du Moulin-vert" nannte. Beranger wurde zum Präsidenten gewählt, und der Zudrang war so außerordentlich, daß man an 100 Tische für die Gäste im Freien aufstellen mußte. Das Lied hatte schlimme Folgen für den Sänger und für die Gesellschaft. Martainville denuncirte den Dichter in seinem Blatte. „Die weiße Fahne,“ daß er das Volk zu gefährlichen Verbindungen hinreiße. Er wurde vor die Assisen gestellt, zur Geldbuße und zu drei Monaten Gefängniß verurtheilt. Die Gesellschaft, ob sie gleich keinen politischen Zweck verfolgte, wurde von Polizei wegen aufgelöst. Der Dichter kam aus St. Pelagie, wie er hineingekommen; er fuhr fort zu singen, wie er vorher gesungen. Im Jahre 1825 erschien der dritte Band seiner Lieder, in welchem unglimpflich mit den Jesuiten verfahren wird. Der Sänger mußte diese Vermessenheit mit neun Monat Gefängniß und 1000 Franken Strafe bezahlen. Tausend Franken! Eine unerschwingliche Summe für den Künstler, der ausschließlich von seinem Talente lebte, und dieses auszubeuten zu edel war. Die Nation bezahlte das Geld für ihren Dichter. Der Banquier Jaques Lafitte eröffnete in seinem Bureau eine National-Subscription, und in einem Tage war die Summe beisammen. Es gab dazumal keine Berühmtheit in Paris, von der der verhaftete Sänger nicht einen Besuch erhalten hätte. Selbst seine politische Feinde hielten es für angemessen, diese zarte Pflicht zu erfüllen.
Um diesen allzu kurzen Abriß des reichen arbeitsamen und antastbaren Lebens zu vollenden, sei eine große That des Dichters erzählt, wie sich kein Held, weder des Alterthums noch der Neuzeit einer schönern rühmen kann.
Es war in den heißen Julitagen des Jahres 1830. Paris trat auf die Straße, und alle Zeichen kündigten einen Sturm an. Im Hotel Lafitte bei dem politischen Banquier saßen die hervorragendsten Oppositions-Glieder des aufgelösten Parlaments: Guizot, Thiers, Casimir Perrier, Dupin, Odilon Barrot und der Hausherr selbst, Jaques Lafitte und wie sie sonst hießen. Die Helden der Tribune waren beisammen, um zu berathen, was in der kritischen Lage, in welche das Land durch das Ministerium Polignac versetzt wurde, zu thun sei. Die Herren verstiegen sich bis zu einer Protestation, da trat Beranger in den Saal, schilderte die Stimmung des pariser Volkes und erklärte es für unerläßlich, daß die Parlamentsmitglieder von der Linken eine Proclamation an das Volk erlassen, in welcher sie es zur Vertheidigung der Gesetze auffordern; - da erblaßten sie, die Helden der Tribune und sprachen von Gefahren, von nothwendiger Vorsicht, von Ungewißheit, ob auf Paris zu zählen sei u. s. w.
Beranger, ohne sich auf Widerlegungen einzulassen, setzte die seither berühmt gewordene Proclamation auf und las sie den beunruhigten Abgeordneten vor, hinzufügend: „Ich unterschreibe Ihre Namen, meine Herren. Wird die Bewegung besiegt und Ihr vor ein Gericht gestellt, so schiebt Ihr alle Schuld auf mich. Ihr seid straflos, da Ihr den Aufruf nicht unterfertigt habt. Siegt die Bewegung, so wird Euch wohl Niemand zur Rede stellen." Er schrieb unter die entworfene Proclamatien die Namen der anwesenden Volksvertreter, trug das Document in die Druckerei, dessen Inhalt kurz darauf an den Mauern von Paris zu lesen war. Diese Handlung ist nur sehr wenig bekannt geworden, denn die Herren Abgeordneten waren wenig beflissen, sie offenkundig, und der große Bürger Beranger war nie bemüht gewesen von sich reden zu machen. -
Neunter Brief.
Noch nicht hundert Jahre sind verflossen, seitdem ein neuer Aufschwung in der Wissenschaft der zweitausendjährigen, unumschränkten Herrschaft der bekannten vier aristotelischen Elemente, welche die Welt und die Dinge in ihr bilden sollten, ein Ende machte. Dem Feuer ging es hierbei am Schlimmsten; es wurde ganz aus der Reihe der Körper gestrichen. Aber was auf der einen Seite genommen, das wurde auf der andern reichlich wieder ersetzt, denn die Verbrennung, ein rein chemischer Vorgang, ist der Ausgangspunkt aller Erfolge, deren sich unsere Wissenschaft rühmen kann und noch heute der Grundstein, auf dem das stolze Gebäude der neuen Chemie ruht. Doch davon wollen wir nicht reden. Eine Umschau im alltäglichen Leben bietet hinreichend Stoff zu anderen wichtigen Besprechungen, da das Feuer zugleich auch die Grundlage der Gewerbthätigkeit und der Haushaltung bildet. Um so mehr mußten wir uns wundern, daß ein neues Werk eines englischen Chemikers, obgleich es sich ausschließlich mit den chemischen Vorgängen des gewöhnlichen Lebens beschäftigt, die Verbrennung ganz bei Seite liegen läßt, und daß keiner der drei Uebersetzer diesen Mangel erkannt und beseitigt hat. Denn hier thut nicht nur eine Erörterung und Belehrung, sondern auch eine „Reform an Haupt und Gliedern" sehr Noth.
