Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1853)/Heft 10

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[97]

No. 10. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Der Seewicher Pfarr-Kirmesstag.

Ein Bild aus dem thüringischen Volksleben.
von
Ludwig Storch.
Fortsetzung.


Zu den großen Liebhabereien des fürstlichen Herrn und Gebieters von Eisenach gehörten außer den Pferden und Hunden, die sich gleichsam von selbst verstanden, die Haushähne, die Tauben und die Finken. Die Leidenschaft für diese gefiederten zweibeinigen Erdenbewohner hatte er als junger Prinz schon in der Ruhl eingesogen; denn zu den vielen Eigenthümlichkeiten dieses reichbelebten Thalortes gehörte auch die Leidenschaft für die genannten Vögel und zwar in einer Stärke, von der man in unsrer blasirten Zeit keine Vorstellung mehr hat. Es gab da Messerschmiede, welche für einen gut eingelernten Finken mit Freuden eine gut milchende Kuh hingaben. Schöne Tauben zu haben war gewissermaßen die beste Bürgschaft für den guten Ruf eines Mannes. Ein Messer- oder Schnallenschmied mit einem Taubenhause voll ausgezeichneter Tauben galt für einen ehrenwerthen, rechtschaffnen und solventen Mann, und wer dazu noch einen oder ein paar prächtige Kampfhähne hatte, stand gewiß im hohen Ansehen in den drei Gemeinden des Orts. Wer einen rechten „Beißer“ besaß, durfte so stolz darauf sein, wie nimmer auf ein eignes und wenn noch so hohes Verdienst. Sonnabends Nachmittag, wenn in allen Werkstätten Feierabend gemacht war, kamen die ehrenwerthen rusigen Schmiede mit ihren Hähnen, die kurz vorher mit in Brandwein eingeweichten Gerstenkörnern gefüttert und dadurch zwiefach hitzig gemacht worden waren, an gewissen Plätzen zusammen. Die Thiere wurden auf einander losgelassen und nun ging zum höchsten Ergötzen der zahlreichen Zuschauerschaft die Beißerei los, die nicht selten damit endigte, daß einer der Hähne todt auf dem Platze liegen blieb. Man war daran gewöhnt, erst den Erbprinzen und später den Herzog zuweilen unter diesen Zuschauern zu sehen, und in der That ergötzte sich der hohe Herr nicht minder an dem Straßenschauspiel wie der geringste Messerschmiedslehrjunge.

In Bezug auf den Herzog hatte die Ruhl noch eine andre Merkwürdigkeit, nämlich einen Mann, welcher eine überraschende Aehnlichkeit mit Sr. Durchlaucht hatte. Es war dies der Schalenschneider Johann Christian Gößel, in der Ruhl nur mit seinem Spitznamen „Tauben-Jan“ benannt, den er von seiner großen gleichsam sein ganzes Leben aufzehrenden Leidenschaft für die Tauben erhalten [98] hatte. Sein Geschäft bestand darin, aus Knochen, Hirschhorn und Holz die Schalen für die Messer- und Gabelgriffe zu schneiden und an das Heft fest zu nieten; aber Jan war in der That wenig bei dieser Arbeit zu finden. Seine Frau und seine einzige Tochter, zwei thätige Frauenzimmer, verdienten mit Putzen und Vollenden der Waare mehr als der kleine mäßig lebende Haushalt bedurfte, und so konnte Meister Jan ebenso noch als ein hoher Vierziger seinem Lieblingsvergnügen, den Tauben, nachgehen, wie er ihm schon als Knabe nachgelaufen war. Von Mittag und nicht gerade selten sogar vom frühen Morgen an sahen die Bewohner des Thals, abwechselnd die eisenacher und die gothaer Unterthanen den guten Tauben-Jan bald durch die langen Straßen des Orts rennen, bald an den Bergwänden emporklimmen, bald oben auf den Bergkanten trotten, bald in den Büschen der Thalwiesen herumkriechen, wie es gerade die ausgeflogenen Tauben erheischten. Sein An- und Aufzug war dabei sehr originell und einfach. Auf dem grausen Blondkopf trug er entweder eine stahlgraue übergeschlagne wollene Sackmütze oder er war barhäuptig; ein schmutziges Hemd mit dem Schlitz auf dem sonnenverbrannten breiten Rücken und ein paar sehr alte und vor Schmutz gleisende schaflederne kurze Hosen, die allein von den Hüften und im Nothfall von seinen Händen gehalten wurden, machten seine ganze Bekleidung aus. Zuweilen kamen noch ein paar alte Pantoffeln oder Schlumpschuhe hinzu, in der Regel lief er aber eben so mit bloßen Füßen, wie mit bloßen Beinen. Unter seinem linken Arme vermißte man aber niemals das lange schwarze Blasrohr mit hörnernem Mundstück, die Meisterarbeit eines Drechslers. Alle Jungen im Orte versicherten einander mit wichtigen und geheimnißvollen Mienen, Jan’s Blasrohr sei inwendig mit Maulwurfsfellchen gefüttert. Dies war nun zwar nicht der Fall, aber diese mythische Angabe bewieß hinlänglich, in welchen hohen Ehren dieses Instrument oder Gewehr bei der ganzen Dorfjugend stand und von welchem Werthe es war. Es gab in der That kein zweites so im Orte, obgleich der Taubenliebhaber und Züchter und folglich auch der Blasröhre noch sehr viele. Die Hosentasche Jan’s war ganz mit thönernen Kugeln angefüllt, die zu Hause mit der Kugelzange zu formen seine Hauptbeschäftigung war. Seine großen grauen Augen waren während seines Marsches immer nur auf die Giebel und Dachfirste der Häuser, auf die Ausgänge und Stangen der Taubenschläge gerichtet, und er hatte selten für einen andern Gegenstand als Tauben einen und dann gewiß nur gleichgültigen Blick. Im Uebrigen war Jan ein kerngesunder prächtiger Mensch mit einem dunkelbraunen Vollmondsgesicht, das nun eben mit dem des Herzogs in einer Form abgedruckt zu sein schien.

Aber die Aehnlichkeit der beiden Männer bezog sich nicht allein auf die Gesichtszüge, auf Farbe und Ausdruck der Augen, des Haars, der Leibesgestalt und Haltung, sie fand auch hinsichtlich der Neigungen und Leidenschaften und ihres Ausdrucks in Stimme und Geberde statt. Wie der Herzog neben der Jagd, den Pferden und Hunden, die Tauben, die Hähne und die Finken liebte, so liebte Jan neben den Tauben, Hähnen und Finken auch noch die Jagd, Pferde und Hunde und das stärkere Hervortreten der einen oder der andern Neigung bei dem Fürsten und dem Schalenschneider war offenbar nur von ihren so sehr verschiedenen Lebensverhältnissen bedingt. Man gab dem trefflichen Blasrohrschützen Tauben-Jan nicht mit Unrecht Schuld, daß er auch eine gezogene Jagdflinte mit derselben Sicherheit zu handhaben wisse und das stählerne Rohr in seiner Hand eben so wenig sein Ziel verfehle, wie das hölzerne. Er stand mit einem Worte im Geruch ein Wilddieb zu sein. Das Halten der Hunde verleidete ihm die unermüdliche Zanksucht seiner Ehehälfte, welche, so oft er auch ein so schmuckes Vieh in’s Haus gebracht hatte, es immer wieder hinausgebissen oder ihm nichts zu fressen gegeben hatte, und Jan war schlechterdings nicht im Stande, ein solches aus eignen Mitteln auf die Dauer zu ernähren.

Es gab Leute, welche die Aehnlichkeit Tauben-Jan’s mit dem Herzog auf eine sehr natürliche Weise erklären wollten, doch flüsterten sie allemal und sahen sich scheu um, wenn sie davon sprachen.

Der Herzog kannte sein Ebenbild persönlich und war in Bezug auf Tauben einige Mal mit Jan in persönliche Berührung gekommen; aber sei es, daß die Aehnlichkeit des gemeinen Mannes etwas Unheimliches für den Fürsten hatte, sei es, daß die sein hohes Ohr mehr als einmal berührende Kunde von Jan’s gesetzwidrigen Spaziergängen auf den Wildbahnen ihn erbitterte, genug er näherte sich dem berühmten Taubenliebhaber nicht mehr. Ja im Geheim gab er seinem Unterförster Voigt auf dem Heil’genstein, einem jungen tüchtigen Jäger, Auftrag, sich mit Tauben-Jan zu befreunden, ihn in seinem eignen Hause zu umlauern und es auf diese Weise zu bemöglichen, daß der Wilderer einmal auf dem eisenach’schen Revier gefangen werde. Jan war nämlich ein gothaischer Unterthan, und mit den gothaischen Gerichten hatte Herzog Wilhelm Heinrich eben so wenig wie mit dem feinen gothaischen Hofe gern etwas zu thun. – Dieser Befehl des Herzogs hatte den Unterförster aber auf einen Weg geführt, der keineswegs in der Absicht seines Herrn gelegen, nämlich auf den Weg in das unbewachte Herzchen des schönen schlanken Marielieschens, Tauben-Jan’s einziger Tochter. Und als der stattliche Waidmann erst einmal drinne saß, konnte er nicht wieder heraus, obwohl er sehr gut wußte, daß der Herzog dazu nimmermehr Ja und Amen sagen würde. Natürlicher Weise lag dem Unterförster daran, daß Jan nicht auf dem Revier erwischt werde, und statt seines bösen Dämons, wozu ihn der Herzog bestellt, wurde er Jan’s guter Genius, der ihm durch Marielieschens kleinen rothen Mund zur rechten Stunde manche gute Warnung zukommen ließ. Es versteht sich von selbst, daß der grünberockte Genius dafür von demselben rothen Munde gebührend belobt und belohnt wurde.

