Die Gartenlaube (1854)/Heft 26
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No. 26. | 1854. |
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(Schluß.)
„Redet!“ befahl der Freiherr dem Kreuzwirth. – Dieser begann: „Es wird wohl kein Hehl nöthig sein, Alles zu sagen. – Es ist ja bekannt in der ganzen Umgegend und wohl darüber hinaus, daß ich eine Tochter hatte – Rosi – das schönste Mädchen – und was für ein traurig Ende es mit ihr nahm. Bevor es so weit kam – redete ich auch mit Euch, gnädiger Herr – aber Ihr sagtet damals: das wär’ Vaters Sache, der müßt’ aufpassen über die Kinder. – Ja, du lieber Himmel, in der Liebe aufpassen, das kriegen keine Aeltern fertig. – Dann sagtet Ihr mir auch, der Bauer erreiche das Ohr des Königs nicht. – Ich sah das wohl ein. – Aber der Junker hatte meiner Rosi die Ehe versprochen – ich war in meinem Recht – und doch hätt’ ich’s vielleicht in Berlin versucht – aber Gott sprach dazwischen – meine Rosi legte sich hin und kam zum Sterben. – An ihrem Bette da wachte ich – und dort des Claus Schilder’s Katharina. Sie war die Freundin meiner Tochter. – Man brachte Rosi auf den Kirchhof – da war aber das Kind – das kleine Wesen, das nicht umkommen durfte. – Ich konnt’ es nicht warten und hegen, hatte auch einen Haß gegen das kleine Geschöpf – fehlte doch die Mutter, die ich gar sehr geliebt. – Wohin damit? Ich sprach mit Katharina, die in Allem verschwiegen ist. – Wir riethen hin und her, endlich wurde beschlossen, das Kind einem Weibe zu übergeben, fünf Meilen von hier, das ich kannte – und dem die Sache auch willkommen war – arm, wie das Weib ist, konnte demselben die Sache nützen – ich setzte für das Kind etwas Gewisses für den Monat aus. – Später, da ging es aber mit meinem Ausschank schlecht. – Die Bauern zogen in andere Dörfer. – Mit meinem Sinne stand es auch gar übel – denn ich konnte Rosi nicht vergessen, die mir stets an die Hand gegangen war und die mir aller Orten fehlte. – Ich bin alt, gnädiger Herr – und da sehnt man sich gar sehr nach seinen Kindern. – Wie gesagt, die Geschichte ging mir im Kopf herum, mehr und mehr. – Zudem kam noch, daß letzten Sommer meine Felder durch Hagelschlag furchtbar gelitten hatten – die größte Noth kehrte bei mir ein – ich wußte gar nicht mehr, wo was zum Leben hernehmen – Haus und Hof waren verschuldet – das Weib vom Dorfe drüben jammerte auch für das Kind. – Mir ging es immer wie ein Messer durch’s Herz und mein Sinn wurde gar rachsüchtig gegen den Junker. –
„Wir trafen uns mehrmals, der Herr Junker und ich. Es drängte mich dann immer, mit ihm zu reden und ihm das Elend vorzuhalten, das über mich durch seine Schuld gekommen war. Denn er war daran Schuld, gewiß und wahrhaftig – die Bauern meinten, ich sei hoffärtig gewesen und habe es mit Fleiß mit dem Junker getrieben und gestattet, daß er mit Rosi verkehre. – Sie nannten mich keinen ehrlichen Kerl und blieben aus meiner Schenke. – Eines Tages nun, da hatte ich keine Ruhe im Haus – das Weib hatte mir wieder Nachricht gegeben von ihrer Noth – mein Haß stieg und stieg, daß ich manchmal gar sehr vor mir selbst fürchtete. – Eines Tags, ja, da lief ich von Haus und fort durch den Wald – Es war ein gewaltiges Unwetter im Anzuge, aber mich kümmerte das nicht. – Ich warf mich unter einen Baum, auf dem Wiesfleck, wo die Buchen und Eichen stehen. Nicht lange, da sah ich den Junker daherkommen, das Gewehr auf der Schulter, den Hund hinterher. – Heiß lief es mir über den Rücken. Ich stand auf und trat ihm, die Mütze in der Hand, entgegen.– „Guten Tag, Herr Junker!“ sprach ich. – „Guten Tag!“ – „Herr Junker, ich hätt’ Euch was zu sagen!“ – „Nun, so sprecht, aber rasch! Es wird gleich losgießen vom Himmel, ich will nach Hause!“ – Ich hielt dem Junker nun meine Noth vor und bat, daß er etwas thun sollte. – „Seid Ihr verrückt, Kreuzwirth!“ fuhr er mich an. „Mein Vater hält mich so knapp, daß ich kaum Pulver genug für die Jagd auftreiben kann, ich kann Euch nichts geben.“ –
Ich trat ihm in den Weg: „Aber Ihr seid verpflichtet, was zu thun!“ – „Verpflichtet, ich? Ihr habt wahrhaftig Zeit in’s Tollhaus, grauer Betrüger! Ist es ausgemacht, daß ich der Vater zu Rosi’s Kinde bin? Die Dirnen hier zu Land laufen von Einem zum Andern.“ – Das Blut schoß mir zu Kopfe, ich faßte den Junker beim Rockzipfel, hielt ihn zurück und sagte: „Herr Junker, meine Tochter ruht im Grabe, sie kann sich nur vor Gott vertheidigen, aber ich lasse sie nicht beschimpfen, von Niemand, am allerwenigsten von dem Schurken, der sie in das Grab gebracht!“ –
Der Junker schlug mich – Herr, ich hatte noch nie einen Schlag bekommen. Die Verzweiflung und die Wuth gaben mir Riesenkräfte – ich riß dem Junker das Gewehr von der Schulter, trat mehrere Schritte zurück – er liegt von der Kugel getroffen zu Boden. – Der Hund, der sich bis dahin ruhig verhalten, sprang jetzt wüthend auf mich zu und an meinen Hals – das Entsetzen über das Geschehene lähmte mich so, daß ich mich hätte ruhig erwürgen lassen. – In diesem Augenblicke kam Claus Schilder den Weg, er sah meine Gefahr und riß mit eiserner Faust den Hund von meiner Brust. Die Bestie wandte sich nun gegen ihn – Claus erschlug ihn mit einem starken Ast, den er in der Hand hielt. – Jetzt erst sah er den Junker am Boden [298] liegen. – Ich erzählte ihm Alles, wie es zugegangen. Er sagte nichts als: „Armer Mann!“ – Dann schwur er mir, von der Sache zu schweigen, und das that er aus freien Stücken. – Wie nun eine Weile vergangen war und ich fortgehen wollte, da sagte er: „Den Junker wollen wir aber doch hier nicht liegen lassen: ihm ist noch zu helfen, wir wollen ihn an den Weg tragen, wo mehr Leute vorübergehen.“ – Das geschah denn auch, und wir trennten uns. – Jetzt fiel mir ein, daß wir das Gewehr nicht aufgehoben, ich hole es und will es dem Junker an die Seite legen, wie ich aber zurückkomme, sehe ich schon zwei Waldhüter, die den Getroffenen auf Tannenäste legen und forttragen. – Ich verbarg mich und wartete – das Unwetter war inzwischen ausgebrochen, aber ich wagte doch nicht, hervorzutreten, bis es nicht Nacht geworden war. Das Gewehr wollt’ ich nicht im Hause haben, ich trug es in die Klosterruine.“ – Der schwarze Kreuzwirth hatte geendet. Der Eindruck war auf die Anwesenden ein verschiedener. Claus Schilder blieb ruhig und war nur besorgt für den weitern Verlauf; Katharina aber war voller Freude, ihr Auge leuchtete und blickte nach dem Vater, als wollte sie sagen: „Ich wusste ja, daß Du unschuldig und der bravste Mann bist!“ – Der alte Freiherr durchmaß mit großen Schritten das Gemach und sprach vor sich hin: „So rächt sich die Affenliebe der Aeltern, wenn man die Söhne verwildern läßt und allzu nachsichtig ist. Es ist keine Erziehung, wenn sie nicht streng überwacht wird, wenn man nicht offene Augen für die aufkeimenden Fehler und bösen Neigungen behält.“ – Dann trat er auf Casimir zu und fragte mit kaltem Ernst: „Ist es so, wie der Kreuzwirth ausgesagt?“ – „Ja!“ erwiederte der Junker, von dem Gewicht des Augenblicks niedergeschmettert. – „So geh’ hin zu dem alten Manne, dem Du die Tochter entehrt, nimm seine Hand und bitt’ ihn um Vergebung!“
Mit scheuem Blick forschte Casimir in dem Antlitz seines Vaters, sein Trotz war gebrochen, er dachte nur an eine Milderung des harten Looses, das ihm vorher verkündet worden war. Es war eine Demüthigung, die er nicht glaubte ertragen zu können, sollte er wirklich in der ausgesprochenen Weise Soldat werden müssen. – Das Gesicht des Freiherrn drückte einen eisernen Beschluß aus; langsam trat Casimir zu dem Kreuzwirth, nahm seine Hand und stammelte einige Worte. – „Laut und deutlich!“ klang die Stimme seines Vaters herüber.
„Kreuzwirth, könnt Ihr mir vergeben?“ – Er schlug den Blick nicht auf; er vermochte es nicht.
„Wenn’s Gott vermag, Junker, ich vergebe Euch!“ –
„Nun zu den andern Beiden!“ herrschte der Vater.
Der Junker trat zu Katharina und dem alten Claus: „Ich that Euch Unrecht, vergebt es mir!“ sprach er nach dem Befehle seines Vaters.
Katharina antwortete nicht; der alte Claus schüttelte ihm die Hand und sagte: „Junker, aus vollem Herzen möcht’ ich, daß dieser schwere Augenblick nicht aus Euerem Gedächtniß kommen möge. Denkt an Gott und Eueren Vater, Ihr seid jung, Eure Zukunft kann noch eine gute werden!“ –
„So sei es!“ sprach der alte Freiherr, indem er dazwischen trat. „Claus und Ihr, Kreuzwirth, ich bitte Euch im Namen meines Sohnes, die Sache fallen zu lassen. Mein Stamm ist morsch, Casimir mein Einziger, es wäre mein Tod, wenn ich die öffentliche Schande auf meinem Hause sähe. Seid Ihr zufrieden, so, wie es geschehen und mit meinem Wort: daß Ihr ehrenhaft gehandelt, ehrenhafter, wie ich und mein Sohn?“ –
„Wir sind es zufrieden“, sagten die beiden Männer, und Claus fügte noch hinzu: „Beschämt uns nicht weiter, Herr Freiherr. Wir erhalten mehr, als wir erwarteten; wir hielten Euch für übermüthig gegen die Niedrigen, Ihr seid aber gerecht.“
„Wenn eine harte Erfahrung es lehrt“, entgegnete der Freiherr bestimmt. „Es wäre besser, wenn es deren nicht bedurft und ich nicht vorurtheilsvoll mein Ohr nur mehr für meinen Sohn offen gehalten hätte. – Bei meinem Ausspruche bleibt es; Casimir geht diese Stunde nach Berlin. Gott bessere Dich, dann findest Du auch das Vaterherz wieder. Dir, Claus, schenke ich das Haus am Strande und wenn daran was fehlt, ich will es ausbessern, oder wenn’s Noth thut, ganz neu aufbauen lassen. Ich werde selbst nachsehen! Was mach’ ich aber mit Dir, Kreuzwirth? Deine Rosi kann ich Dir nicht wiedergeben. Kann es Dich erfreuen, so ist fortan das Ausschanks-Gerechtsame Dein Eigenthum, Du hast an die Gutsherrschaft nichts mehr zu entrichten. Vielleicht hast Du Verwandte, denen es zu Gute kommt. Haus und Hof mach’ ich Dir schuldenfrei.“
„So, Herr“, antwortete der Kreuzwirth, „mag’s dem Kinde Rosi’s verschrieben werden; mit mir geht es bald zu Ende.“
Der Freiherr gab seine volle Zustimmung, drückte Jedem die Hand und entließ sie mit der Bitte: über Alles zu schweigen. Sie versprachen es ihm gewissenhaft.
Viele Tage waren nach dieser Begebenheit verstrichen. Der Winter war gekommen, und diesmal mit unerbittlicher Strenge. Der Wald stand verödet, große Massen Schnee bedeckte die Erde und die Zweige der Tannen, die regungslos, im Frost erstarrt zu sein schienen. Am Strande des Meeres bildete sich eine harte Eiskruste und mit jedem Tage wuchs und dehnte sie sich weiter aus.
