Die Gartenlaube (1854)/Heft 41
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No. 41. | 1854. |
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Eine Stunde später erschienen ein Herr und eine Dame zu Pferde auf der Landstraße, die von der Hauptstadt nach dem Schlosse Adersheim führt. Der Reiter war ein eleganter junger Mann mit bleichen Zügen und einem vollen schwarzen Barte, der das Gesicht förmlich einrahmte. Er trug einen geschmackvollen englischen Reitanzug und auf dem schwarz gelockten Haupte einen feinen weißen Kastorhut. Die Reiterin, eine schöne junge Dame, trug ein Reitkleid von schwarzem Sammet, dessen Schleppe fast den staubigen Boden berührte. Unter dem schwarzen Hute mit dem grünen wehenden Schleier sah man ein reizendes Gesicht, das von einer Fülle dunkeler Locken umspielt ward. Die Eleganz der Reiter bildete mit dem Aussehen ihrer Rosse einen auffallenden Contrast; die ziemlich magern Thiere trugen alle Zeichen, die den Miethsgaul charakterisiren.
„Walther,“ rief die Dame, indem sie den Trab ihres Pferdes hemmte, „ich versprach Ihnen auf dieser Tour eine Ueberraschung – merken Sie auf!“
„Ich merke auf, Franziska!“ antwortete Walther, das Pferd zu seiner Begleiterin wendend.
„Sehen Sie die romantischen Ruinen am Abhänge jenen Waldrandes?“ „Romantisch? Ruinen?“ lachte der Elegant. „Wahrhaftig, Franziska, Ihre Laune ist diesen Morgen köstlich! Seit wir auf den Marken Ihres Onkels sind, des merkwürdigsten Anachoreten von der Welt, erblicken Sie in jedem Strauche einen Urwald, in jedem Steine am Wege einen pittoresken Felsen, und in jeder Lehmbaracke eine Ruine. Wollen Sie die Entstehung jenes Strohdachs nicht bis in das Mittelalter zurückführen?“
„Wenn auch das nicht, mein Freund; aber sehen Sie sich die Trümmer deutlich an, sie werden für Sie, für den größten Frauenkenner der Residenz, von Interesse sein.“
„Sie werden boshaft, Franziska! Ich glaube, daß ich meinen Schönheitssinn durch die Verehrung, die ich Ihnen erzeige, deutlich genug bekundet habe.“
„Wer zweifelt an Ihrem Geschmacke, mein Freund? Ich will meine kleine Person nicht in Anschlag bringen, und nur an jene Marianne erinnern, die Sie einst als eine ideale Schönheit bezeichneten.“
„Eine seltsame Ideenverbindung! Franziska, ich bewundere Ihre kühne Phantasie. Was hat die wirklich reizende Marianne mit jenem Schutthaufen zu schaffen?“
„O, mehr als Sie vermuthen!“ rief Franziska, deren Neid durch das Wort „reizend“ erregt worden war. „Merken Sie auf – sie zeigte mit der Reitpeitsche nach der Hütte – jene Trümmer sind aus dem Stammschlosse Ihrer wirklich reizenden Marianne entstanden! Dort wohnten ihre Vorältern, und wo jetzt Disteln and Dornen wuchern, stand einst die Wiege des lieblichen Kindes, das jetzt als wirklich reizende Marianne gewissen Männern von Geburt die Köpfe verrückt. Halten Sie doch, halten Sie doch, Baron Walther von Linden, wir stehen auf einem klassischen Boden.“
Sie hielt ihr Pferd an, und sah mit einem bitter ironischen Lächeln dem jungen Baron in das Gesicht.
„Nicht wahr,“ fragte sie, „diese Ueberraschung lohnt der Mühe, zwei Stunden auf dem Rücken eines aufgeputzten Miethspferdes zuzubringen? Wollen Sie nicht eine Skizze von dieser merkwürdigen Ruine entwerfen? Beeilen Sie sich, mein ästhetischer Freund, denn nicht alle Besitzer von dem Gebiete Adersheim könnten die Pietät haben, diesen Düngerhaufen so nahe am Wege liegen zu lassen. Pfui, welch ein unerträglicher Geruch verpestet die Luft! Ich gäbe einen Louisd’or für eine Prise Tabak.“
„Sie träumen wohl schon, die Besitzerin von Adersheim zu sein?“rief Walther spottend. „Dann freilich ist es um diese arme Hütte geschehen, die Ihr Onkel, wie mir scheint, nur deshalb verschont, um Ihnen, seiner unbestreitbaren Erbin, den herrlichen Triumph Ihrer Vernichtung zu gönnen!“
Franziska preßte die Lippen zusammen and senkte die Augen, als ob sie einen heftigen Schmerz verbergen wollte. Dann sagte sie mit bebender Stimme und einer kalten, höhnenden Galanterie: „Sie thun mir Unrecht, lieber Herr; die Dame, die der reiche, uneigennützige Baron von Walther heimzuführen gedenkt, braucht wahrlich nicht auf eine Erbschaft zu hoffen. Ein Krösus heirathet nur aus Liebe und bezahlt gern die Schulden seiner fashionablen Gattin.“
Nach diesen Worten brach Franziska in ein fast kreischendes Gelächter aus, schlug wie rasend mit der Reitpeitsche den Kopf ihres Pferdes und sprengte die Chaussee hinab, daß sich eine dichte Staubwolke erhob.
Walther sah ihr einen Augenblick nach, wandte ruhig sein Pferd und ritt den Weg zurück, den er gekommen war.
„Für diese Malice hat sie eine derbe Züchtigung verdient!“ murmelte er vor sich hin.
Nach fünf Minuten war er in der Biegung des Waldweges verschwunden.
Franziska setzte rasch trabend so lange den Weg fort, bis das Pferd aus eigenem Antriebe Schritt ging und endlich erschöpft [482] stehen blieb. Diese Freiheit, die sich fast alle Miethrosse erlauben und ein eigenthümlicher Charakterzug derselben ist, benutzte Franziska jetzt, weit entfernt, nach ihrer Gewohnheit zornig darüber zu werden, sich nach ihrem Begleiter umzusehen. Sein Verschwinden überraschte sie.
„Es wäre doch arg,“ flüsterte sie, „wenn er mich hier allein ließe. Vielleicht kommt er nach.“
Das arme Roß mußte nun den Unmuth der geschickten Reiterin ertragen. Durch anhaltende Schläge brachte sie es endlich wieder in Bewegung. Mehr als einmal sah sie sich um – Walther wollte aber nicht kommen. Franziska liebte den Baron, wenn sich auch bei der Eigenthümlichkeit ihres Charakters diese Liebe auf eine eigenthümliche Art äußerte, wenn auch der leicht aufbrausende Zorn sie zu Beleidigungen hinriß. Der Spiegel hatte ihr gesagt, daß sie schön war; der Stammbaum hatte sie belehrt, daß sie einem der edelsten und ältesten Geschlechter des Königreichs angehörte; mit der Erziehung, die sie genossen, hatte sie alle jene Vorurtheile eingesogen, die stets mit dem Verstande im Kampfe liegen und nur dazu erfunden zu sein scheinen, um den aristokratischen Stolz zu nähren – es war also kein Wunder, wenn bei den vorhandenen Anlagen zu einer vollkommenen Dame nach der Doctrin jener Epoche Franziska’s Gemüth in der Ausbildung zurückgeblieben war. Der Ruin des väterlichen Vermögens hatte nur dazu beigetragen, ihren Stolz bis zur Maßlosigkeit zu steigern, und da sie gegenwärtig keine andern Mittel besaß, eine Rolle zu spielen, so trug sie ihren Stolz auf Schönheit, Adel und Geistesreichthum so offen zur Schau, daß sie selbst bei ihren Standesgenossen nicht gern gelitten ward.
Die Aeußerung Walther’s, bezüglich der Erbschaft, hatte ihre empfindlichste Seite getroffen; der Stolz untersagte ihr, sich dem reichen Onkel zu nähern, und das Drückende ihrer Lage, das sich täglich mehrte, trieb sie dazu an. Sie wandte die größte Sorgfalt an, beides geheim zu halten. Walther hatte jetzt auf eine höhnende Weise zu erkennen gegeben, daß er ihre Absicht ahnte, obgleich sie nur einen Spazierritt in die romantische Gegend vorgeschützt hatte.
Dem Hasse auf die unschuldige Marianne gesellte sich auch nun die Eifersucht bei. Franziska war die erbittertste Feindin der Pflegetochter des Obersten. Es hatte nicht allein den Anschein, als ob die Bauerndirne, wie sie sie nannte, ihr die reiche Erbschaft streitig machen, sondern auch den Geliebten rauben wollte. Als Franziska die Thürme des Schlosses erblickte, bemächtigte sich ihrer ein Gefühl, das zu bekämpfen sie weder den Willen noch die Kraft hatte.
„Wenn es mir gelänge, den Alten zu gewinnen!“ dachte sie. „Ich bin die einzige Verwandte, die einzige rechtmäßige Erbin, und außer mir führt kein Mensch in der Welt mehr den Namen Adersheim. Ich habe zu viel Chancen für mich, als daß ich nicht jeden Versuch wagen sollte. Reüssire ich, so räche ich mich an Walther und an ihr, die ohne Zweifel schon im Stillen ihren Triumph feiert. Bewirke ich durch meine Stellung nichts, so werde ich List anwenden. Ich will zu Schmeicheleien, und selbst zu Demuth meine Zuflucht nehmen. Dieser Zustand muß ein Ende haben!“
Franziska ritt über die Brücke in den Schloßhof, und hielt vor dem Herrenhause an. In demselben Augenblicke erschien ein alter Mann auf der Freitreppe vor dem imposanten, alterthümlichen Gebäude. Als er die Reiterin erblickte, eilte er die Stufen hinab.
„Gnädiges Fräulein!“ rief er. „Willkommen auf Adersheim!“
Wie eine Amazone sprang das Fräulein von dem Pferde, noch ehe der Herbeieilende ihr seine Dienste leisten konnte.
„Du bist’s, alter Gottfried! Gieb Auftrag, daß man für mein Pferd sorge.“
Gottfried rief einen Reitknecht, und übergab ihm das Pferd. Dann eilte er voran, und führte den Besuch in einen eleganten Saal des Erdgeschosses, der von dem Reichthume des Besitzers ein unzweideutiges Zeugniß ablegte. Die neidischen Blicke Franziska’s schweiften über die kostbaren Möbel hin, die höchst geschmackvoll gewählt und aufgestellt waren. Dann warf sie sich in einen Sopha.
„Wo ist mein Onkel?“
„Auf der Jagd, gnädiges Fräulein. Diesen Morgen acht Uhr schon ist er mit einem Freunde in den Mühlenbusch gefahren.“
„Wird er zu Tische zurückkehren?“
„Ich zweifele daran, gnädigen Fräulein – der Herr Oberst wollte das ganze Revier abjagen, weil sich vor einigen Tagen Rehe dort gezeigt haben.“
„Ist der Oberst, mein Onkel, wirklich auf der Jagd?“ fragte Franziska mit einem stechenden Blicke, und der aufbrausende Zorn verhinderte sie, vorsichtig zu sein.
Der alte Kammerdiener lächelte, indem er antwortete:
„Wenn es mir die Achtung vor dem gnädigen Fräulein, der Nichte meines guten Herrn, nicht verböte, eine Unwahrheit zu sagen, so würde mich meine Anhänglichkeit an Ihren seligen Vater gewiß davon abhalten. Glauben Sie mir, ich habe oft darüber geseufzt, daß die beiden Brüder so lange in Feindschaft gelebt. War ich nicht früher in Ihrem Hause, ehe ich hierher kam? Habe ich Sie nicht oft auf meinen Armen getragen, als Ihre kleinen Füße Sie noch nicht recht tragen wollten? Wie oft haben Sie mit meinem großen Schnurrbarte gespielt, der mir fast bis auf die Brust herabhing. So etwas vergißt man nicht so leicht. Und ich sollte Ihnen eine Unwahrheit sagen? Ich freue mich, daß Sie uns wieder besuchen, daß ich Sie endlich einmal wieder bedienen kann.“
„Deine Hand, Gottfried!“
Der alte Kammerdiener reichte sie ihr in sichtlicher Rührung.
„Fräulein Franziska,“ rief er aus, „Sie sollten bei uns wohnen! Der Herr Oberst wird glücklich sein, die einzige Verwandte seines Namens stets um sich zu sehen. Sie verzeihen Ihrem alten Diener diese Offenherzigkeit – –“
„Meinst Du?“ fragte Franziska, die ihren Stolz verletzt fühlte, denn es war nicht schwer zu errathen, daß der Kammerdiener um das zwischen ihr und dem Onkel bestehende Verhältniß wußte.