Jan kannte das Verhältniß seines Kindes mit dem Unterförster, bekümmerte sich aber nicht darum, wie überhaupt um nichts, was in seinem Hause vorging. Er überließ das wie alle häuslichen Angelegenheiten seiner Frau und ging wie immer seinen Tauben nach.


Die Seewicher Kirmeß war wieder vor der Thür, und man sprach viel davon, daß die Ruhler diesmal eine absonderliche Mummerei veranstalten würden.

Sonnabends vorher, als nach dem Feierabend die sorgsame Tochter mit dem Scheuern des Hauses eben fertig war und die Herbstnacht sich schon dunkel in’s Thal gesenkt hatte, trat der Unterförster plötzlich in das spärlich [99] erleuchtete Stübchen zu dem flinken Mädchen. Nach der ersten einfachen und herzlichen gegenseitigen Begrüßung sagte er leise: „Mein Schätzchen, ich muß Dir etwas anvertrauen, aber Du darfst es bei Leib und Leben nicht verrathen.“

„Da hast Du meine Hand drauf!“ versetzte Marielieschen treuherzig.

„Der Teufel mag wissen, was der Herzog mit Deinem Vater vor hat, aber etwas Gutes ist’s gewiß nicht.“

Das Mädchen erschrack.

„Heute war ich mit dem Herrn auf der Jagd. Als abgeblasen war und ich Urlaub nehmen wollte, sagte er zu mir: wart’ bis zuletzt, ich will Dir etwas mitgeben. Ich wartete. Da zog er ein zusammengeschlagenes Papier hervor, worin augenscheinlich irgend ein Pulver und sagte: das trägst Du diesen Abend noch nach Hucherode zum Gutsbesitzer Werneburg und sprichst hier wäre das Pulver für den Tauben-Jan; er soll’s ihm in Schnaps eingeben: Das Uebrige bleibe bei der Verabredung.“

„Großer Schöpfer“ seufzte Marieliese, „will denn der Herzog meinen Vater vergiften lassen?“

„Ah bah! das glaub’ ich nicht,“ meinte der Unterförster. „Dahinter steckt etwas Anderes.“

„Aber mein Vater ist ja doch nicht krank, daß er ein Pulver einzunehmen brauchte, und wenn er’s wäre, so wäre ja der Herzog kein Doktor, und warum soll ihm nur Herr Werneburg in Hucherode das Pulver eingeben?“

„Das sind ja eben die wunderlichen Räthsel, über denen ich mir den ganzen Weg über den Kopf zerbrochen habe. Herr Werneburg sagte weiter nichts, als: er werde es bestens besorgen. Da war ich so klug als vorher. Und fragen durfte ich natürlich nicht. – Du hast jetzt weiter nichts zu thun, als Deinen Vater zu warnen, daß er von Herrn Werneburg keinen Schnaps annimmt, wenigstens keinen, der nicht hell und klar wie Quellwasser aussieht.“ –

Marielieschen konnte die Nacht über vor Kummer und Neugierde, was es doch mit dem herzoglichen Pulver für eine Bewandtniß haben möchte, fast kein Auge schließen, und als sie am folgenden Morgen mit ihrer Mutter aus der Kirche heimkehrte und den ihr wohlbekannten Werneburg von Hucherode auf der Bank vor ihrer Hausthür auf ihren Vater wartend sitzen sah, entfärbte sie sich und zitterte.

Herr Werneburg, ein stattlicher Mann, war Besitzer des kleinen Landguts Hucherode, das eine gute Viertelstunde von Seebach westlich einsam in einem Thalgrund liegt, und eben auch ein großer Taubenliebhaber, der schon oft schöne Exemplare von Jan eingetauscht oder gekauft hatte. Auch heute kam er mit dem Vorwande, ob Meister Jan nicht etwas hübsches Neues habe; er habe diesen Morgen Geschäfte in der Ruhl gehabt, da sei ihm eingefallen, auch einmal hier zuzusprechen und sich Jan’s Taubenschlag zu besehen.

Jan fühlte sich sehr geschmeichelt und geehrt und war eben im Begriff, seinen „Zuspruch“ auf den Boden zu führen, als die Tochter ihn in die Küche rief und hier leise, bleich und mit bebenden Lippen beschwor, ja keinen Brandwein mit Herrn Werneburg zu trinken; sein Leben hange davon ab; sie aber auch nicht zu verrathen, daß sie ihn gewarnt. Jan war über des Mädchens Wesen und Rede doch betroffen. Inzwischen fiel es Werneburg nicht ein, ihm Schnaps anzubieten, vielmehr handelte er ihm zwei Paar prächtige „Sperberköpfe“ für einen hohen Preis ab. „Wißt Ihr was, Jan,“ sagte er nur so leicht hin, „ich kann die Tauben heute nicht mitnehmen. Auch wißt Ihr sie besser zu transportiren als ich. Ihr könnt sie mir morgen Nachmittag bringen. Ich laß mir’s auf ein Kopfstück Trinkgeld und ein gutes Abendbrot mit Doppelbier und Brandwein nicht ankommen. Na und Ihr geht ja doch wohl den Dienstag früh in die Seebach zur Kirmeß, da könnt Ihr die Nacht in Hucherode schlafen; wir halten erst eine kleine Vorkirmeß und gehen dann früh zusammen hinüber in die Kirche und zum Pfarrer.“

Das waren allerdings sehr lockende Anerbietungen für Jan. Der Gutsbesitzer hielt die Hand hin und sagte dringend: „Schlagt ein, daß Ihr morgen Abend kommen wollt! Ich zahl’ Euch eher keinen Pfennig, und wenn Ihr morgen Abend nicht kommt, gilt der Handel nicht. Kommt Ihr aber, so geb’ ich noch ein Paar von meinen schönsten Tauben drein, die Ihr Euch aussuchen sollt.“

Jan schlug schmunzelnd ein.

Erst als Werneburg fort war, fiel dem Taubenheger das eigenthümliche Drängen desselben auf, und er fragte nun Marielieschen aus, was sie denn nur mit ihrer seltsamen Warnung wolle. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie vorgab, sie habe einen bösen Traum gehabt, wenn ihr Vater einen dunkelgefärbten Schnaps mit Werneburg tränke, so koste es ihm das Leben. Das zog bei Jan, denn er war sehr abergläubisch, und er nahm sich vor in Hucherode vorsichtig zu sein.


Am Montag Nachmittag trabte Tauben-Jan im Sonntagsstaat, dunkelgrünen Manchesternen Kniehosen, blauwollnen langen Strümpfen, Schnallschuhen, kurzer blauer Jacke mit Zinnknöpfen, rother Tuchweste, buntem Kattunhalstuch und wollner Sackmütze, thalabwärts, in der einen Hand das berühmte Blasrohr, in der andern ein zusammengebundenes weißes Tuch mit den Tauben. Er war heiter und guten Muths und gedachte auf der kleinen Reise manche hübsche geflügelte Eroberung zu machen.

In Hucherode wurde Jan sehr freundlich aufgenommen. Bald stand eine Knackwurst und eine Bulle mit dunkelrothem Brandwein vor ihm auf dem Tische, und Herr Werneburg nöthigte zum Essen und zum Trinken. Der Schnaps wurde in ein Kelchglas gefüllt und dem Taubenzüchter präsentirt. Dem fiel aber plötzlich der Traum seines Kindes ein, und die Zunge im Halse wurde ihm kalt vor Schrecken. Doch nahm er sich zusammen und ließ sich nichts abmerken.

„Ah, Sie haben mir da einen Abgezogenen eingeschenkt, Herr Werneburg.“

„Es ist ein Kirschen, etwas ganz Vorzügliches. Trinkt das Glas aus, Jan!“

„Wollen Sie mir nicht zutrinken, Herr Werneburg?“

„Es ist jetzt meine Zeit nicht. Ich trinke nur zum Frühstück Brandwein. Doch will ich Euch ein wenig Bescheid thun.“

Jan sah genau, daß der Hauswirth nur ein Weniges abschlürfte und dieses im Umdrehen wieder ausspuckte. Nun wußte er genug.

„Und ich habe vorhin auf dem Heil’genstein erst ein Viertelchen getrunken“ sagte er gleichgültig. „Da’s aber [100] etwas so Gutes ist, will ich’s nachher vor Schlafengehen zu mir nehmen. Da schlaf’ ich gut drauf.“

„Thut das, Meister Jan!“ lächelte der Andre.

Jan ließ sich’s schmecken und schwatzte dazu nach Herzenslust von seinen Tauben. Hatte ihn doch der Traum seiner Tochter nur vor dem gefärbten Brandwein gewarnt. Was es eigentlich damit sollte, darüber zerbrach er sich den Kopf auch nicht. Er ließ es eben an seinen Ort gestellt sein. Jan war eine glückliche Natur. Was er nicht begriff – und er begriff in der That nicht viel – das ließ er bei Seite liegen.

Bei der ersten Gelegenheit, als er sich von den Leuten in der Stube unbemerkt sah, goß er das eingeschenkte Glas Brandwein zum Fenster hinaus und stellte sich dann als habe er es ausgetrunken; und als ihn Herr Werneburg in die Schlafkammer führte, nahm er schmunzelnd die Schnapsflasche, mitsagend: der Kirschen schmecke ihm zu gut, er werde die Flasche austrinken, wenn er im Bette liege, dann könne der Rausch kommen, er sei ja in Nummer-Sicher. Der Hauswirth belobte diesen Entschluß und wünschte ihm gute Nacht. Jan goß den Inhalt der Flasche aus, sobald er sich allein sah, nahm für alle Fälle seinen scharfen Schnitzer mit in’s Bett und schnarchte schon nach wenigen Augenblicken.