Im Hause des alten Claus war eine Veränderung vorgegangen; Alles sah reinlicher und wohlhabender aus. Eines Tages war der Freiherr seinem Versprechen gemäß vom Schloß herabgekommen und da ihn die Armuth des wackeren Veteranen fast entsetzte, so mußte, so weit in der vorgerückten Jahreszeit thunlich, schnell Vieles ausgebessert und das Hausgeräth vermehrt und ersetzt werden. Im Frühjahr sollte ein ganz neues Haus hier aufgebaut werden; inzwischen waren die papiernen Fensterscheiben wirklichen von Glas gewichen, der Boden war neu gedielt, die rohen Tische und Stühle durch recht schöne ersetzt. –
Aber der Friede wohnte in dem Hause nicht. – Zwar hatte eine vollständige Versöhnung zwischen Vater und Tochter stattgefunden, aber es entging dem Erstern nicht, daß Katharina immer stiller und stiller wurde, daß ihr etwas schwer auf dem Herzen lastete. Er traf sie oft, wie sie in einem Winkel des Zimmers saß und bitterlich weinte. Sie nahm auch ersichtlich ab; ihre Züge fielen ein, das Auge verlor an Glanz. Er sagte nichts, denn er wußte wohl, daß er ihr nicht helfen könnte, aber recht betrübt wurde er, und die Pfeife, seine liebste Erholung, wollte ihm gar nicht munden. Er dachte auch wohl hin und wieder an den Maler, und es war ihm, als könne es nicht so bleiben, als dürfe er aus Gram und Kummer sein Liebstes auf der Welt, wenn sie auch gar sehr gefehlt, nicht verlieren; als müßte Rudolf eines Tages in’s Zimmer treten und ihm zum Willkomm’ die Hand entgegenstrecken. – Aber Tag um Tag verstrich und der Maler kam nicht, auch kam nicht die leiseste Botschaft von ihm herüber. – In seiner Betrübniß ging dann wohl auch der alte Graukopf auf’s Schloß zu dem Freiherrn, der ihn jetzt immer freundlich empfing, ihm sogar ein Glas Wein vorsetzte, aber da hörte er auch nichts von Rudolf, obwohl der Sohn des Freiherrn aus der Residenz manchmal einen Brief an den Vater schickte, wie dieser es befohlen. –
So kam das Frühjahr heran. Die Singvögel kamen wieder, sie schmetterten und flogen lustig im Walde herum, der nun auch wieder sich in allen Zweigen schüttelte und neuen Schmuck begehrte; das Meer zerbrach knirschend das Eis, hob sich gewaltig und sang in tönenden Accorden sein brausendes Frühlingslied. Gras und Blumen sprangen vorwitzig aus der Erde; sie konnten die Zeit nicht erwarten und vergaßen ganz, daß noch mancher Sturm vernichtend lauere – der Himmel klärte sich auf, die schwarzen Wolken verschwanden mehr und mehr, die Sonne lachte warm und wärmer herab – überall Leben, heiteres, buntes Frühlingsleben.
Der alte Claus meinte nun, das wunderliche Ding, der Frühling, müsse nun auch das Leid seines Kindes lindern und ihm helfen, da er doch der ganzen Natur auf die Beine hälfe, aber davon war keine Spur an Katharina zu merken, sie wurde im Gegentheil von Tag zu Tag blässer und blässer. –
Eines Sonntags kam sie von der Kirche im Dorfe zurück; der Vater war eines Fußübels wegen daheim geblieben. Sie sah gar sittig und nachdenkend vor sich hin, aber kein Mensch hätte in ihr das blühendste Mädchen zehn Meilen in der Runde wieder erkannt, so sehr hatte sie sich in einem Winter verändert. –
„Vater“, sprach sie zu dem alten Claus, der bei ihrem Anblick kaum die Thränen unterdrücken konnte und betrübt die Pfeife bei Seite legte. „Vater, ich muß fort von hier, und das heute noch. Sieh, ich war in der Kirche; der Pfarrer hat gar schön gepredigt. Ich horchte ihm mäuschenstill. Da war denn auch recht eindringlich die Red’ davon, so man Einem Unrecht gethan, soll man es ihm abbitten; das sei christlich, und wer das versäume, habe im Tode eine bittere Stunde mehr zu fürchten. – Nun, [299] Vater, kann ich Dir wohl sagen, daß es mir schon lange, lange im Kopf herumgeht, daß ich gefehlt hab’ gegen den Rudolf. Es läßt mir Tag und Nacht keine Ruh’, ich möchte sterben vor Sehnen nach ihm. Er hat mich so treu geliebt, er wird mich nicht mehr schelten, wenn ich ihm jetzt sag’, wie ich gegen ihn gefehlt, und wenn er auch eine Andere im Herzen hat. Vater, bei dem Gedanken reißt mir das Herz – so werd’ ich doch zufrieden sein, wenn ich ihm Alles sag’, was mich so ängstlich quält. Ich lieb’ ihn unsäglich, ich kann’s gar nicht aussprechen wie sehr, und jetzt mehr denn damals, wo ich ihn so kränkte. Scheltet mich, Vater, ich weiß es wohl, ich bin eine schlechte Tochter, aber laßt mich ziehen auf acht Tag’; dann komm’ ich wieder – ich muß den Rudolf sehen!“
Es war das erste Mal, daß sie von Rudolf sprach, daß sie den Grund ihres tiefen Kummers enthüllte. Der alte Soldat weinte, aber er schämte sich dieser Thränen nicht, zog sein Kind an die Brust, legte die Hände auf ihr Haupt und sagte: „Ich will acht Tage warten, geh’ zu Rudolf. Es ist keine Schande, daß Du es thust, und vielleicht wird es noch zum Guten enden. So kann’s nicht länger dauern, Du stirbst mir noch vor Herzeleid unter den Händen.“
Katharina, sonst still und schweigsam, wußte sich vor Freude gar nicht zu fassen; ihr Gesicht glänzte, sie drückte den Vater wieder und wieder an ihre Brust und verschwendete so viele Zärtlichkeiten an den grauen Schnurrbart, daß es diesem fast zu arg wurde. Mit Gewalt schob er sie zurück und sagte: „Nun rasch zu den Vorbereitungen. Du mußt bis Stargard ein Wägelchen miethen, dann fährst Du mit der Eisenbahn; ein neues Ding, was ich auch noch nicht kenne, das Dich aber in zehn Minuten nach Paris und Berlin bringt. Komm, wir wollen einmal nachsehen, was in der Truhe ist.“ –
„In zehn Minuten?“ – Katharina glaubte dem Vater auf’s Wort, war es doch für ihre Sehnsucht schon noch viel zu lange. Schnell packte sie einige Kleidungsstücke zusammen, während der Vater in der Truhe nachsah, ein Beutelchen daraus hervorholte, ein Geschenk des alten Freiherrn für die Tage der Noth, und langsam und prüfend zehn blanke Thaler hinzählte. –
„So“, sprach er, „hier hast Du für acht Tage zehn Thaler, Du kannst nun wie eine Fürstin leben, aber mach’ mir keine Geschichten und bleib’ etwa einen Monat aus. Denke nicht wie die liederlichen Vögel: Wer Geld hat, hat Vergnügen, Ansehn und Freude. In acht Tagen bist Du zurück; lass’ Dich keine Stunde länger in Berlin verlocken, ich muß auch wissen, woran wir sind. Kaufe auch nicht zu viel ein, etwa Sammethüte und seidene Kleider. Leb’ anständig, aber was Du erübrigen kannst, bring’ zurück; das Leben ist lang und der alte Freiherr nicht immer guter Laune, auch mag ich nicht immer nur nehmen.“ –
Die Rede war umsonst gesprochen, so eindringlich es auch geschah! Katharina kramte hier und dort, bis sie alles Rechte zusammengefunden, dann stand sie mit hochrothem Gesichte vor dem Vater. Sie reichte ihm die Hand: „Nun, gehabt Euch wohl, Vater! In acht Tagen bin ich zurück. Wie’s Gott gefällt, mag’s ausfallen.“ –
Dem alten Soldaten wurde jetzt doch etwas bänglich um’s Herz, als er ihr einen derben Kuß aufgedrückt und Katharina nun mehr springend als gehend im Walde verschwand. –
Sie kam athemlos im Dorfe an, fand auch glücklicher Weise sogleich einen Fuhrmann, der sie nach Stargard brachte. Auf der Eisenbahn, die ihr nicht geringe Verwunderung erregte, mit der es aber doch nicht so schnell ging, als sie geglaubt hatte, ging es nun zuerst nach Stettin und von da nach Berlin. Je näher sie dieser Residenz kam, je ängstlicher wurde es ihr um’s Herz; alle Qualen der Besorgniß, der Liebe und Eifersucht, die sie zum ersten Male kennen lernte, überflutheten sie auf einmal. Aber sie hatte auch eine große Energie der Seele und sie sagte sich, als sie nach einer für ihre Ungeduld unendlich langen Fahrt endlich in Berlin angekommen war: „Ich habe nicht mehr zu verlangen, als seine Verzeihung; diese will ich mir holen. Mag auch sein Herz einer Andern angehören, ich werde ihm nicht zürnen, aber nie soll er auch erfahren, daß das meinige darüber gebrochen ist. Liebt er mich noch, dann geh’ ich von ihm, zu meinem Vater zurück, und sein gedenken werd’ ich alle Tag’ und aller Orten.“ –
Jetzt fiel Katharina zu ihrem Schrecken und zum ersten Male ein, daß sie gar nicht wisse, wohin sie sich wenden sollte und wo Rudolf wohne. Bis hierher war sie ganz gut gekommen, aber die Residenz war so groß und so weit, da standen die riesengroßen Häusermassen, die prächtigen Straßen, aber Alles war fremd und kalt; die Leute gingen vorüber, ohne sich im Geringsten um sie zu bekümmern. Es war ihr recht, recht bange um’s Herz. – Lange stand sie rathlos vor dem Portal des Stettiner Bahnhofes. Sie sah sich überall um, wen sie wohl fragen sollte; endlich wandte sie sich an einen Beamten, der nicht mehr ganz jung war und der etwas Gutmüthiges in seinen Zügen hatte. Er gab ihr auch bereitwillig Auskunft, verwies sie in einen kleinen Gasthof und rieth ihr, sich nach der Wohnung des Malers, nach der sie sich auch erkundigen wollte, bei der Polizeibehörde zu befragen.– Das war nun freilich ein Wort, das Katharina einen leisen Schauder verursachte, denn sie dachte sich alle Schrecknisse in dem Hause und die Polizeibeamten als wahre Ungeheuer; sprach man doch im Dorf nicht sonderlich erfreut über sie. –
Ganz so schlimm war es nun nicht, aber nicht sonderlich höflich waren die vertrockneten Amtsgesichter und recht neugierig in ihren Fragen. Alles wollten sie wissen und beinah’ wär’ es so weit gekommen, daß das allerunschuldigste Geschöpf auf der Welt arretirt worden wäre, da sie keinen Bogen Papier auszuweisen hatte, auf dem ihre Lebensbeschreibung stand; ein Herr legte sich endlich in’s Mittel und hieß sie gehen. –
Sie wußte nun, wo Rudolf, wohnte. Sie aß und trank nicht, bis sie das Haus aufgefunden. Es lag in keiner vornehmen Straße, zwei Treppen hoch war sein Zimmer, aber nicht bei seinen Aeltern, wie sie geglaubt hatte. Lange Zeit mußte sie bei den Wirthsleuten warten, bis er kam; sie hatten es ihr angeboten, und erschöpft, ermüdet, wie sie war, hatte sie es auch angenommen.
Endlich hörte sie ihn auf der Treppe; sie kannte seinen Fußtritt noch; er mußte es sein. Rasch eilte sie hinaus, aber wie sie vor der Thüre war, da klopfte ihr gar sehr das Herz, die Kniee wollten ihr einsinken, sie mußte sich anhalten, damit sie nicht fiel. – Die Dunkelheit in dem Winkel, wo sie stand, verbarg ihre Gestalt, aber ihn konnte sie recht gut erkennen. Er sah bleich und angegriffen aus. Er schloß sein Zimmer auf.
„Rudolf!“ rief sie und sank vor ihm nieder. – Rasch riß er die Thüre auf, das volle Licht fiel auf ihre Gestalt, er erkannte sie.
„Katharina, um Gotteswillen, Du bist es?“ – Er hob sie mit starken Armen empor und trug sie mehr, als daß sie ging, zu dem Sopha in sein Zimmer. – „Du? Wahrhaftig Du?“ – Er konnte es kaum fassen, es flog über sein bleiches Gesicht wie ein Strahl von Freude. –
„Bist Du mir denn noch gut, Rudolf?“ stammelte sie zuerst, nachdem sie sich etwas erholt, und dabei sah sie ihn mit ihren wunderbaren Augen so durchdringend an, so klar und bittend, daß es ihm gar seltsam um’s Herz wurde. Auch ihre Veränderung bemerkte er wohl, wie krank und elend sie aussah.
„Dir gut, Katharina? Nur gut? Ich liebe Dich mehr als Alles, was auf Erden ist, ich habe nicht aufgehört, Dich zu lieben. Ich liebe Dich unsäglich, unendlich; jede Minute hab’ ich an Dich gedacht, und tropfenweise verlor ich meinen Muth, meine Seele, da Du Beides bist und nicht bei mir warst!“ – Er kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und drückte sie wieder und wieder an sein Herz.