„O, dessen bin ich gewiß! Er hat diese Ansicht sehr oft gegen Fräulein Marianne ausgesprochen.“
„Und Fräulein Marianne hat sie gebilligt?“ fragte sie höhnend.
„Ja, ja, das hat sie, denn sie ist ein seelengutes Mädchen. Sie hat noch mehr gethan,“ fügte Gottfried leiser hinzu, der stets redselig wurde, wenn er die guten Eigenschaften Marianne’s anpreisen konnte.
„Nun, was hat sie denn gethan?“
„Sie wissen, der Onkel ist immer noch ein wenig böse darüber, daß Sie sich fern halten, und wenn er in seiner aufbrausenden Heftigkeit darüber gesprochen, so hat Fräulein Marianne stets ein gutes Wort für Sie eingelegt.“
„Hat sie?“ fuhr Franziska bitter auf. „Nicht übel, die Person spielt noch die Großmüthige!“
Der greise Kammerdiener trat verlegen einen Schritt zurück.
„Mein Gott,“ stammelte er, „ich habe Sie durch meine Offenheit doch nicht beleidigt?“
Franziska erinnerte sich ihres Vorsatzes, mit List zu Werke gehen zu wollen; sie bekämpfte ihre Aufregung, und antwortete so mild, als es ihr möglich war.
„Von Beleidigung, mein alter Freund, kann hier nicht die Rede sein. Und willst Du Dich mir gefällig zeigen, so erzähle mir alles, was man über mich hier spricht. Du kannst meiner Dankbarkeit und Verschwiegenheit gewiß sein.“
Die erzwungene Freundlichkeit, die sich deutlich in Franziska’s Gesichte aussprach, machte den Greis schwanken. Er wußte nicht, was er beginnen sollte. Das Oeffnen der Thür endete seine peinliche Verlegenheit – Marianne trat ein, eine reizend schöne Jungfrau von neunzehn Jahren. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Thibetkleid, das sich eng und züchtig den zarten, schwellenden Körperformen anschloß. Eine schwarze elegante Taffetschürze hob die Feinheit der elastischen Taille hervor. Ihr glänzendes kastanienbraunes Haar war über der schönen, sanft gewölbten Stirn einfach gescheitelt, und schlang sich auf dem Hinterkopfe zu einem vollen Flechtenkranze. Das liebliche Madonnengesicht mit den großen, seelenvollen Augen, den schön geschweiften Brauen, der edel gebogenen Nase und dem fein geformten rosigen Munde überzog eine leichte Röthe, als sie die Dame im Sopha erblickte. Sie hatte diesen Besuch nicht erwartet, obgleich sie ihn nicht fürchtete. Trotz ihrer Ueberraschung grüßte sie mit einer Grazie, die Franziska mit Neid und Verwunderung erfüllte. Das Fräulein dankte durch ein nachlässiges Kopfnicken; dann hafteten die Blicke ihrer feurigen, lebhaften Augen mit einer unbeschreiblichen Impertinenz auf der Eingetretenen. Man hätte glauben mögen, Franziska sei [483] die stolze Gebieterin des Schlosses, und Marianne eine Dienerin, die vor ihrem Richterstuhle zu erscheinen hat.
„Der Herr Oberst ist abwesend,“ sagte Marianne mit leise bewegter Stimme – „ich erlaube mir, Fräulein Franziska auf Adersheim willkommen zu heißen.“
Der Zufall schien diesen Morgen alle Umstände vereinigt zu haben, um Franziska in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Hatten die Worte des Kammerdieners ihre Aufregung schon vermehrt, so brachte sie Marianne’s in der That zauberhafte Erscheinung und ihr freundlicher Gruß auf den höchsten Gipfel. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, ihrer verhaßtesten Feindin ein freundliches Wort zu entgegnen.
„Die Abwesenheit meines Onkels, des allzugutherzigen Barons von Adersheim, kommt Ihnen in diesem Augenblicke wohl recht zu statten?“ fragte sie mit erregter Stimme.
Marianne kannte ihre Feindin, sie hatte sich vorgenommen, ihr die größte Ruhe entgegenzusetzen.
„Mein gütiger Pflegevater hat mir aufgetragen, in seiner Abwesenheit die Honneurs zu machen,“ antwortete sie ausweichend. „Ich glaube in seinem Sinne zu handeln, wenn ich Sie einlade, seine Rückkehr von der Jagd abzuwarten.“
„Sie glauben es!“ rief Franziska spöttisch lachend. „Ich nehme die Einladung an, um mich zu überzeugen, daß Sie sich nicht getäuscht haben.“
Mit einer wahren Engelsgeduld wandte sich Marianne zu dem Kammerdiener: „Ich bitte, lieber Freund, geben Sie Auftrag, daß für das gnädige Fräulein eins der Fremdenzimmer sofort in Bereitschaft gesetzt werde.“
Der Greis verließ eilig den Saal.
„Ein Fremdenzimmer!“ rief Franziska laut lachend. „Wahrhaftig, Demoiselle Marianne, Sie verstehen es, auf eine sehr bezeichnende, und dennoch zarte Weise mir die Stellung anzugeben, die Sie Jahre lang vorbereitet haben. Empfangen Sie für diese edle Freimüthigkeit meinen innigsten Dank. Nehmen Sie Platz, mein Kind, und unterhalten Sie mich! Die Fremde ist nicht ermüdet, sie ist vollkommen kräftig, zu antworten.“
Sie rollte einen Sessel herbei und lud mit der Hand zum Sitzen ein.
Marianne zuckte ein wenig zusammen, aber verlor ihre Fassung nicht.
„Mein Fräulein,“ gab sie ruhig zur Antwort, „ich kenne meine Stellung hier im Hause zu gut, um einen Verstoß gegen die Gastfreundschaft zu begehen, die ich einer Verwandten meines Wohlthäters schuldig bin. Sollten Sie indeß Gründe haben, meine Abwesenheit zu wünschen, so entferne ich mich –“
„O nein, solche Rechte leite ich aus meiner Verwandtschaft nicht her. Ich bin nicht anmaßend genug, Ihnen den Weg zu vertreten, den Sie sich zu der Stellung einer Tochter vom Hause so geschickt zu bahnen gewußt haben.“
„Ich bin eine Waise!“ sagte Marianne mit Würde.
„Welch ein Contrast zwischen diesem rührend demüthigen Bekenntnisse und Ihrem Einflusse auf den schwachen Bruder meines Vaters! In der That, Demoiselle, Sie drängen mich dazu, Ihnen die Erklärung zu geben, daß Sie unter der Maske der Treuherzigkeit eine bewunderungswürdige Schlauheit verbergen. Ich kenne Sie aus dem Pensionate her. O, Sie haben in den Augen der Welt viel vor mir voraus, denn ich weiß meine Gefühle nicht in den Mantel der Bescheidenheit zu hüllen, der das Mitleid rege macht. Wenn ich bisher geduldig zusah, wie Sie sich bequem in dem Schooße meiner Familie einnisteten, so haben Sie das meinem Stolze zu danken, der es verschmähete, Ihnen die Larve von dem Gesichte zu reißen, aber jetzt darf ich nicht länger schweigen, denn die Feindschaft des Bruders gegen den verstorbenen Bruder zu nähren, ist ein Frevel, der in seinem ganzen Umfange an das Licht gezogen werden muß. Ich stehe hier als die Retterin der Ehre meines todten Vaters. Wahrlich, es bedarf einer sehr geschäftigen Hand, um in dem weichen Herzen meines Onkels das Feuer der Feindschaft zu schüren, daß es bis über das Grab hinauslodert. Nicht wahr, was den Vater trifft, trifft auch die Tochter? Und diese Tochter verdient den Haß, den man hier gegen sie hegt, denn sie ist ein stolzes, boshaftes Wesen, eine Lästerzunge, eine Verschwenderin und eine Spielerin, die man rücksichtslos ihrem Schicksale überlassen muß. Aber die bescheidene, ordentliche und thätige Waise, die mit niedergeschlagenen Blicken in tiefer Demuth umherschleicht, die dem zweiten Vater die Pantoffeln bringt und bei jeder Gelegenheit die Hand küßt, die bei der Annäherung eines Mannes tief zu erröthen versteht, diese Waise verdient zur Adoptivtochter eines Barons erhoben zu werden, und wenn dies nicht möglich ist, dem Greise eine platonische Liebe zu erheucheln, damit in kurzer Zeit die lachende Wittwe dem Manne die Hand reichen kann, mit dem sie den saubern Plan der Erbschleicherei ausgebrütet hat. Sie erbleichen, Demoiselle; Sie zittern wie ein Blatt, das der Sturm geschüttelt – nicht wahr, ich habe den rechten Fleck getroffen? Bin ich nicht gut unterrichtet? Doch wundern Sie sich nicht darüber, ich verschmähe die Spionage, ich bin nur das Echo des Gerüchts, das in diesem Augenblicke die Aristokratie der Residenz mit Entrüstung erfüllt. Und damit Sie meine Offenheit sehen, erkläre ich Ihnen, daß die Fremde gekommen ist, dem armen Obersten von Adersheim den Abgrund zu zeigen, zu dessen Rande ihn Gleißnerei und Scheinheiligkeit hingezogen haben. Noch heute werde ich meinem Onkel die Augen öffnen und ihn vor dem letzten, gefährlichen Schritte warnen! Das wollte ich Ihnen sagen und wenn Sie mir jetzt erlauben, ziehe ich mich auf das Fremdenzimmer zurück.“
Mit flammendem Gesichte und vor Aufregung glühenden Blicken erhob sich Franziska. Ihre linke Hand trug die schwere Schleppe des Kleides, die rechte hielt die Reitpeitsche. In einer drohenden Stellung stand sie der armen Marianne gegenüber, die, in dem Bewußtsein ihrer Unschuld, sich eines schmerzlichen Lächelns nicht erwehren konnte. Die Anschuldigungen waren zu boshaft und nichtig, als daß sich des guten Kindes mehr als ein schmerzliches Erstaunen bemächtigen konnte. Die stolze Franziska, die in ihrer Verblendung zu solchen kleinlichen Verleumdungen ihre Zuflucht nahm, erfüllte sie vielmehr mit Bedauern.
„Sie scheinen eine Rechtfertigung zu erwarten, mein Fräulein?“ fragte sie mit der ihr eigenen Ruhe und Milde.