Als er erwachte war’s schon heller Tag und er bemerkte zu seiner Verwundrung, daß seine Kleider nicht mehr auf dem Schemel vor dem Bette lagen, wohin er sie gelegt. Er brachte diesen seltsamen Umstand mit dem rothen Brandwein in Verbindung und beschloß bei sich, sich noch eine Zeit lang schlafend zu stellen, ob er nicht einen Aufschluß erhorchen möchte. Seine Hoffnung wurde erfüllt. Herr Werneburg war eben aufgestanden und kam mit dem Großknecht in die Kammer. „Wahrlich!“ sagte er lachend, „Du hast Recht, der Kerl hat die ganze Bulle ausgesoffen. Na der schläft uns sicher bis morgen und wird schöne Augen machen, wenn er die Pfarrkirmeß verschlafen hat. Räuchere die Lumpen mit Wachholdern aus. Se. Durchlaucht wird nicht lange auf sich warten lassen.“ – Damit gingen sie lachend. Einigen Aufschluß hatte Jan nun schon. In dem rothen Brandwein war ein Schlaftrunk gewesen. Nicht lange, und Alles sollte ihm klar werden. Noch hatte er keine Stunde still gelegen, als er Pferdegetrab vernahm. Vorsichtig lugte er aus der Ecke des Fensters hinaus. Es war der Herzog, den Werneburg ehrerbietig bewillkommte.

„Ist der Kerl da?“ fragte der Fürst.

„Jawohl und hat die ganze Portion eingenommen. Er schläft wie ein Dachs.“ – Sie gingen in’s Haus. Jan lag wieder eine Stunde wie auf Kohlen; ihm hungerte und durstete, und aus manchen Tönen, die an sein scharfes Ohr drangen, merkte er, daß gefrühstückt wurde. Er mußte aber aushalten. Endlich hörte er, wie die Hausbewohner allmälig aufbrachen, um hinüber in’s Dorf zur Kirmeßkirche zu gehen. Jan lugte hinter her und sah mit lächelnder Befriedigung sich selbst neben Herrn Werneburg dahin wandern, das Blasrohr unter dem Arm. Nun blieb ihm kein Zweifel mehr. Der Herzog wollte als Tauben-Jan die Pfarrkirmeß besuchen, um irgend eine Schelmerei zu treiben, und ihm, dem wirklichen Jan, war aus zwiefachem Grunde der Schlaftrunk bereitet worden: erstlich damit nicht zwei Jane in der Seewicher Pfarre auftreten sollten, und dann, damit der Herzog in seinen (Jan’s) Kleidern und mit dem Blasrohr dort erscheinen könne. Jan war keineswegs der Mann, der auch nur im Mindesten gewillt sein konnte, sich des Herzogs wegen, der ja nicht einmal sein Landesherr war, das ersehnte Kirmeßvergnügen abschneiden zu lassen oder vielmehr freiwillig aufzugeben und sich den ganzen Tag über im Bette aufzuhalten, zu hungern und zu dürsten und sich anzustellen als schlafe er. Ueberdies hatte er seinen Freunden und Handwerksgenossen versprochen bei der heutigen Mummerei in der Seebach eine Hauptrolle zu übernehmen, wozu bereits die Vorkehrungen getroffen waren.

Da der Herzog sich ohne seine Erlaubniß seiner Kleider bemächtigt hatte, um in Seebach Tauben-Jan zu spielen, so lag ihm der Gedanke zu nah und sah ihn viel zu verlockend an, um ihn nicht auszuführen, der Gedanke das Vergeltungsrecht am Herzog zu üben, sich die Kleider desselben anzueignen und in Seebach den Durchlauchtigen Herrn vorzustellen. Eigentlich blieb ihm ja durchaus weiter nichts übrig; und daß das ein Hauptspaß werden müsse, wenn er, Jan, als Herzog und der Herzog als Jan dort aufträten, leuchtete ihm schnell ein. An weitere unangenehme Folgen, die für ihn daraus entspringen könnten, dachte er nicht. Seine einzige Sorge ging dahin zu erspähen, ob alle Hausbewohner nach dem Dorfe hinüber gegangen seien, und wo er die fürstlichen Kleider finde. Aus der Kammer gekrochen, lugte er umher und ward inne, daß eine alte halbtaube Magd zurückgeblieben sei und in Hof und Stall hanthiere. Die gesuchten Kleider fand er in der obern Stube, wo auch noch Wein und Speisen auf dem Tische vom Frühstück standen. Jan legte erst den Staat an. Er nahm sich Zeit dazu, und seine kindische Freude stieg mit jedem Stück der herzoglichen Garderobe, das er am Leibe fühlte, und er betrachtete sich wie ein junges eitles Mädchen im Wandspiegel. Endlich war er von der kleinen Perrücke mit dem mächtigen Zopf bis zu den bespornten Stiefeln hinab Se. Durchlaucht der Herzog von Sachsen-Eisenach. Nun setzte er sich zu Tische und leerte ganz gemüthlich im Geiste seiner Rolle Teller und Flaschen. Er wollte durchaus nicht eher in Seebach erscheinen, als bis des Pfarrers Mittagstisch vorbei sei, denn er hatte eine geheime Furcht zu demselben gezogen zu werden. Als es ihm Zeit schien, ergriff er den kleinen dreieckigen Hut und die Reitpeitsche und ging stolz und keck davon, als sei er wirklich der Fürst des Landes.

(Schluß folgt.)




[101]

In der Erde.

Herder’s Ruhestätte bei Freiberg.


Gar oft, wenn ich irgend ein Geldstück in der Hand hielt, hatte ich derer gedacht, welche das Metall dazu aus dem Schooße der Erde heraufholen; gar oft hatten die phantastisch gekleideten „Bergleute“ mit ihrem Hute ohne Krempe und mit der Schürze, die sie nicht vorn, sondern hinten tragen, meine Neugierde erregt wie ein fremdartiges Volk mitten unter uns gewöhnlichen Menschen, und diese Neugierde steigerte sich noch mehr, wenn ich von dem Bienenfleiße, von der Frömmigkeit, von dem treuen Zusammenhalten dieses Völkchens, von der Gefährlichkeit der Arbeit in der Erde, von der Armuth der Leute unter allen den Schätzen, die sie zu Tage fördern und ihrer bewundernswerthen Genügsamkeit hörte, bis ich endlich beschloß, ihr Leben und Treiben an Ort und Stelle selbst kennen zu lernen. Wir haben ja in Sachsen ein ganzes Erzgebirge, das seit länger als siebenhundert Jahren emsig durchwühlt wird; wir haben in Freiberg, der Hauptstadt des Bergbaus, in der Academie die hohe Schule der Bergbaukunst für die ganze Welt, jene Schule, die von Russen und Mexicanern, von Brasilianern und Aschantis, von Spaniern und Türken, von Franzosen und Engländern besucht wird, an der ein Werner lehrte, der Vater der neuen Geologie, die Schüler zog wie Humboldt und von Buch und an deren Spitze noch vor wenigen Jahren ein Herder stand.

So wanderte ich denn mit einem Freunde nach Freiberg und hier erhielten wir ohne Schwierigkeit einen „Fahrschein“, die Erlaubniß in die Erde herabzusteigen. Die Grube, die wir besuchen wollten, war der Himmelsfürst bei Brand. Viele Gruben führen solche Namen, die von der Frömmigkeit des Bergvolkes zeugen, „der Segen Gottes“, „die alte Hoffnung Gottes“ u. s. w.

Der Führer, dem uns der Schachtmeister überwies, versah sich mit kleinen Laternen, nahm ein unheimlich aussehendes Bündel auf und ging vor uns her nach einem andern Theile des Gebäudes, in dem wir uns befanden. Da lagen Haufen dunkelgrauer zerschlagener Steine – Silber- und Bleierze, die eben aus der Grube heraufbefördert worden waren, über deren Oeffnung wir standen, ohne daß wir es ahnten. Schon hier beginnt die Zurichtung der in Kübeln durch eine Winde heraufgehobenen Erze. Ueberall unter hölzernen Schuppen bemerkten wir Gruppen von Knaben – Pochjungen –, welche die Erze zerschlagen, sortiren, waschen und sieben, bis sie geeignet sind, in den Schmelzofen gebracht zu werden.

Wir folgten unserm Führer nun über einen staubigen Platz nach einem hölzernen Gebäude mit einem kegelförmigen Dache und in dessen Nähe vernahmen wir einen leisen lieblich-melancholischen Glöckchenklang, der nach regelmäßigen Pausen träumerisch durch die Luft zog. Woher dieser seltsame Ton? In der Mitte des Baues hing ein Glöckchen und dessen Silberstimme hörten wir.

„Welchen Zweck hat diese Glocke?“ fragten wir den Führer.

„Es ist die Sicherheitsglocke.“

„Und ihr Klang zeigt Gefahr an?“

„Nein, umgekehrt; ihr Schweigen bedeutet Gefahr. Die Glocke wird durch ein großes Wasserrad dicht unter der Oberfläche mit in Bewegung gesetzt. Durch dieses [102] Rad und andere in größerer Tiefe bringt man das Wasser aus der Grube. Wenn irgendwie diese Räder zum Stehen kommen, hört auch das Glöckchen auf zu läuten und die Arbeiter eilen zu Tage, weil Niemand sagen könnte, wie bald die Grube in dem Wasser ersaufen würde.“

So läute und klinge weiter, du Sicherheitsbote! Möge deine Stimme nimmer schweigen, möge sie immer und immer denen melden, die tief unten im dunkeln Schooß der Erde sich mühen, daß die Elemente ihnen nicht zürnen!

Der Führer öffnete nun das unheimliche Bündel, das er bis dahin getragen hatte, und forderte uns auf, die darin enthaltenen Anzüge anzulegen, – schwarze weite Beinkleider, eine schwarze Kutte, den Lederschurz, an dessen Gürtel vorn eine kleine Laterne gehakt wird und den schrecklichen schwarzen Filzhut ohne Krempe.