„Und hast Du mir verziehen, Rudolf?“ Sie bebte bei der Frage.
„Verziehen und vergeben, Katharina, aber wärst Du nicht gekommen, ich hätte Dich doch vielleicht nicht wieder gesehen. Du weißt, was geschehen und was Du gethan.“ –
„Ich weiß es, Rudolf, und Du bist im Recht. Ich bin da, um Dir abzubitten. Sieh’, ich war Rosi’s, des schwarzen Kreuzwirths Tochter, beste und einzige Freundin. Ach, sie war so elend und so voller Jammer auf ihrem Krankenbette! Wir redeten da mancherlei mitsammen, und ich lernte den Junker hassen und es lag mir im Sinn, daß ich wohl die arme Rosi rächen möchte. Sie fing selbst davon an, in einer Stunde an ihrem Todestage. Sie sagte da: „Katharina, Du bist schön – Rudolf, es sind ihre Worte – wenn Dich der Junker sieht, da wird er Dir nachgehen. Versprich mir, daß Du es leidest, wenn’s geschieht, und so lange, bis er recht voll Liebe ist, dann schick’ ihn fort wie einen räudigen Hund. Und mehr dergleichen sprach sie noch. – Sie war zum Sterben, die arme Rosi, sie bat so dringend; ich hab’s ihr zugeschworen, aber auch, daß ich zu Niemand davon sprechen wollt’, zu gar Niemand. [300] Und Rosi? Nun die kam ja gleich darauf zum Sterben. – Nun sieh’, Rudolf, deshalb hatt’ ich den Junker an mich gelockt; ich hab’ nichts entgegnet, wenn er mir von seiner Lieb’ vorgeredet, damit er nur stärker in seinen Glauben hineinliefe. – Ach, das war sehr schlecht von mir, das sah ich wohl ein, und gequält hat’s mich auch, das kann ich Dir wohl sagen. Jetzt dacht’ ich, ich müßt’s sein lassen, das thäte nimmer gut. Gleich darauf aber spürt’ ich ein neu’ Verlangen, mit dem Junker zusammenzutreffen. Es war förmlich wie eine Lust, daß ich dacht’: Du machst ihn recht närrisch vor Lieb’, damit er dann rechtes Weh leidet, wenn’s zum rechten Austausch kommt und ich ihn dann fortschick’; hat er’s doch um die arme Rosi verdient. Ich weiß selbst nicht, was das für absonderlich Verlangen war, aber heiß war es und immer trieb mich’s an. Nun kamst Du dazwischen; ach, Rudolf, ich hatt’ Dich unsäglich lieb, ich kämpft’ mit mir, ob ich weiter mit dem Junker gehen sollt’; ich wollt’ und wollt’ nicht, und so geschah’ es. Es ist nimmer gut, wenn im Weib was Verstocktes liegt. Aber schweigen mußt’ ich. Du gingst nun, und wie Du das zu sagen kamst, da dreht sich mir das Herz um, ich hätt’ Dir zu Füßen liegen mögen und bitten und bitten, aber ich war recht verkehrt in meinem Sinn und dacht’ so mancherlei mit Stolz, das mich wieder zurückhielt. Erst wie Du den Winter, den ganzen langen Winter fortbliebst, kein leises Wort von Dir kam, da wurd’ ich recht krank, in Sinn und Herz, Rudolf, recht krank. Da kam ich auch zu rechtem Nachdenken. Du hattest Recht; es litt mich nicht länger zu Haus, es peitschte mich immer an, ich mußt’ kommen, um Dir das zu sagen. Nun sieh’, Rudolf, jetzt bin ich da, jetzt hab’ ich Dir’s gesagt, mir ist viel, viel leichter zu Muth, und wenn Du mir vergeben, was Du auch schon ausgesagt, so will ich wieder fort nach Haus, zu meinem alten Vater, und glücklich sein, denn eine große Sünde bin ich leichter, und ich kann Dein gedenken mit Freud’, ohne Trauer, daß Du mich scheltest eine schlechte Dirne und was sonst Uebles nachzureden ist.“ –
„Also gehen willst Du, Katharina? Kaum gekommen und wieder gehen? Nein, Katharina, das darfst Du nicht. Ich habe Dich geliebt, liebe Dich noch, und wärst Du weggeblieben noch eine kurze, kurze Zeit, mein Herz wär’ gebrochen vor Sehnen und Verlangen. Jetzt bleibst Du da, Katharina, ich führe Dich zu meinen Aeltern, dann zurück zu Deinem rechtlichen Vater, und mein Weib mußt Du dann werden bald, recht bald. Ich hab’ nun nichts mehr zu fürchten, denn Du hast Deinen Fehler erkannt und gebüßt, und ich kenne Dich, es ist für die Lebenszeit, daß Du ein Einsehen gehabt, daß es nimmer gut thut, wenn Du zu Deinen Nächsten kein Vertrauen hast. Du wirst keiner Versuchung mehr unterliegen, nicht mehr der Schwachheit des Weibes, der eitlen Gefallsucht, denn die Gefahr liegt darin, Dich selbst, das Theuerste, Ruhe und Frieden zu verlieren. So wie Du bist, jetzt geworden bist, wird das Glück mit uns sein.“ – Er überhäufte sie mit tausend Zärtlichkeiten, die sie anfangs unter Thränen duldete, dann aber mit dem seligsten Gefühl erwiederte. – Noch denselben Abend führte Rudolf seine Geliebte zu seinen Aeltern, den andern Morgen jedoch schon fuhr er mit ihr nach dem Dorfe Kloster-Riedd zurück. – Beim Vorüberfahren nach dem Stettiner Bahnhöfe wurden sie an die vergangne trübe Zeit durch den unerwarteten Anblick des Junkers erinnert, der in einer Soldatenjacke vor einer Kaserne stand; auch er schien sie zu bemerken. Eine dunkle Röthe stieg ihm in’s Gesicht, aber schnell wandte er sich ab. –
Was stimmte der alte Claus Schilder, der sobald seine Tochter nicht zurück erwartet hatte, für ein Jubelgeschrei an, als er sie mit Rudolf kommen sah. Er geberdete sich wie unsinnig, lief aus einer Umarmung in die andere, pfiff und sang, daß alle Vögel des Waldes voller Verwunderung einhielten und nach dem alten Manne blickten und eine Schaar Dohlen stutzig aufflog. –
Ein Schmerz wartete ihrer noch: der schwarze Kreuzwirth starb wenige Tage nach der Wiederkehr des Malers. Alle folgten seinem Sarge, auch der alte Freiherr fehlte nicht, und sie beteten für ihn: „Friede seiner Asche!“ –
Drei Wochen darauf feierte Rudolf und Katharina, im Beisein vieler Menschen, ihrer Angehörigen und des Schloßherrn, der eine gar wackere Aussteuer brachte, ihre Hochzeit, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, daß sie zwei Tage darauf mit dem Vater nach Berlin übersiedeln würden. – Das Haus am Meeresstrande war da gar schön ausgeschmückt, mit Kränzen und Blumen, die der Frühling hergab, und Bier und Wein flossen zur Genüge. Vor dem Hause, auf dem Rasenplatz wurde getanzt, die Geiger spielten auf, und der Himmel hatte das Einsehen, daß die Gäste im Innern nicht Platz finden würden, er schien deshalb den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein in gar herrlicher Klarheit herab; kein Wölkchen verhüllte sein schönes Blau. –
Wenn man in Dresden die aristokratische Straße „an der Bürgerwiese“ ganz hinuntergeht und dann rechts einbiegt, so ist man in der kleinen, ruhigen, von Gärten und Feldern eingeschlossenen „Lindengasse;“ es ist so still und lauschig hier, das Geräusch der großen Stadt liegt fern und doch ist man ihr auch verbunden durch glänzende Häuser, Villa’s und geschmackvolle Anlagen. Nach einer Seite hat das Auge weiten Fernblick und das Ohr das Schnaufen und Pfeifen der böhmischen Eisenbahn; nach anderer Seite ist der Blick durch ummauerte Gärten begrenzt und das Ohr hat nur des baumreichen Gartens Rauschen und Säuseln. Hier wohnt Karl Gutzkow, und passender, charakteristischer gerade für ihn, könnte dieser Mann wohl gar nicht wohnen. Als ich zum ersten Male sein Haus betrat, war es mir eigenthümlich zu Muthe: ich sollte nun dem bedeutendsten deutschen Schriftsteller der schönen Literatur der Gegenwart entgegentreten; und je mehr ich ihn als solchen erkannt hatte, je höher also die Verehrung war, die ich ihm zollte: desto größer mußte die Spannung, die Freude, aber auch das Bangen, ich möchte sagen, die Pietät sein, die ich, im Gefühle eigener Unbedeutendheit ihm gegenüber, empfand. Und wie mannigfache Urtheile hatte ich über seine Person und sein Wesen gehört; – von Freunden, die ihn gar nicht oder mißverstanden, von Feinden, die ihn verläumdet hatten, von jungen, süßlichen Naturen, die seine Realität erschreckt hatte. Das Alles ging mir durch Gefühl und Gedanke und nur durch einen ziemlich derben Riß an der Klingel befreite ich mich einigermaßen von dem so mannigfach bedrückenden Gefühl und trat unbefangen in ein weites, helles Zimmer; elegant und geschmackvoll, durchaus nicht auffallend und doch dichterisch, künstlerisch decorirt; eine Epheulaube um einen lauschigen Diwanwinkel; Blumen an den Fenstern, zwischen den Fenstern kleine Statüen auf entsprechenden Consols; – rings an den Wänden werthvolle Kupferstiche; Mappen, große Bücher, zierliche Lowelybände nachlässig geordnet auf Tischen mit schönen Decken; bequeme Lehnsessel mit dunkelrothem Sammet überzogen und darüber die weißen „Schützer“ von der sorglichen Hand der Hausfrau ausgebreitet: das Alles machte einen hellen, heiteren, wohlthuenden Eindruck. Ich hatte ihn kaum empfangen, als ich freundlich von einer jungen, blühend schönen Frau begrüßt wurde, die aus den blitzend braunen Augen mich gescheidt und resolut anschaute und mir sofort das Bild einer durchaus gesunden, praktisch sicheren, doch innerlich fein theilnehmenden Natur einprägte. Es war Gutzkow’s Frau zweiter Ehe; – sie begrüßte mich freundlich, bemerkend, daß ich schon früher erwartet sei; Gutzkow sei ausgegangen, werde aber jeden Augenblick zurück erwartet; die Stimme eines Wiegenkindleins aus fernem Zimmer rief sie ab; bald erschien sie wieder, mit dem ersten Kinde ihrer Ehe auf dem Arme, dem reizendsten, herzigsten Kinde, was ich seit Jahren gesehen. Im anstoßenden Zimmer hörte ich feste, strenge Tritte, „Karl!“ rief die Frau, „komm doch herein, es ist Jemand da.“
Im nächsten Augenblicke trat Gutzkow ein: eine kleine, aber stämmige, breitschultrige, muskulös gebaute Gestalt; der starke und namentlich im Profil durchaus edele Kopf fast dicht auf die breiten Schultern gesetzt; die Stirn ziemlich hoch, wenig gewölbt, aber fest wie aus Stahl gehämmert, doch giebt ihr das blonde, weiche,
[301]kurzgeschnittene Haar wieder einen milderen Ausdruck, als sie sonst wohl haben würde. Die Augen, aus hellem Blau und Grau zu einem eigenthümlichen Glanze gemischt, groß und schön geschnitten, doch fast zusammengedrängt durch die, in der außerordentlichen Kurzsichtigkeit des Blickes bedingte, Gewohnheit: die Augen halbzuzudrücken und gleichsam zu „blinzeln.“ Die Nase stark, trotzig, energisch, doch durchaus nicht derb, unschön. Zwischen dem kleinen blonden Schnurrbart und dem Napoleon’s-Kinn mit dem kecken „Henri-Quatre,“ der scharfgeschlossene Mund mit feinen, ironischen Zügen, mit kaustischen Linien umspielt. Der Ton des Gesichtes mehr erdbleich als frisch; doch nicht ungesund und nach dem was Gutzkow erfahren und gewirkt, nach dem, wie man sich ihn denken möchte: sieht er weit eher jünger als älter aus; der 43jährige Mann könnte noch recht gut für einen „Vierziger“ gelten. Seinem vielbewegten Leben und Wirken gegenüber, ist diese wohlerhaltene Kraft bestaunenswerth. Die Totalerscheinung des Mannes ist sofort bedeutend, vielleicht zu bedeutend, um auch sofort angenehm, wohlthuend zu sein; man muß sich erst darin zurecht finden; in den äußerlich scharfen Linien und Kanten erst nach und nach ihre weichen, schönen Wellenschwingungen herausfinden und fühlen; die Derbheit der Züge sich erst auflösen in der tief unter ihnen gleichsam versteckt liegenden Güte und Weichheit seiner tiefinnersten Natur; den spürend-prüfenden Blick aushalten, bis er zu etwas hingedrungen ist, was dem scharfen Prüfer Vertrauen und dann auch seinem Blicke einen ganz andern Ausdruck giebt; man muß auch ihn erst in Erregung sprechen oder ihn dramatisch vorlesen hören, um in seinem sonst herben, spröden, fast klanglosen Sprachton ein Schönes, Tiefes und elastisch Klangvolles zu finden. Kurz, man muß dieser merkwürdigen, freilich schwer beizukommenden Erscheinung die mannigfachste, allseitigste Aufmerksamkeit des Verstandes und Gefühles widmen, um sie nach ihrer wahren Bedeutung auffassen zu können. Die Einen traten nur mit dem Verstande, die Andern nur mit dem Gefühl zu ihr heran; Viele konnten sich aus ihrer Subjektivität nicht losmachen und wollten den Mann haben, wie er nach ihren Anforderungen sein sollte oder legten ihr Eigenes ihm zu; daher die so unendlich verschiedenen und die vielen so unendlich falschen Auffassungen, wonach er geschildert wurde.