Für heute haben wir die Brennstoffe zur Besprechung ausgewählt. Das nächste Material, welches sich dem Menschen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse darbot, waren die strauch- und baumartigen Pflanzen, mit einem Wort das Holz. Seiner chemischen Natur nach ist das Holz, d. h. die Holzfaser, gleichartig; eine jede Holzfaser, von welcher Pflanze sie auch herstamme, besteht aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff und zwar stets genau in denselben Gewichtsverhältnissen. Die beiden letzteren Bestandtheile treten hier stets in Mengen auf die in derselben Beziehung zu einander stehen, wie im Wasser, und daher können wir sagen: die Holzfaser besteht aus Kohle und Wasser, wobei wir aber nicht an ein loses Nebeneinanderlagern dieser beiden Substanzen, sondern an eine so innige Verbindung zu denken haben, daß wir durch keine Mittel eine Zerlegung der Holzfaser in Kohle und Wasser oder eine Trennung der letzteren von der ersteren bewerkstelligen können.
Trotz der Gleichartigkeit der Holzfaser durch das ganze Pflanzenreich hindurch zeigt aber das Holz verschiedener Bäume bei der Berarbeitung und in den Leistungen als Brennmaterial auffallende Unterschiede. Diese werden bedingt durch den Inhalt der Zellen und Gefäße, die durch die Holzfaser gebildet werden. Der Pflanzensaft besteht zwar dem weit überwiegenden Theile nach aus Wasser, aber dennoch üben die geringen Mengen organischer Substanzen, die darin gelöst enthalten sind, auf den Werth des Holzes bei der Verbrennung einen entscheidenden Einfluß aus, weil sie aus denselben Grundstoffen gebildet sind, wie die Holzfaser selbst, wenn freilich auch in andern Gewichtsverhältnissen. Stellen wir zur Vergleichung die Eiche und die Fichte neben einander; in dem Safte der ersteren finden wir Gerbstoff, in dem der letzteren Harze. In dem Gerbstoff sind so bedeutende Mengen von Sauerstoff enthalten, daß wir uns nicht allein den ganzen Wasserstoffgehalt, sondern auch einen bedeutenden Theil des Kohlenstoffgehaltes schon mit Sauerstoff verbunden denken müssen. Beide sind daher, ganz oder theilweise bei der Verbrennung von keiner Bedeutung, da diese ja weiter nichts ist, als eine Verbindung des Sauerstoffes mit dem Kohlen- und Wasserstoff. Anders ist es bei den Harzen, sie sind reich an Kohlen- und Wasserstoff, dagegen arm an Sauerstoff und daher ihr Brennwerth ein bedeutender. In allen Fällen aber wird der Brennwerth des Holzes durch die bei der Verdampfung des Wassers zurückbleibenden Bestandtheile des Pflanzensaftes erhöht, aber in einem verschiedenen Grade. Jetzt wird man auch leicht einsehen, warum ein Holz, das weite Strecken geflößt worden, schlechter ist. Es hat durch den langen Aufenthalt im Wasser einen großen Theil der Saftbestandtheile verloren und damit auch einen Theil seiner Heizfähigkeit. Man will beobachtet haben, daß der Verlust eines Kubikfußes Holz bis auf ein Pfund steigen kann und dadurch wird der Vortheil, den man durch den wohlfeilen Transport erzielt, bedeutend beeinträchtigt.
Von großem Einfluß auf den Werth des Holzes bei der Verbrennung ist auch, wie wir später sehen werden, der Wassergehalt. Darum fällt man im Allgemeinen die Bäume zu einer Zeit, wo sie, wegen der ruhenden Vegetation, arm an Saft sind. Und doch übersteigt in frisch gefälltem Holze mitunter der Wassergehalt die Hälfte, bei den gewöhnlichen Brennhölzern ein Drittel des ganzen Gewichtes. Beim Aufbewahren des Holzes an einem luftigen, vor Regen geschützten Orte geht ein großer Theil des Wassers verloren; nach und nach nimmt das Wasser Dampfform an und geht in die Luft über. Aber bald ist hier eine gewisse Grenze erreicht und der Neigung der Luft, Wasserdampf in sich aufzunehmen, tritt hartnäckig die des Holzes, das Wasser fest zu halten, entgegen. Gewöhnlich enthält vollkommen trockenes Holz noch ein Fünftel bis ein Viertel seines Gewichtes Wasser, das jetzt sehr hartnäckig fest gehalten wird; Holz, nachdem es ein halbes Jahr hindurch in einem geheizten Zimmer aufbewahrt worden, ergab immer noch 17 Pfund Wasser in 100 Pfund. Ganz können wir das Wasser dem Holze nicht entziehen, da wir die Wärme dabei so steigern müssen, daß das Holz selbst sich zersetzt.
Die leichte Entzündlichkeit und der geringe Aschengehalt, den wir, ohne sehr zu irren, zu 1 auf 100 annehmen können, ertheilen dem Holze Vorzüge vor anderen Brennstoffen. Der Umstand, daß der Baum der Natur zum Schmucke dient, durfte freilich den Menschen nicht abhalten, die Axt an ihn zu legen. Aber man hätte bedenken sollen, daß das Zerstören leichter ist, als das Aufbauen und daher sich bemühen, den Verlust nach Kräften wieder zu ersetzen. Verschiedene Ursachen haben dazu beigetragen, der Vernunft kein Gehör zu schenken; man hat gegen die Wälder aller Orten einen Vertilgungskrieg geführt und die Folge davon war eine Reihe ernster Uebelstände, weil man die Kette, durch die alle Dinge in der Natur zusammengehalten werden, zerriß, den Einklang in den Gesetzen der Natur störte. Der Kleinsten einer war der, daß der Mensch in neuerer Zeit sich nach andern Brennstoffen umsehen mußte und da die Oberfläche der Erde deren in zureichendem Maße nicht weiter bot, wurde er gezwungen zur Tiefe hinabzusteigen.