Endlich folgten wir, als dieser Anzug über unsere Kleider gezogen war, dem Führer auf Steinstufen hinab, die durch den festen Granit gehauen sind. Auf den ersten Stufen aber schon blieben wir stehen, denn wir hörten ein unheimliches Knarren und Rauschen – das gewaltige Wasserrad, das sich in seiner Steinkammer langsam umdreht und dessen Speichen wie Riesen-Arme unaufhörlich durch die feuchte Finsterniß greifen, während das Wasser rauscht und Tropfen nach Tropfen in die Tiefe fallen. O und die schauerlichen Stufen – finster, steil, schlüpferig! Wasser tropft von der Decke oben, Wasser sickert aus den Wänden! Und der Gang, in dem sie hinabführen, ist so niedrig, daß der Körper sich nicht vorwärts neigen kann, wie er es bei Abwärtssteigen thut, sondern der Kopf rückwärts gebogen werden muß, damit man mit dem häßlichen Hute nicht an der Decke anstößt. Immer – immer hinunter, auf den schrecklichen Stufen, an den nassen Wänden hintappend, durch die tiefe Finsterniß und die schwere feuchte Luft! Der Weg scheint sich zu drehen und zu wenden, man erkennt nicht recht wie. Bisweilen geht es in ebenen Gängen hin, aber sie führen nur zu andern steilen schlüpferigen Stufen, die, immer in gleichem spitzen Winkel, durch das Gestein gehauen sind. Hinunter, hinunter, sechshundert Fuß! Und der Führer flüstert uns zu, ja vorsichtig zu sein, mit dem Fuße erst zu fühlen, ehe wir ihn festsetzten, denn wir befänden uns an einer gefährlichen Stelle. Er hatte uns zu diesem Theile der Grube geführt, um uns zu zeigen, wie das Wasser sich ansammelt. Die Erzader lohnt an diesem Punkte die Arbeit nicht mehr und sie ist da aufgegeben worden. Athemlos kriechen wir weiter, bis der Führer uns auffordert stehen zu bleiben.

Da hält er seine Laterne so weit vor, als er mit dem Arme reichen kann und zeigt uns – undeutlich nur – in der kohlschwarzen Nacht eine Höhle mit niederer Decke und in dieser einen dintenschwarzen See, dessen Wasser nie ein Lüftchen kräuselt und in dem das Licht der Laterne sich wie in einem Spiegel bricht. Ein grauenhafter Anblick – so schwarz, so bewegungslos! Ein heimtückischer Pfuhl, der uns wahrscheinlich verschlänge, ohne nur eine Blase zu werfen. Und wir stehen nur einen Fuß weit von seinem Ufer! Unwillkürlich treten wir zurück und kriechen auf den steilen Stufen bis zum ersten Absatz wieder hinauf.

Von da geht es in einen schmalen Schacht eine Strecke weit hin, dann – wieder hinunter und immer hinunter auf den endlosen Stufen, bis uns von der ewig gleichförmigen Bewegung die Knie zittern und der Schweiß aus allen Poren dringt. Die Luft ist dabei so dick und schwer, daß wir bisweilen wie keuchend und schnappend einathmen. Aber immer weiter geht es in der Tiefe, bis wir dicht in unserer Nähe einen Klang vernehmen wie von Eisen oder Stahl, die an etwas Hartes geschlagen werden, und auf ebenem Boden stehen. Wir befinden uns in einem schmalen Schacht, der so hoch ist, daß wir darin gehen können, ohne daß wir uns zu bücken brauchen. Am Ende desselben schimmern zwei Lichter wie zwei Johanniswürmchen, – die Grubenlaternen zweier Arbeiter. Von ihnen kam der matte Eisenklang durch die dicke Luft. Sie arbeiten für eine Sprengung. Mit einem langen Stahlstabe oder Meißel treiben sie ein Loch in das harte Gestein (fast immer Gneis und Granit). In diese kleine Kammer wird das Pulver gefüllt, das, entzündet, das feste Gestein in tausend Stücke zerreißt und damit zugleich das so emsig gesuchte Erz befreit.

Auf dem Boden liegend, den Körper in allerlei unnatürliche Lagen krümmend, müssen die Bergleute ihre Arbeit thun. Das Anbohren des festen Gesteins ist mühselig und viel kommt dabei auf die Berechnung und Wahl der Stelle an, an welcher das Bohrloch angesetzt wird, damit die Explosion so viel als möglich von dem Erze, so wenig als möglich von dem tauben Gestein löse. Die beiden Arbeiter dreheten sich nach uns um, als sie uns hörten. Der Fluch des Mammonsuchens lag auf ihnen.

„Sind wir auf dem Grunde der Grube angekommen?“ fragte ich ängstlich.

Der Führer lächelte als er antwortete: „Kaum über die Hälfte sind wir gekommen; aber in dieser Richtung können wir nicht tiefer hinunter.“

Gott weiß es, daß wir auch nicht wünschen noch tiefer zu steigen!

„Wie lange arbeiten die Leute?“

„Bei dieser Tiefe acht Stunden des Tags in fünf Tagen der Woche. Bei größerer Tiefe einige Stunden weniger.“

„Welchen Umfang hat die Grube?“

„Das weiß ich nicht. Kein Bergmann ist überall in ihr gewesen. Der größere Theil wird nicht mehr gebaut und zieht sich wohl Stunden weit unter der Erde hin.“

„Und die Tiefe?“

„Zwölfhundert Fuß, gerade bis zum Meeresspiegel. Die „alte Hoffnung Gottes“ geht noch sechzig Fuß unter den Meeresspiegel.“

„Und solcher Gruben giebt es viele?“

„Wohl mehr als zweihundert und 540 Schachte. Im Ganzen arbeiten etwa 5000 Bergleute. In unserer Grube sind 900 beschäftigt.“

„Was verdienen sie?“

„Ein Thaler ist bei uns ein guter Wochenlohn. – Gott sei Dank, wir erhalten den Lohn aber auch, wenn wir krank sind und haben immer Arbeit. Wenn wir nicht mehr „einfahren“ können, erhalten wir aus der Casse acht gute Groschen wöchentlich.“

Zehn Neugroschen die Woche! Und lebenslänglich Silber zu Tage gefördert!

Wir waren ganz matt von der Anstrengung und sehnten uns hinauf an’s Tageslicht.

[103]

 Es freue sich
Wer da athmet im rosigen Licht!
Da unten aber ist’s fürchterlich!

Der Weg aufwärts war ein ganz gleicher wie der abwärts, obwohl wir in einem andern Schacht emporstiegen, der sehr bezeichnend „Himmelfahrt“ heißt. Wir stiegen auf gleichen steilen schlüpfrigen Stufen hinauf, fühlten uns an gleichen nassen Wänden hin und stießen uns gelegentlich den Hut an der niedrigen Decke über die Augen herein. Kaum einen trocknen Faden hatten wir an uns, als wir nach zweistündigem Aufenthalte in der Erde wiederum frische Himmelsluft athmeten und das goldne Tageslicht erblickten.

Wir hatten gesehen, wo das Silber wächst und gebrochen wird. Aber welch endlose Arbeit, welche Mühseligkeit, welcher Aufwand von Kunst gehört dazu, ehe das Metall glänzend aus seiner unscheinbaren Hülle heraustritt! Uebergehen wir diese Vorbereitungsarbeiten und treten an den großen kreisrunden Ofen mit wenigstens einem halben Dutzend fest verschlossener Eisenthüren und eben so vielen glühenden Schlünden. Ein rusiger Mann mit einem langen Eisen zieht eine dieser Thüren auf und wir blicken hinein auf einen kleinen See geschmolzenen Silbers, das dampft und raucht und Blasen wirft. Die Eisenstange wird hineingestoßen und scharrt die Kruste obenher ab – das Bleioxyd das sich an der Oberfläche gebildet hat. Das Silber dampft und blitzt und ein weißer Dunst schwebt darüber. Da wirft der rusige Mann die Eisenthüre wieder zu, nimmt uns am Arm und fordert uns auf, in eine dunkele Höhlung hineinzusehen und die weißen Tropfen zu beobachten, die nacheinander wie kleine Sterne von Oben herabfallen. Dies ist das Quecksilber, das von dem schmelzenden Silber in dem Ofen verdunstet und durch den Schornstein in eine Vorrichtung geht, in welcher es in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehren muß, um immer wieder verwendet zu werden, das Silber aus seinen Verbindungen herauszulocken.

Die Gruben um Freiberg geben jährlich etwa 4 bis 500,000 Unzen Silber, und aus hundert Pfund Erz gewinnt man drei bis vier Unzen Silber. Aber bekanntlich giebt das Erzgebirge nicht blos Silber, sondern viele andere Metalle, selbst Edelsteine werden bisweilen gefunden und so lange der Bergbau in Sachsen auch schon betrieben worden ist (es ist bereits für mehr als eine Viertel Milliarde Thaler Silber aus dem Freiberger Revier gewonnen worden), so sind doch die Schätze noch lange nicht erschöpft, die im „Erzgebirge“ liegen und es steht ihm eine noch höhere Blüthe bevor.

Unberechenbare Verdienste um den rationelleren Betrieb des sächsischen Bergbaues hat sich der Oberberghauptmann Freiherr von Herder erworben, von dem z. B. der großartige Plan ausgeht, einen Stollen von Freiberg bis zur Elbe zu treiben, um die sämmtlichen Freiberger Gruben von dem Wasser zu befreien. Dieser Bau, der sehr bedeutende Kosten erfodert, ist in Ausführung begriffen, Herder selbst aber sollte dieselbe nicht erleben. Er starb 1838 und wurde nach seinem Wunsche inmitten des Feldes seiner Thätigkeit begraben, auf der Halde des alten Berggebäudes „Drei König Fundgrube“ (zwischen Freiberg und Tuttendorf), wo ihm der dankbare Bergmannsstand das Denkmal errichtete, das unser Bild zeigt.




Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

In Briefen von einem in London lebenden Deutschen.
I.
Einleitende Ansicht von London.
Der Deutsche in England. – London, das Herz der Welt. – Rauch und Nebel. – London, der gesundeste Ort auf der Erde. – Geschichte eines Liebespaars. – Auf dem Omnibus. – Zweierlei Klingelzüge. – Straßen und Häuser. – Fahren und Ausweichen. – Eisenbahnfahrt über London hin. – Weinkeller und Docks. – London hört nirgends auf.

Wir Engländer haben keine Gartenlauben. Gartenlaube! Ich las das Wort blos, nachdem ich in London mehrere Jahre gartenlos und laubenlos zugebracht, und doch rührte und erfrischte mich der bloße Anblick des nüchternen Wortes so innig, daß ich sofort beschloß, um Einlaß zu bitten. Ich habe ihn erhalten, danke zuerst dem Herrn der Laube herzlich dafür und bitte ihn und die geehrten Gäste um’s Wort.

Wir Engländer, sagte ich, haben keine Gartenlauben, und daß ich „wir Engländer“ sage, hat auch seine guten Gründe. Wir sind hier unserer Hunderttausend wenigstens in London, alles geborne Deutsche, aber die Meisten davon waren kaum so lange hier, um sich ein Bischen Englisch anzulernen und englisches Geld zu verdienen, als sie sich Backenbart, Hut, Rock und Gesinnung auf Englisch zurichten ließen und Engländer wurden. Der Deutsche ist nun einmal so: in Frankreich wird er ein Franzose, hier ein Engländer, in Rußland ein Russe, und ich zweifle nicht, daß er unter Hottentotten auch ein Hottentotte wird. Wir wollen uns das aber nicht so übel nehmen, wie wir es practischer Weise thun müßten.

Der Deutsche mit seinem tiefen Gemüth, mit seinem Geschick und Fleiße, mit seinen Gartenlauben, hat eben die Aufgabe und vielleicht auch den natürlichen Instinct, seine Vorzüge vor andern Völkern in alle Welt zu verbreiten und so am Ende Bildung und Gemüthlichkeit zum Freundschaftsbande aller Nationen zu machen. Davon wohl später. Aber der Mangel an Gemüthlichkeit und Gartenlauben in England erinnerte mich unwillkürlich an diese menschheitliche Bestimmung und bereits tüchtig angefangene Arbeit der Deutschen. Es ist Schade, daß es nicht hierher gehört und es zu gelehrt klingen würde, wenn ich beweisen wollte, daß der Deutsche seit etwa zwei Jahrtausenden schon immer die Welt erobert und regiert hat, nicht [104] mit Waffen von Eisen und Stahl, sondern durch die Schöpfungen und Erfindungen seines Genies. Das klingt stolz. Ein Bischen Stolz kann uns aber gar nichts schaden; wir haben ein Recht dazu und sind überhaupt viel zu bescheiden als Volk und im Ganzen und Großen. Doch davon später, wenn wir darauf kommen, was die Deutschen in England und Deutschland Alles gethan haben und thun, um den Engländern Geschmack, geschmackvolle Erzeugnisse der Kunst und des Gewerbes und Gemüthlichkeit beizubringen. Haben wir den Engländer erst gemüthlich gemacht, so baut er auch Lauben in seine Gärten, und dann haben wir wieder eine Eroberung gemacht, größer als alle, die den größten Schlachten folgten.

Ich versprach Ihnen, von London zu erzählen. Von London, dem „Herzen der Welt“, dem kalten, kaufmännischen Herzen der Welt. Das menschliche, wärmere Herz der Welt, das Gemüth der Menschheit schlägt in unserm geliebten Deutschland, der zärtlichen Mutter und dem weisen Vater alles Großen und Schönen der Erde, der Engländer und Amerikaner, des Christenthums und der Buchdruckerkunst, der Künste und Wissenschaften, der Stickmuster und Kinderspielsachen für alle Völker der Erde. London ist das kalte kaufmännische Herz der Welt; man kann deshalb auch sagen der Geldbeutel der Erde, das Central-Comtoir aller Menschen und Völker, die Gewerbe und Handel treiben. Das sind keine Redensarten; es ist vielleicht nichts so buchstäblich und genau wahr. Man kann nur nicht Alles gleich auf’m Flecke beweisen und durch Schilderung anschaulich machen; aber kommen soll’s schon noch.

Und wie sieht denn nun dieses London aus? Das ist eine kitzliche Frage. Es ist, wie gewisse Gespenster aus vergangener Zeit, fast immer unsichtbar und zeigt sich nur bei gewissen feierlichen Gelegenheiten, aber auch nur stark verschleiert. Es ist fast immer doppelt eingewickelt, erstens in Rauch, zweitens in Nebel. Wenn ich hier von Rauch und Nebel spreche, so muß man bei Leibe nicht an den gemüthlichen, bläulichen Rauch denken, der sich still vergnügt aus deutschen Schornsteinen in die Luft verliert, und nicht an die liebenswürdigen deutschen März- und Herbstnebel, die gegen Mittag ehrerbietig der Sonne weichen oder sich in einen soliden Regen verlieren, der endlich einmal aufhört. London hat mehr Schornsteine, als manches kleine Königreich Einwohner. Aus jedem dieser Schornsteine kommt Euch eine Masse, der man im höchsten Grade schmeichelt, wenn man sie Rauch nennt. Es ist ein so schmutziger, dicker, hartnäckiger, schwerfälliger, träger Qualm, daß er kaum mit Gewalt aus den röthlichen, runden Schornsteinarmen herauszubringen ist. Und dann pflanzt er sich sogleich breitbeinig in die Luft, nein in den Nebel hin und blickt trotzig um sich, als wollt’ er sagen: Wer will es wagen, mir den Platz zu verwehren? Ich bin ein freier Engländer und mache was ich will. Ich verschließe den Londonern Luft und Licht und Himmel und Sonne und weiter brauche und will ich nichts. Wozu brauchen die auch Luft und Licht und Himmel? Sie haben ihren Himmel auf Erden, ihre Geschäfte, ihre Pfunde, ihr gutes Fleisch und Bier und brennen den ganzen Tag Gas, wobei das Gold und die 500,000 Läden immer viel besser aussehen, als bei dem nüchternen Sonnenlichte, das nur erfunden zu sein scheint, um den Gas-Compagnien Schaden zu thun.

Dieser dicke, träge Qualm hüllt London ewig in einen dicken Pelz. Damit’s ihm aber darunter nicht zu warm werde, kommt sehr häufig ein College von ihm über London aus der tiefebenen Nachbarschaft, ein noch dickerer, feuchter, graugrüner Nebel, der manchmal allen den Millionen Gasflammen spottet und selbst das beste Wachslicht in der Stube dicht verschleiert. Dieser Nebel hält sich manchmal wochenlang in London auf, besonders im Winter, wo er das Landleben nicht zu lieben scheint. Der Himmel hängt dann nicht voller Geigen, sondern voller Schinken; er sieht dann wie ein einziger unaufhörlicher halbgeräucherter Schinken aus. Fängt’s dann dazu noch zu regnen an, so hört es in den ersten Wochen nicht wieder auf, wie z. B. diesen Winter.

Merkwürdig, und mitten in diesem ewigen Qualm und Nebel wohnen nicht nur Menschen, sondern auch über 21/2 Millionen Menschen dicht beisammen und wohnen nicht nur da, sondern machen auch mehr Geschäfte, als irgend in der Welt gemacht werden, und leben nicht nur besser, als anderswo, sondern auch länger und gesünder. London ist, erwiesen durch langjährig fortgesetzte medicinische Statistik, der gesündeste Ort auf der ganzen Erde, und in London selbst die dichteste Mitte, die City, der gesundeste Theil. Mag das jetzt Manchem noch so unglaublich klingen, es ist wahr, es ist eine durch sorgfältige Wissenschaft und Erfahrung festgestellte Thatsache, über die wir gelegentlich wohl auch noch ein möglichst vernünftiges Wort sprechen.

Wollen wir London zu Fuße messen? Nicht doch, es könnte uns sonst so gehen, wie jenem Liebespaare, das an dem einen Ende Londons in benachbarten Häusern wohnte und dem die Aeltern wehrten, zusammen zu kommen. So beschlossen sie denn, um London herum nach entgegengesetzten Richtungen abzugehen und sich am andern Ende unter einem Baume zu treffen. Man muß mir aber diese spaßige Geschichte, die ich in einem Witzblatte las, nicht übel nehmen; ich spreche gern, wie mir’s eben einfällt. Sie trafen sich zwar endlich, die Liebenden, an dem verabredeten andern Ende Londons, aber wie viel Zeit sie dazu gebraucht haben müssen, geht schon aus dem Umstande hervor, daß er bereits Vater von zwei Kindern und sie zum zweiten Male Wittwe war. Ich habe diese Geschichte blos deshalb mit erzählt, weil sie uns mittelbar wenigstens einen ganz annähernden Begriff von der Größe Londons für Fußgänger giebt. Aber in London geht Niemand zu Fuße, wenigstens läuft er dann. Im Uebrigen fährt er stets mit einem der 10,000 Omnibusse, oder einer Stadteisenbahn, oder dem Local-Dampfschiff, deren über 300 stets die verschiedenen Stadttheile verbinden, und sollte es auch nur mit dem „Hepny-Boote“ sein, wo man einen halben englischen Pfennig bezahlt, um von der City nach dem Westende zu kommen. Gentlemen fahren in einer der Tausende von Droschken und Cab’s. Von letzteren giebt’s eine zweirädrige Sorte, welche vielleicht das achte Weltwunder zu den sieben zu sein verdient, so leicht und schnell und sicher winden sie sich aalartig durch ewig von Fuhrwerk vollgepfropfte Straßen dem bezeichneten Ziele zu.