„Nun rathe, wer das ist, lieber Karl,“ sagte die hübsche, liebenswürdige Frau zu dem Eingetretenen. Dieser trat dicht zu mir heran und beschaute mich mit freundlichem Blicke, dann sah er seine Frau heiter fragend an. Sie nannte meinen Namen.
„Also das sind Sie? Nun, herzlich willkommen,“ er reichte mir die Hand, „und nun lassen Sie sich einmal betrachten, wie [302] Sie aussehen,“ und er trat so dicht zu mir heran, daß unsere Füße sich berührten; sein Blick ruhte mit durchdringender Schärfe auf meinen Zügen und es war mir, als hinge von diesem Blicke ein Theil meines Geschickes ab. Ich weiß nur zwei Blicke ähnlicher Art mich zu erinnern: von Immermann und Kaulbach, und in jenem Augenblicke fiel mir wirklich eine Aehnlichkeit Gutzkow’s mit jenen beiden Männern auf. Gutzkow nannte mir sofort mit glücklichem Treffen zwei Männer, der eine in London, der andere in Zürich lebend, mit denen ich Aehnlichkeit hätte, und die Nennung dieser Namen führte uns bald in ein ernstes Gespräch über Literatur, Kunst und Staat; ich brachte das Gespräch auf sein Schaffen, er beschämte mich mit der Güte, von meinem eigenen Schaffen zu sprechen, so wurde es Mittag und ich war gleich ein liebevoll eingeladener, ein glücklicher Gast am Tische des berühmten Mannes. Zwei kräftige, stämmige Knaben von zwölf und vierzehn Jahren (aus Gutzkow’s erster Ehe) vergrößerten die Tafel und waren mir interessant, um aus ihrem Wesen und ihren Zügen viele Elemente des Vaters zu entziffern. Bei längerem Aufenthalt in Dresden hatte ich das Glück nach und nach ein herzlich aufgenommener Freund im Gutzkow’schen Hause zu werden und ich muß offen gestehen, daß jede Stunde in diesem Kreise mir von nachhaltiger Freude, von nachwirkendem Nutzen war. Der verständige, gescheidte und herzlich liebevolle Ton des ganzen Hauswesens, der ganzen Familie, war wohlthuend; Gutzkow als Gatten und Vater zu beobachten, war liebenswürdig, interessant; die kleinen Kreise der Gesellschaft waren gesucht und wurden einfach-natürlich belebt; es handelte sich da nie um Allotria’s und Geklatsche und doch war meist Alles auf das Naheliegende, auf das Fruchtbare und Nützliche gerichtet; man lebte nicht in Himmeln und Idealen, sondern auf der gesunden Erde, ebenso fern dem sogenannten „Genialen,“ als dem „Spießbürgerlichen;“ nicht berlinisch frivol die schwere, ernste Zeit mit Witzen behandelnd, aber auch nicht geseufzt und geklagt, sondern mit Ernst und Kraft das Unabänderliche erfassend und das Mögliche erwägend. Gutzkow’s außerordentliche Klarheit und Schärfe, sein reeller Patriotismus, sein sittliches Pathos traten mir dabei ebenso persönlich entgegen, wie das Alles mir stets aus seinen Schriften entgegen trat. Dann und wann wurde auch Musik gemacht; Gutzkow hört sie gern; an die Thüre gelehnt und den Blick von der Gesellschaft abgewendet, so stand er dann und war ganz Ohr, ganz Gefühl. Er selbst spielt recht gut. Oft auch wurde gelesen und merkwürdig, wie ich es sonst bei Keinem fand: Gutzkow liest ein Drama, ein Gedicht, zum erstenmale, ihm ganz fremd, und doch sofort mit einer so sicheren Charakteristik der betreffenden Person oder der betreffenden Stimmung, als wenn er das Ganze schon genau kenne. Ein wunderbarer Instinkt läßt ihn da nie fehlgehen. Vielleicht hängt dies mit einer Eigenschaft zusammen, die der berühmte englische Phrenologe Nöel an Gutzkow’s Schädel herausfand: großes Darstellungstalent. Vielleicht wäre Gutzkow ein großer Schauspieler geworden, wenn er nicht eben ein großer Darsteller im Roman und Drama geworden wäre. In besonders heitern Stimmungen läßt er übrigens jenes Talent auch noch anders hervortreten; er copirt mit großem Glücke irgend wie bekannte Persönlichkeiten; so giebt er z. B. eine Scene aus dem Leben des weiland berühmten Theaterdirectors Schmidt in Hamburg mit unnachahmlicher Treue und Komik. Ueberhaupt kann Gutzkow sehr heiter und ein liebenswürdiger „Kneiper“ sein, wenn er auch im Ganzen mehr ernst und zurückhaltend ist und es stets war. Das moderne „Genialsein“ im Wirthshaus etc. hat er stets verschmäht; er hat seine Zeit und Kraft wacker zusammengehalten und er kann wohl sagen, daß er ein redlich angewendetes Dasein, von sittlichem Ernst getragen, als fruchtbares Kapital zurückgelegt hat. – Hier wollen wir denn von seiner Person übergehn zu seinem Wirken als Schriftsteller. Dieses reiche und umfassende Wirken liegt zwischen seinen beiden Werken: „Wally“ und „Aus der Knabenzeit.“ Jenes ist zwar nicht das erste, was er herausgab; vorher erschienen schon – anonym, – die in Rousseau’schem Geiste geschriebenen „Briefe eines Narren an eine Närrin,“ von Börne sehr gefeiert, dann der phantastisch-satyrische Roman: „Maha Gura, Geschichte eines Gottes,“ die aus dem Morgenblatte und der A. Allgem. Ztg. gesammelten: „Novellen,“ „Soireen“ und „Oeffentliche Charaktere,“ dann auch noch das gegen viele Schwächen der Zeit gerichtete satirische Drama: „Nero;“ diese Werke hatten den Verfasser nun zwar schon bedeutungsvoll in die Literaturkreise eingeführt, ihn als einen Hauptträger der damals beginnenden oppositionellen Literatur des „jungen Deutschlands“ bezeichnet, große Erwartungen von ihm angeregt, viele Feinde ihm zugezogen, aber für die große Oeffentlichkeit wurde Gutzkow erst nach dem Erscheinen seiner „Wally“ ein bekannter Name; theils durch das eigenthümliche, seltsame Buch selbst, theils durch die kirchlichen und polizeilichen Verfolgungen bis zur Einkerkerung, die dasselbe dem Verfasser zuzogen. „Aus der Knabenzeit“ ist das neueste Werk Gutzkow’s, und so schließen denn beide sein übriges Wirken ein. Dies bewegte sich nun nach drei Seiten hin: in kritischen Schriften, in Bühnenwerken und in Romanen, und es ist bereits eine historische Thatsache, daß er in jeder dieser Richtungen hin das Wirkungsvollste brachte, was die Gegenwart darbietet, wenn dabei auch Unbedeutenderes und Irrthümliches. Seine kritischen Schriften konnten zwar, ihres Stoffes und der Form der Kritik überhaupt wegen, nicht allgemein und populär werden, indessen wurde die deutsche Literaturgeschichte nicht allein bereichert, sondern auch gefördert durch die Werke: „Zur Philosophie der Geschichte,“ „Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur,“ „Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte,“ „Götter, Helden und Don Quixote,“ „Aus der Zeit und dem Leben,“ „Vermischte Schriften,“ „Wiener Eindrücke,“ „Pariser Briefe“ und „Börne’s Leben,“ ein braves Buch voll rührender Pietät; ein ebenso ehrenwerther als geistvoller Schutz gegen Heine’s frivole und perfide Angriffe gegen einen der edelsten und größten Charaktere Deutschlands.
Von seinen zahlreichen Dramen sind die meisten mit vielem Erfolge gegeben worden: so namentlich: „Ein weißes Blatt,“ „Werner oder Herz und Welt,“ „Richard Savage;“ mit „Uriel Acosta,“ so wie mit den historischen Lustspielen: „Zopf und Schwert“ und das „Urbild des Tartüffe“ wurde er indessen erst zum eigentlichen populären Bühnendichter, gewann er Erfolge, wie kein anderer jetztlebender Dramendichter, und bot er jedenfalls auch das Beste an zugleich praktisch ausführbaren Werken, was irgend die Gegenwart geboten hat. Außer den genannten Dramen gab er noch das zuerst von ihm aufgeführte biblische Drama: „Saul;“ die drei historischen Trauerspiele: „Patkul,“ „Pugatscheff“ und „Wullenweber,“ mit gediegenem, starkem Gehalt und historischem Geiste durchwebt, doch ohne wahrhaft zündende tragische Gewalt; dann die capriciösen, theils etwas bizarren, theils etwas carrikirten, doch überall mit Intelligenz und poetischem Geiste getränkten Dramen: „Der 13. November,“ „Anonym“ und „die Schule der Reichen:“ ein psychologisch tief angelegtes und sublim ausgeführtes Drama: „Ottfried:“ ein Lustspiel aus Goethe’s Jugendzeit: „Der Königslieutenant,“ geistvoll belebt, doch mehr der höheren Literatur angehörend und viel gebildetere Schauspieler verlangend, als wir besitzen. – Dies könnte man auch sagen von dem liebenswürdigen, feinen Vorspielscherz: „Fremdes Glück.“
Auch das Volksdrama betrat Gutzkow mit dem Trauerspiel: „Liesli,“ dessen dritter Act in seinem jähen und, nicht zu leugnen, grassen Ausgang wohl verhinderte, daß das Stück nicht Den Erfolg gewann, den es im Ganzen und namentlich nach den zwei ersten Akten verdiente. Diese geben eine ebenso belebende als ergreifende Wahrheit und treffende Situationen; sie müssen bedauern lassen, wenn Gutzkow den so unendlich dankbaren Boden des Volksdrama’s ein für allemal verlassen würde. Er könnte da noch Bedeutendes wirken.
In jener dritten Sphäre als Novellen- und Romandichter gab Gutzkow: „Novellen,“ unter denen: „Die Wellenbraut“ und „Die Selbsttaufe“ nicht allein als die besten des Verfassers genannt werden, sondern die auch mit zu den besten der deutschen Novellenliteratur gezählt werden müssen. Tiefe psychologische Conflikte auf’s Feinste und Lebendigste gelöst und mit echter Poesie durchdrungen. Der Roman: „Seraphine“ schließt sich in seiner kühnen Idee den Intentionen des Verfassers in der „Wally“ an, bleibt aber in der Ausführung hinter der Idee zurück. Der komische Roman: „Blasedow und seine Söhne,“ ist mehr ein geistvolles, sehr merkwürdiges und in manchen Theilen auch bedeutungsvolles Capricio, als ein eigentlich komischer Roman und hat den beengenden Fehler, daß er eine eigentlich tragische Idee komisch behandelt. Das größte dieser dritten Sphäre und überhaupt das größte von allem Wirken Gutzkow’s ist jedenfalls sein neunbändiger Roman: „Die Ritter vom Geiste.“ Der vortrefflichste Roman, den Deutschland besitzt, der uns mit Stolz den vielberühmten [303] Romanen Englands und Frankreichs gegenüber treten laßt, der die außerordentlichste Wirkung nach allen Seiten der Gesellschaft hin ausübte und noch ausüben wird und der dem Verfasser als Dichter, Denker und Historiker, als Bürger, Patriot und Verfechter der höchsten und edelsten Interessen des Vaterlandes und der Menschheit einen Ehrenplatz anwies und erhalten wird. – Das ist das bisherige schriftstellerische Wirken Gutzkow’s, dem er jetzt noch die Führung der Zeitschrift: „Unterhaltungen am häuslichen Herd“ verknüpft hat. Die Zeitschrift ist für populäre Intelligenz berechnet und wirkt dafür nach allen Seiten hin poetisch, ästhetisch und künstlerisch, die Naturwissenschaft, den Staat, das Familien- und Bürgerleben sinnig anregend und einfach geschmackvoll in ihre Kreise ziehend.
Das äußere Schicksalsleben Gutzkow’s anbelangend, so erfahren wir zuerst aus seinem letzten Werke: „Aus der Knabenzeit,“ daß auch er aus dem Volke hervorgegangen, als Sohn eines Reitknechts eines preußischen Prinzen (am 17. März 1811) in Berlin geboren und der Bruder und Schwager von ehrbaren Handwerkern ist. Seine schon früh sich zeigenden Talente veranlaßten die Aeltern, den Knaben studiren zu lassen. In seiner Vaterstadt studirte er Theologie und Philosophie und gewann dabei schon den ersten Preis einer Concurenzarbeit. Mächtig ergriff ihn die Julirevolution; er warf sich nun lebhaft auf öffentliche Fragen der Zeit und seine ersten Journalarbeiten erregten in hohem Grade die Aufmerksamkeit des damals mächtigen Wolfgang Menzel, der ihn deshalb nach Stuttgart zog, wo er einige Zeit für das Literaturblatt und Morgenblatt arbeitete. Aber der Wissensdrang ließ ihn nicht ruhen; Theologie und Philosophie ließen ihn kalt und bereits mit der Doctorwürde beehrt, studirte er in Heidelberg und München Jurisprudenz und Staatswissenschaft. Im Jahre 1835 gründete er mit dem wackeren Duller in Frankfurt a. M. den „Phönix;“ gleichzeitig erschien seine „Wally,“ die ihn drei Monate nach Mannheim in’s Gefängniß brachte. Von da an hatten er und seine Schriften, so wie mannigfach von ihm versuchte Journalunternehmungen die heftigsten und oft vernichtende Verfolgungen zu erdulden. Diese trieben ihn denn zuletzt nach Hamburg, wo er den „Telegraph für Deutschland“ redigirte und damit auf die Höhe seines kritischen Rufes gelangte. Der Drang zur Bühne wurde aber immer mächtiger in ihm; so gab er sein Journal in andere Hände und widmete sich nur der Bühnenproduction. Seine glänzenden Erfolge darin verschafften ihm 1847 einen Ruf als Dramaturg für das Hoftheater zu Dresden. Als solcher wirkte er nun Schönes und Nützliches im Einrichten und Aufführen klassischer Stücke und in Förderung junger Talente. Indessen war seine Stellung doch nicht frei und selbstständig genug, daß er Alles das hätte ausführen können, was er wünschte, und so gab er denn dieses Wirken nach 21/2 Jahre wieder auf; in neuer Ehe und in neuem Schaffensdrange ein neues, ruhig schönes Leben beginnend, wie ich es Eingangs dieser Skizze anzudeuten versuchte. Direct an dem öffentlichen Leben des Jahres 1848 betheiligte sich Gutzkow nur mit einigen kleinen Schriften: „Ansprache an das Volk,“ ein Vermittelungsversuch in den Märztagen Berlins, und „Deutschland am Vorabend seines Falles und seiner Größe,“ eine Broschüre für das Frankfurter Parlament. Beide natürlich in liberalem Sinne.
Es war eine kalte Novembernacht, als wir, ein halbes Dutzend Jäger, in einem halb geschützten Lager um ein helles Feuer lagen und Jagd- und andere Abenteuer erzählten. Tom Wade, ein großer riesenhafter Mann, der stets sehr still und in sich gekehrt lebte, den man aber seiner Gutmüthigkeit wegen sehr schätzte, ward ebenfalls aufgefordert, Etwas aus seinem Leben zu erzählen. Er schüttelte anfangs mit dem Kopfe und wollte nichts davon wissen, endlich aber begann er doch:
„Es mögen wohl fünfzehn Jahre her sein, als eine Partie von uns, zehn an der Zahl, von Bonn’s Salzquell zu einer Büffeljagd in der Richtung nach Santa-Fè aufbrach. Wir hatten zwei oder drei gute Pferde, die Büffel zu jagen und ein Paar Packmaulesel bei uns. Wir hielten es nicht für nöthig, viel Lebensmittel mitzunehmen, da wir ja darauf rechnen konnten, Wildpret zu finden. Als wir indessen auf die große Straße kamen, hörten wir von den Händlern, daß es in diesem Jahre wenig Büffel gebe, und wir beschlossen daher, uns rechts zu wenden und den Missouri höher hinauf zu gehen. Wir setzten zuletzt bei Council Bluffs hinüber und zogen die Höhenfläche am Ufer entlang.
„Aus irgend einer Ursache war das Wildpret äußerst selten und je weiter wir gingen, desto mehr verlor es sich. Seitdem wir die Pflanzungen hinter uns gelassen hatten, schossen wir nur so viel, als zu unserm Unterhalt diente und wir besaßen kein Pfund im Vorrath. Da das Wetter aber schön war, beschlossen wir weiter vorwärts zu ziehen, bis wir die Büffelgegend erreicht hätten und jede Nacht waren wir daher weiter ab von den Pflanzungen und damit auch ferner von dem Wildpret. Zuletzt wurde es so selten, daß wir eine Nacht insgesammt in’s Lager kamen, ohne etwas geschossen zu haben. Nie werde ich diese Nacht vergessen, als wir uns um das Feuer setzten und Jeder zu berichten hatte, daß er auch keine einzige Kreatur gefunden habe. Wir fingen daher an zu glauben, daß wir in ein Pechland gerathen wären und besser daran thäten, umzukehren.
„Als aber Einer diesen Vorschlag machte, wurde er allgemein verhöhnt und ihm geantwortet, daß wir, da wir einmal so weit gegangen wären, nicht an Zurückgehen denken könnten. Was würden unsere Leute zu Hause wohl sagen, wenn sie hörten, daß wir einen Abend nichts zu essen gehabt hätten. Außerdem war es doch wahrscheinlich, daß wir morgen Wildpret finden würden. Irgendwo mußten doch Büffel in den Prairien sein und wir würden nur um so größeren Appetit darnach haben, wenn wir ein wenig gefastet hätten.
„Diese Gründe behielten das Uebergewicht und am nächsten Morgen brach unser Zug westwärts auf.
„Ich hatte einen prächtigen Hund, Namens Brutus mit mir genommen. Er war, ich sage Euch, das klügste und treueste Thier, das je dagewesen ist. Er war so an mich attachirt, wie nur ein Thier es einem menschlichen Wesen sein kann – und dabei war er muthig, schlau, wachsam und that Alles, was ich ihm hieß. Nie habe ich vorher oder nachher einen Hund so lieb gehabt, als ihn. Er war mein steter Begleiter. Sowie der Tag graute, war er auf, während der ganzen Jagd war er mir zur Seite oder jagte das Wild, das ich geschossen hatte, und Nachts schlief er mir zu Häupten und schützte mich vor Gefahren. Er war ein nobler Hund.
„Die Jagd am nächsten Tage war so unglücklich, wie die am Tage vorher. Es war kein Wildpret zu sehen. Ich hatte allein einen Prairiehund geschossen und brachte ihn mit, weil er doch besser war, als gar nichts. Nie werde ich die gierigen Blicke vergessen, mit denen meine Beute angesehen wurde. Er war nicht größer, als ein Fuchs. In einem Augenblick war er abgeledert, ausgeweidet und in zehn Stücke getheilt. Brutus bekam die Eingeweide und die Knochen. Ich habe hungrige Wölfe Fleisch verschlingen sehn, aber ihre Gier war nichts gegen die meiner hungrigen Gefährten. Ich mochte das Fleisch nicht und legte es daher zu Brutus Theil, aber der Hund nahm es nicht, so hungrig er auch war, er sah mich an und legte sich dann still nieder. Das Fleisch blieb liegen, ich streichelte ihn für sein edles Betragen und als ich wieder hinsah, war das Stück verschwunden.
„Jetzt wurde eifriger über die Rückkehr gesprochen, aber ein Umstand hatte diese erschwert. In unserm Jagdeifer hatten wir nicht an unsere Thiere gedacht und diese waren weit weggelaufen, um zu grasen. Die danach ausgesandt waren, sie zu suchen, hatten sie nicht gefunden, und es wurde daher nothwendig, weiter vorzugehen, um auf der Jagd zugleich unsere Pferde und Esel zu [304] suchen. Ein Pferd war glücklicher Weise da geblieben. Es war zu alt, um fortzulaufen.
„Nachdem der Prairiehund verzehrt war, hörten wir bald darauf ein Schnaufen hinter unserm Lager. Wir sahen das Pferd sich auf die Hinterbeine aufrichten und dann auf die Seite sinken.
Das Beil hatte seine Stirn getroffen. Eine Stunde darauf hatten meine hungrigen Kameraden sich voll gegessen und sanken in tiefen Schlummer. Brutus und ich holten uns auch unsern Theil. Es schien mir die köstlichste Mahlzeit, die ich je genossen hatte. Das erste Stück verschlang ich halb roh, fast ungeröstet. Dann überkam auch mich der Schlaf, der immer nach solchem Exzeß folgt und ich überließ es Brutus, mich zu bewachen. Es gab indessen nichts zu bewachen, und wären in dieser Nacht Indianer gekommen, es wäre uns ganz recht gewesen, denn dann hätten wir ihnen ihre Jagdbeute abnehmen können. Es störte uns jedoch nichts.
„Das Pferdefleisch unterhielt uns beinahe eine Woche lang, ging aber zuletzt auch aus. Wir zogen immer vorwärts, trafen aber kein Wild. An dem Tage, als das Fleisch zu Ende ging, kamen wir mit der gewöhnlichen traurigen Nachricht zusammen, das nichts geschossen war, nicht einmal ein Prairiehund oder eine Schlange. Ich sah Joe Winn, einen meiner Jagdgefährten, einen großen, starken Mann einen begierigen Blick auf Brutus richten, und der Hund kroch augenblicklich an meine Seite und legte sich nieder.
„Am nächsten Abend machte Winn den Vorschlag, daß Brutus geschlachtet werden solle.
„Ich griff nach meiner Büchse und schwor, daß der Erste, der die Hand an den Hund lege, des Todes sein solle. Keiner regte sich, denn sie wußten, wie lieb ich den Hund hatte. Die ganze Zeit über sah der Hund mich starr an, als ob er sein Geschick in meinen Augen lesen wolle. Als er sah, daß ich nach der Büchse griff, schien er meinen Entschluß zu wissen, denn er wedelte mit dem Schwanze und legte sich dann auf seinen gewöhnlichen Ruheplatz.
„Meine Kameraden drangen aber darauf mit so viel Vorstellungen in mich, daß ich endlich einwilligte, daß der Hund getödtet werden solle.
„Als ich Joe Winn das Beil nehmen sah, ging ich aus dem Lager fort, um nicht das Ende meines treuen Freundes zu sehen. Ich wandte mich aber doch um, um ihm noch einen letzten Blick zuzusenden und sah, wie er mich sanft und bittend ansah, als wüßte er, was über ihn gesagt worden, und bäte mich, ihn zu schützen. Er regte sich dabei nicht von seinem Platze, sondern sah mich nur starr an. Ein Wink von mir und er wäre Winn an die Kehle gesprungen, aber er regte sich nicht. Ich wandte mich ab und hörte gleich darauf das Beil auf seinen Kopf niederfahren und diesen zerschmettern. Einen Augenblick darauf fühlte ich etwas an meinem Schenkel und sah den Hund meinen Fuß lecken. Das Blut strömte aus seiner Stirn, aber nach dem tödtlichen Schlag war er noch aufgesprungen und verendete zu den Füßen seines Herrn, um seine letzte Ergebenheit kund zu geben. Ich konnte es nicht mit ansehn. Ich weinte wie ein Kind.“
Hier bedeckte Wade sein Gesicht. Die Thränen traten ihm noch in die Augen und auch ich konnte den riesigen Mann nicht weinen sehen, ohne daß mir die Wangen dabei feucht wurden. Endlich fuhr er fort: „Als ich mich ausgeweint hatte, trat ich auf Joe Winn zu. Joe Winn, sagte ich, es war gut für Euch, daß meine Büchse mir nicht zur Hand war. Ich vergebe Euch, aber vergessen kann ich Euch diese That doch nicht, die mich des edelsten und treuesten Geschöpfes beraubte. Der arme Brutus! Sein letzter Blick hat mir seitdem immer auf der Jagd vorgeschwebt. Ich mußte ihn immer sehen, wie er mich zuletzt anblickte. Ihr kennt die Schrecken noch nicht, welche diese Jagd mit sich brachte, Phil, aber für mich war dieser Augenblick doch der furchtbarste.
„Mir wurde mein Antheil an dem Hunde zuertheilt, ich konnte es aber nicht essen. Ich trug es heimlich aus dem Lager und[WS 1] begrub es im Sande. Meine Thränen flossen darüber hin und ich fühlte mich trostlos verlassen. Meine Gefährten mußten mich dabei wohl belauscht haben, denn als ich am andern Morgen einen Blick auf die Stelle warf, sah ich, daß sie umgewühlt war. Auch dieser Rest des armen Brutus war von den Hungrigen verschlungen worden.
„Im Lauf des Tages verschwand jede Spur von dem Hundefleisch. Als daher am nächsten Abend wieder nichts geschossen war, entstand eine sehr ernste Berathung, was nun zu thun sei. Die Aussicht auf Wildpret war fast ganz verschwunden, die Rückkehr ebenso trostlos als das Weiterziehen. Alles war verzehrt, was das menschliche Leben erhalten konnte, da schlug Einer vor – ich weiß nicht mehr, wer es war, da wir wahrscheinlich Alle umkommen würden, sei es besser für die Uebrigen, daß Einer sich opfere, und daß kann die Rückkehr versucht würde. Der Vorschlag wurde mit nur einem mißfälligen Gemurre angenommen und beschlossen, daß man noch einen Tag die Jagd versuchen, und wenn auch diese ohne Erfolg bleibe, einen aus der Gesellschaft auswählen wolle, der sich entweder selbst tödten oder von Einem getödtet werden solle, den das Loos dazu bestimmte.
„Der nächste Tag verfloß wie gewöhnlich und wir kamen sämmtlich mißgestimmt und hoffnungslos in’s Lager zurück. Einstimmig und ohne ein Wort zu sagen, bildeten wir einen Kreis. Endlich brach einer das Stillschweigen und schlug vor, das das Loos in folgender Weise entscheiden solle: Es sollten zehn Stäbe von ungleicher Länge geschnitten und von Einem, dem die Augen verbunden worden, an die Erde gelegt werden. Jeder solle mit verbundenen Augen ziehen. Der den kürzesten Stock zog, sollte das Opfer, der den längsten zöge, der Vollstrecker sein.
„Dies wurde ausgeführt. Niemand sprach ein Wort dabei.
Man hörte nur den unsichern Schritt und den kurzen Athem jedes Einzelnen, als er mit verbundenen Augen an die Stelle geführt wurde. Endlich erfolgte die Entscheidung. Ich zog den längsten Stab und Joe Winn, der Mörder des Brutus, den kürzesten.
„Ich habe manche Hinrichtungen gesehen, und schon manchen Mann sterben sehen, Phil, aber solch Gemisch von tödtlicher Angst und Verzweiflung sah ich nie, wie dieser Mann sie kund gab, als das Loos ihn als Opfer bezeichnete. Es war der peinlichste Anblick, den ich je in meinem Leben hatte. Wir wandten uns sämmtlich unwillkürlich ab und erwarteten, daß der unglückliche Mann selbst die Weise angeben möge, in der er vom Leben scheiden wolle.
„Er stand von seinem Platze auf und sagte: „„Jungen, mir ist der kürzeste Stab zugefallen und –““ hier stockte seine Stimme vor Bewegung. Als er sah, daß wir unsere Gesichter abwandten, stieg in dem unglücklichen Manne plötzlich ein Hoffnungsstrahl auf. Im nächsten Augenblick faßte er mich beim Arm und wisperte mir zu, aber so, daß es Alle hören konnten, in dem jammervollsten, herzbrechenden Tone: „„O Wade, rette mich? Rette mich, Tom! Ich weiß, Du kannst es, wenn Du willst. Wenn Du es sagst, werden die Andern mich nicht tödten wollen. Ich weiß es, sie werden’s nicht. Sag’ es, lieber Tom, und ich will Alles für Dich thun. O Tom, schieß mich nicht todt! Schieß mich nur jetzt nicht todt. Wir können ja noch einen Tag ohne Nahrung zubringen. Ein Tag wird uns ja nicht so hart ankommen. Ich glaube sicher, wir finden morgen etwas. Du wirst etwas schießen, ich weiß es. Laß mich also nicht jetzt sterben. Ich kann jetzt nicht sterben. O, rette mich, Tom! Morgen will ich sterben, ohne ein Wort zu sagen. Ich habe Deinen Hund todtgeschlagen, Tom, aber die Andern haben mich dazu aufgehetzt. Du kannst sie darnach fragen, wenn Du willst. Wenn er noch am Leben wäre, sollte ihm jemand ein Haar krümmen. Rette mich, Tom, Du kannst, wenn Du nur ein Wort sagst. Willst Du’s thun, lieber Tom?““
„Dabei verschlang der Mann meine Hand mit Küssen. Ich fühle eine tiefe Verachtung gegen Feiglinge. Die Erwähnung des Brutus hatte mich vollends toll gemacht, aber mein besseren Gefühl und der starke Widerwille gegen das Vergießen von Menschenblut bei kaltem Blute gewannen das Uebergewicht, und indem ich mich zu meinen Kameraden umwandte, fragte ich sie, ob sie Winn bis morgen Abend leben lassen und ob wir’s noch einmal einen Tag mit der Jagd versuchen wollten. Das wurde angenommen, jedoch mit der Bedingung, daß, wenn es nöthig wäre, Winn das erste Opfer sein sollte.
Wir schliefen die Nacht so gut es anging und der Anbruch des Tages fand uns sämmtlich zur Jagd bereit. Wir gingen nach verschiedenen Richtungen aus, mit der Verabredung, daß wir uns mit Sonnenuntergang in demselben Lager treffen wollten.
„Mir war der Tag in fruchtlosem Suchen verstrichen, als sich mein Blick auf etwas richtete, was ihn für einen Augenblick ganz starr fesselte. Es war das köstlichste Schauspiel, das ich unter diesen Umständen genießen konnte. Ich sah im Sande die frische Spur eines großen Thieres. Mein Herz schlug hoch, indem ich meine Büchse unter den Arm nahm und mich zur Verfolgung anschickte. [305] Je mehr ich vordrang, desto frischer wurden die Spuren, und ich sah, daß ich dem Thiere nahe war.
„Ein Paar Schritte vorwärts lösten sich meine Zweifel. In einem kleinen Dickicht sah ich, zum ersten Mal in meinem Leben, einen grauen Bären. Wir mußten uns wohl zugleich erblickt haben, denn wir gingen auf einander los. Es war ein mächtig großes Thier, aber beinahe ebenso verhungert wie ich. Ich hob meine Büchse und feuerte, die Aufregung mußte mich aber wohl verhindert haben, gut zu zielen. Nachher fand ich, daß meine Kugel sein Schulterblatt getroffen hatte, damals wußte ich dies indessen nicht. Wir rückten auf einander los, bis wir ganz nahe waren. Ich erinnere mich noch seiner kleinen rothen Augen, die nach mir stierten und wie er mit seinen Klauen nach mir schnappte, die mit blutigem Schaum bedeckt waren. Alle Jäger hatten mir von diesem furchtbaren Thiere erzählt – daß Alles vor ihm fliehe, daß Kugeln keine wahrnehmbare Wirkung auf sein Fell übten, und daß sein Angriff gewissen Tod bringe. An alles dieses dachte ich aber damals nicht, ich war nur von der wahnsinnigen Gier nach Nahrung getrieben. Wenn statt eines Bären zwölfe dagewesen wären, würde ich mich auf den nächsten geworfen haben!
„Wir kamen an einander. Hier an dieser Schulter trage ich noch die Narbe der ersten Begegnung. Ich fühlte nichts davon, obgleich sie eine häßliche Schramme zurückließ. Mein erster Stoß mit meinem Jagdmesser drang, wie ich nachher fand, in seine linke Schulter und schnitt eine tiefe Wunde. Wir rangen mit einander. Ich war entschlossen, er sollte mir nicht entwischen. Lieber hier den Tod finden, als im Lager. Mein Gegner schien von demselben Entschluß beseelt zu sein, und Bisse und Stöße wurden mit furchtbarer Schnelligkeit und in vollem Stillschweigen ausgetheilt. Wir fochten denselben furchtbaren Kampf. Der Hunger hatte uns beide zur Verzweiflung getrieben. O Brutus, wie fehltest du mir da! Hättest du mir nur fünf Minuten beistehen können, wie wäre mancher schwere Biß, manche häßliche Schramme erspart geblieben.
„Endlich warf ein wohlgezielter Stoß oder der starke Blutverlust den Bären nieder. Gleich war ich auf ihm. Die Anstrengungen, die er mit seinen furchtbaren Klauen machte (eine davon habe ich noch zu Hause), nahmen mir fast die Kräfte, aber mein Messer war doch noch wirksamer als sie. Ich weiß nicht, wie lange dieser Kampf dauerte; glücklicher Weise packte er mein Pulverhorn und zerrte es zwischen seine Zähne. Ich hatte die Geistesgegenwart, es noch weiter in seine Kehle mit meiner linken Hand hinabzustoßen, während die rechte mit dem Messer in seiner Seite arbeitete. Bald fand ich, daß Erstickung eintreten müsse, wenn ich diese Operation lange genug fortsetzte. Wie ich meinen Platz auf seinem Leibe behauptete, weiß ich nicht, denn seine Anstrengungen und sein Sträuben waren furchtbar. Ich hielt aber aus, und bemerkte endlich, daß sie nach und nach weniger häufig und stark wurden. Noch ein Paar Augenblicke, und noch ein Paar Stöße beendeten den Kampf und mein Feind lag todt vor mir. Ihr könnt Euch denken, was ich zuerst that. Wäret Ihr an meiner Stelle gewesen, Ihr hättet ebenso gehandelt. Aus seinem noch zuckenden Fleisch schnitt ich Stück auf Stück und verschlang es so roh und blutig es war. Dann dachte ich an meine Gefährten. Einen Theil von dem Bären nahm ich mit mir, verbarg es in der Nähe und wartete dann ruhig auf die Rückkehr der Andern. Endlich kamen sie an, Einer nach dem Andern, Joe Winn zuletzt. Obwohl mir meine Wunden sehr unangenehm waren, so hatte ich doch beschlossen, Winn für seinen Todtschlag meines Hundes zu bestrafen und nahm deshalb eine so ernste Miene an, als es mir unter diesen Umständen nur möglich war. Die Jagd der Andern war wie gewöhnlich erfolglos ausgefallen und Joe’s Gesicht war voll Angst und Schrecken. Sobald der Bericht abgestattet war, wandte ich mich zu Winn.
„Nun, Joe, Ihr habt den Bericht gehört. Seid Ihr zu heute Abend fertig?“
„Ich weiß nicht, ob das Blut an meinen Kleidern mich verrieth, oder ob ihm die zufriedene Miene, die ich doch nicht ganz verbergen konnte, Trost einflößte, er faßte mich scharf in’s Auge, fiel dann plötzlich auf die Knie nieder und rief zwischen Angst und Freude schwebend aus: „O Gott, ich bin gerettet! Ich bin gerettet! Tom hat was geschossen. Seht seine Kleider an, seht das Blut an seinem Haar und um seinen Mund an. O du mein Herrgott, ich bin gerettet.“
„Dabei sprang der Elende wieder in die Höhe und jubelte und tanzte im Kreise umher. Die Andern hatten gar nicht Zeit, das Letzte zu hören, denn er hatte mich dabei zugleich ergriffen und tanzte mit mir wie ein Comanche umher. Ich mußte daher erst ihre Zweifel lösen, indem ich ihnen von meinem Glück erzählte und daß ich ein Stück Fleisch mitgebracht und nahe beim Lager verborgen habe.
„Nun Jungens wißt Ihr woran Ihr seid. Es hätte sich nicht für Euch geschickt, daß Ihr Euch wie Wölfe verschlingt, das würde Euch doch hart angekommen sein. Wenn Ihr mit mir gehen wollt – und hier brachen alle auf – so will ich Euch den Platz zeigen, wo ich’s verborgen habe. Aber geht ordentlich daran und nehmt jetzt nur ein Stück und nachher mehr. Da unter dem Strauche. Nicht so hastig!
„Wenn Ihr jemals eine Flucht wilder Tauben durch die Wälder habt sausen sehn oder wenn Ihr jemals ein Volk Rebhühner gesehen habt, das der Habicht verfolgt, oder wenn Ihr ein Dutzend Pferde, die zum Rennen abliefen, beobachtet habt, so könnt Ihr Euch einen Begriff von dem Rennen machen, das nun folgte. Ich dachte, ich sollte vor Lachen bersten. Und wer meint Ihr wohl, wer zuerst da war? – Joe Winn!
„Die ganze Nacht hindurch erscholl das Lager von Witzen über den armen Joe und ein schallendes Gelächter folgte jedesmal, wenn er ab und zu in kläglichem Tone sagte: „Lieber Tom, ich will für Euch Alles thun, was Ihr nur auf der Welt wünscht. Sagt es, Tom. Warum wollt Ihr’s nicht sagen?“
„Am nächsten Tage brachen wir nach dem Rest des Bären aus, und nachdem wir Alles, aus Furcht, es könne uns fehlen, sorgsam eingepackt hatten, zogen wir heimwärts. Unser Vorrath reichte so lange bis wir Wildpret fanden und endlich kamen wir glücklich in unsern Pflanzungen an.“
Auch die Frauen bedürfen wie die Männer einer Vorbildung für’s Leben, um ihre Stellung darin gehörig ausfüllen zu können. Zum Theil übernimmt zwar das Leben selbst, die Gesellschaft oder auch das Haus, dieses Geschäft, aber doch nicht immer und oftmals nicht auf die rechte Weise. Auch reicht die Bildung, welche Schulen oder Erziehungsanstalten dem in’s Leben eintretenden Mädchen mitgeben, zu diesem Zwecke selten aus, bedarf wenigstens der Wiederauffrischung und Fortsetzung. Es geht den Frauen auch darin oft wie den Männern, daß sie Manches gelehrt bekommen, was sie für ihren eigentlichen Lebensberuf nicht brauchen können und dagegen Vieles nicht lernen, was sie so nöthig brauchten. Aber den Mann zwingt der äußere Beruf und leitet ihn zugleich an das Versäumte nachzuholen, bei den Frauen fehlt dagegen nur zu oft im spätern Leben diese Anleitung und dieser Anstoß von außen, und so bleiben sie gar häufig von jener Bildung fern, welche gleichwohl erst die Frau vollständig zu dem macht, was sie sein soll.
Der Beruf der Frau ist ein dreifacher, denn 1) sie soll einem Hausstande, einem kleinern oder größern, einem eigenen oder fremden vorstehen; 2) sie soll die Erziehung von Kindern, als Mutter oder Schwester, als Verwandte oder Erzieherin von Fach leiten; 3) sie soll Mitglied eines geselligen Kreises sein und als solches ihren Platz ausfüllen, von dem engsten, traulichsten Kreise der Familie an bis zu den weitesten Kreisen der großen Gesellschaft. – Jede dieser Berufsstellungen erfordert zu ihrer rechten Ausfüllung eine entsprechende Bildung, d. h. die Erwerbung gewisser Kenntnisse und die Fähigkeit diese richtig anzuwenden.
Zur zweckentsprechenden Führung eines Haushaltes gehören Kenntnisse von den Naturkräften und Naturprocessen ebensowohl derjenigen, die außerhalb wie auch derjenigen die innerhalb [306] des menschlichen Körpers vor sich gehen, und welche bei den hauswirthschaftlichen Verrichtungen fast jeden Augenblick in Betracht kommen, wie bei Erzeugung von Wärme und Licht, bei der Wahl, Zubereitung und Aufbewahrung der Nahrungsmittel, bei Beurtheilung der Luft, Temperatur, Wohnung und Kleidung u. s. w.
Eine naturgemäße leibliche und geistige Erziehung der Kinder richtig leiten zu können, setzt aber eine Kenntniß vom menschlichen Körper insofern voraus, als erst durch diese die Gesundheit gehörig bewahrt, die Krankheit verhütet und in ihrer Ausbreitung nicht selten gehemmt, das Organ für geistige Thätigkeit richtig erhalten und bearbeitet werden kann.
Die Frau als Gesellschafterin, als Lebensgefährtin des Mannes und als Mitglied eines Familienkreises muß von dem, was in der Welt vorgeht, von dem, was den Mann beschäftigt und interessirt, wenigstens so viel kennen, um ein Verständniß dafür, ein Mitinteresse daran zu haben. Die gebildete Frau muß auch über die Gegenstände, welche in der größern Gesellschaft besprochen zu werden pflegen, über die allgemeinern Interessen des Lebens, der Kultur, der Menschheit, wenigstens soweit unterrichtet sein, um wenn auch nicht allemal selbst mitzusprechen, doch mit ihrem Geiste und Gefühle an dem Gespräche sich betheiligen, nöthigenfalls auf dasselbe eingehen zu können. Sie muß daher wenigstens einige allgemeine Begriffe von dem Kulturleben der Menschheit haben d. h. von dem, was der menschliche Geist geschaffen und erstrebt hat, was er täglich noch schafft und erstrebt, von den Fortschritten der Menschheit in Kunst, Wissenschaft, Sitte, Erfindungen und Entdeckungen u. s. w.
Bei der Erwerbung dieser Kenntnisse von der Natur und ihren Kräften, von der menschlichen Kultur und ihren Ergebnissen, kommt es durchaus nicht darauf an, eine große Masse derartiger Kenntnisse einzusammeln und das Gedächtniß damit zu überfüllen; es bedarf nur weniger, aber recht ausgewählter, recht verstandener und recht angewandter Begriffe von dem, was zu wissen und zu können nöthig ist. Eine gebildete Frau soll darum noch keine gelehrte sein, – (die sogenannten gelehrten Frauen sind sehr oft nicht wirklich gebildete) – sie soll nicht mit einer Masse, vielleicht unverdauten oder oberflächlich angelernten Wissens kokettiren, sondern sie soll das was sie weiß ganz wissen und im Leben anzuwenden verstehen, dadurch aber die Fähigkeit erlangen, durch eigenes Beobachten und Nachdenken sich selbst weiter zu bilden. Es ist ein wesentlicher Mangel in der Bildung so vieler Mädchen und Frauen unserer Zeit, daß sie, vielleicht im Besitze von Kenntnissen mancherlei Art, auch gewisser äußerer Formen und konventioneller Redensarten, doch des selbstthätigen innern Geistes- und Gemüthslebens entbehren, welches erst die wahre Bildung ausmacht und welches das weibliche Geschlecht in allen möglichen Verhältnissen liebenswürdig macht.
Darin besteht die allein wahre und allein vernünftige Emancipation der Frauen, daß sie eine solche innere Bildung statt der nur zu häufig blos äußerlichen, eine wahre Seelen- und Herzensbildung statt der bloßen Dressur des Gedächtnisses und Verstandes erstreben, daß sie sich einen offenen Sinn für die sie umgebende Natur und deren Schönheiten, sowie auch deren ernste Zwecke, ein Verständniß und ein aus diesem hervorgehendes tiefes und warmes Interesse für die Bestrebungen der Menschheit, für die Fortschritte der Kultur, kurz für das Leben und seine mannigfach wechselnden Erscheinungen, für seinen Ernst wie für seine heitern Seiten, aneignen. – Durch eine solche Bildung wird die Frau eine tüchtige Hausfrau, eine sorgsame und für ihre Sorgfalt von den schönsten Erfolgen belohnte Erzieherin, eine liebenswürdige Gesellschafterin, eine beglückende und beglückte Lebensgefährtin des Mannes, kurz das was die Frau sein soll und bei ernstem Streben so leicht werden kann.
Ankunft in Neuschottland. – Halifax. – Seine herrliche Lage. – Indianerwildniß und Vatermörder. – Ein Negerdorf. – Wett-Pflügen. – Ein Ball in Halifax und die klaren, ruhig leuchtenden Augen der Engländerinnen. – Fisch-Depôt.
Nach der Reise, die ich beschrieben, hatte ich in Halifax zunächst keinen andern Wunsch, als tüchtig und fest auf festem Boden auszuschlafen. Die spärlich erleuchteten Straßen der neuen Stadt in der neuen Welt, durch welche ich vom Schiffe nach einem Gasthofe fuhr, änderten nichts in diesem Vorsatze. Ich wollte mir nun einmal erst klare, vorurtheilsfreie Augen verschaffen. Als ich am Morgen erwachte, in der eigenthümlichen Nachwirkung der unregelmäßig wiegenden Bewegung des Schiffes auch diese Nacht noch tüchtig geschaukelt, ging ich auch nicht einmal eher an’s Fenster, als bis ich mich auf einer Karte gut umgesehen hatte, um genau zu wissen, wo ich eigentlich war: 900 geographische Meilen westlich von England, 1000 Meilen von dem Orte, wo meine Wiege stand, im Norden von Nordamerika, in Canada, auf dem südlichen Aste des Golfs von Lawrence, Neufundland gegenüber, also in Neuschottland und zwar in der Stadt Halifax. Nun glaubt’ ich mit gutem Gewissen zum Fenster hinaussehen zu können. Noch nie hatte ich so etwas Reizendes, noch nie einen solchen Zauber gesehen. Welch eine Vereinigung der reinlichsten, niedlichsten Kultur mit Natur-Erhabenheit. Alles Menschenwerk schmuck, frisch, neu, weiß, zierlich und sich ausdehnend durch eine Atmosphäre, deren spiegelblanke Klarheit mich wie der Odem einer höhern, überirdischen Welt anwehte, nachdem ich in London ganz vergessen hatte, was Luft und Himmel und Farbe waren. Halifax besteht größtentheils aus einzeln stehenden Häusern, die aber zusammen regelrechte, weite, in rechten Winkeln sich schneidende Straßen bilden. Wie erheiternd blicken sie in ihrer Weißheit aus den vielen grünen Bäumen der Straßen oder Gärten! Ihr allmäliger Verlauf nach einem großen See hinüber, aus dessen großem blauen Auge eine Menge grüner Inseln in den Himmel und den klaren Sonnenschein hinaufjubeln, dazu jenseits des See’s ein malerischer Landzug, besternt mit weißen Landhäusern, die sich nach dem Städtchen Dortmouth, welches sich jenseits im See bespiegelt, verdichten; dazwischen die lustigen weißen Schwingen von Booten und kleinen Schiffen – dies Alles zusammen, welch ein reines, reiches Kultur- und Naturbild! Halifax ist mit seinen 50,000 Einwohnern gewiß eine der am Glücklichsten gelegenen Städte der Welt und muß wegen der Vortheile, die ihm seine Lage bietet, noch eine der wichtigsten im nordamerikanischen Verkehre mit England werden, da sie an einem der großartigsten Häfen dem alten Mutterlande am Nächsten liegt und Neuschottland noch einen unerschöpflichen Reichthum von Mineralien und Früchten bieten kann. Freilich ist hier Alles von Holz, Häuser, Kirchen, Kirchthürme, Dächer, „Steinpflaster“, Säulen, Wege und Chausseen, selbst vielleicht viele Menschen, wenigstens die meisten Derer, welche in dieser Hauptstadt der Provinzialregierung so kleinlich und giftig zu politisiren scheinen, wie man es nur je auf einem „Holzwege“ verlangen kann; aber das Alles kümmert mich nicht. Sieht doch Alles rein, klar, anmuthig aus. Der Hafen läuft wohl 11/2 deutsche Meilen sehr breit unmittelbar aus dem Weltmeere herauf, verengert sich unweit der Stadt plötzlich und dehnt sich dann in einen ringsum geschützten ungeheuern Wasserspiegel von 11/3 deutsche Meilen Länge und einer halben bis zwei Drittel Breite. Dieser innere Hafen-See wird auf das Prächtigste von Höhenzügen, malerischen Klippen und grünem, oft weit überhangendem saftig grünen Baum- und Waldwerk eingerahmt. An der Halifax-Seite tritt noch ein besonderer Arm des See’s zwischen prächtigen Hügeln, Wäldern und Felsen tief in’s Land hinein und bildet so noch den geräumigsten Hafen im Hafen für den ausgedehntesten Handel, der sich bis jetzt nur deshalb noch nicht entwickeln konnte, weil es dem Lande an guten Straßen und Eisenbahnen, den Einwohnern aber an jener amerikanischen Kühnheit und frischen Spekulation fehlt, welche keine Kosten und Hindernisse scheut. Die Neuschottländer haben auf ihrer Halbinsel viel altschottische Bedächtigkeit, Kleinstädterei und Engherzigkeit behalten und in ihren abgeschlossenen [307] Verhältnissen wohl gar wuchern lassen, wie sich dies besonders auf einigen Ausflügen in’s Innere manchmal philisterhaft genug zu bewähren schien.
Zwischen den „blauen Nasen“, wie die Neuschotten von den Yankees genannt werden, und den eigentlichen Yankees macht sich auch noch ein Unterschied der mannichfaltigsten Art geltend, der auch für Deutschland sein Interesse haben wird, da er sich in dem würzigsten Humoristen, den Amerika bisher producirt hat, in „Sam Slick“ (dem Advokaten Haliburton in Neuschottland) auf eine Weise ausprägt, die durch Uebersetzungen in Deutschland schon vor Jahren olympisches Göttergelächter erregten. Wir hatten das Glück, den lustigen, modernen Weisen in seiner eigenen Behausung persönlich kennen zu lernen und werden ihm deshalb einen besondern Artikel zu seinem sprechend ähnlichen Portrait widmen.
Ich machte manche Ausflüge um Halifax herum und weiter in’s Land hinein, kann mich aber nicht auf ausführliche Schilderungen einlassen, da selbst die malerischsten und ergreifendsten Landschaftsbilder unter der feurigsten, besten Wortbeschreibung leiden würden.
Ich erwähne nur im Allgemeinen, daß der Reiz des Landschaftlichen hier größtentheils in gemischten Bildern großartiger Wald- und Felsennatur, in plötzlichen Uebergängen des Wildurwäldlichen in’s Idyllische und die Kultur, von zerlumpter Indianerwildniß zu einer reitenden Dame der feinsten Art, aus der schwarzen Negerhütte zum cultivirtesten Backenbart und Vatermörder der „Blaunase“ besteht. Hat man sich mit Lebensgefahr durch furchtbare Granitmassen und dichtverwachsene Wälder hindurchgearbeitet, klingeln und guken uns plötzlich fromme Kühe entgegen, die gemüthlich umherlungern, und drüber hinaus leuchtet das reinlichste, weiße Landhaus aus einladenden Obst- und Blumengärten heraus. Nicht selten wird man durch ein erbärmliches Wigwam (aus Stäben und darüber gebundenen Fellen bestehendes Indianerdorf) und einzelne, grell aber geistlos stierende Indianerweiber und Kinder überrascht, ein erschütternder Anblick der langsam aussterbenden rohen Menschennatur, die sich in die eindringende Kultur der anglo-sächsischen Race nicht finden kann. Man hat Vieles gethan, um diese „Micmacs“, wie diese Indianerreste hier genannt werden, zu civilisiren und zu christianisiren. Eben jetzt ist wieder eine Gesellschaft in Halifax damit beschäftigt, diesen Indianern Christenthum, moderne Kleidung und Lebensweise beizubringen, jedenfalls wieder ohne besondern Erfolg, da man immer mit christlichen Dogmen anfängt, statt sie durch äußerliche Kultur für schönere Sittlichkeits- und Religionswahrheiten (nicht Katechismus-Brocken) vorzubereiten.
Unweit eines armseligen Indianerdorfs stieß ich plötzlich auf eine etwas höhere Kulturstufe einer andern Menschenrace von lauter Negern. Mitten im Walde standen plötzlich einige Dutzend Holzhütten mit Thüren, Fenstern und naiven Ackergeräthen vor mir, mit denen sich kohlpechschwarze Jungen und Mädchen in den verschiedendsten Trachten zu thun machten. Das Weiße ihrer Augen wurde groß, wie ein neues preußisches Zweithalerstück, als sie mich anstarrten. Einige liefen in die Hütten und holten Mütter und Schwestern heraus. Ich aber machte nicht viel Umstände und bat, man möge mich in eine solche Hütte führen, was man denn auch mit viel Gefälligkeit that. Ich bemerkte einige Kamine und Kochapparate, viel Zerbrochnes und Zerlumptes und Betten von zerbröckeltem Laub und Gras, aber doch Menschen, die sogar zum Theil etwas Englisch sprachen und von der Kultur, die sich eine Stunde von ihnen in der feinsten, höchsten Potenz vereinigt fand, Begriffe hatten. Nur meinten sie, es koste zu viel Arbeit, sich so weit hinauf zu arbeiten. In Halifax erzählte man mir, es seien Neger, die ein englischer Admiral 1812 von einem Sklavenschiffe befreit und in Halifax abgesetzt habe. Ein Theil lebt in Halifax selbst in dienenden Verhältnissen, die in den Hütten außerhalb kosteten aber der Stadt im Winter viel Geld und Lebensmittel, da sie nicht dahin zu bringen seien, sich im Sommer gehörigen Vorrath von Kartoffeln, Getreide u. s. w. zu bauen. Ich glaube, sie bleiben deshalb so tief stehen, weil sie von den „christlichen Weißen“ in Amerika fast durchweg als eine ganz untergeordnete Sorte von Geschöpfen mit Verachtung und Demüthigung selbst von Denen behandelt werden, die für sie beten und Geld geben und im „Onkel Tom“ über sie weinen. –
Ich suche meine Erfahrungen und Beobachtungen in einzelne, abgeschlossene Bilder zusammenzudrängen. So laß ich denn hier eins von der Ackerbau-Kultur in Neuschottland folgen, wie ich sie in einem jener modernen „olympischen Spiele“, ganz ähnlich denen im alten England, so recht dicht beisammen sah. Das vom Provinzial-Gouverneur arrangirte Agricultur-Fest bestand zuerst aus einem großartigen Wett-Pflügen auf einer grasbedeckten Ebene vor der Stadt. Das Bild als Ganzes machte einen durchaus erquickenden, heiter erhebenden Eindruck. Kunstvolle, moderne Pflüge von Eisen in den verschiedendsten Gestalten, schöne, starke [308] Pferde, rothwangige Rosselenker mit sehr weißer Wäsche und städtischer Kleidung, die schönsten, vornehmsten Damen zu Pferde und die ganze Elite außerdem in glänzenden Equipagen, große Säume von Fußgängern, ringsum grüne Wälder, mürrische Felsen und weither lachende Wasserspiegel, über dem Ganzen der klarste blaue Himmel und in dem Ganzen eine gleichsam chemisch gereinigte, wie Spiegelglas durchsichtige, warme, luftige Atmosphäre. Dabei keine Spur von blitzenden Säbeln und polizeilichen Octroyirungen, kein Militärschauspiel zum Vergnügen der Großen, sondern das gebildetste Fest der Ceres für die praktischen Bedürfnisse Aller.
Noch vor zwanzig Jahren wurden Gemüse von Boston und Butter, Fleisch u. s. w. von Irland nach Neuschottland gebracht, um die damals geringere Zahl von Bewohnern zu nähren; jetzt führt man bereits Ackerprodukte in Menge aus.
Der zweite Theil dieses Ceres-Festes bestand am folgenden Tage in einer großen Thierschau, welche von großen Menschenmassen aus allen Ständen und Theilen der Halbinsel eifrig besucht und studirt ward. Beweises genug, wie man dergleichen praktische Paraden zu würdigen weiß. Das Fest schloß mit einem großen Diner und Ball, woran ich natürlich nicht Theil nehmen konnte; doch hatte ich Genuß genug, nach den Muster- und Mastochsen die schönen Damen im Ballcostüm aussteigen zu sehen. Zwar fand ich manche gewöhnliche Gesichter, aber auch eine Menge der überraschendsten Schönheiten, zarte Gestalten mit den zugleich feinsten und gesündesten Köpfen vom regelmäßigsten Bau. Das große, klare, ruhig leuchtende, unbefangene Auge der alt- und neuenglischen Schönheiten muß man sehen, um es zu glauben.
Im Allgemeinen fiel mir eine ungemeine Leichtigkeit und Frische sehr wohlthuend und im Gegensatze zu dem steifen Engländer in der Haltung und dem Benehmen der Leute auf. Ich lernte Kaufmannsdiener kennen, die sich eigene Pferde hielten und alle Tage lustige Ausflüge machten; ich hörte von prächtigen Schlitten- und Schlittschuhpartien im Winter und sah nach und von allen Seiten sorglose Gesichter und elastische Schritte auch unter den Geschäftsleuten, die in London verschlossen und vernagelt, gedrückt oder hochnäsig durch Millionen von Menschen wie durch eine Wüste eilen. Man erklärte mir diesen wesentlichen Unterschied wahrscheinlich sehr richtig: „Man weiß hier nicht viel von Steuern, und alle Bedürfnisse und Freuden des Lebens sind billig, zu denen außerdem selten Jemand spirituöse Getränke zählt. Stadt und Land ist lustig über eine Tasse Thee; Bier und gebrannte Wasser gelten für gemein und entehrend und Wein erscheint auch bei den Wohlhabendsten sehr selten auf dem Tische.“
Von Schulen und Kirchen konnte ich wenig Notiz nehmen. Erstere sind, nachdem, was ich darüber hörte, noch sehr mangelhaft und für die Zahl der Kinder unzureichend. Architektur, Kunst und Wissenschaft boten mir auch keine besondern Merkwürdigkeiten. Doch verdienen das Parlamentsgebäude und die Wohnung des Gouverneurs (in einem reizenden Garten), viele große Waarenschuppen und besonders die ungeheuern Fisch-Depôts, unmittelbar am Hafen, genauer angesehen zu werden. Ungeheuere hölzerne Häusercolosse sind vier, fünf bis sechs Stockwerke hoch, von getrockneten Fischen vollgestopft, die hier ihre Verschiffung, größtentheils nach den westindischen Inseln, erwarten. Die Meerfischerei ist bekanntlich an den kanadischen Küsten das eigentliche Gewerbe und eine so wichtige Lebensfrage, daß man früher schon einmal fürchtete, England könne um die Fische im Meere mit Amerika in Krieg verwickelt werden. Die Fischereifrage ist noch nicht ganz erledigt, doch verdanken England und Amerika dem lustigen Weisen „Sam Slick“, der in dieser Angelegenheit nach England kam, einen Besuch, der uns ein gutes Stück neuen Humors brachte („Sam Slick in England“), wenigstens so viel, daß man beiderseits glaubt, die Sache friedlich lösen zu können.
Ich werde unterbrochen – morgen mehr!
Lord Raglan, erster Commandeur der englischen Landtruppen in der Türkei. Merkwürdiger Humor der Geschichte! Derselbe Mann, welcher den Wellington als Secretair durch hundert Schlachten begleitete, um die Bourbonen auf dem französischen Throne wiederherzustellen und die Dynastie Napoleon zu vernichten, natürlich mit Hülfe Rußlands, derselbe Mann zieht jetzt mit napoleonischen, kaiserlichen Franzosen Hand in Hand gegen Rußland!
Lord Raglan, früher Lord Fitzroy Somerset, ist jetzt, wie alle Admiräle und Generäle der englischen Militärmacht, ein alter, wenigstens sehr alternder Herr, ein Sechs-und-Sechsziger; man setzt aber das meiste Vertrauen auf ihn, da er dem großen Wellington stets am Nächsten stand und von dessen Entschlossenheit, Strategie und Taktik am Meisten gelernt und behalten haben soll. Seine bedeutenden geistigen Fähigkeiten und persönlicher Muth hatten unter Wellington hundertfache Gelegenheit, sich zu zeigen. Die Wellington-Heldenthaten, welche in Portugal begannen und bei Waterloo endigten, können fast nirgends ohne ehrenhafte Erwähnung des Lord Somerset erzählt werden. Er betheiligte sich persönlich an den Schlachten bei Roleia, Vimiera, Tolavera und Busaco, wo er schwer verwundet ward; bei der Eroberung Oporto’s, den Operationen gegen Marschall Soult, der Verfolgung Massena’s, der Schlacht bei Fuentes d’Onor, der Belagerung von Badajoz, der Schlacht bei Salamanca, der Einnahme Madrids, der Vertreibung der Franzosen aus Valladolid, der Belagerung von Burgos, dem Rückzuge nach Portugal, dem letzten Vordringen 1813, bei den Schlachten von Vittoria und den Pyrenäen, bei Orthes, Toulouse und unzähligen andern Kriegsereignissen bis zur Gefangennehmung Napoleon’s. Als dieser noch einmal von Elba her erschien, zog er zum letzten Male mit Wellington gegen ihn und half die Schlacht bei Waterloo persönlich schlagen. Hier ward er so schwer am rechten Arme verwundet, daß dieser ihm abgenommen werden mußte. Damit endigte seine militärische Laufbahn. Von Zeit zu Zeit nahm er seitdem verschiedene Staatsämter an, saß im Unterhause und unterstützte bei allen Abstimmungen die konservative Partei, ohne sonst jemals ein Wort zu reden. Der Tod des Herzogs von Wellington brachte ihm das Amt eines Ordonnanz-Master-Generals, den Titel Lord Raglan und einen Sitz im Oberhause.
Schon in seinem sechszehnten Jahre 1801 ward er Offizier unter den leichten Dragonern und von 1809 an war er ununterbrochen Secretair und Aides-de-camp Wellington’s. Dieses Vertrauen Wellington’s, welches er geistig und körperlich stets rechtfertigte, hat sich so sehr in der öffentlichen Meinung festgesetzt und ausgebreitet, daß nur er das gegenwärtige, bedeutungsvolle Amt übernehmen konnte, so wie bei dem besten oder schlechtesten Willen der Aberdeen’s kein Anderer die baltische Flotte hätte bekommen können, als Charles Napier, der einmal mit 500 Seesoldaten 50,000 Mann Mehemed Ali’s schlug, ihm den Frieden dictirte, dann Alles mit der Türkei in Ordnung brachte und ganz zuletzt an die Regierung nach Hause schrieb: „Alles abgemacht! Unterschreiben Sie gefälligst auch noch.“
Mit der heutigen Nummer schließt das 2te Quartal unserer Zeitschrift und bitten wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen sofort in den betreffenden Postämtern und Buchhandlungen aufzugeben, damit die regelmäßige Zusendung nicht unterbrochen wird.
Die Tendenz der Gartenlaube bleibt dieselbe. Nach wie vor wird das unterhaltend-belehrende Element derselben durch die trefflichen Beiträge der bekannten Mitarbeiter gewahrt bleiben, während den Zeitereignissen im Orient und in der Ostsee durch gute und authentische Abbildungen und erklärende Berichte Rechnung getragen wird. In einer der nächsten Nummern beginnen die Briefe aus Varna von J. von Wickede.
Leipzig, Ende Juni 1854.Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: nnd