„Erwarten? Ich bin neugierig, was Ihr Scharfsinn zur Rechtfertigung anführen wird.“
„Nicht meinetwegen, sondern nur Ihretwegen bitte ich um einige Minuten Gehör, denn ich halte es für Pflicht, nach Kräften dahin zu wirken, daß der unglückselige Zwiespalt zwischen Onkel und Nichte ausgeglichen werde.“
„Himmel, diese Anmaßung!“ rief Franziska außer sich. „Wenn ich Sie recht verstehe, Demoiselle, so sind Sie der bescheidenen Meinung, daß meine Eröffnungen über Ihre liebenswürdige Person den Obersten noch mehr gegen mich aufbringen?“
„Ich zweifle nicht daran.“
„Sie scheinen Ihrer Sache sehr gewiß zu sein.“
„Weil ich weiß, was Ihr Onkel von Ihnen erwartet.“
„Bleiben Sie bei Ihrer Person, meine Beste!“
„Ich würde nicht von mir sprechen können, ohne der Dienste zu erwähnen, die ich Ihnen, trotz Ihrer Abneigung gegen mich, geleistet habe.“
„Diese Großmuth! Ersparen Sie sich die Mühe, mich zu entwaffnen!“
„Und doch kann ich es in Ihrem Interesse nur wünschen, daß es mir gelänge. Jede Anklage meiner Person würde auch meinen Wohlthäter treffen, aber mehr noch auf Sie selbst zurückfallen.“
„O, Demoiselle, Sie sind schlau wie ein Fuchs!“ rief Franziska höhnend. „Diese Taktik beweist, daß Sie auf einen feigen Feind gerechnet haben, und daß Ihnen selbst der Muth fehlt, sich in einen offenen Kampf einzulassen.“
„Ich weiß nicht, mein gnädigen Fräulein, ob mehr Muth dazu gehört, dem anziehenden Feinde im Vertrauen auf seine Versöhnlichkeit und Milde eine Brücke zu bauen, als dazu, ihm hindernd in den Weg zu treten und Vortheile zu benützen, die das Ehrgefühl verschmäht. Ein für mich glücklicher Zufall wies mir die Stelle an, die eigentlich, ich fühle es, Ihnen gebührte; traurige Mißverständnisse verhinderten es, daß Sie sich dem Herzen des Onkels nähern konnten. Die entstandene Kluft ist nicht so groß als Sie glauben, mein liebes Fräulein, und es bedarf nur des Muthes und des Vertrauens von Ihrer Seite, die Brücke zu betreten, die Ihnen die Hand der dankbaren Waise errichtet hat. Es war ein zu kühner Gedanke, mich Ihnen als Freundin nahen zu wollen, obgleich mein Wohlthäter ihn in mir nährte und die Realisirung desselben wünschte – als Freundin können und wollen [484] Sie mich nicht betrachten, weil mir gewisse Eigenschaften dazu fehlen, trotzdem hofft Ihr Onkel, daß ich ihm die Nichte zuführe. Mein Bemühen ist in so weit mit Erfolg gekrönt, als es mir gelungen ist, der in friedfertiger Gesinnung nahenden Nichte die Arme des Onkels zu öffnen – wie er die verblendete Dame empfangen wird, wage ich nicht zu beurtheilen, da ein solches Urtheil den Kreis überschreitet, den mir mein Wohlthäter angewiesen hat.“
„Darf ich nun den Sinn dieser schönen Rede in wenig Worte fassen?“ fragte Franziska mit einer unbeschreiblichen Bitterkeit. „Warum sagen Sie nicht lieber rund heraus: mein Fräulein, Sie sehen, ich habe mich hier einmal eingenistet, verdrängen können Sie mich nicht, aber ich will trotzdem großmüthig sein, und schwesterlich mit Ihnen die große Erbschaft theilen, die von Gottes und Rechts wegen Ihnen gebührte. Also machen Sie keine Umstände, dann haben wir nicht nöthig uns zu streiten! – Ja, Demoiselle, das ist Ihre Absicht, denn ich durchschaue Sie bis auf den Grund Ihrer Seele. Wie der Onkel die verblendete Dame empfängt, weiß ich; was er aber mit der Schlange machen wird, die er so großmüthig an seinem Busen erzogen, will ich deshalb nicht beurtheilen, weil es unter meiner Würde ist, über eine Bettlerin zu Gericht zu sitzen.“
Marianne bebte zusammen, und Thränen traten ihr in die Augen.
„Ich verzeihe Ihnen diese Beleidigung,“ stammelte sie – „möge sie Ihnen auch Gott und der verzeihen, der ein Recht hat, ein armes Mädchen vor Beleidigungen zu schützen!“
Bebend am ganzen Körper stützte sich Marianne auf den Sessel.
„Wollen Sie noch immer schwesterlich mit mir theilen? Nur eine Adersheim darf auf diesem Schlosse wohnen; die Bäuerin gehört in die Hütte am Walde, woher sie gekommen ist. Es müßte ja keine Gerechtigkeit in der Welt mehr geben, wenn Adel und Geburt von der Großmuth einer Bäuerin abhangen sollte. Der Kampf ist eröffnet, meine Beste, und ich werde ihn fortführen, ohne Ihre Brücke zu betreten.“
Franziska verließ rauschend den Saal, und schlug heftig die Thür hinter sich zu.
Marianne sank weinend in den Sessel.
„Ich hoffe sie dennoch zu bekehren!“ flüsterte sie vor sich hin. „Mag sie ihrem Kopfe folgen – ich bleibe meinem Herzen getreu!“
In der Felsenburg, der „Tausendzipfeligen“, wie sie die Orientalen nennen, die sich vom schwarzen Meere nach dem caspischen erstreckt, hat der im Osten ausgebrochene verhängnißvolle Kampf einen gewaltigen Nachhall gefunden. Die von jeher unbezwungenen Söhne der kaukasischen Berge, mit dem glühenden Russenhaß im Herzen, haben sich mächtiger als je vorher zusammengeschaart; von den hohen kahlen Alpenketten her, durch die Region der undurchdringlichen Wälder, bis hinab über die Moräste und schilfbedeckten Sümpfe der Ebene braust ihr Kriegsgeschrei und wieder tragen die langmähnigen Rosse die unerbittlichen Müriden Schamyl’s durch die Steppe zum wilden Vernichtungskampf. Schamyl’s jüngster Sieg am Kasbek, der die Gefangenschaft einer großen Zahl russischer Adelsfamilien zur Folge gehabt, hat weithin Schrecken und Bestürzung verbreitet, und der bislang von den Kaukasiern geführte Bergkrieg scheint sogar einen andern Charakter annehmen zu wollen, da Tiflis, die Hauptstadt Georgiens, immer und immer wieder als von den kecken Söhnen der Berge bedroht, bezeichnet wird.
Das mühsame Netz, mit welchem die Russen den Kaukasus umstrickt, um seine Bewohner zu unterwerfen, erhielt den ersten großen Riß, als die Russen im Laufe dieses Frühjahrs ihre von den Flotten der Westmächte bedrohten Küstenforts am schwarzen Meere, mit Ausnahme von Anapa, aufgaben und mit eigener Hand zerstörten. Der westliche Theil des Kaukasus, dessen verschiedene Völkerschaften als Adighé, Abchasen. Ubychen, Schapßuchen u. s. w., unter dem Gesammtnamen Tscherkessen begriffen werden, erlangte wieder den freien Verkehr mit dem Meere, den zwar die Russen nie ganz abzuschneiden, wohl aber bedeutend zu hindern vermocht hatten. Zugleich kehrte Sefir Bey, der alte Tscherkessenfürst, der auf Rußlands Betrieb lange Zeit als Gefangener des Sultans in Adrianopel (ungefähr wie Kossuth in Kintahia) gelebt, in seine Heimath zurück, den alten Groll und den alten Kampfmuth mitbringend.
Die Tscherkessen, unter denen der ritterliche Stamm der Adighé allen andern voransteht, waren im Allgemeinen den Russen nicht so gefährliche Feinde wie die der Stimme Schamyl’s gehorchenden Krieger. Ihre Fürsten (Pschi) und Edelleute (Work, Usden) verständigten sich selten zu größern Unternehmungen unter einheitlicher Leitung, weil ihr entschiedener Unabhängigkeitssinn sie immer mit Mißtrauen gegen die einem Einzelnen anvertraute allzu große Gewalt erfüllte. Ihre kriegerischen Unternehmungen beschränkten sich daher immer nur auf flüchtige Streifzüge und Ueberfälle, deren Schauplatz hauptsächlich die Ufer des Kuban wurden. Wie bei allen Völkern des Kaukasus wirkte neben Russenhaß und Freiheitsliebe dabei die Lust zu Raub und Beute gleich stark mit.
Da einzelne Stämme der Gebirgsvölker sich den Russen wenigstens scheinbar unterworfen haben, so begegnet man den Angehörigen derselben oft in den russischen Niederlassungen, und selbst den freien Söhnen der Wälder ist einzeln der Zutritt unverwehrt, vielleicht weil man durch die Entwickelung des großen militärischen Apparats einen heilsamen Eindruck auf sie erwartet. In der Kosakenstadt Jekarderinodar am Kuban sprechen die Tscherkessen am Häufigsten ein; der erste Blick zeigt aber, daß diese stolzen, frei um sich blickenden Männer nicht in diese schmutzigen Straßen und unter diese einkasernirte Bevölkerung gehören. Auch ist ihres Bleibens nie von Dauer, und vielleicht eine der nächsten Nächte schon gürten sie in feindlicher Absicht die Schaschka und den Kinschal um, werfen sich auf die wiehernden Rosse und reiten hinab an den Kuban. Dann rast plötzlich Tod und Verderben die Ufer des Flusses entlang; der Himmel röthet sich blutig, den Brand einer russischen Krepost (kleine Festung) oder Kosakenstanitze (Dorf) verkündend, und ehe den Bedrängten Hülfe wird, ist zumeist Alles der Erde gleich gemacht, was da Leben hat getödtet oder bereits in die Gefangenschaft nach den Bergen geschleppt. Oft auch geht jedoch der Rückzug nicht so günstig von Statten, die russischen Besatzungen in der Nähe sind alamirt worden und eine Reiterschlacht entspinnt sich in der Steppe, die in der Regel um so wüthender ist, als die Tscherkessen nur nothgedrungen ihre Todten dem Feinde überlassen. Um die Leiche eines Häuptlings zu retten, opfern sich bisweilen Hunderte dem Tode.
Dann in ihre Berge zurückgekehrt, wo sie in Auls von 60 bis 70 Häusern bei einander wohnen, feiern ihre Barden (Kikoakoa genannt) die Gefallenen mit Ruhmesgesängen, während der ganze Stamm den Todten die letzten Ehren erweist. Umgekehrt sind die Gebirgszüge der Russen nicht minder reich an blutigen Episoden, und der in solchen Fällen für Haus und Hof kämpfende Tscherkesse ist, in seinen Bergen und Wäldern vom Terrain begünstigt, ein desto furchtbarerer Feind. Fast verzweifelter noch als um Haus und Hof kämpft er bei solchen Gelegenheiten um seine heiligen Räume, gewöhnlich alte Eichen mit morschen hölzernen Kreuzen, die aus frühern Jahrhunderten herrühren, als das Christenthum in den Bergen verbreiteter war. Die jetzt, doch ohne Fanatismus, sich zum Islam bekennenden Tscherkessen halten die alten Symbole des Glaubens ihrer Vorältern fortwährend in Ehren, und oft häuften sich Wälle von Leichen übereinander, um den mächtig andringenden Russen den Besitz eines solchen heiligen Baumes streitig zu machen. Die hoch im Gebirge wohnenden
[485][486] Osseten und Suaneten gehören dem Namen nach zu den christlichen Kaukasiern, haben aber Sitten und Bräuche so ziemlich mit ihren muhamedanischen Stammesgenossen gemein. Unsere Zeit hat sich darin gefallen, die Tscherkessen über die Maßen zu poetisiren, und wenn man die Usden der Adighé sieht, wie sie von untadlichen Körperformen, stolzer ritterlicher Haltung und Bewegung, feurigen Auges und gewandter Rede einhertreten, so wird man auch versucht, an die Vollkommenheit dieses Menschenschlags, bei dem Wohlbeleibtheit als entehrend gilt, zu glauben. Tapferkeit, Freiheitssinn, Liebe zur Heimath, Genügsamkeit, Keuschheit und Gastfreundschaft zeichnet, wie fast alle unkultivirten Völker, die Tscherkessen in hohem Grade aus; der Haß gegen Fremde, die Härte gegen den Feind, wird durch die Umstände erklärlich; nicht so aber die Eifersucht gegen Nachbarn und Freunde, und die Rachsucht, die häufig zu innern Stammesfehden führt und die Blutrache geheiligt hat; ebensowenig das Mißtrauen, die Verstellungskunst, und die unersättliche Habgierde, welche am Diebstahle nichts Entehrendes findet als das Sicherwischenlassen. Der nach unsern Ansichten und Grundsätzen rohe Brauch des Mädchenverkaufs in die Harems der türkischen Großen, erscheint in milderm Lichte, wenn man weiß, daß die Verkauften zumeist ein günstigeres Loos erwartet als daheim, wo sie auch nur in gedrückter Stellung leben.
Die Völker des östlichen Kaukasus unter denen die Tschetschenzen, Lesghier, Inguschen und Kasikumyken die vornehmsten sind, stehen im Durchschnitt denen des westlichen an ritterlichen Tugenden nach. Daß sie gefährlichere Feinde für Rußland geworden sind, ist das Werk des Lesghiers Schamyl Bey, dem es gelungen, eine fast geordnete Militärmacht und innere Verwaltung zu schaffen. Nächst den Tschetschenzen, die den Hauptkern seiner Macht bilden, haben sich die Männer des Lesgistan und Dagestan um den begeisterten Krieger geschaart, dessen Thaten eigentlich erst die Aufmerksamkeit Europas nach dem Kaukasus lenkten. Schamyl ist einige fünfzig Jahre alt, von mittlerm Wuchse und schlanken geschmeidigen Formen; er hat, obwohl sein Bart frühzeitig ergraute, des Körpers volle Kraft ungeschwächt bewahrt, und zu Fuß wie zu Roß thun es ihm wenige seiner Landsleute gleich. Seinen Sitz hat er im Innern der Tschetschina aufgeschlagen, umgürtet von Felsen und Wäldern; einige tausend Reiter, der Kern der Russenfeinde, sind hier zu jeder Stunde kampfbereit, und unter ihnen bilden hinwiederum die Müriden eine Art heilige Schaar als Tapferste der Tapfern. Was Schamyl mit seinen von Russenhaß, Freiheitssinn und Glaubenseifer entflammten Kriegern seit Jahren vollbracht hat, ist zu bekannt, um daß wir es hier wiederholen sollten. Uebersehen wird jedoch in der Regel dabei, daß seine Klugheit noch mehr als seine Tapferkeit zu bewundern ist, denn jener nur gelang es, die verschiedenen Stämme des östlichen Kaukasus zu gemeinsamem Handeln zu vereinigen. Ueber die westlichen Stämme, die Tscherkessen, erstreckte sich Schamyl’s Gewalt nie, doch scheint sich in neuester Zeit sein Einfluß mehr und mehr über den ganzen Kaukasus auszubreiten, freilich nicht ohne die Beschränkung, die er in der Eifersucht und dem Unabhängigkeitssinn der einzelnen Fürsten findet. Letzterer Umstand ist auch die Ursache, daß Schamyl vorzugsweise im östlichen Kaukasus, wo Tiflis das Hauptbollwerk der Russen bildet, seine Kämpfe führt.