Oben auf dem Dache eines Londoner Omnibus, wo [105] gewöhnlich noch für 9 Personen Platz ist, kann man sich dieses kolossalste Ungeheuer der modernen, praktischen Civilisation am Bequemsten und Comfortabelsten ansehen. Man genießt es aus der besten Vogelperspective und zeigt den Leuten und Läden und übrigen Fuhrwerken die Schuhsohlen. Wir fahren von einem Omnibus-Endpunkte ab, wollen wir einmal annehmen, und sehen rasch rechts und links, rück- und vorwärts. Wo der Endpunkt liegt, ist ganz gleichgültig, jedenfalls erblicken wir überall herum freie grüne Plätze mit den schönsten Perlenreihen von Villen und Cottages, mit Gärten, Bäumen, Epheugerank vorn und Gärten oder gar duftigen Parks dahinter. Vorn dichte Mauer mit schwerem Epheu bedeckt und eine recht sicher verschlossene, feste Thür mit zwei Knöpfen in je einer metallenen Höhlung. Auf dem einen Knopfe links steht mit Metallumschrift: „Servants“ (Dienstboten), auf dem rechts: „Visitors“ (Gäste). Es sind Klingelzüge für die zweierlei Menschenracen: Dienstboten und Leute, die es nicht sind. Wir werden über diese überall sichtbare sociale „Gliederung“ der verschiedenen Stände noch Manches zu sagen haben. Vom Omnibus oben siehst du über die Mauer weg in den Garten und zuweilen auch in die spiegelblanken Fenster hinein. Ach, welch ein schneeweißer, marmorner Weg führt nach der Thür und der Treppe! Kein Fleckchen, kein Stäubchen! Auf beiden Seiten der duftigste, saftigste Rasen, den man je in der Welt sehen kann, innen dieses frische, unbeschreiblich erquickende Grün, Winter und Sommer. Dazwischen dunkellaubige Stauden und Bäume, jedenfalls auch die dunkle Stechpalme mit dunkeln Blättern und weißgelben Rändern, die nie ihre Blätter verliert, und staudenartige Bäume mit hellen, gesprenkelten Blättern, die auch niemals kahlköpfig werden. Von solchen Villen und Cottages siehst du bald hier, bald da größere und kleinere Gruppen, dazwischen grüne Plätze mit Hügel und Thal, wo Pferde und Kühe und Schafe und Ziegen und Esel sich von ihren Strapazen erholen und nur aus Langeweile zuweilen einmal etwas Gras rupfen, denn sie haben zu Hause bessere Kost, wie man ihnen gleich auf den ersten Blick ansieht. Nach diesen Idyllen kommen wieder Cottages und Villen, auch stehen stolze, fest verschlossene Paläste dazwischen, aus denen prächtige Tapeten, kostbare Teppiche und Gemälde und schwere goldene und seidene Meubles hervorblitzen. Das ist Alles London. Nun kommen schon Läden, ganze Armeen von Läden mit Parade-Schaufenstern, auf der andern Seite vielleicht eine ungeheure, feste hohe Mauer mit Glasscherben oder spitzigen Eisenzacken oben, über die helle, grüne herrliche Bäume und Waldungen hervorragen. Am Ende der Mauer ein seltsam verschrobener Palast, dessen Baustyl uns ein Räthsel ist. Er gehört einem Lord und der ungeheure Park dahinter auch, und er wohnt blos im Sommer ein Paar Monate darin, während der „season“: er hat ja noch mehr und größere Parke im Lande drin, wo er jagt, fischt, angelt, die Zeitungen lies’t und sehr viel und sehr gut ißt und trinkt. – Nun kommt’s auf einmal dichter, enger, menschen- und wagen- und budenreicher. Vor dir, neben dir, hinter dir, überall wimmelt und tobt und rasselt es ohne Anfang und Ende. Die Straße, in der wir fahren, nimmt kein Ende und von allen Seiten, in allen Richtungen laufen krumme, enge, düstere Straßen hindurch in den willkürlichsten Richtungen, die alle ebenfalls kein Ende haben. Dazwischen sogar schon Straßen, wo man nicht hindurch zu kommen glaubt, wenn man gerade etwas breitschultrig ist, Straßen, die nichts vom Tageslichte wissen und fast stets in Gas flammen.

Auf einmal schnurgerade, ebenfalls endlose Straßen, wo die Häuser sich alle auf’s Haar ähnlich sehen! Wie lange Reihen von Rekruten stehen sie da, denen der Unterofficier „Richt’t euch! und Stillgestanden!“ geboten hat, so steif und stumm und düster und einförmig. Es sind Fabrikarbeiter-Städte, die eine Compagnie in einem Sommer hat aufbauen lassen für Arbeiter, Arme, die auf diese Weise verhältnißmäßig ungemein wohlfeil ein eigenes Haus bekamen. Manchmal sind auch uniformirte, kleine Gärtchen davor und dahinter, und doch kostet hier ein ganzes Haus nicht so viel, als in der City eine einfenstrige Stube hinten in einem Hofe drei Treppen hoch hinten hinaus.

Unser „Bus“ (die letzte Silbe ist für den Engländer lang genug) soll über einen Platz weg, in welchen 5–6–7 und mehrere Straßen münden, alle mit Menschen, Fuhrwerken aller Art, und besonders viel Omnibus überfüllt. Alle diese Straßen zeigen uns kaum eine Spur von Steinpflaster, so dicht sind sie mit Leben und Verkehr besäet und aus allen und in alle wollen unabsehbare Massen. Man muß das aber sehen, um’s zu glauben, wie sich das Alles stets macht, ohne daß Einem nur ein Haar gekrümmt wird. Wie hier die Wagenlenker ihre Sache verstehen, davon kann man sich kaum einen Begriff machen. Und wie es hier die Leute verstehen, vor und zwischen dichtgedrängten, eilenden Wagen aller Art durchzukommen, grenzt ebenfalls an’s Wunderbare. Das bindet und windet und lös’t sich stets so ruhig und kaltblütig, daß Keiner ein Wort dabei verliert. Unser Omnibus, so rasch er ist, macht sich doch durch die engste Oeffnung immer rasch wieder Luft und jagt dann dahin, als wären wir und er von Papier und hohl inwendig. Wir biegen bald links, bald rechts, und kommen jetzt in eine Straße, die ungemein still und ernst und vornehm aussieht. Alle Häuser fest verschlossen, kein Kopf, kein Blumentopf an dem todten Fenster; vorn überall Eisengitter und in der Mitte eine Brücke nach dem Thürklopfer. Sanft zwischen dem Gitter und dem Hause eine Tiefe, in der man wieder Fenster und Thüren sieht und einen besondern Eingang mit einer besondern Treppe von Außen hinunter. Da unten ist das Departement der Dienstboten und der Küche. Oben jedes Haus dicht zugeknöpft, verschlossen und vergittert. Hunderte solcher Straßen hinter einander gesehen, können einen gemüthlichen Menschen zur Verzweiflung und auf Selbstmordgedanken bringen.

Aber schon wird’s heiter. Die Straße ist zwar nicht ebenfalls endlos, aber eine von denen, wo auf beiden Seiten doppelter Jahrmarkt ist und zwar alle Tage, die Gott werden läßt, und die halbe Nacht hinzu. In den Häusern Laden bei Laden, immer einer prächtiger, wie der andere, und an den Trottoirs hin endlose Reihen von Penny-Sachen mit Leuten, die ununterbrochen Jeden anschreien und ihm wohl gar eine Viertelmeile nachlaufen, wenn er nicht finster genug aussah. Und davor noch auf beiden Seiten breite, wandernde Karren mit Aepfeln, Apfelsinen, Nüssen, Zuckerwerk und besonders viel mit Austern, Pfeffer- und Essigfläschchen. Die Auster ist hier ein Proletarieressen, [106] ebenso wie die großen Schnecken in ungeheuren, posthornartigen Häusern, und die Krabben und die auf der Straße gerösteten heißen Kastanien. – So sieht’s aus der Reihe nach, man mag von jeder beliebigen Seite her kommen. Noch eine Strecke und wir gelangen endlich nach der Mitte der Stadt, nach der Bank.

Wir brauchen jetzt nur noch eine Fahrt mit der Eisenbahn zu machen, um unsere allgemeinen Ansichten von London zu vervollständigen. Die Stadteisenbahnen durcheilen größere Kreise der ungeheuren Stadt. In dem Waggon wird es uns erst klar werden, daß London keine Stadt ist, sondern etwas ganz neues „höheres Dritte“ zwischen Stadt und Land, die „höhere Einheit“ des alten, blutigen Gegensatzes zwischen ländlichen und städtischen Interessen und Bildungsstufen. Dieser Umstand ist besonders wichtig und wir werden Gelegenheit nehmen, ihn besonders zu schildern. Er bildet zugleich einen der höchsten Reize Londons, durch welchen es erklärlich wird, daß Niemand, der London erst kennt, es wieder verlassen will, vorausgesetzt, daß ihm das nöthige Geld nicht fehlt, diesen Reiz auch zu genießen.

Von der Bank ist es nicht eben weit nach einem der Stadteisenbahnhöfe. Wir gehen zu Fuß, so weit uns das durch ein ewiges Gedränge von hunderterlei Arten von Wagen, Körben und Packeten auf den Köpfen von Weibern und Männern, blauen Säcken auf den Rücken anständig gekleideter Schnellläufer (wir lernen sie alle noch kennen) und Reihen von Tabuletkrämern in den engen Straßen möglich ist. Wie es möglich ist, begreift man erst eine ganze Zeitlang gar nicht. Hernach lernt man es finden, den Verkehr, die Communication, das Rennen, Fahren, Laufen, Drehen, Drängen und Winden, das Sichüberalldurchhelfen ist hier zu dem höchsten Grade der Vollkommenheit und Freiheit ausgebildet. „Sehe Jeder, wie er’s treibe, und wer steht, daß er nicht falle.“ Das wurde hier zur blühendsten Wahrheit, und so fällt wirklich Keiner und Jeder weiß sich und sein Geschäft zu treiben, daß man Beide für Geld könnte sehen lassen.