In der Voraussicht, daß die Entwicklung der Menschheit diesen Zeitpunkt früher oder später nothwendig bedinge, hat die Natur, eine sorgende Mutter, zur Zeit als sie dem Menschen die Stätte bereitete, obgleich sie hier vollauf zu thun hatte, reiche Schätze zur Abhülfe der Noth in den fernesten Zeiten niedergelegt und sie im Verlaufe vieler Jahrtausende zur Reife gebracht. Dem Auftreten des Menschen mußte eine Reinigung der Luft von dem Uebermaß der Kohlensäure vorangehen; dieses Geschäft verrichteten, wie noch heutiges Tages, die Pflanzen. Auf einem seit vielen Jahren brennenden Steinkohlenlager in der Nähe von Zwickau sehen wir so zu sagen natürliche Treibhäuser; so verhielten sich auch in der Jugendperiode unsers Erdballs, als nur eine dünne feste Kruste die glühende Masse überzog, die Inseln, welche im Weltmeer, damals fast die ganze Erde bedeckend, hier und da zerstreut lagen. Die übermäßige Wärme und die kohlensäurereiche Atmosphäre gaben die günstigsten Bedingungen zur Entwickelung einer gigantischen Vegetation, deren Tage aber gezählt waren; denn bald sprengte der gährende Kern die beengenden Fesseln der erkalteten Rinde und aus tausend Rissen quoll die feurige flüssige Masse empor. Das neue Land zwang das Meer zum Austritt; die Wogen staueten sich auf und ergossen sich über die Wälder, rissen diese mit sich fort oder begruben sie an Ort und Stelle unter den Trümmern der Verwüstung. Und mit sich in’s Grab nahmen sie die Sonnenstrahlen oder die Wärme, die ihnen Leben und Gedeihen gegeben hatte. Jetzt, nachdem an diese untergegangene Schöpfung der Ruf: stehet auf! ergangen ist, erhalten wir bei der Verbrennung der Steinkohlen diejenige Wärmemenge wieder, die zu der Bildung [25] der riesigen Farren und Schachtelhalme verwandelt werden. Denn in der Natur geht nichts verloren.
Die Sturm- und Drangperiode unserer Erde ist längst vorüber, aber das vorausblickende Walten, die Sorge für das Wohl der Menschheit hat das Ende noch nicht erreicht. Wie damals schafft die Natur noch heute immer von Neuem Brennstoffe für künftige Menschengeschlechter, wie es uns scheint in einem beschränkten Maßstabe, aber wohl nur, weil der Mensch störend in dies Schaffen eingreift und jetzt nicht ungezählte Jahrtausende zur Reife vergönnt sind. Die Bildungen vor dem Auftreten des Menschen umfassen die Steinkohlen-, als älteres und die Braunkohlenablagerungen als jüngeres Glied, der neueren Zeit gehören die Torfbildungen an. Die Bedingungen zu einer ruhigen Entwickelung der Pflanzenwelt fehlen heute; wo sich ein Sumpf oder ein stehendes Gewässer findet, da erblicken wir nur winzige Pflanzen: Moose, Algen, Riedgräser und Binsen und wenn es hoch kommt, strauchartige Pflanzen, die hier in Ueppigkeit gedeihen. Durch ihr Absterben legen sie den Grund zu einer neuen Vegetation, die sich reichlicher entfaltet als zuvor. Mit dem Tode fallen die Pflanzen der Vermoderung, einer chemischen Thätigkeit anheim; sie unterliegen einer theilweisen Zersetzung. Rühren wir einen Sumpf auf, so sehen wir zahlreiche Gasblasen aufsteigen, die wir deshalb Sumpfluft (Kohlenwasserstoffgas) nennen. Sie rührt her von den vermodernden Pflanzenresten; außerdem entwickelt sich auch noch Kohlensäure und andere übelriechende Luftarten, deren Auftreten die Sümpfe und Moräste für den Menschen gefährlich machen. Findet zu gleicher Zeit auch eine Sauerstoffaufnahme aus der Luft, die so nicht ganz durch das darüber stehende Wasser abgeschlossen wird, statt, so gehen doch alle drei Bestandtheile der Holzfaser fort, aber der Sauerstoff in vorwiegender Menge, so daß sich also der Wasserstoff und Kohlenstoff verhältnißmäßig in dem Torfe anhäufen.
Dadurch müßte nun der Torf ein besseres Brennmaterial werden als das Holz, wenn hier nicht andere Umstände hindernd einträten. Diese sind der große Wassergehalt in dem lufttrockenen Torfe, zwischen einem Viertel und der Hälfte des Gesammtgewichtes und selbst darüber schwankend, und die große Aschenmenge, bis zu einem Drittel – herrührend von erdigen Beimengungen, die sich mit den vermodernden Pflanzenresten vermischt haben. In den ungünstigsten Fällen hat man daher in 100 Pfunden Torf kaum 20 Pfund wirkliches Brennmaterial. Auf der andern Seite giebt es auch Torfarten, die das Holz bei weitem an Werth übertreffen und darunter auch solche, die kaum mehr Asche hinterlassen als Holz. Doch die ungünstigeren Verhältnisse kommen wohl öfters vor als die günstigen; den Wassergehalt kann man wohl durch längeres Lagern bedeutend einschränken, aber damit häuft sich auch die Asche, die besonders lästig wird durch das Verstauben. Nichts desto weniger sind große Länderstrecken auf dieses Brennmaterial angewiesen, da die Torfablagerungen in bedeutenden Ausdehnungen auftreten, so namentlich an den Gestaden der Nord- und Ostsee und es ist wohl keine Frage, daß diese Bildungen durch Uebertreten des Meerwassers auf die flachen Küsten vermittelt worden sind. Fast ein Siebentel des gesammten Flächeninhaltes der irischen Insel wird von Torfmooren gedeckt, während das nahe England Ueberfluß an den besten Steinkohlen hat. Die Wichtigkeit dieser Ablagerungen übersteigt hier weit die Tiefe von 70 Fuß. Die größte Ausdehnung eines Torfmoores finden wir in Nordamerika, – eine Breite von 25 und eine Länge von 40 Meilen.
Wie bei den Kohlen unterscheiden wir auch hier jüngere und ältere Bildungen; in den ersteren finden wir die Pflanzen – die Wurzeln und Stengel – noch, mehr oder weniger selten und daher kommt die Lockerheit und leichte Zerbrechlichkeit, während in den letzteren jede Spur des Ursprungs verschwunden ist und der Torf nichts weiter zu sein scheint, als eine brennbare Erde. Jenen nennen wir Rasentorf, diesen Moortorf und die ältesten Glieder Pechtorf. Je schwerer und dichter der Torf, um so besser muß er sein, – wenn hier nicht das eintritt, dessen wir oben Erwähnung gethan haben, – denn damit steigt so auch das Gewicht der Masse in einem gleichen Raume. Daher sucht man in neuester Zeit die Güte des Torfes durch starkes Pressen zu erhöhen, wobei man noch den Vortheil erlangt, daß eine große Menge Wasser entfernt wird. Wird der Torf durch seine zu große Dichte oder zu großen Aschengehalt nicht daran verhindert, so entzündet er sich eben so leicht wie das Holz.
Bei den Braun- und Steinkohlen ist die Zersetzung weiter vorgeschritten und um so mehr hat sich in ihnen, im Vergleich zum Holze der Kohlenstoff angehäuft, so daß als die Endglieder dieser Bildungen der Anthracit - eine Kohle, die nur sehr geringe Mengen von Sauerstoff und Wasserstoff enthält und die man deshalb natürliche Kohle nennen kann, - und der Graphit, - reine Kohle, austreten. An Uebergangsstufen dieser einzelnen Bildungen fehlt es nicht; mancher Torf ist auf den ersten Blick und von dem Laien nicht von der Braunkohle zu unterscheiden und manche Braunkohle nicht von der Steinkohle. Daß auch die beiden letzteren von Pflanzen herrühren, ist längst außer Zweifel gesetzt; sie selbst liefern in den oft zierlichen Abdrücken der sie begleitenden Gesteine und in oft sehr gut erhaltenen Stämmen die bündigsten Beweise dafür. Wenn man aber in neuerer Zeit selbst so weit gegangen ist, aus diesen Ueberresten die ganzen Pflanzen zu construiren und landschaftliche Bilder für jene Zeiten zu entwerfen, in denen keines Menschen Fuß die Erde betreten hatte, so dürfen wir dies mehr oder weniger eine Spielerei nennen, da die Phantasie einen überwiegenden Theil an dieser Arbeit hat. Die Pflanzen, welche die Braunkohlen bilden, stehen den heutigen Formen näher als die, welche wir in den Steinkohlen finden; außerdem aber sind selbst die Pflanzen in den einzelnen Lagern sehr verschieden.
Die Bildung des Torfes und die Anschwemmungen von Holz, die durch die großen Ströme des amerikanischen Festlandes und Sibiriens noch heute bewerkstelligt werden, geben Anhaltspunkte uns die Entstehung der Braun- und Steinkohlenlager deutlich zu machen. Schwillt das Wasser an, so reißt es zahlreiche Baumstämme mit sich fort; durch den langen Aufenthalt derselben im Wasser dringt dieses in die Poren des Holzes ein und verdrängt daraus die Luft, wodurch der Baumstamm der größern Schwere wegen, die er nun erlangt hat, die Fähigkeit verliert zu schwimmen. Er sinkt unter. Je näher dem Ausflusse, um so schwächer wird die Gewalt des Stromes. Die Stämme schichten sich entweder hier auf oder sie werden von den Meeresströmungen zu ruhigen Stellen, ja selbst bis zu gegenüberliegenden Küsten weiter fort geführt. Unaufhörlich reißt der Fluß größere oder geringere Massen von seinen Ufern los, die gleichfalls zu Boden sinken, wenn die Schnelligkeit des Stromes nachläßt. Sie überlagern die Baumstämme und bewirken, daß die Zersetzung nur langsam fortschreitet, weil sie den Zutritt des Sauerstoffes, der, stets im Wasser ausgelöst enthalten ist, beschränken. Denken wir uns diese Thätigkeit durch Hunderttausende oder Millionen von Jahren fortgesetzt, so ist sie wohl geeignet Ablagerungen hervorzurufen , die in der Ausdehnung vielen der heutigen Steinkohlenlager nichts nachgeben werden.
Daß[WS 1] vornämlich die Steinkohlen ein anderes Aeußere, eine größere Dichte und Festigkeit zeigen als der Torf, rührt von dem weit beträchtlicheren Alter, von der Hitze, die auf die Pflanzen eingewirkt hat und von dem ungeheuern Drucke her, der auf ihnen lastete. Dadurch sind die einzelnen Theilchen mehr zusammengedrängt worden und haben einen größern Halt erlangt; um so mehr, je bedeutender jene Einwirkungen waren. Der Chemiker zeigt uns, daß die Zusammensetzung der Braun- und Steinkohlen mit der des Holzes große Aehnlichkeit hat; durch einfache Formeln, durch Zahlen also, kann er sehr leicht die Bildung jener aus diesem übersichtlich vor Augen führen. Die Bestandtheile der fossilen Kohlen sind größeren Schwankungen unterworfen als die des Holzes; selbst in ein und derselben Grube ist die Zusammensetzung nicht immer gleich, und die Gründe dafür sind leicht zu finden: in der Verschiedenheit der Pflanzen, aus denen die Kohle entstanden und der erdigen Beimengungen. In Bezug auf die letztere und den großen Wassergehalt spricht sich auch die Verwandtschaft, die Aehnlichkeit der Braunkohlen und des Torfes entschieden aus. Bei der Untersuchung von zehn verschiedene Braunkohlen aus der Provinz Sachsen und Brandenburg stieg der Wassergehalt bis auf 51 p.C, und zwar in Kohlen, die schon lange Zeit an der Luft gelegen hatten. Die Asche betrug hier bei den wasserfreien Kohlen bei zweien unter 5 p.C., bei zwei anderen unter 10 p.C., bei den übrigen über 10 p.C. und bei zweien sogar über 20 bis 261/2 p.C. Bei anderen Kohlen ist der Aschengehalt noch viel bedeutender, bis zu 50 p.C. Durch diese beiden Umstände wird der Werth der Braunkohlen natürlich bedeutend verringert, aber dennoch übersteigt die Hitze, wegen der größern Anhäufung des Kohlenstoffes, die des Holzes.
[26] Bei den Steinkohlen sind die erwähnten Verhältnisse günstiger; hier zeigt sich deutlich, daß der Wassergehalt mit der größeren oder geringeren Dichte oder Festigkeit in einem innigen Zusammenhange steht. Wächst diese, so nimmt jener beträchtlich ab, ist aber die Festigkeit eine geringe, so ist der Wassergehalt sehr bedeutend. Bei 48 Steinkohlen aus Schlesien, Westphalen und vom Rhein stieg der Wassergehalt nur auf 8 p.C.; er ist hier also viel geringer als im Holz. Unter dieser großen Zahl betrug nur bei 11 die Asche zwischen 10 bis 15 p.C., nach Abzug des Wassers. Der lästigste Begleiter der Braun- und Steinkohlen ist der Schwefelkies (Schwefeleisen), der sich mitunter auch im Torfe findet und von dem wir schon auf Seite 186 im v. Jhrgng. gesprochen haben.
Unter den Steinkohlen ist die Verschiedenheit im äußeren Ansehen größer als unter den Braunkohlen, Wir haben hier Pechkohle, Schieferkohle, Grobkohle, Blätterkohle, Faserkohle u. s. w.
Die Namen erklären sich von selbst, Verschiedenheiten in der Zusammensetzung der Kohle bedingen sie nicht. Eine andere Eintheilung bezieht sich auf das Verhalten in der Hitze. Man spricht hier von Baukohlen, Sinterkohlen und Sandkohlen. Die ersteren erleiden eine Erweichung und bilden große zusammenhängende blasige Massen; bei den anderen bleibt die Form unverändert und die Letzteren zerfallen. Diese Verschiedenheit ist bedingt durch die chemische Zusammensetzung, aber der Grund ist noch nicht ganz aufgeklärt. Bis jetzt lehrt uns der Chemiker nur die letzten Bestandtheile kennen; wie diese aber unter sich mit einander verbunden sind, das ist noch nicht erforscht. In der zuletzt genannten Reihenfolge nimmt der Werth der Steinkohlen ab, weil der Gehalt an Kohlenstoff ein geringerer wird.
Wie eingreifend die Förderung dieser unterirdischen Schätze auf die Entwickelung der Gegenwart eingewirkt hat, lehrt am Eindringlichsten England und das kleine Belgien. Auch unser Vaterland selbst bietet uns beachtenswerthe Fingerzeige in Fülle. Hunderte von Essen, die sich hoch zum Himmel emporstrecken, und stattliche Fabrikgebäude in der Nähe von Kohlengruben lehren uns, daß die Gewerbthätigkeit hier günstigen Boden zu einer kräftigen Entfaltung gefunden hat. Und selbst die Küche, die Hauswirthschaft ist nicht unberührt geblieben. In großen Länderstrichen, die mit dem Segen der Braun- und Steinkohlen von der Natur bedacht worden sind, ist die Feuerung mit Holz, eben so wie in den an Torf reichen Gegenden bereits zur Mythe geworden. Bei der Vertheilung ihrer Gaben hat die Natur Deutschland nicht gar zu stiefmütterlich behandelt. Nord- und Mitteldeutschland ist mit ausgedehnten Braunkohlenablagerungen bedacht worden, ungleich reicher und bedeutender sind die Steinkohlengebiete in Schlesien, Westphalen, am Rhein und in Sachsen. Von diesen Kohlen können sich manche den englischen, die man allgemein für die besten hält, würdig an die Seite stellen.
Einige Zahlen werden den allgemeinen Deutungen mehr Färbung geben. England beschäftigt in seinen 3000 Kohlengruben 250,000 Arbeiter, gefördert werden jährlich 34 Millionen Tonnen, die einen Werth von 10 Mill. Pfd. St. repräsentiren. Davon wurden 1850 31/3 Mill. Tonnen ausgeführt; eben so viel verbrauchte die Riesenstadt allein, und fast ein Dritttheil der Gesammtsumme nahm die Eisenproduktion des Landes in Anspruch.
In der Zukunft wird England durch Nordamerika, das 1845 nur 80 Mill. Ctr., England dagegen 573 Mill. Ctr. Steinkohlen förderte, überflügelt werden, denn hier finden sich die ausgedehntesten Steinkohlengebiete. Die des Staates Illinois sind nicht viel kleiner als die Englands, das pittsburger Revier umfaßt 14,000 Q.-M. und durch Pensylvanien, Ohio und Virginien zieht sich ein Kohlenfeld von 63,000 Q.-M.
Preußen förderte 1840 123/4 Mill. Tonnen Steinkohlen, 1847 beschäftigte es in 423 Werken fast 29,000 Arbeiter, 1850 war die Produktion bereits um 8 Mill. Tonnen gestiegen und der Schatz, der aus der Tiefe herausgebracht wurde, belief sich auf 8 Mill. Thaler. Man nimmt an, daß Elberfeld und Barmen allein jährlich über eine Mill. Tonnen verbrauchen. Dazu kamen 1850 noch fast 9 Mill. Tonnen Braunkohlen. In einem Zeitraum von 15 Jahren hatte sich die Gewinnung der Steinkohlen verdoppelt, die der Braunkohlen aber vervierfacht.
Des Adlers Horst.
Die Jagd auf junge Adler ist auf der Insel Corsica, in Sardinien und an andern Orten fast eine Art Industrie der armen Landleute, sie gehört aber zu den gefährlichsten, die der Mensch unternimmt, wie folgende Fälle zeigen.
Drei junge Bauernburschen in Sardinien, Brüder, entdeckten in der Tiefe eines schauerlichen Abgrundes den Horst eines Adlers, aber die Felsenwand fiel so senkrecht ab, daß man nicht anders in die Tiefe hinunter gelangen konnte, als daß man sich an einem Seil hinunterließ.
Die Brüder entschieden sich für die Anwendung dieses Mittels und schwangen das Seil um den Stamm eines Baumes, der in der Nähe stand und gewissermaßen als Kolben dienen mußte. Das Gefährliche des Unternehmens bestand nicht blos in der Möglichkeit eines Sturzes von mehr als hundert und fünfzig Fuß in die Tiefe, sondern in der Wahrscheinlichkeit eines Angriffes der zahlreichen Raubvögel, die in der den Menschen unzugänglichen Schlucht sich aufhielten. Die Brüder bestimmten den, welcher an dem Seile sich hinablassen sollte, durch das Loos, und dieser hielt es für zweckdienlich, einen Säbel mit sich zu nehmen, um sich gegen die gefiederten Feinde vertheidigen zu können. Die beiden Andern hielten das Seil. Der Hinabsteigende war 22 Jahre alt, ein schöner, kräftiger Gebirgsbewohner … Er schlang sich das Seil muthig um den Leib und trat mit einem Fuße überdies in eine Schlinge am andern Ende desselben, um sich sicherer aufrecht zu halten, nachdem er das Zeichen des Kreuzes gemacht, ließen die Brüder das Seil langsam nach und er sank tiefer und tiefer an der Felsenwand hinab, bis er über dem Risse schwebte, in dem sich der Adlerhorst befand. Er bemächtigte sich glücklich der vier weißlichgelben jungen Adler darin, und rief freudig den Brüdern oben zu, ihn hinaufzuziehen. Sein Ruf schallte weit hin und deckte vielfache Echos in dem Geklüft, aber machte auch das alte Adlerpaar auf den Raub der Jungen aufmerksam. Mit haarsträubendem Geschrei und aufgesperrtem Schnabel schossen sie wüthend auf ihn zu; die Jungen, die er unter dem einen Arme hielt, kreischten dazu wie um Hülfe, andere Raubvögel stimmten in das Krächzen und Schreien ein und der Säbel, den der Adlerräuber unablässig um sie schwang, reichte kaum hin, ihn vor den allseitigen Angriffen zu schützen. Da fühlte er plötzlich eine heftige Erschütterung des Seiles, das ihn trug; er blickte an demselben hinauf und erkannte zu seinem Entsetzen, daß er es in der Hitze des Kampfes mit der Schneide des Säbels getroffen und zur Hälfte durchhauen hatte. Schauer des Entsetzens rieselten ihm durch die Glieder; wenn das Seil nun zu schwach war, ihn zu tragen, wenn es zerriß und er in die Tiefe zerschmetternd hinabstürzte …? Die Brüder oben wußten von der Verletzung des Seiles nichts, sie zogen mit aller Kraft und schneller und schneller und glücklich gelangte er mit den geraubten jungen Adlern, die er nicht losgelassen hatte, auf festen Boden. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn ihm die Todesangst in den wenigen Minuten das Haar weiß gefärbt hätte.
Einen noch ergreifendern Vorfall ähnlicher Art erzählt ein Naturforscher, der sich eine Zeit lang aus dem Felseninselchen Garveloch an der Westküste Schottlands aufhielt, um da Seevögel und Seethiere zu fangen. Ein Knabe von etwa zwölf Jahren diente ihm auf seinen gefährlichen Ausflügen gewöhnlich als Führer und schloß sich endlich mit ganz besonderer Liebe dem fremden Manne an.
„Mehrmals," erzählt der Reisende, „hatte ich im Beisein Arkies (so hieß der Knabe) den Wunsch geäußert, junge Raubvögel, namentlich junge Seeadler zu haben. An einem schönen Morgen, als ich einen etwas längern Ausflug zu machen gedachte, fragte ich vergeblich nach meinem kleinen Führer. Man rief ihn umsonst in und neben dem Häuschen seines Vaters; man sah ihn nicht wie gewöhnlich irgendwo auf einer Klippe umherklettern und ich erkannte ihn selbst nicht mit dem Fernrohr auf dem Gipfel einer Felsenspitze, Storr genannt, auf die er bisweilen auch wohl kletterte. Ich mußte mich also entschließen, meine Wanderung allein
[27]zu beginnen, lud mein Gewehr und machte mich auf den Weg; aber kaum war ich fünfzig Schritte weit gegangen, als ich Arkie schmerzlich vermißte. Ich setzte indeß meinen Gang fort über Haiden und traurige, öde Moore, ohne ein einziges Mal zum Schusse zu kommen. Endlich wendete ich mich nach einer Gruppe seltsam gestalteter Felsen, die sich nach dem Meere hinzogen und begann an denselben hinaufzuklimmen. Mit einem Male wurde die Stille dieser Einöde durch einen ganz eigenthümlichen Schrei unterbrochen, der klagend, gellend und zornig zugleich klang und meiner Ansicht nach nur aus der Kehle eines Adlers kommen konnte. Ich blieb betroffen stehen und sah mich um. Nirgends erblickte ich ein lebendes Wesen. Mit raschen Schritten suchte ich nun um eine vorspringende Felsenklippe herum zu kommen, und kaum hatte ich dieselbe erreicht, so blieb ich, vor Entsetzen wie erstarrt, vor dem Anblicke stehen, der sich mir darbot.
„Hoch über mir hing an einem Seile, das um einen verkrüppelten Baum geschlungen war, Arkie, mein kleiner Führer, über einem finstern Abgrund, und ein riesiger Adler mit ausgebreiteten Flügeln, die scharfen Krallen fest an den Leib gezogen, schoß auf den Armen zu, um ihn zu packen.
„Im ersten Augenblicke sah ich die drei andern Knaben nicht, welche Arkie für die Theilnahme an seiner tollkühnen That gewonnen [28] hatte und von denen zwei das Seil hielten, an dem mein kleiner Freund sich hinabgelassen hatte, während ein Dritter mit einem Stocke den Adler bedrohte, ohne denselben erreichen zu können, wenn er sich auch über den Abgrund bog.
„Ich hatte unwillkürlich nach meinem Gewehre gegriffen, um den Adler zu schießen und Arkie so von dem gefährlichen Feinde zu befreien, aber durfte ich den Schuß wagen? Alle meine Glieder zitterten … Ich konnte statt des Adlers den Knaben treffen. Verzweifelnd ließ ich das Gewehr sinken.
„Arkie hielt unter dem einen Arme zwei junge Adler, junge Adler, die ich zu besitzen gewünscht hatte und mit denen er mich überraschen wollte! Mit dem andern Arme suchte er den alten Adler abzuwehren. Jetzt – mein Gott! – jetzt hackt dieser den Knaben gewiß in das Gesicht! – Mir schwindelte bei dem Anblicke, das Herz zog sich in mir schmerzhaft zusammen. – Gott sei Dank! Nein, Arkie verlor die Geistesgegenwart keinen Augenblick, ehe er noch den scharfen Schnabel des alten Adlers in seinem Fleische fühlte, ließ er Einen der jungen Adler fallen und sofort stürzte der Alte auf diesen, ihn im Falle aufzufangen.
„Ich athmete wieder auf, die beiden Knaben oben zogen rasch und rascher aus Leibeskräften und Arkie hatte den Rand des Felsens fast erreicht. Da erhob sich der alte Adler von Neuem und schoß wie der Blitz nochmals auf den kleinen Räuber, der ja noch Eines seiner Jungen trug. So nahe Arkie der Rettung war, die Gefahr war noch näher, der Schnabel des wüthenden Adlers faßte zum zweiten Male nach ihm und er mußte den letzten der jungen Adler fallen lassen. Der Alte faßte das Junge im Fallen und Arkie schwang sich auf die Felsenplatte zu den drei muthigen kleinen Gefährten empor.
„Niedergeschlagen wegen des Mißlingens des Unternehmens, nicht im Mindesten entmuthigt kam er herunter und als er mich traf und ich ihm Vorwürfe machte, blinzelte er pfiffig mit den Augen als wolle er sagen. ein anderes Mal gelingt es mir doch.
„Am andern Morgen ging ich mit zwei Männern an Ort und Stelle; ich selbst ließ mich an dem Seile hinab und entführte glücklich die beiden jungen Adler, denn die Alten zeigten sich nicht, sie waren wohl weit hinweggeflogen, um für ihre Jungen Aetzung zu holen."
Vom Wolkenhimmel. Einer der interessantesten, im Ganzen aber doch wenig beobachteten Naturvorgange ist die Wolkenbildung. Der Mensch der Bedürfnisse ist in der Regel vom Treiben auf der Erde so in Anspruch genommen, daß er nur selten den Blick über sie erhebt. Nur etwa, wenn ihm von dem sichtbaren Himmel eine Gefahr zu drohen, ein Vergnügen gestört zu werden scheint, richtet sich sein Blick besorgt nach oben und versucht er den Erscheinungen der Atmosphäre die Antwort auf seine Fragen abzugewinnen. Ihre stilleren Prozesse, der immerwährende Wechsel in den sichtbaren Gestaltungen, das ewige Spiel in Bildung, Verbindung und Wiederauflösung der Wolken, die in den Haushalt der Natur und des Menschen so tief eingreifen, läßt er meist unbeachtet. Zwar hat die Wissenschaft die unendliche Mannigfaltigkeit der Wolkenformen in einige charakteristische Abtheilungen zu bringen sich bemüht; sie nennt uns Locken- oder Federwolken, Haufenwolken, Schichtwolken mit einer Reihe Neben- und Unterarten für die Uebergänge und Verbindungen, aber sie alle genügen nur für die scharf hervortretende Eigenthümlichkeit und lassen uns für eine Menge der wechselndsten Gestalten dieses Luftproteus im Stiche. Ebenso erschöpfen die Ansichten über das Zustandekommen der Wolken selbst noch lange nicht den anziehenden Gegenstand.
Mannigfaltig wie die Gestalt, ist das Vorkommen der Wolken. Jenen Theilen der Welt, wo sie zu den Seltenheiten gehören, stehen andere gegenüber, wo es gleich selten ist, einen wolkenlosen Himmel zu sehen. Tausenderlei Ursachen, zum Theil bekannt, zum Theil nicht gehörig gewürdigt, oder schwer erkenn- und bestimmbar, wirken auf dieses Verhalten ein. Unzählig sind die Umstände, welche das Gleichgewicht der Atmosphäre stören, unberechenbar die atmosphärischen Strömungen, welche hier ihren Einfluß üben. Man versuche es nur, in unserm launischen Klima einmal längere Zeit an einem besonders veränderlichen Tage das Treiben am Himmel zu beobachten, und man wird sich bald von seinen schönsten Vorkenntnissen in der Meteorologie verlassen fühlen. Hier bricht durch eine finster dräuende Wolke, von der wir mindestens einen tüchtigen Regenschauer erwarteten, wieder strahlend die Sonne, und während sie noch in ungetrübtem Glanze leuchtet, überrascht uns aus lichtgrauer Schleierwolke ein feiner Staubregen. Jetzt, so weit wir blicken, ein düstres Gewölke finstrer Wolken über uns; wenige Minuten, und der Himmel zeigt sein schönstes Blau; fast spurlos ist das Gewölke verschwunden oder es zeigt uns nur die fliehende Nachhut. Ein ander Mal erblicken wir nur ein Wölkchen in der klaren Luft schweben. Kurze Zeit, und der kleine Punkt hat sich zur weiten Masse entwickelt, die, ehe wir es uns versehen, mit dem Rollen des Donners erschreckt.
Mächtige Ursachen beständiger Wetterprozesse sind die Gebirge, je höher desto mehr, desto eigenthümlicher in den Erscheinungen. So sind die Alpen wahre Wettersäulen und in ihrer gewaltigen Höhe wie in der kaum übersehbaren Verknotung ihrer in allen Richtungen streichenden Arme die ungeheuren Werkstätten einer ungemein mannigfaltigen Wolkenbildung. Es ist nicht meine Absicht, hier in diese Prozesse näher einzugehen, der Leser erlaube mir nur, ihm, so weit es Worte vermögen, eine Beobachtung mitzutheilen, die ich in gleich überraschender Schönheit und Eigenthümlichkeit zu machen meines Erinnerns noch nie Gelegenheit hatte.
Es war am 24. Juli dieses Jahres nach mehreren sehr heißen Tagen mit stets klarem Himmel, während welcher, wie es nicht selten der Fall ist, nur die fernen Alpengipfel sich mit feststehenden Wolken, halbkugeligen, selbst wieder gebirgsähnlich nach oben gewölbten Haufenwolken, bedeckt gezeigt hatten, und zwar so, daß jene Gipfel nur zuweilen kaum kenntlich durch den Schleier matte Umrisse entdecken ließen, – als ich auf freier Höhe mehrere hundert Fuß über dem Spiegel des Zürichsees stand, Abends um halb Acht. Ein wunderbar prächtiges Schauspiel bot sich dem Blicke. Im Westen war die Sonne hinter Wolken im Versinken. Ihrem Untergangspunkte scheinbar gegenüber, doch mehr im Südwesten begannen die tiefen Wolkengehänge an den Bergen sich von unten allmälig in den lebhaftesten Purpurtinten zu färben. Die feurig glühende Röthe wuchs allmälig immer höher am Himmelsgewölbe herauf – ein Gluthenmeer von unbeschreiblicher Pracht, in dem einzelne von der Hauptmasse sich nach oben ziehende Haufenwolken selbst wieder in rosigerer Röthe magisch schimmerten. Der Spiegel des Sees glich einer grünen Schale flüssigen purpurnen Blutes. Die idyllischen Ufer, das begränzende Waldgelände schwammen in einem bläulich violetten Lichtdufte. Die übrigen Gegenden des Himmels zeigten sich in unveränderter Reinheit; nur hier und da lagerte sich neben eine einfache Haufenwolke eine lichtere im höhern Himmel streifig verfließende Röthe. Im Westen aber hatte sich ein anderes reizendes Bild entfaltet. Wäre es möglich gewesen, so hätte man zu der Annahme versucht sein können, ein Spiegelbild der Hochalpenkette zu erblicken, so genau auch in der Farbe täuschend hatten hier die Haufenwolken die Gestalt des Gebirges mit seinen Kuppen und Gipfeln angenommen, die von den Strahlen der scheidenden Sonne beleuchtet, in jenem Rosenlichte erglänzten, mit dem das Tagesgestirn am Morgen oder Abend die Firnen und Häupter der Alpen zu bekleiden pflegt. Oben war der Himmel azurnes Blau. Das Ganze gewährte einen so wunderschönen Anblick, wie ihn selbst die an ähnlichen Erscheinungen so reiche Alpenwelt höchst selten bieten möchte. Der daraus folgende nächtliche Himmel hatte nichts mehr von dieser Wolkenbildung zurückbehalten; im Gegentheil schimmerte sein Sternenheer in lange nicht gesehener Reinheit und fast südlicher Klarheit und Pracht; nur tief am Horizonte ließ sich von Zeit zu Zeit fernes Wetterleuchten sehen. Der folgende Abend brachte nach gleichfalls heißem Tage ein ähnliches Naturschauspiel, aber schon nicht mehr in dieser Fülle; im Westen fehlte die täuschende Nachbildung der Hochgebirgskette, und die Nacht hatte höher am Horizonte herauf und in weitester Verbreitung rings herum elektrische Entladungen von sichtlich gewaltigster Intensität. Das hier Geschilderte hing ohne Zweifel mit ungewöhnlichen Anhäufungen der Luftelektricität zusammen, die sich denn auch in der nächsten Nacht und den nächsten Tagen da und dort in den heftigsten Gewittern entluden. – Wenn ich mit dieser kurzen Mittheilung den Zweck verbinde, die Aufmerksamkeit der Leser, mehr als gewöhnlich geschieht, auf einen so anziehenden und wichtigen Vorgang in der Natur wie die Wolkenbildung, zu lenken, dürfte es Keinen gereuen, für eine kleine Mühe einen unendlich reichen Genuß einzutauschen.
Die Pfauen hält man gewöhnlich in Europa für sehr nutzlose Ziervögel und an vielen Stellen mögen sie es auch sein, wo sie nach gewohnter Weise leben können. In den tropischen Gegenden, aus denen sie stammen, wie z. B. auf der Insel Ceylon, und wo sie die Wälder in Massen bevölkern, sind sie äußerst nützlich, denn kein Vogel zerstört dort so viel große und kleine Schlangen und schädliches Gewürm, als die Pfauen, namentlich bilden die Ameisen ihre Lieblingsnahrung und sie vertilgen mehr von ihnen, als die Ameisenbären. Der Anblick, den ein Volk Pfauen beim Aufgang oder Untergang der Sonne gewährt, soll köstlich sein. Alexander der Große war nach Aelian’s Erzählung von diesem Schauspiel, als er es zuerst in Indien sah, so ergriffen, daß er seinen Soldaten verbot, die schönen Thiere zu tödten. In Athen wurde das Paar derselben mit 1000 Drachmen (213 Thaler) bezahlt und in Rom hegte und pflegte man sie so sorgsam, wie jetzt die Cochin-Hühner in England.
Für diejenigen Abonnenten, welche sich die „Gartenlaube 1854“ einbinden lassen, bemerken wir, daß durch uns höchst geschmackvolle Decken, mit Golddruck nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen sind. Wir sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem höchst billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Das