Die „freien Völker“ des Gebirges bezeichnen wir am Besten als zu zwei großen Heerlagern vereinigt, im Westen die Tscherkessen, im Osten die Tschetschenzen. Dagegen haben sich die in der Ebene wohnenden Kaukasier, wie die der Kabardah, seit Jahren den Russen unterworfen. Weniger begeistert für den Islam und weniger streitlustig als ihre Brüder in den Bergen, konnten sie außerdem in ihrem Flachlande den russischen Kolonnen keinen großen Widerstand entgegensetzen. Bisweilen kämpfen sie bald freiwillig, bald gezwungen selbst gegen ihre Stammesgenossen mit, doch sind sie für die Russen stets unzuverlässige Truppen und ihnen im Innern gründlich abgeneigt, so daß sie nur auf nachhaltigeres Kriegsglück Schamyl’s warten, um ohne der spätern Rache preisgegeben zu sein, das russische Joch abzuschütteln. Wenn auch die Kabarden auf die Begeisterung sprühenden Aufrufe des Helden der Tschetschina dem Anschein nach meist gleichgültig blieben, so wissen sie doch denselben bei seinen Kriegszügen in ihren Ebenen Vorschub genug zum Nachtheil der verhaßten Russen zu leisten.
Dasselbe kann von den gesammten Völkern des transkaukasischen Rußlands gelten, die mit einziger Ausnahme der Armenier, überhaupt die Abneigung gegen die moskowitische Herrschaft theilen und noch lange nicht die ehemalige Unabhängigkeit verschmerzt haben. So haben die Imerier sich erst noch im Jahre 1820 in einem größern Aufstande versucht, und für alle diese Völkerschaften und Stämme kann der Moment kommen, der sie zu Verbündeten Schamyl’s macht. Fiele Tiflis wirklich in die Hände der Tschetschenzen, so würde dieser Moment da sein; die neuen Bundesgenossen Schamyl’s wären zwar keine den Söhnen der Berge ebenbürtige Kämpfer, denn von Armuth und der militärischen Verwaltung gedrückt sind die Imerier und ihre Nachbarn nicht mehr die streitlustigen Männer von früher, allein ein Funken des alten Geistes ist immer noch vorhanden und ihn zu wecken giebt es keinen bessern Mann als Schamyl Bey.
Die körperliche Schönheit dieser Völker, zu denen auch die Georgier, Gurier und Mingrelier gehören, scheint unter allen Verhältnissen unverwüstbar, und so sind auch die Imerier unter Schmuz und Elend und in ihren Lumpen ein herrlicher Menschenschlag geblieben. Mehr noch gilt dies von den Georgiern, die sich in ihrem reich gesegneten Lande auch in materiell besserer Lage befinden, obschon sie sonst trägen Geistes sind. Die Adighé ausgenommen giebt es kein schöneres Volk als die Georgier, und letztere haben vor jenen den Reichthum der Tracht voraus, der ihre körperlichen Vorzüge in noch glänzenderm Lichte erscheinen läßt. Ueber den dunkelfarbigen seidenen Archeluk (enger Leibrock), den ein silberner Gürtel zusammenhält, tragen sie die offenstehende Burka von rothem oder blauem Sammet, reich mit Silber gestickt und weiten fliegenden Aermeln; den Kopf bedeckt die hohe pyramidenförmige Mütze von schwarzem Schaffell; die feinen rothen enganschließenden Stiefeln reichen bis über die Knie und fangen die schwarzen faltigen Hosen auf; Schaschka, Kinschal und Pistolen vollenden den Krieger, den die Phantasie kaum vollkommener erschaffen kann.
Die georgischen Frauen, schlank und vom reinsten Ebenmaße, mit fein geschnittenen Gesichtern und großen schwärmerisch glühenden Augen gehören zu den schönsten ihres Geschlechts, nur daß es ihnen an dem Herz und Gemüth gebricht, welches wir Abendländer vorzugsweise bei dem Weibe suchen. Dem Aeußern nach strahlen die Georgierinnen in blendender Schönheit, die sie wie die Männer, durch den malerischen Anzug zu erhöhen wissen. Zuweilen sieht man sie im kurzen Sarafan, für den sie blendende Farben lieben, dann wieder in der langen weißen Tschadra, welche anmuthig den ganzen Körper umhüllt und den schlanken Wuchs reizend hervorhebt; weite rothseidene Beinkleider fallen bis über die kleinen Füßchen herab, die von niedlichen Pantoffeln umschlossen werden, und an Gang, Haltung und Bewegung lassen sie die vollendetste Pariserin hinter sich zurück. Ein Theil des günstigen Eindrucks, den diese bezaubernden Erscheinungen hervorbringen, wird jedoch immer wieder durch den Gedanken geschwächt, daß auch von ihnen die Schönsten als Sklavinnen in die Harems nach Konstantinopel wandern.
Obschon mit den Russen glaubensverwandt und dem großen nordischen Reiche seit einem halben Jahrhunderte endgültig einverleibt, sind unter den Georgiern doch noch nicht alle Freiheitsregungen erstickt, und mehr als diese und der Kampfmuth, den aufzustacheln Schamyl sich bemüht, wirken die geschichtlichen Erinnerungen unter dem Volke. Georgien hat eine sehr alte Geschichte, bekannte sich schon im Jahre 320 zu dem christlichen Glauben und hatte bis Ende des vorigen Jahrhunderts seine eigenen Fürsten. Ein Volk mit solchen Erinnerungen wird nie ganz unterjocht, und mehr als einmal seit der russischen Besitznahme hat es die verlorene Freiheit zu erlangen gesucht. Rußland, das bisher im Orient nur rohe, unkultivirte Völker zu Gegnern hatte, ging stets siegreich aus dem Kampfe hervor, allein eine düstere Saat liegt in den georgischen Landen ausgestreut, und unter den ausgebrochenen Wirren scheint sie, gepflegt von dem Helden Schamyl, verhängnißvoll aufgehen zu wollen.
[487]
Nachdem wir unter dem herrlichsten Wetter den Hafen von London verlassen und unter so manchen schönen unauslöschlichen Erinnerungen den atlantischen und indischen Ocean durchschnitten hatten, erreichten wir endlich nach einer vier Monate langen Seereise mit großer Spannung und Erwartung das Ziel unserer Wünsche und kamen glücklich in Port Adelaide, dem Hafen Südaustraliens, vor Anker. Unter rührenden und herzlichen Worten löste sich das engere Band einer kurzen aber innig geschlossenen Freundschaft zwischen Gliedern dreier Nationen, die sich früher nie gesehen, während der langen Reise treulich Freud und Leid getheilt, in der neuen Heimath sich die verschiedensten Ziele ihres Wirkens vorgestreckt hatten, und bald nach allen Richtungen hin in der Kolonie zerstreuten.
War es nun mein eifrigstes Bestreben vor Allem Denjenigen meine Aufmerksamkeit und mein Interesse zuzuwenden, die mir als Deutschem in diesem fremden und neuen Welttheile am Nächsten standen, so fand ich in Kurzem Gelegenheit diesem innern Drange eine baldige Befriedigung zu gewähren, indem mir schon am ersten Tage nach unserer Landung ein biederer deutscher Landsmann und alter Ansiedler in der Provinz Südaustralien „Willkommen im Lande des Segens“ mit dem Ausdruck der Herzlichkeit zurief und mich auf meinen Ausflügen in die verschiedensten deutschen Ansiedelungen der Umgegend von Adelaide begleitete.
Freundlich, zufrieden, herzlich und innig, wie ich es nur je in dem engsten Familienkreise meiner alten verlassenen Heimath gefunden, traten mir die einzelnen deutschen Familien in ihren einfachen und netten Häuschen, ihren blühenden Gärten und Fluren in ungeheuchelter Freude entgegen und erweckten ein Gefühl, das ich eben nur empfinden, nicht aber in Worten wiederzugeben vermochte. Allseitig zog ich Erkundigungen über ihr Ergehen ein, persönlich überzeugte ich mich unter den verschiedensten Ständen und Gewerben von deren Betriebsamkeit und dem daraus hervorgegangenen Wohlstande.
Wenn ich nun durch eigene Anschauung so wie durch Schilderungen glaubwürdiger und achtbarer Personen in den Stand gesetzt wurde, mir ein umfassendes Urtheil über die Zustände und Verhältnisse unserer Landsleute so wie über das Land selbst bilden und somit auch eine allgemeine Schilderung entwerfen zu können, so dürfte eine in diesen Blättern gegebene kurze Mittheilung für Manchen der Leser nicht ganz ohne Interesse sein.
Das Festland Australien, oder auch Neuholland genannt, welches nur 1/5 kleiner als Europa ist, wird gegenwärtig von circa 200,000 Eingebornen (Papuan-Negern) und 500,000 Europäern, und zwar von Engländern, Schottländern, Irländern, Deutschen, einigen Holländern und Franzosen, sowie von einzelnen Chinesen und Malayen theils im Innern, theils an den Küsten bewohnt, worunter die Zahl der Deutschen ungefähr 20,000–22,000 Seelen beträgt.
Erwägt man, daß diese Bevölkerung, welche nur 1/3 so groß als die des an Flächeninhalte so kleinen Königreiches Sachsen ist, bis jetzt einen ganzen Erdtheil bewohnt, der so unermeßlichen Reichthum an Mineralien, namentlich an Gold, Kupfer, Eisen, Blei u. s. w. enthält – dem großentheils eine überaus üppige Vegetation des Weidelandes eigen ist – der vor Allem aber im östlichen, südlichen und westlichen Theile ein so überaus gesundes Klima, eines der gesundesten auf der Erde, besitzt, so läßt sich keinen Augenblick verkennen, welches große Feld des Schaffens dem Eingewanderten dort offen steht, welche Geldmittel, geistige sowie physische Anstrengungen aber auch von Seiten der deutschen Colonisten dazu gehören würden, um mit den ihnen nicht nur an Zahl, sondern auch an baarem Gelde, Speculationsgeist und Ausdauer in allen Unternehmungen weit überlegenen englischen Colonisten einigermaßen Concurrenz halten zu können.
Die ersten Deutschen wanderten zuerst in namhafter Zahl zur Begründung der Provinz Südaustralien auf Veranlassung der dort sich gebildeten südaustralischen Compagnie unter Anführung des Pastor Kavel aus Klemzig in der Neumark im Jahre 1838 nach Australien aus, ihnen folgte im Jahre 1840 unter dem Geleite des Pastor Fritzsche aus Schlesien ein zweiter Zug, die sich sämmtlich in der Nähe von Adelaide, in Angas-Park und den Thälern des Barossa-Gebirges sowie im Mount-Barker-Distrikte niederließen und verschiedene kleine deutsche Plätze wie: Klemzig, Angaston, Bethanien, Langmeil, Hahndorf, Lobethal u. s. w. gründeten. Es bestanden diese ersten ausgewanderten Gemeinden aus Alt-Lutheranern, deren Motiven, aus denen sie ihr Vaterland verlassen zu müssen glaubten, mehr eingebildete als factisch vorhandene Beeinträchtigungen ihrer Glaubensfreiheiten waren. Sie hatten in ihrer alten Heimath größtentheils in den drückendsten Verhältnissen gelebt, unter denen sie selbst bei der härtesten Arbeit ihr Leben kaum fristen konnten.
Diesen ersten Uebersiedelungen folgten bald mehrere. So gingen im Jahre 1842 eine Anzahl Weinbauer aus Nassau nach dort, die sich in der Grafschaft Camden und an den Ufern des Hunterflusses in der Provinz Neu-Süd-Wales niederließen, ferner eine Anzahl deutscher Schweizer, die sich zu gleichem Betriebe des Weinbaues in der Nähe von Geelong in der Victoria-Provinz ansiedelten.
In kleinen Zwischenräumen folgten ihnen seit dem Jahre 1844 größere Auswanderungszüge, von denen sich die Meisten nach Südaustralien wendeten; die politischen Zerwürfnisse Deutschlands in den Jahren 1848 und 1849, sowie vor Allen die im Jahre 1851 entdeckten Goldlager Australiens trieben abermals bedeutende Züge von Deutschen, namentlich aus Hannover, Hamburg, Lübeck, Bremen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Brandenburg, Schlesien, Westphalen u. s. w. jener fernen neuen Heimath zu.
Freilich hatten die ersten deutschen Ansiedler kein beneidenswerthes, oft sogar ein bedauerliches Loos. Ohne recht zu wissen, was sie in der neugesuchten Heimath thun sollten, aus ihren bürgerlichen Verhältnissen heraus und in das fremdartige Leben eines beinahe noch ganz wüsten Landes geschleudert, auf dem sie damals nicht nur alle und jede Bequemlichkeiten, sondern auch manche dringende Bedürfnisse zu entbehren, ja sogar noch mancherlei Kämpfe mit den Eingebornen zu bestehen hatten, war ihre Lage wirklich eine trübe, deren Hülflosigkeit bei Vielen wesentlich noch dadurch erhöht war, daß sie der englischen Sprache fast gar nicht mächtig waren und keinerlei Geldmittel in den Händen hatten, um sich mit Vortheil eine eigene Existenz gründen zu können. Da waren es, wie auch in Amerika, die Urbarmachung von Ländereien sowie der Betrieb des Acker- und Gartenbaues im Kleinen, zu denen sie die Zuflucht nehmen mußten, um mit ihren so geringen pecuniären Mitteln Dasjenige zu erzeugen, was ihnen die nöthigsten Bedürfnisse des Lebens bot und eine allmälige Gelegenheit des Emporkommens dem bemittelten Engländer gegenüber in Aussicht stellte.
Und unter diesen beschränkten und einfachen Verhältnissen erbauten sie doch nach und nach kleine Städte und Dörfer, die sie mit deutschen Namen, bisweilen mit denen ihrer verlassenen Heimath, belegten und schufen aus Wäldern, wüsten Stätten die üppigsten Aecker und blühendsten Fluren. Unwillkürlich bewunderten die Engländer den enormen Fleiß und die rastlose Thätigkeit ihrer deutschen Mitcolonisten und fühlten recht wohl – eingedenk dessen, daß der riesige Aufschwung der nordamerikanischen Staaten den wesentlichsten Hebel in der Verbindung deutscher und englischer Kräfte gefunden, – daß auch in Australien nur durch Hülfe der Deutschen und nur ein vereintes Wirken beider Nationen zu einem allseitigen und baldigen Gedeihen der Colonien führen konnte.
Denn während sie selbst der Sprache mächtig und mit den dortigen Verhältnissen vertrauter waren, um durch allseitige Associationen sowie durch Handel und Speculationen ihre mitgebrachten Fonds zu vervielfachen, blieben allerdings den guten braven Deutschen die schweren und mühseligen Arbeiten im Urbarmachen und Cultiviren des Bodens.
[488] In neuerer Zeit indeß, und namentlich seit Entdeckung der Goldlager, belohnt sich durch das Hinzuströmen so vieler tausend Menschen der Fleiß jener ehemals so gedrückten deutschen Colonisten in wahrhaft reichlichem Maße, indem sie jetzt, wo Lebensbedürfnisse und Erzeugnisse des Ackerbaues gesuchter und um vieles theurer als früher sind, ergiebige Gärten, Felder und Viehheerden besitzen, aus denen sie nun mit leichterer Mühe und mit dem Gefühle der Genugthuung die goldenen Früchte ihres zeitherigen Fleißes und Schaffens ernten. Erst jetzt läßt sich darüber urtheilen, was die Deutschen in Australien für das gesammte Emporblühen der Colonie sind und gelten.
Um dem Leser eine nähere Einsicht in die dortigen Zustände zu ermöglichen, sei vor Allem erwähnt, daß alle nach Australien Ausgewanderten moralisch jedenfalls viel höher stehen, als ein größerer Theil von Denen, welche Amerika zu ihrer neuen Heimath wählten, und daß die Verhältnisse Amerika’s, die wir hier doch ziemlich genau kennen, für die in Australien obwaltenden gar nicht maßgebend sind. Während nach Amerika früher so viele moralisch bankerotte Personen, Zuchthauscandidaten aller Art, Bummler, Vagabunden und Proletarier – natürlich mit vielen ganz ehrenwerthen Ausnahmen – wanderten und dieses Land gewissermaaßen zum Sammelplatze von Verbrechern machten, die sich theils dem Untergange, theils den sie in Europa bedrohenden Strafen zu entziehen suchten, während namentlich im Westen Amerika’s rein gesetzlose Zustände und nicht selten eine empörende Lynchjustiz herrschen, Person und Eigenthum oft keinen Augenblick sicher sind, findet in Australien von allen diesen Zuständen ein höchst erfreuliches und wohlthuendes Gegentheil statt, indem man dort nicht nur auf gute Empfehlungen, die der Eingewanderte von den Behörden oder distinguirten Personen seiner von ihm verlassenen Heimath etwa mitbringt, so viel Gewicht legt, sondern auch Gesetz und Ordnung neben einer äußerst wohlthuenden bürgerlichen Freiheit ebenso streng handhabt wie in England, und das Tochterland Australien ganz nach englischen Gesetzen regiert und verwaltet wird.
Die Deutschen genießen in Australien nicht nur von den Engländern alle Achtung, sondern auch jedmöglichen Schutz der Regierung, und sofern sie sich naturalisiren lassen, der britischen Krone den Unterthaneneid leisten, auch dieselben Rechte wie die Engländer selbst. Von allen Seiten wünscht und begünstigt man ihre Einwanderung in Australien, und sind es namentlich Acker-, Garten-, Wein- und Seidenbau, deren Productionsweisen den Engländern in ihrem Mutterlande theilweise gänzlich unbekannt sind, für welche man geübte und befähigte deutsche Kräfte sehnlichst wünscht und erwartet. Allerdings ist jene allgemeine Achtung sowie das Willkommensein in Australien nicht hinreichend, um die Deutschen dort auf diejenige Stufe der öffentlichen Geltung zu bringen, von welcher man sagen könnte, sie ständen den Engländern in jeder Beziehung gleich. Wenn ihnen auch vor der Hand die Aussicht benommen ist, öffentliche Anstellungen zu erhalten, wenn ihnen selbst der Vortheil, so schnell wie die Engländer zu einem großen Vermögen zu gelangen, abgeht, so muß man, um gerecht zu sein, doch zugestehen, daß daran weder die englische Regierung noch die englischen Colonisten, sondern unsere guten Landsleute selbst die meiste Schuld tragen. Während die englische Regierung so beträchtliche finanzielle Opfer zum Besten des Tochterlandes Australien bringt, und es kaum im Interesse der deutschen Regierungen liegen dürfte ein Gleiches zu thun, so mag es dem Gouvernement in Australien um so weniger verdacht werden, wenn es die für die Colonien nöthigen Beamten aus der Nation des Mutterlandes nimmt, da außerdem noch die meisten Deutschen weder der englischen Sprache vollkommen mächtig sind, noch sich naturalisiren ließen und den britischen Unterthaneneid leisteten.
Wenn ferner von England aus ganz intelligente Leute nach Australien übersiedeln, während dies bis jetzt aus Deutschland großentheils nur einfach gebildete Handwerker und Landbauer thaten, so mag es wiederum nicht Wunder nehmen, wenn sich die dortige deutsche Bevölkerung bis jetzt mit wenigen Ausnahmen – wie Dr. Ludwig Leichardt als großer Naturforscher und Entdeckungsreisender, Menge als ausgezeichneter Geolog und Mineralog, Meyer als thätiger Missionär und Sprachforscher unter den Papuannegern, Dr. Beier als hochgeschätzter und berühmter Arzt, Friedrich Gerstäcker als thätiger und unternehmender Entdeckungsreisender, und Andere mehr – durch außerordentliche Leistungen verewigen und auszeichnen konnte.
Wenn ferner von England aus viele reiche Kapitalisten nach Australien gehen und alle erdenklichen großartigen Spekulationen mit dem größten Eifer und mit Umsicht in’s Werk setzen, ohne ängstlich daran zu denken, daß sie möglicherweise Etwas verlieren könnten, die meisten deutschen Einwanderer dagegen Wenig oder gar Nichts aus der alten Heimath mitnehmen als das Passagegeld, somit dort auch Nichts an’s Land brachten und die deutschen Kapitalisten ruhig zu Hause bleiben, so kann es abermals nicht befremden, wenn die deutschen Ansiedler wiederum diejenigen es waren und sind, welche nur kleinere Spekulationen ausführen, demnach ein wirkliches Vermögen nur langsamer als jene Geldbegabten erwerben können.
Wenn endlich die meisten der angesiedelten Engländer, namentlich die wohlhabenden, vermöge des ihnen inwohnenden Nationalgefühles, sich zu jedem Unternehmen willig und ohne mißtrauische oder neidische Bedenken gegenseitig die Hände bieten und associren, so sind es wiederum die Deutschen, die häufig in Australien aus Mangel allen Nationalgefühls sich nicht nur fremd bleiben, sondern sogar, wie überall, sich uneinig und neidisch untereinander selbst benehmen. Eifrig waren die dortigen Herausgeber deutscher Zeitschriften bemüht, unter ihren Landsleuten ein gleiches segenbringendes Nationalgefühl zu erwecken, sie unter sich zu einer kräftigen und stolzen Nation, worauf sie durch ihren Fleiß, rastlose Thätigkeit und Mäßigkeit wohl Anspruch machen können, zu vereinigen und zu gegenseitigen Associationen aufzumuntern, – allein auch diese Bestrebungen waren vergebens. Sieht auch jeder einzelne Deutsche alle diese Uebelstände, die ihn und seine übrigen Landsleute dem Engländer hintenan stellen, wohl ein, so hat er doch eben in Ermangelung eines nationalen Charakters und Stolzes weder die Lust noch den Willen sich persönlich mit Energie einem dem Interesse Aller so sehr zuwiderlaufenden Uebelstande entgegen zu treten und abzuhelfen. Jeder arbeitet dort im Interesse seines eigenen Herdes und meint, sei es doch genug, wenn er sich wohl befinde und Vermögen erwerbe, wozu noch Dinge unternehmen, die außerhalb seiner persönlichen Vortheile und seines Wirkungskreises liegen würden.
Sind diese Mißverhältnisse unter einem großen Theile der dortigen deutschen Bevölkerung vorherrschend, so muß ich doch rühmend hervorheben, daß es auch eine ziemliche Anzahl Deutscher in Australien giebt, welche nicht nur an Intelligenz, Reichthum, öffentlicher Geltung u. s. w. selbst hervorragende englische Persönlichkeiten überflügeln, sondern auch in ihren Spekulationen gegenseitig sich ebenso treu unterstützen, wie es die Engländer thun, und mit Letzteren in innigem und großartigem Geschäftsverkehre stehen.
Trotzdem, daß alle oben erwähnten Uebelstände unter einem großen Theile der Deutschen bestehen und wesentlich hindernd auf ihr allseitiges finanzielles Gedeihen einwirken, so befindet sich doch der Einzelne wie die Gesammtmasse wohl. Und so lange Sparsamkeit und Fleiß (die zeitherigen großen Vorzüge und Tugenden der deutschen Colonisten vor den Engländern in Australien) ihn nicht verlassen, können nur außergewöhnliche Verhältnisse, wie z. B. eine langwierige Krankheit, im Stande sein, ein Zurückgehen des Einzelnen herbeizuführen. Denn in einem Lande, wie Australien, wo seit drei Jahren keine Stunde lang Mangel an Arbeit und Verdienst ist, wo Jeder, selbst der Steinklopfer, so gut bezahlt wird, daß er, bei kräftiger Fleischkost und einem Glase Bier oder Branntwein, täglich noch mehr wie einen Thaler als gespartes Vermögen zurücklegen kann, – in einem solchen Lande ist es ohne Verschwendung rein unmöglich zurückzugehen anstatt vorwärts zu kommen. Es besitzt dieser bis jetzt so glückliche Erdstrich weder factische Arme noch Bettler, da sogar halbe Krüppel, denen eine schwere Arbeit unmöglich ist, wie schon erwähnt, noch Chausseesteine klopfen und ohne zu darben, sich ein kleines Kapital für ihr Alter zurücklegen können.
Erwägt man außerdem, daß in Australien ein Jeder, ohne genirt oder minder als vorher geachtet zu sein, sich seinen Erwerb und seine Beschäftigung, die ihm gewinnbringend scheint, wählen kann, wie er will und in jedem Fache der Arbeit, sofern er fleißig ist, vom Publikum die nöthige Achtung genießt, daß ferner jede thätige Hand ein schätzbares Kapital ist und das Feld für ein riesiges Schaffen noch viele Jahrhunderte offen stehen wird, daß
[489] endlich jeder Arbeiter, jeder Professionist nach gelieferter Arbeit sogleich seinen Lohn empfängt, weder Abzüge noch Kredit, wie diese den Professionisten oft in Europa niederdrücken, üblich sind, so leuchten jene fast durchgehends günstigen Verhältnisse der Deutschen in Australien wohl ein. Auch befinden sich alle diejenigen unserer Landsleute, welche die trüben Perioden Australiens vor dem Jahre 1844 und vor 1851 dort durchgemacht haben, jetzt im Allgemeinen wohl und zufrieden, und ergiebige Aecker, Gärten, und Weinberge, schöne zahlreiche Viehheerden, gewinnbringende Gewerbs- und Handels-Geschäfte sind die Früchte ihrer damaligen Sparsamkeit, ihres Fleißes und ihrer Ausdauer. Die Meisten haben sich fast gänzlich von dem, was man Deutsch nennt, getrennt, sie reden die englische Sprache, sie beobachten englische Sitten und Gebräuche, sie haben durchgehends den, namentlich von den Engländern so sehr geehrten Sinn für Recht und Gesetz, sie lassen ihre Kinder in deutschen und englischen Schulen erziehen, nur Wenigen klebt der deutsche Philister mit seiner bisweiligen Engherzigkeit noch an, und die Sympathien für ihr verlassenes Vaterland sind im Ganzen sehr gering.
Wenn auch nicht mehr als unerreichbare Vorbilder, so staunen wir doch immer noch als riesenmäßige Werke der kleinen Menschenkinder die Pyramiden Aegyptens an, die ewigen Denkmale Pharaonischen Despotenthums. Und doch, was sind sie im Vergleich zu den Werken mancher kleinen Wesen, welche weder von einem despotischen Willen noch durch freie Verabredung dazu getrieben werden?
„Mit vereinter Kraft“ müßte zwar die Überschrift lauten, wenn man der Göttin des Aktienwesens auf Aktien Tempel bauen würde; aber in Fleisch und Blut ist dieser weltbewegende Grundsatz dem Volke doch noch nicht gedrungen; sonst würde manches dem Einzelnen und selbst Vereinen von Vielen Unerreichbare nicht mehr zu den frommen Wünschen zählen.
Die Natur, so verschiedentlich aufgefaßt, bald als allgemeiner großer Brotschrank – bald als Betstübchen, ist doch erst noch Wenigen ein Vorbild zu gemeinsamem Handeln. Es sei uns darum gestattet, die Natur einmal von dieser Seite unseren Lesern vorzuführen.
Wenn der hungrige Goldsucher von Californien nach dem noch goldreicheren Neuholland unter dem Glutstrahl der Aequatorsonne segelt, so geräth er etwa von dem 160. Längengrade an in ein wahres Meer kleiner Inseln. Auf der Landkarte steht hier über eine dichte Gruppe nicht viel über punktgroßer Inselchen hinweg der Name Polynesien, was „viele Inseln“ bedeutet. Der Seefahrer befindet sich hier mit seinem zerbrechlichen Fahrzeuge in einer gefährlichen Lage. Er befindet sich aber auch in einem an Wundern wie an verborgener Schönheit reichen Gebiete. Vom hohen Mastkorbe überschaut er oft mit Einem Blicke ein wahres Saatfeld kleiner Inseln. Flach wie auf dem Meere schwimmende Blätter sind sie mit einem weißen Kranze der schäumenden Brandungswellen gesäumt, vor deren Anstürmen sich die Kokospalme, die Herrscherin dieser wunderbaren Eilande, vom Rande der Inseln mehr nach dem Mittelpunkte zurückzieht, zwischen sich und dem Meere einen erstorbenen Küstensaum lassend.
Bei der Beschreibung dieser Inseln stimmen alle Reisende, welche offenen Herzens für die Natur sind, in Bewunderung überein. Der reisende Naturforscher findet in ihnen einen staunenerregenden Anlaß zum Nachdenken über ihren wunderbaren Ursprung. Die mächtigste Gewalt hat sich mit fast unsichtbar kleinen Wesen verbunden, um diese Inseln aufzubauen: der Vulkanismus und die Korallenpolypen. Als Dritter im Bunde gesellt sich zu ihnen das Meer, bereitwillig diese kleinen Theilchen seines unermeßlichen Gebietes aufgebend, indem es aus seinem Schooße Sand, Schaalthiere und die festen Ueberreste allerhand anderen Gethieres hinaufspült, um den neugeborenen Boden zu erhöhen. Dann führt es auch Saamen mancherlei Art herbei, um sie in dem jungfräulichen Boden Wurzel schlagen zu lassen, vor allem die nährende Kokosnuß und die steinharten Saamen anderer Palmen. Die Vögel, die rüstigen Wanderer, bleiben dann nicht lange aus und zuletzt kommt auch der Mensch mit seinem Gefolge von Hausthieren und nimmt das stille Eiland aus der Hand des Meeres in Besitz.
Das Meer ist ruhig und ladet uns zum Besuch einer dieser Inselchen ein. Je näher uns das schaukelnde Boot bringt, desto mehr glauben wir die schlanken Kokospalmen seien aus dem Meeresgrunde selbst herausgewachsen, denn die kräuselnde Brandung verdeckt mit ihrem schneeweißen Schaumstreifen das kaum fußhohe Land. Nach langer Fahrt um das schaumumgürtete Eiland sehen wir plötzlich eine Einfahrt sich öffnen. Die Insel ist blos ein kaum eine halbe Stunde breiter runder Landgürtel, der an einer Stelle offen ist. Wir rudern hinein und wie durch Zauberei befinden wir uns da in einer neuen Welt. Vor uns liegt der glatte Spiegel eines großen Landsees, dessen Ufer ringsum mit Palmen umsäumt ist. Heilige Stille umfängt uns; kein Wellchen kräuselt den krystallnen Spiegel, über den unser Boot lautlos dahin gleitet. Ein neues Wunder? Wir sehen um uns in seichter Tiefe einen tausendfarbigen Blumengarten den Meeresboden bedecken; denn das Meer trat ja mit uns in das Thor, und es ist kein Landsee, auf dem wir fahren. Doch wo ist der Blumenflor so plötzlich hin? Flohen die zarten Kinder dieses Thetisgartens vor dem eben recht laut auffallenden Ruderschlage unserer Bootsleute?
Es ist so. Denn die Blumen sind die Millionen Korallenpolypen, welche erschreckt in die kleinen Gemächer ihrer baumartigen Gebäude zurückfuhren.
Trunken von der wunderbaren Schönheit betreten wir das Land. Unser Fuß steht auch hier auf Korallen. Die heiße Sonne und die tropischen Regengüsse haben sie zerbröckelt und daraus einen von Thieren bereiteten Boden für die Pflanzen geschaffen. Da ist kein Stein und kein Fels; alle Steine des Bodens waren einstmals die Gehäuse von Thieren, deren Stoffe das Seewasser, aus dem sie stammten, längst wieder in sich aufgenommen hat.
Wir können nicht müde werden, diesen wundervollen Schauplatz der Thätigkeit so kleiner Thiere zu untersuchen. Die Lagune, so nennt man den scheinbaren Landsee, hat eine unbedeutende Tiefe, aber das äußere Ufer, welches nach dem Meere zu liegt, fällt schnell zu ungeheuerer Tiefe hinab. So ist denn die Insel mit ihrer Lagune die breite oben ausgehöhlte Kuppe eines hohen Berges, der von des Meeres tiefunterstem Grunde heraufragt und dessen flacher Gipfelumkreis eine Oeffnung hat, so daß er nun den geöffneten Landgürtel dieser sonderbaren Insel bildet? Genau so ist es.
Aber einst lag dieser Berggipfel, ohne Zweifel ein ehemaliger Vulkan, tief unter dem Meeresspiegel. Da siedelten sich auf ihm die kleinen wunderbaren Bauleute, die Korallenpolypen an. Sie fügten seiner Höhe allmälig und unabläßig etwas hinzu. Allein sie würden sicher aufgehört haben, als sie an dem Tiefpunkte angekommen waren, bis über welchen hinaus sie sich dem Meeresspiegel nicht nähern. Sie können ja eben nur im Meerwasser gedeihen. Wie also ist es gekommen, daß sich die Koralleninsel, die sie ist, über den Meeresspiegel erhoben hat? Der Berg, dessen Kuppe sie bildet, wurde von der Macht des Vulkanismus, welcher im Innersten der Erde thront, langsam und in einem Menschenalter wohl kaum bemerkbar, in die Höhe gehoben, wie es eben so mit der norwegischen Küste der Fall ist. Noch ehe sie den Meeresspiegel ganz erreicht hatte, spülten die sturmbewegten Wogen aus dem Meeresgrunde abgebrochene Korallenstücke, Schaalthiergehäuse und andere feste Körper darüber hin und halfen das Werk der vulkanischen Thätigkeit beschleunigen. So wird vielleicht einst auch die Lagune verschwinden, entweder aus ihrer Mündung in’s Meer auslaufen, oder allmälig austrocknen. Bei vielen dieser Koralleninseln, die man Atolls nennt, ist dies auch geschehen.
Viele dieser Atolls sind also durch Beseitigung der Lagunen zuletzt vollkommene Inseln geworden. Bei anderen dagegen ist der die Lagune umschließende Landgürtel in zahlreiche kleine Inseln aufgelöst, so daß statt Einer Insel ein Kranz kleiner Inseln [490] vorhanden ist, deren untermeerischer Zusammenhang sich aber durch die kreisförmige Anordnung zu erkennen giebt.
Weit von Polynesien gegen Westen gelegen findet sich ein ähnliches Inselmeer von beschränkterer Ausdehnung; es ist das Inselmeer der Maldiven, in welchem man auf einem Flächeraum von nicht viel über 6 Grad Durchmesser über 1200 solcher Koralleninseln oder Atolls zählt.
Wenn solche Koralleninseln durchaus das Werk der Polypen sind, welche sich auf den Kuppen untermeerischer Berge, die der Vulkanismus zuletzt über den Meeresspiegel emporschob, ansiedelten, so ist die Betheiligung dieser kleinen räthselhaften Wesen an der Vergrößerung der festen Erdoberfläche nicht hierauf beschränkt. Fast alle steil in das Meer abfallenden Küsten südlicher Breiten finden sich von Korallenriffen bedeckt, die man Strandriffe nennt, wenn sie unmittelbar auf der Küste aufsitzen, Kanalriffe dagegen, wenn zwischen ihnen und der Küste noch ein kanalartiger Meeresstreifen bleibt.
Diese wunderbaren Bauten sind nicht erst in der gegenwärtigen Epoche des Erdlebens entstanden. Viele Marmorarten sind nichts anderes als ehemalige Korallenbänke, und der Coralrag der Juraformation ist eine Korallenbank, welche sich weit über große Gebiete Mittel-Europa’s ausdehnte, als das ruhige Jurameer es noch bedeckte, aus welchem sich allmälig jene ungeheuern Felsschichten absetzten, welche den Jura und die schwäbische Alp zusammensetzen.
Die erfinderische Natur hat für ihre Phantasie in den Formen der Polypenstöcke, wie man die Korallen nennt, einen weiten Spielraum gehabt. Zwischen centnerschweren halbkugeligen Massen der Mäandrinen, die bis in das Innerste zierlich angeordneten Colonien von Millionen kleiner Wesen, bis zu dem zarten moosartigen Polypenstock der Moosthierchen (Bryozoen) findet sich eine lange Kette der verschiedensten Formen und der Grade der Ausprägung.
Bis 1725 galten die Korallenpolypen für räthselhafte Doppelwesen, nach Innen für Steine, nach Außen für Pflanzen; und als Peyssonnel der französischen Akademie der Wissenschaften einen Aufsatz über deren thierische Natur eingereicht hatte, so glaubte der Berichterstatter, der berühmte Réaumur, aus Schonung den Namen des Urhebers dieser so ganz und gar für verkehrt gehaltenen Ansicht verschweigen zu müssen. Erst als 1740 das berühmte Buch von Abr. Trembley über einige der wenigen Süßwasserpolypen erschien, gelangte Peyssonnel’s Entdeckung zu ihrer vollen Geltung und Anerkennung. Heute enthält ihre Naturgeschichte kaum noch eine dunkle Partie.
Vielleicht kommen wir ein ander Mal auf die so wunderbare und so bedeutungsvolle Lebensweise und Organisation dieser „kleinen Meister großer Werke“ zurück. Für heute fügen wir nur noch einige Worte über die beigegebene Abbildung hinzu.
Fig. 3–5 stellt die bekannte Edelkoralle, Corallium rubrum, dar, die in dem von Italien, der südfranzösischen, spanischen und algierischen Küste eingeschlossenen Theil des Mittelmeeres gefunden wird, um aus ihrem harten und vollkommen dichten, scharlachrothen Stocke Perlen und andere Schmucksachen zu drehen. Er ist ursprünglich mit einer weichen, korkartigen weißlichen Rinde bedeckt, – welche an der unteren Hälfte der Fig. 3 entfernt ist – in welcher die blumenähnlichen kleinen Polypen in kleinen Höhlen leben. Bei Fig. 5 sehen wir ein noch berindetes Stückchen vergrößert dargestellt mit zwei Polypen, von denen der Eine ausgestreckt, der Andere in seine Höhle zurückgezogen ist, so daß man unter der kleinen warzenartigen Erhöhung die zierliche Thierblume kaum vermuthet. Einen wesentlicheren Antheil an der Erbauung der Korallenriffe nimmt die artenreiche Gattung der Madreporen. Fig. 1 zeigt uns ein kleines Aestchen von Madrepora abrotanoides, und Fig. 2 einen ganz kleinen Theil desselben vergrößert mit den Polypen, welche nicht in einer Rinde, sondern in röhrenartigen Hervorragungen des ganz steinartigen Stockes leben.
Sehen Sie, das ist sie! Jene Frau dort, mit den dunklen großen Augen, mit dem bleichen trauernden Gesicht, so schlicht und natürlich, so viel Ernst und Ruhe im ganzen Wesen, das ist sie, die George Sand, die größte Schriftstellerin unserer Zeit, die sogenannte Emancipirte, vor der in Deutschland die zimperlichen Damen ein Kreuz schlagen. Von ihr will ich Ihnen erzählen!
Sie stammt aus königlichem Geblüte. Ihr Ahnherr ist August II. von Polen. Aus seiner Verbindung mit der reizenden Gräfin von Königsmark erwuchs der berühmte Moritz von Sachsen, einer der bedeutendsten Feldherren seiner Zeit, der französische Dienste nahm und im Jahre 1736 zum Lohn für seine Thaten gegen Deutschland den Marschallstab erhielt. Er verliebte sich in eine berühmte Schauspielerin jener Zeit, heirathete sie trotz aller Einwendungen seiner Familie sowohl als seiner Freunde und Beschützer, und diese gebar ihm eine Tochter, Maria Aurora, die sich um 1739 mit dem angesehenen schwedischen Grafen Arvid Bernhard von Horn verehelichte. Nach drei Jahren aber schon Wittwe, zog sie sich zu den Frauen des Abbaye-aux-Bois zurück, wo sie durch ihren ausgezeichneten Geist und ihre Anmuth einen kleinen Hof um sich bildete. Der Generalpächter, Herr Dupin, suchte ihre Gunst und gewann ihr Herz und ihre Hand. Ein Sohn, der aus dieser Ehe entsprossen, Maurice Dupin, der sich im Jahre 1793 als Freiwilliger anwerben ließ und unter dem Kaiserreich bis zum Grade eines Obersten stieg, war der Vater der berühmten Dichterin, die im Jahre 1805 zur Welt kam und ursprünglich Maria Amantina Aurora Dupin geheißen ward. Er starb an einem Sturz vom Pferde.
Sie wurde von ihrer Großmutter auf dem Schlosse Nohant, in einem der reizendsten Thäler von Berri gelegen, erzogen, und als diese starb, ward die kleine Aurora in das Kloster der „Engländerinnen“ in Paris gegeben, damit ihre Erziehung daselbst vollendet werde.
[491] In einem Alter von siebenzehn Jahren, ohne alle Erfahrung, ohne alle Kenntniß der Welt und des Lebens, ward sie mit dem ergrauten Landwirth, dem Baron von Dudevant, vermählt, dem sie 500,000 Franken als Mitgift zubrachte. Die unglückselige Ehe mit dem alten, wenig zarten, dem Landbau und der Viehzucht allein zugewendeten Baron gab der edlen Frau für ihr ganzes Leben Schmerz und Kampf, der vielleicht der Welt die große Dichterin, gewiß aber ihren Werken jenes Gepräge und jene Richtung gegeben, die so viel Mißdeutungen und Anfechtungen, freilich auch Bewunderung und Vergötterung gefunden. Da sie das Leben in der Nähe ihres Gatten nicht ertragen konnte, entfloh sie, ihm ihr Vermögen und ihre beiden Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, zurücklassend, und nichts weiter als eine tiefe, brennende Wunde mit sich nehmend. Sie ging nach Paris, bezog dort eine kleine Dachstube auf dem Quai St. Michel, und da sie keine Mittel hatte, ihr Leben zu fristen, versuchte sie anfangs durch Malen das Nothwendige zu gewinnen, und als dieses nicht gelang, vertauschte sie den Pinsel mit der Feder. Herr Latouche, der Redakteur des „Figaro“, druckte ihre ersten Artikel. Darauf schrieb sie gemeinschaftlich mit Jules Sandeau, ihrem intimsten Freunde in Paris einen Roman: Rose und Blanche oder die Schauspielerin und die Nonne. Auf die Empfehlung des Herrn Latouche zahlte ihnen ein alter Buchhändler 400 Franken für das Manuskript. „Indiana“ war der erste Roman der George Sand; er wurde mit 600 Franken von Herrn Roret honorirt und hatte einen außerordenlichen Erfolg. Um diese Zeit nahm George Sand Männerkleider, nicht im Entferntesten aus Emancipationsgelüsten, wie allgemein verbreitet ist, sondern um mit ihrem Freund Sandeau ungestört umherstreifen und wohlfeiler in’s Theater gehen zu können. Auf Indiana folgten andere Erzählungen, welche in Kurzem Weltberühmtheit erlangten.
George Sand kam in Mode, die Pariser, von der Neuheit der Erscheinung und von dem Glanze dieses künstlerischen Talentes angezogen, suchten die Dichterin huldigend auf und drängten sich um sie. Aber je größer die Erfolge von der einen, desto heftiger, desto unerbittlicher die Angriffe, die Verfolgungen von der andern Seite. Weil sie die geistigen and materiellen Conflicte in der Ehe, weil sie die Mißbräuche schilderte, welche mit dieser heiligen Einrichtung getrieben werden, weil sie die Entwürdigung derselben durch Beimischung gemeiner Elemente, die ihr ferne bleiben sollten, schilderte, und auf Läuterung derselben drang, warfen ihr die Tartüffes aller Länder, welche sich den Anschein sittlicher Entrüstung geben wollten, vor, daß sie auf Abschaffung der Ehe, auf Zerstörung der Familie hinarbeiten wolle. Sie hat am Besten durch die That diese fanatischen, unhaltbaren Anklagen widerlegt. Durch einen gewonnenen Prozeß gegen den Baron von Dudevant in den Besitz ihres Vermögens und ihrer Kinder gelangt, hat sie stets mit diesen und für diese gelebt. Sie hat ihre Tochter an einen achtbaren Mann verheirathet, der sie fort und fort alle möglichen Opfer bringt, und von der sie Undank als Bezahlung empfängt. Sie ist bemüht, ihren Sohn auf eine würdige Weise zu verehelichen, und welches Ziel sie bei diesem Streben vor Augen hat, mag ein Zug andeuten, der das ganze Wesen der Dichterin so wie die Feindseligkeiten gegen sie charakterisirt.
Sie hat eine Cousine, die Frau eines armen Schneiders, Namens Brault. Madame Adele Brault hat eine Tochter, in welcher die Dichterin eine anziehende Persönlichkeit liebgewann. Sie nahm das Mädchen zu sich auf ihr Schloß Nohant, um sie geistig und physisch zu pflegen. Gewiß ein menschenfreundliches Werk, das bessern Dank verdient hätte, als es gefunden.
Sie schrieb, nachdem sich das Mädchen einige Zeit bei ihr aufgehaltnn, diesen authentischen Brief an Madame Brault.
„Theuere Adele! Unser liebes Kind befindet sich außerordentlich wohl, und vergnügt sich wie ein Kind, das Ferien hat. Ich bin ihr dabei auf’s Beste behülflich. Wir jagen umher wie die Zigeuner. Ich bewirthe sie mit guter Luft, mit gesunder Kost und gutem Weine, kurz, ich glaube, daß sie sich’s gar nicht besser wünschen kann, als ihr der gegenwärtige Augenblick bietet, und ich möchte ihr diesen immer verlängern. Wie fange ich dieses an. Ich bin sehr in Verlegenheit. Wenn Moritz [2] nur etwas älter wäre, könnte ich hoffen, sie zu verheirathen, und dieses ist mein sehnlicher Wunsch. Sie hat Alles für sich: Schönheit, Güte, Jugend, Offenheit, Adel und Einfachheit des Gemüths. Ich weiß wohl, daß sie Moritz entzückend findet, und daß er sie zärtlich liebt. Allein er fühlt es wohl, daß diese Liebe für’s ganze Leben dauern oder unterdrückt werden müsse; und wenn er sich zu ihr hingezogen fühlt, geschieht es wie zu einer Schwester, so lange er sich nicht von einer ältern Leidenschaft in seinem jungen Herzen geheilt fühlt. Er sprach mit mir, er sagte mir, daß er nur für Ein Weib Liebe fühle, die ich kenne und die ihm nie gehören kann. Seine Liebe ist unglücklich, voll Entsagung und dazu alljährlich durch lange Trennung geschwächt. Ich halte sie keineswegs für unverwüstlich. Handelte es sich blos um flüchtige Liebe zu Augustinen, so bin ich gewiß, daß diese erfolgen würde. Ich habe ihm jedoch erklärt, was ich von ihm erwarte. Daß er sie nämlich heirathe, wenn er sie ernstlich liebt, daß er sich aber hüte, sie nur zur Hälfte zu lieben. Als ich diese Unterhaltung mit ihm hatte, war er eben aus Paris gekommen, und hatte das Herz noch voll von dem Bilde, das er kürzlich gesehen. Wie ich es erwartet, konnte ich mit seiner ehrenhaften Gesinnung zufrieden sein; allein er wies ängstlich den Gedanken an eine eheliche Verbindung zurück. Seit jener Zeit war er nicht mehr so traurig und gequält, als er jedes Jahr gewesen, wenn er sich von Frau * * * trennte. Er ist im Gegentheil von unbegränzter Lustigkeit und lacht mit Augustinen und seiner Schwester von Morgen bis Abend. Ich bemerke wohl, daß die alte Leidenschaft nicht allzu heftig ist, und daß er sie wird vergessen können.
„Das reicht jedoch nicht hin, meine Theuere, es ist der Entschluß erforderlich, in das ernste Leben zu treten, sich entschieden auszusprechen, um seinen Vater zu einer Einwilligung zu bewegen, die nicht ohne Schwierigkeit erzielt werden wird. Denn der Vater hängt am Gelde und würde eine Heirath aus Neigung tadeln. Es sind endlich Geschmack am Ehestande und der Vorsatz unbedingter Treue erforderlich, die man bei einem Manne von zweiundzwanzig Jahren kaum findet, es wäre denn im Falle übermäßiger Leidenschaft. Das sind wohl hinreichende Hindernisse, welche besiegt werden müssen. Doch sehe ich in alle Dem nichts Unüberwindliches, nichts Verzweifeltes. Moritz hat im Grunde einen geordneten friedlichen Charakter, er hat nicht im Mindesten Hang zu Prunk und Ausschweifung. Er hat nie eine Thorheit begangen und wird es wohl auch nicht; es wäre denn, daß er gänzlich umschlägt. Er liebt über Alles, die Familie und das Familienleben. Er hat für seine friedliche Häuslichkeit, eben so wie für seine Mutter eine ruhige, aber dauernde Anhänglichkeit. Wie ein wahres Weib liebt er Kinder. Er ist von glücklichem, gleichmäßigem, besonnenem und zugleich heiterm Naturell, welches ihn gewiß nicht zu stürmischen Liebschaften nach Außen treiben wird. Er ist nirgends glücklicher als zu Hause bei der Arbeit, bei zurückgezogener, regelmäßiger Beschäftigung. Dieses glückliche Temperament läßt vorhersagen, daß er in Augustinen Alles, was er an Sanftmuth, Heiterkeit und Einfachheit wünschen kann, finden muß. Ich sehe klar, ich beobachte und erkenne, daß sie das Weib ist, welches ihm in jeder Hinsicht entspricht, weil sie mäßig und bescheiden erzogen, für stilles Glück nicht abgestumpft ist, und keine Laune haben wird.Dieses vertrauliche Schreiben an eine Verwandte, dem man es wegen der Nachlässigkeit des Styls sowohl, als wegen des bürgerlichen alltäglichen Tones auf den ersten Blick ansieht, daß bei dessen Abfassung nicht an die Oeffentlichkeit gedacht wurde, beweist besser als jeder Anwalt, als jede Zeugenschaft, mit welcher frommen Scheu und Ehrfurcht George Sand die Ehe, die Familie betrachtet. Der Schneider Brault bildete dennoch aus diesen schönen ehrwürdigen Gedanken der Dichterin eine Anklage gegen sie. Der gute Kleiderkünstler begriff all die Bedenklichkeiten der verschrienen Frau nicht nur, er deutete die ungewöhnliche Anschauungsweise zum Schlimmen.
„Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen!“ sagt unser Schiller. Nie hat sich diese traurige Wahrheit mehr bestätigt, als an der französischen Dichterin.
George Sand hat sich vor Jahren aus der pariser Verwirrung, von der ihre kräftige Natur unbeschädigt geblieben, auf ihr Schloß Nohant in eine Art von Einsamkeit zurückgezogen, wo sie der Familie, der Kunst, den Freunden, den Hülfsbedürftigen auf Meilen in der Runde lebt. Von ihrer Gastfreundschaft kann man sich kaum einen Begriff machen. Jeder der nach Nohant kommt, ist an ihren Tisch geladen. Ihre Wohlthätigkeit ist ohne Grenzen. Die Unglücklichen von Berri wissen davon zu erzählen. Sie [492] pflegt der Kranken, sie verbindet Wunden mit eigener Hand und läßt sich von dem Ekel nicht abhalten, der viele Andere zurückstoßen würde.
Sie hat 43,000 Franken Renten und gewinnt beträchtliche Summen mit der Feder. Ihre Memoiren, deren Veröffentlichung in der Presse bevorsteht, wurden ihr für 130,000 Franken abgekauft, dennoch las ich in einem Brief an eine Freundin: „Ich möchte gerne nach Paris kommen, wo ich Mancherlei zu ordnen hätte, allein ich habe keinen Sous.“ Und sie lebt sehr einfach, ohne allen Prunk, fast bürgerlich.
Wenn sie ausgeht und nach ihrer Gewohnheit umherstreift, erheitern sich die Gesichter der Leute, die ihr begegnen, fast Jeder hat ihr etwazu verdanken. „Die Blinden kennen ihren Schritt.“ Greise and Kinder lächeln ihr entgegen.
Sie liebt enge trauliche Kreise und ist, wenn sie nach Paris kommt, nicht zu bewegen, glänzende Gesellschaften zu besuchen. Ein Grund hiervon ist auch der, daß sie sich nicht entschließen will, einige Stunden das Rauchen zu entbehren, das ihr noch vom Quai St. Michel her ein Bedürfniß geworden. Sie trägt immer in einer Tasche Tabak bei sich, aus dem sie sich selbst Cigarretten fertigt. Sie raucht den ganzen Tag mit wenig Unterbrechung. Sie ist nun 49 Jahr alt und hat in der letzten Zeit an Beleibtheit zugenommen. Sie ist aber noch immer eine anziehende stattliche Erscheinung. Auf ihrem edeln Angesichte ist es zu lesen, daß viele Stürme über dieses Weib dahingebraust, daß sie aber nicht vermocht, diese männliche Seele zu erschüttern. Sie ist evangelisch gut und fromm geblieben, trotz der Bitterkeiten, die ihr Leben und Schicksal reichlich kredenzt. Ihre Züge verrathen Festigkeit des Willens und Kraft. In ihrem dunkeln Auge lodern Begeisterung und Leidenschaft und spiegelt sich zugleich die Milde ab. Sie spricht wenig und meist nur von ernsten, wichtigen Dingen. Das Plaudern der Franzosen, bis zur Kunst ausgebildet, ist nicht ihre Sache. Doch hört sie wohlwollend dergleichen Gesprächen zu und freut sich an den Uebungen des Witzes; sie lächelt duldsam über jeden Bonmot. Wenn aber höhere menschliche Interessen, Kunst, Wissenschaft und Politik zur Sprache kommen, dann spricht sie mit und da geschieht es bisweilen, daß ihre Lippen von Beredtsamkeit überströmen. Aus ihrem Auge leuchtet dann der Fanatismus der Wahrheit. In ihrem Benehmen ist sie schlicht und wirklich bescheiden, von ungekünstelter Natürlichkeit zum Unterschied von den meisten pariser Berühmtheiten, die nichts ohne Absicht thun oder unterlassen, von jedem Wort, von jeder Bewegung wie Schauspieler im Voraus den Effekt berechnen. Ihre Kleidung ist geschmackvoll, meist dunkel, von anmuthiger Nachlässigkeit. Daran erkennt man sogleich die Frau von guter Gesellschaft und Bildung, der die Form viel, aber nicht Alles gilt.
In dem Schlosse Nohant herrscht ein schönes, heiteres, thätiges Leben, man findet da viel Vergnügen und viel geistige Anregung. Zahlreiche Gäste gehen ein und aus, Fremde und Einheimische. Man trifft öfters unbemittelte Bauern neben eleganten Parisern an dem Tische der Dichterin sitzen. Eine seltsame Mischung, der es nicht an Eigenthümlichkeit fehlt. Der Ton ist ungezwungen, doch fein und im höchsten Grade geziemend. George Sand wirkt bildend und erhebend auf ihre Umgebung und man möchte auf sie die herrlichen Verse Goethe’s anwenden:
„Weit hinter ihr im wesenlosen Scheine
Liegt, was uns alle bändigt: das Gemeine.“
Ein größerer Saal des Schlosses ist in ein Theater umgewandelt, wo die Stücke der Dichterin, bevor sie vor dem Lampenlicht zu Paris erscheinen, von den Hausfreunden aufgeführt werden, und in welchen die Dichterin selbst häufig mitspielt. Bei diesen Vorstellungen, wenn sie öffentlich, was meist am Sonntag der Fall ist, bilden die Landleute, freilich auch die Honoratioren der Umgegend, die Zuschauer. Auf diese Weise ist für Unterhaltung und Belehrung gesorgt. Die Dichterin hat Gelegenheit die Bühnenpraxis zu studiren, mit der sie sich trotz ihrer außerordentlichen Begabung noch immer nicht ganz zurecht finden kann. „François de Champis“ und „Claudie“ sind bis jetzt unter den vielen ihre einzig gelungenen Theaterstücke.
George Sand ist von anhaltender Thätigkeit; sie arbeitet ununterbrochen und gönnt sich nur wenig Erholung. Sie schläft höchstens 5 bis 6 Stunden. Um 11 Uhr morgens versammelt der Ton einer Glocke alle Bewohner des Schlosses zum Frühstück. Die Schloßfrau erscheint meist erst, wenn das Mahl zur Hälfte eingenommen ist. Während ihrer Abwesenheit macht ihr Sohn den Gästen die Honneurs. Sie reicht Jedem, wenn sie in den Speisesaal kommt, die Hand und küßt mit mütterlicher Zärtlichkeit ihren Sohn. Die Tafel bietet Ueberfluß, die Küche ist vorzüglich. Nach dem Frühstück lustwandelt Madame Sand gewöhnlich am Arme Einer ihrer Gäste im Park umher, eine besondere Vorliebe hegt sie für ein kleines Gehölz, das auf eine weitausgedehnte Wiese führt. Bei dieser Gelegenheit pflegt sie über Botanik, ihrer Lieblingswissenschaft, abzuhandeln. Durch die besondere Weise, wie sie die Pflanzenwelt auffaßt und darstellt, gewährt sie den Zuhörern stets Vergnügen. Nachdem sie sich eine halbe Stunde diese Erholung gegönnt, kehrt sie zu ihrer Arbeit zurück und überläßt es jedem sich nach Belieben zu beschäftigen. Die wohlversehene Bibliothek steht Jedem zur Verfügung. Um 6 Uhr Abends wird das Mittagsmahl eingenommen. Alles erscheint, wie die Hausfrau selbst sorgfältiger gekleidet, ohne daß man deshalb minder ungezwungen und frei sich bewegte. Es giebt keine andere Begrenzung der Freiheit für Jeden, als die Schicklichkeit. Weiß man doch wie schonend, duldsam und nachsichtig, wie hoch über nichtige Förmlichkeiten erhaben die Gebieterin des Schlosses, wie verhaßt ihr jede Tyrannei im Kleinen wie im Großen sei. Nach dem Mittagessen wird wieder ein Spaziergang in das Gehölz gemacht, man erzählt, man singt, man stellt allerlei anmuthige Leibesübungen an. Ist das Wetter ungünstig, so versammelt sich die Gesellschaft zu munterem Verkehr im Salon. Und Frau Sand, die ehemalige Freundin und Schülerin Lißt’s und Chopin’s improvisirt entweder auf dem Clavier oder spielt Stücke von Mozart, ihrem Lieblingscompositeur. Bisweilen legt sie die neuesten Produkte ihrer Feder vor, was stets mit Dank und Freude hingenommen wird. Man kann sich kaum einen Begriff von den zarten Berührungen der Leute unter einander im Schlosse Nohant machen. Jedes Wort, jeder Zug dieses Kreises zeigt von Bildung und Takt. Richtiges Gefühl und feiner Anstand herrschte immer vor. Man merkt es, daß hier ein großer edler Geist seinen Einfluß übt. So waltet George Sand in ihrem Hause.
George Sand hält unendlich viel auf ihre Freunde und hängt unlösbar fest an ihnen. Sie giebt Keinen auf. Man weiß, daß die Dichterin auch Opfer zu bringen vermag, wenn es die Freundschaft erheischt.
Als Herr Miot, vom Berge, Einer in der gesetzgebenden Versammlung, im Jahre 1851 nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember auf der Liste der zu Deportirenden erschien, gerieth George Sand außer sich vor Schmerz, denn Herr Miot zählte zu ihren Freunden. Sie wollte, sie mußte ihn retten. Sie war ehemals, da er unglücklich und hoffnungslos zu Boulogne verhaftet gewesen, mit Louis Napoleon, dem jetzigen Kaiser der Franzosen, befreundet. Theils durch sein traurig Schicksal, theils durch die von ihm öffentlich bekannten Grundsätze gewonnen, hatte sie ihn öfters in seinem traurigen Aufenthalt besucht, um ihn zu trösten. Zwischen dem glücklichen Präsidenten und der Dichterin hatte sich eine Kluft geöffnet, welche durch die Ereignisse des Dezember bis zur Unendlichkeit erweitert wurde. Aber George Sand trug kein Bedenken diese Kluft zu überspringen, da es sich um Leben und Tod für ihren Freund handelte. Sie schrieb von Nohant an den damaligen Präsidenten, Louis Napoleon, und bat um eine Audienz. Allein der Präsidentenstuhl, der bereits die Formen eines Thrones anzunehmen begann, war von einer siegreichen und doch ängstlichen Partei, wie von einer Mauer umstellt, durch die der Brief der entfernten Dichterin nicht zu dringen vermochte. Sie erhielt keine Antwort und eilte nach Paris, um ihrem Schreiben und sich selbst einen Weg zu dem Herrn über das Schicksal Frankreichs und ihres Freundes zu bahnen. Durch ihre Verbindungen gelang es ihr. Louis Napoleon empfing die ehemalige Freundin mit aller Rücksicht und Zuvorkommenheit, die ihrem Geschlechte und ihrem Talente gebühren. Und kaum hatte sie die Bitte ausgesprochen, als er in ihrer Gegenwart den Gnadenakt für den Gerichteten ausfertigte, ihr vorlas und an das Ministerium des Innern zur schleunigen Ausführung sandte.
Auch diesem Schritt der Güte und Menschenfreundlichkeit sollte es an Anfechtungen, diesmal nicht von den Feinden, sondern von den Freunden der Dichterin, nicht fehlen. Man machte ihr zum Vorwurf, daß sie einen Menschen höher achte, als ihr Prinzip. Als man ihr diese Anklage mittheilte, gab sie zur Antwort: Mir ist der Mensch oberstes Prinzip.