Wir sind auf einem Eisenbahnhofe. Wenn geht der nächste Zug ab? Das ist eine Frage, die der Bockney (der in der City geborne) im besten Bockney-Englisch nicht verstehen wird. Der Zug geht immer ab, und der Zug kommt immer an. Beides ist Eins. Draußen ein Paar hundert Schritte vor dem Halteschuppen läuft fortwährend eine Locomotive von dem Zuge weg auf andern Schienen hin und läßt den Zug mit den Hunderten von Personen sich selbst sein Ziel suchen. Während dieser sich noch bemüht, von selbst still zu stehen, geht drüben ein anderer Zug ab, und während die Leute hier zugleich aus- und einsteigen, werden plötzlich alle Thüren zugeworfen, eine Stimme ruft: „all right“ und sofort ras’t der eben angekommene Zug hinter dem eben abgegangenen her, nicht erst ein Weilchen langsam, sondern gleich im vollen Laufe. Und kaum hat er angefangen, wie besessen zu laufen, so steht er plötzlich still, wie Einer, der in der Eile zu Hause was vergessen hat und sich plötzlich darauf besinnt, daß er’s haben muß. Aber der Zug besinnt sich nicht, in derselben Minute sind vielleicht Hunderte neuer Passagiere eingestiegen und in derselben Minute hohe Burgen von Kasten, Kisten und Koffern in den Zug verschwunden, in derselben Minute Hunderte alter Passagiere hinausgesprungen und in derselben Minute läuft der ganze Zug auch gleich wieder in rasender Hast, aber ganz kaltblütig ohne Pfeifen und Klingeln davon. Nach drei – fünf Minuten ganz dieselbe Geschichte und wieder ganz dieselbe Geschichte 20 – 30 – 40 mal hinter einander, je nachdem unser Weg länger oder kürzer ist. Diese Eisenbahnzüge, die immerwährend so den ganzen Tag abgehen und ankommen, sind Dampf-Omnibusse, die scheinbar alle Nasen lang anhalten (aber jede Nase ist freilich eine gute Meile lang) und immerwährend Hunderte von Leuten und Packeten einnehmen und absetzen.

Im Anfange fuhren wir auf einer ungeheuren Brücke über Häuser und Straßen weg. Nimmt denn das gar kein Ende? Allerdings, aber erst da, wo die Eisenbahn zu Ende ist. Die ganze Bahn von Anfang bis zu Ende ist eine einzige Brücke über Häuser und Straßen hinweg. Sie ist beiläufig gesagt, blos 4 Meilen lang, denn wir nehmen an, daß wir gerade auf die kürzeste und theuerste gerathen sind, welche die City mit einem östlichen Punkte, Blackwell, verbindet. Sie ist die theuerste Bahn der Erde und ihre Actien stehen höher als die irgend einer Bahn dieses Planeten, so etwa 4 – 500 %. Von dem, was rechts und links, unter und über uns vorbeisaus’t, bekommen wir kaum eine Ahnung. Nur die ungeheuren Wälder von Masten, die uns manchmal nahe kommen, ragen deutlich genug herein, uns in Erstaunen zu setzen. Wir fliegen an allen den riesigen Weltwundern vorbei, in denen die Schiffe aller Nationen theils ausruhen, theils laden und löschen. Man schmelze alle Wunder der Welt und aller Zeiten und Nationen zusammen zu Einem Wunder und sie bleiben gegen diese „Docks“ ein Pfefferkuchenmann, 12 für einen Silbergroschen. Man addire den Bremer Rathskeller 100 mal mit sich selbst und multiplicire ihn 10,000 mal mit dem Heidelberger Fasse, das Facit bleibt immer nur ein kleiner Bruch zu einem einzigen dieser Weinkeller, über die wir mit wegfahren. Wir besuchen später einen und probiren auch, ohne daß es uns was kosten soll. Diese unterirdischen Weinstädte mit ihren unterirdischen Eisenbahnen, auf denen von den 56,000 Oxhoft-Einwohnern stets welche ankommen oder abreisen in die Kehlen Amerika’s, Ostindiens, Australiens u. s. w., wenn sie es nicht vorziehen, im Lande zu bleiben und die Engländer redlich zu nähren, diese Weinkeller müssen einen braven Bürger bei Kasse, der nicht nur ein gutes Glas liebt, sondern es auch mit Kennermiene gegen das Licht zu halten weiß, ehe er trinkt, um den Verstand bringen, ehe er nur einen Tropfen trinkt, so viel Staunen ist hier aufgehäuft. Auch wir werden uns sehr tapfer halten müssen, nicht nur im Nichttrinken, sondern auch im Nichtzuvielluftschöpfen. Doch das Alles nur bei- und vorläufig, anklangsweise, wie in der Ouverture zu einer Oper. In Blackwell gehen wir auch nur ganz schnell in die Ostindien-Docks herunter, durch einen der Ostindienfahrer hindurch. So ein Schiff ist keine kleine Stadt, wie man wohl gesagt hat, sondern schon eine ziemlich große. Habe ich doch eins mit 1200 Zimmern (300 Wohnungen) gesehen, abgesehen von den Räumen für Frachten und Proviant.

Nur ein Paar Schritte weiter und wir steigen in einen andern Dampf-Omnibus, der etwa 10 Meilen weit durch die Ost- und Westseite der Vorstädte Londons immerwährend hin- und herläuft, aber eigentlich in der City anfängt. [107] Doch überall laufen ja Verbindungs-Bahnen über- und unter- und nebeneinander hin, so daß ein Kenner, der recht Bescheid weiß, von jedem Punkte zu jeder Zeit in der kürzesten Zeit überall hinkommen kann, zumal wenn er zugleich die Pferde- und Dampf-Omnibusse zu Wasser mit zu Hülfe nimmt. Wir fliegen jetzt über Wiesen und Weiden, jetzt durch Parke, jetzt über Felder, jetzt durch Reihen von Feenpalästen und umgrünter Schmuckkästchen von Villen und Cottages hin, jetzt über parademäßig aufgestellte, einförmige Straßen und Häuser, wie wir schon einmal angedeutet haben. Diese dichten Städtegruppen haben sich überall an den Anhaltepunkten der Eisenbahnen gebildet und sind da herausgewachsen wie Traubenblüthen und Doldenblumen mitten in Ackerbau, Viehzucht, Gärten und Wälder hinein, die in der prächtigsten, nettesten Cultur nun noch die einzelnen Villen und Paläste ewig umgrünen und durchduften. Das ist überall die höchste städtische Cultur auf dem Lande, während diese Bewohner des urbanisirten Feldes jeden Tag von 10 bis 5 Uhr in dem dichtesten Stadtverkehr zubringen. So ist in London wie bereits in allen großen Städten Englands der Unterschied und Gegensatz zwischen Stadt und Land verschwunden.

London hört nirgends mehr auf, ohne daß die nächste Stadt anfängt.

Daß die Welt nicht blos natürlich, sondern auch künstlich durch Geld, Cours, Credit, Austausch, Wechsel, Dampf, Electricität, Aus- und Einwanderung, Briefe, Zeitungen u. s. w. zusammenhängt und das warme belebende Verkehrsblut immer rascher und vielseitiger und tiefer und weiter hin- und herpulsirt, um nach und nach alle Menschen mit zu erwärmen und in diesen Fluß der Bildung, des Geldes und der Waaren mit hineinzuziehen, das ist eben ihre Schönheit und ein Hauptgrund, warum die meisten Menschen lieber noch ein Weilchen warten, ehe sie sterben.

Daß London das Herz dieses pulsirenden Verkehrsblutes ist, wird mir in meinen künftigen Schilderungen sehr zu Gute kommen.




Blätter und Blüthen.

Ein Antwortschreiben. Die meisten unsrer Leser werden bereits durch die Zeitungen wissen, daß eine Anzahl hocharistokratischer englischer Damen, gerührt durch die Schilderungen in Onkel Tom ein Sendschreiben an die amerikanischen Frauen erlassen hatten, worin die letztern aufgefordert wurden, all’ ihren Einfluß aufzubieten, die Abschaffung der Sclaverei oder wenigstens eine Milderung des Looses der Sclaven zu erwirken. Die Antwort der amerikanischen Frauen ist vor Kurzem eingelaufen und macht jetzt die Runde durch alle englischen Zeitungen, die für und wider große Leitartikel darüber bringen. Diese Antwort ist ächt amerikanisch – offen, derb, ohne Rückhalt und wahr. Es wird darauf hingewiesen, wie in England dieselbe Sclaverei herrsche wie in Amerika, nur unter andern Namen. „Wir kommen nicht mit Thatsachen“ heißt es, „die von der Phantasie des Novellisten übertrieben, verkehrt und entstellt sind, sondern solchen, die in ihrer nackten Einfachheit in Parlamentsurkunden oder andern statistischen Schriften von anerkannter Geltung vorliegen.“ Es folgt dann eine Aufzählung der Schandthaten, welche sich die Engländer in Süd-Afrika, in Asien, in China und namentlich in Irland zu Schulden kommen ließen. So wird u. A. angeführt, daß in Folge brittischer Mißhandlungen die Bevölkerung Irlands innerhalb der letzten Jahre um 20 Proc. abgenommen habe. Dann fährt das Schreiben fort:

„Von Uebeln auf Eurem eigenen Grund und Boden, in Euren eigenen Gemeinden – von Uebeln, unter denen Ihr täglich lebt und webt, und mit denen Ihr persönlich zu thun habt, sprechen wir jetzt zu Euch. Wir wünschen mit Euch zu sprechen von der unwissenden und mit Armuth geschlagenen und herabgewürdigten Bevölkerung Eures eigenen Landes, und wir wollen es treulich, doch milden Sinnes thun. Schwestern! Euer Land ist mit Sclaven angefüllt – Sclaven der Unwissenheit, Sclaven der Armuth und Sclaven des Lasters. Die furchtbare Wahrheit ist Euch gesagt worden von einem Eurer geachtetsten Autoren, J. Kay vom Dreifaltigkeits-Collegium in Cambridge, am Schlusse seines großen Werks über National-Erziehung, das Euch allen bekannt ist oder sein sollte, – die Wahrheit, daß in England, wo die Aristokratie reicher und mächtiger ist als in irgend einem andern Lande der Welt, die Armen gedrückter, elender, im Verhältniß zu den andern Klassen zahlreicher, irreligiöser und viel schlechter unterrichtet sind, als die Armen irgend einer andern europäischen Nation. Das erste und größte aller volklichen Bedürfnisse in jedem freien christlichen Lande ist das des Unterrichts, und doch hat England kein System der öffentlichen Erziehung, das des Namens werth ist. Der ganze Betrag Eurer jährlichen parlamentarischen Geldbewilligungen für die Erziehung Eures Volkes ist um Tausende von Pfunden geringer, als der jährliche Geldaufwand für diesen Zweck in der einzigen Stadt New-York! Jeder achte Mensch in Eurer Bevölkerung ist ein öffentlicher Armer (a pauper), und die Armensteuer in England während der letzten zehn Jahre hat durchschnittlich 6,000,000 Pf. St. betragen; gleichwohl um für öffentliche Erziehung vorzusorgen und dadurch großentheils dieselbe Verabsäumung zu heilen, die Euch den Fluch dieser schweren und von Jahr zu Jahr wachsenden Bürde aufgeladen, hat eure National-Legislatur in sechs Jahren nur 600,000 Pf. St. verausgabt. Zufolge unsern eben veröffentlichten Volkszählungstabellen genießt ein Drittel der Bevölkerung des Staats New-York regelmäßigen Unterricht in unsern öffentlichen Schulen; zufolge Euren Parlamentsnachweisen genießt nur ein Elftel Eurer Bevölkerung einen ähnlichen Vortheil. – Schwestern! ist das ein christlicher Gesellschaftszustand, welcher für mehrere Millionen Eures Volkes die Entwickelung und Pflege aller jener Fähigkeiten, die den Menschen vom Thiere unterscheiden, nahebei zu einer physischen Unmöglichkeit macht?“

„Ihr, die wir hier anreden, wohnt in allen Gegenden [108] Englands, aber überall, in der Hauptstadt, in den Fabrikstädten und auf dem Lande seht Ihr rings um Euch die kläglichste Entblößung und Herabwürdigung. In London allein, hören wir, gibt es mehr als eine Million unsterblicher Wesen, die man niemals im Hause Gottes sieht und welche praktisch als Heiden denken und leben. Der Zustand eines großen Theils der Arbeiterbevölkerung jener ungeheuren Stadt läßt sich aus der Thatsache beurtheilen, daß von ihren 20,000 Schneidergesellen 14,000 durch vierzehnstündige Arbeit täglich, mit Einschluß des Sonntags, kaum die armseligste Lebensnothdurft erringen können; und daß die 33,000 Näherinnen, welche London enthält, täglich vierzehn Stunden arbeiten und im Durchschnitt nur 41/2 Pence verdienen. 50,000 Menschen in London suchen ihren Lebensunterhalt auf der Straße, und Henry Mayhew, eine Autorität, die Ihr nicht in Zweifel ziehen werdet, sagt von ihnen: „Wenn man sich die religiöse, sittliche und geistige Herabwürdigung der Mehrheit dieser 50,000 Menschen deutlich vorstellt, so erschrickt man bei dem Gedanken, welche Summe von Laster, Unwissenheit und Elend sich im innersten Herzen unsers Landes beisammen findet. Nicht 3 unter 100 von ihnen haben jemals eine Kirche betreten, und von zehn kann kaum einer lesen. Dabei sind unter zehn Paaren, die als Mann und Weib zusammenleben, erst eines ordentlich verheirathet.“ Eure Manufacturstädte sind nicht besser. In Glasgow z. B. sind 60,000 Weiber in den Fabriken oder als Näherinnen beschäftigt, deren durchschnittlicher Verdienst 7 bis 8 Schilling die Woche nicht übersteigt. (Folgen Details über die dortige geringe Vorsorge für die religiösen Bedürfnisse der Armen, mit Berufung auf das Zeugniß Dr. Patersons aus Glasgow.) Ebenso steht es mit Eurer Ruralbevölkerung. Ein sehr großer Theil Eurer Landleute lebt in schmutzigen und überfüllten Hütten, wo die Geschlechter Tag und Nacht in enger und gefährlicher Berührung sind, so daß die Anständigkeit schwer, die Behaglichkeit unmöglich ist.“

„Aber, Schwestern! wir haben nun genug gesagt, und wir fordern Euch nun auf, ernstlich nachzudenken und mit Gott zu Rathe zu gehen, inwiefern ein solcher Stand der Dinge im Einklang ist mit seinem heiligen Wort, dem unveräußerlichen Recht unsterblicher Seelen, und dem reinen und erbarmungsvollen Geiste des Christenthums.“ –

Es wird dann in einer längern Nachschrift darauf hingedeutet, was die englischen Frauen den Armen ihres Landes gegenüber zu thun und wie sie es anzugreifen haben dem Elend ein Ende zu machen. „Wir rufen Euch auf,“ schließt das Schreiben, „als Schwestern, als Gattinnen und als Mütter, erhebt Eure Stimmen vor Euren Mitbürgern und Euer Gebet zu Gott, daß Englands Schande in der christlichen Welt getilgt werde.“ –


Literaturwerth in Deutschland und Frankreich. Unter diesem Titel läuft die nachfolgend kurze Notiz durch viele deutsche Zeitungen: „In Paris hat eine Verlagshandlung das Verlagsrecht der Victor Hugo’schen Werke an sich gebracht und zwar für den Preis von zwei und achtzig tausend Franken. Wenn man sich erkundigen will, was der reiche Cotta für das Verlagsrecht der Goetheschen Werke gegeben hat, so wird ein guter Patriot nicht umhin können, darüber ein wenig schamroth zu werden.“ So weit die Notiz. – Was soll nun das heißen? Wollte Gott, der deutsche Patriot hätte über nichts mehr Grund sich zu schämen, dann brauchte er wahrlich dem Auslande gegenüber nicht zu erröthen. Goethe erhielt, außer von Honoraren für einzelne seiner Werke, das Verlagsrecht seiner sämmtlichen Schriften mit der runden Summe von Einhunderttausend Thalern bezahlt, also fast fünfmal so viel als Victor Hugo. Ueberhaupt hat das Honorargewinsel einzelner Journalisten etwas sehr Undelikates und Unwahres. Ganz abgesehen davon, daß unsere literarischen Verhältnisse, was den Absatz der Bücher anlangt, mit denen des Auslandes gar nicht zu vergleichen sind, so ist es auch Thatsache, daß die deutschen Autoren trotzdem nicht schlechter honorirt werden, als die französischen. Gutzkow erhielt für seinen Roman: „die Ritter vom Geiste,“ nach französischem Gelde gerechnet, 26,000 Francs, Auerbach für den Bogen seiner Dorfgeschichte 400 Francs, Humboldt für den Bogen seines Kosmos 650 Francs, der selige Clauren, als er noch in Flor war, für sein 18 Bogen haltendes Taschenbuch „Vergißmeinnicht“ 11,000 Francs. Man vergleiche damit die Honorare der Pariser Autoren und man wird finden, daß sie kaum den unsrigen gleichkommen.


Eine Frage der Jetztzeit. Nach Berichten aus Schwaben, Thüringen, Baiern, Hessen, Schlesien, vom Rhein etc. wird für das kommende Frühjahr die Auswanderung eine wahrhaft großartige werden. Im Würtenbergischen sollen sich jetzt schon nahe an Zwanzigtausend bei den verschiedenen Agenturen angemeldet haben. Und nicht die Armen gehen nach Amerika, nein, die Besitzenden, nicht aus den schlechtesten, nein, aus den reizendsten, fruchtbarsten Gegenden Deutschlands wandern die Leute aus, einer ungewissen Zukunft entgegen, die ihnen viele Jahre hindurch nur Arbeit und endlose Mühen bietet. Es ist mithin Thatsache, daß nicht die Noth sie forttreibt. Also was sonst? Man hat neulich in einer östreichischen Zeitung die Frage aufgeworfen, warum diese Leute nicht nach Rußland gehen, wo ihnen von der Regierung so viele materielle Vortheile geboten werden? Warum nicht nach dem reizenden Spanien, das noch so viele unbebaute Landstriche bietet? Warum nicht nach dem fruchtbaren schönen Ungarn, das dem Ackerbauer so reichliche Ernten verspricht? Warum?


Singende Muscheln. An den Küsten Ceylons, wo in dem klaren Wasserelemente ein unermeßlicher Reichthum tausendfacher Geschöpfe sich verbirgt, hört man in den dortigen zauberischen Mondnächten nicht selten vom Ufer her eine melancholisch-melodische Musik, wie Aeolsharfen, die in ihren wechselnden zarten Klängen gleichwohl das Rauschen der Brandung übertönt. Es sind singende Muscheln, welche die alte Sage vom Sirenengesang in’s Leben rufen. Reisende, welche die Insel längere Zeit besuchten, schildern solche Nächte als ungemein schön und erregend.

E. K. 



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig: