Zum Inhalt springen

Die Freude an Komödie

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Joachim Ringelnatz
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Freude an Komödie
Untertitel:
aus: Flugzeuggedanken
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Ernst Rowohlt Verlag
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons,
S. 62–68
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]

[62]

DIE FREUDE AN KOMÖDIE

Herr Wegen wollte es gar nicht bemerken, daß sie eine so schöne, zierliche und gewandte Frau war. Aus der Passagierliste wußte er, daß sie Alice Bartens hieß und eine junge Witwe aus Naumburg war. Auch mußte sie reich sein. Von der Fluggebühr abgesehen, hatte sie freiwillig noch fünfhundert Mark für den Vereinsfonds gestiftet. Für all das wollte Dr. Wegen sich gar nicht interessieren. Wenn er sie immer wieder lange aus nächster Nähe betrachtete und beobachtete, so lag das nur an seiner Situation, die einen weniger pflichtstrengen Führer weit verlockt hätte: Mit ihr allein zu sein, in einem engen Nest, viele hundert Meter über Naumburg.

Er instruierte sie vorschriftsgemäß über das, was mit Lebensgefahr zusammenhing. – Nicht die rote Leine berühren, die dazu dient, bei der Landung die Hülle zu spalten. – Um Himmelswillen nicht rauchen . . . Gasatmosphäre . . . Explosionsgefahr. – Sie erlebte zum erstenmal einen Freiballonflug, deshalb erklärte er ihr auch andere Einrichtungen und Vorgänge. Knapp sachlich und lebhaft selbst interessiert. – – „Wir sind eine halbe Stunde unterwegs und jetzt neunzehnhundert Meter hoch –“

„Aber immer noch über der Festwiese?!“

„Ja leider. – Windstille. – Wir müssen versuchen, die graue Wolkenschicht über uns zu erreichen. Dort scheint Strömung nach Süden. Ich möchte gern hinter jenes [63] Wäldchen.“ Er hakte einen schweren Ballastsack los, schüttete dessen Inhalt über Bord.

„Sind da Steine drin?“

„Sand.“

„Aber das fällt doch mitten ins Publikum?“

„Unmerklich. Es verteilt sich in der Luft.“

Sie beugte sich über den Gondelrand. Er schaute durch ein Fernglas nach Süden, suchte ein Ziel mit günstigen Landungsmöglichkeiten. – Bis ihn ein Aufschrei schreckte. – Frau Bartens starrte wie zuvor in die Tiefe. Aber als er sich zu ihr beugte, war ihr Gesicht totenbleich. Er klappte einen Rohrsitz auf und zwang sie behutsam, sich zu setzen. „Ihnen ist nicht wohl? – Was? – Schwindelgefühl? – Das kommt selten vor. Es ist mein fünfundzwanzigster Flug.“ – Er schraubte einen Aluminiumbecher von einer Flasche, füllte ihn mit Kognak. „Bitte.“

Sie warf den vollen Becher im Bogen aus der Gondel, lächelte. „Danke! Mir ist besser. – – – Wohin fällt der Becher?“

„Wohin ihn der Zufall trägt.“

„Was ist hier Zufall?“

„Je nun – eine Kombination – das Resultat von Schwere, Wind, Ort, Zeit und – Gott weiß, was.“

„Weiß es Gott wirklich?“

„Meiner Ansicht nach: Ja.“ Dr. Wegen war es anzusehen, wie unbehaglich das Gespräch ihm wurde. Und doch dachte er: Eine geistreiche, eine interessante Frau! – Da er [64] sich diesen Vorzügen nicht gewachsen fühlte, und weil sie jetzt den Kopf traurig nachdenklich in die Hand stützte, wandte er sich rücksichtsvoll ab.

Der Wind hatte den Ballon gefaßt, trug ihn südsüdwestlich, fast zu schnell. Dr. Wegen beobachtete, kalkulierte, zog einmal an der Gasleine, was einen piepsigen Ton gab. Dann, sich nach Alice umsehend – – – Er tat einen Sprung, hob sie, die mit einem Bein über der Brüstung hing, energisch hoch und legte sie wie eine Puppe auf den Boden der Gondel. „Was machen Sie?!“

„Lassen Sie mich hinunterspringen.“ Sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Stimme klang leise, flehend.

„Sie?! Haben Sie Ursache, sich den Hals zu brechen?“

Sie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. „Haben Sie niemals in Ihrem Leben jemanden aus tiefster Seele – so zum Ersticken gehaßt?“

Wie ihre Augen funkeln! Ein rassiges Weib! „Doch! Vielleicht! Aber in solcher Höhe vergißt man’s. Wir sind jetzt zweitausendvierhundert Meter hoch.“

„Ich muß hinunterspringen!“

Er drückte sie zurück. „Wegen eines Hasses, – lächerlich! – Wegen einer Eifersucht, nicht wahr?“

„Nennen Sie es so. Aber ich muß! Ich will Ihnen sagen, warum.“ Ihre Stimme schwoll dabei zum Schreien. „Ich habe sie – getötet! Ich bin eine Mörderin!“

Er fuhr doch zusammen. Dann riß er an der Gasleine, ließ Gas ausströmen. – Was sollte er ihr sagen? Das war [65] ja ein Teufel, eine aufs Ganze Gehende. – – – „Stellen Sie sich der Polizei!“

„Man wird mich köpfen. Ich habe das Leben so lieb.“

„Das hatte Ihr Mordobjekt wohl auch? – – Wenn Ihre Behauptung überhaupt wahr ist.“

„Sie ist wahr. Bitte lassen Sie mich – – Sehen Sie weg!“

„Rühren Sie sich nicht!“ sagte Wegen streng. Er wußte wohl selber nicht, was ihn am meisten erzürnte. Daß die Bemerkungen „Ich habe das Leben so lieb“ und „Lassen Sie mich hinunterspringen“ nicht zusammenstimmten. – „Ich werde landen!“ Er ließ abermals Gas entströmen.

„Werden Sie mich anzeigen?“

„– Ja. – Ich muß es.“

Sie schrie: „O nur nicht geköpft werden! Freiwillig sterben! Ich reiße die Hülle auf! –“ Sie wollte nach der roten Leine. – – –

Aber er parierte, drückte die um sich Schlagende brutal zu Boden. – Dieses Luder! – Und zum erstenmal war auch er unterwegs nervös. Er gab kurz hintereinander immer wieder Gas, blickte nach den Instrumenten und in die Tiefe. Warf einen Papierstreifen aus und beobachtete ihn. Behielt alles im Auge, auch sie, diese Bestie Alice. – – Was tat sie jetzt?! Sie holte Zündhölzer hervor – wollte – Er stieß einen ebenso gotteslästerlichen wie unanständigen Fluch aus. Seine Geistesgegenwart war noch schneller als der Fluch. Er warf sich über Alice, verdrehte ihr schmerzhaft [66] das Handgelenk, daß sie die Zündhölzer freigab. – Riß ihr die Arme auf den Rücken. – Tastete, fand einen Strick, band ihre Arme zusammen. – Sie ist wahnsinnig! – Band dann ihre Füße zusammen. – All das ein schwieriges Werk, obwohl sie sich gar nicht mehr wehrte – Verdammt! Wir fallen ja viel zu schnell!

„Werden Sie mich anzeigen?“ Es klang ebenso verzweifelt wie giftig.

„Selbstverständlich!“

„Dann werde ich sagen: Sie lügen und Sie wollten mich vergewaltigen – –“

Ihn überkam die Wutlust, sie zu schlagen. Aber es war nicht Zeit. Er schnellte auf, blickte aus dem Korb hinunter, löste mit sicheren Messerschnitten die Bändsel, die das Schlepptau hielten. Hastig nach allen Seiten zugreifend, gewann er seine Kaltblütigkeit zurück. Er warf ein Sandgewicht nach dem anderen ab. Als er den letzten Sack leerte, war sein Gesicht totenbleich. Da hängte er sich mit der ganzem Wucht seines Körpers in die rote Leine.

Es gab ein krachendes Aufschlagen. Die wehrlose Alice wurde hochgeprellt. Und noch solch ein Aufschlagen. Dann stand die Gondel still. Stand etwas schräg in einem Acker, neben dem kläglichen Durcheinander von Tauwerk und toter Ballonhaut.

Herr Wegen sah auf die liegende, gefesselte – Mörderin. „Haben Sie sich wehgetan?“ Sie schüttelte schweigend den Kopf, wimmerte nur. „Ist es wahr, daß Sie getötet haben?“

[67] „Ich hasse diese Frau so.“

„Ist es wahr, daß – –“

„Ich weiß es nicht. Ich habe vorhin, – als wir noch über der Wiese schwebten –, mein Taschenmesser geöffnet und hinuntergeworfen –“

Wegen drehte sich einmal um sich selbst, um seine Erleichterung zu verbergen. „Das kann irgendeinen ganz Unschuldigen treffen –“

„Ich habe dabei Gott gebeten, es zu lenken.“

„Wissen Sie,“ sagte Wegen nun sehr ernst, „daß wir – durch Ihre Schuld soeben fast verunglückt wären? Daß wir soeben einem schlimmen Tode ganz knapp entgangen, daß wir um Handbreite an einer Starkstromleitung vorbeigekommen sind?“ Sie schweigt. Das versteht sie wohl nicht. – „Vielleicht hatte Ihre Nebenbuhlerin auch Ihnen den Tod gewünscht.“

Alice schwieg. Sie weinte ganz still vor sich hin, unaufhörlich. Weil sie die Tränen nicht abtrocknen konnte, hatte sich auf dem Wachstuch unter ihrem Gesicht ein Tränen-Seelein gebildet.

Er band sie los. „Wie sah das Messer aus?“

„Ein gewöhnliches Messer mit einer Klinge. Aber auf beiden Perlmutterschalen die Buchstaben A und B in Gold eingelegt.“

„Wie heißt Ihre Feindin?“

„Frau Eva van Stowen.“

„Wo wohnt sie?“ Frau Bartens gab frei und einfach [68] Auskunft. Dr. Wegen notierte alles. – „Frau Bartens, wenn Sie ernstlich in Bedrängnis kommen, werde ich mich für Sie einsetzen. Klettern Sie nun hinaus.“ – Sie befolgte stumm seine weiteren Anordnungen, half ihm die Instrumente zur nächsten Ortschaft tragen. Dort trennten sich die beiden.

War die Geschichte mit dem Messer erlogen? Dr. Wegen horchte diskret herum, erfuhr nicht mehr, als daß Frau Eva van Stowen lebte. Er gab ein Inserat auf, darin er dem Finder des Messers fünfzig Mark Belohnung versprach.

Acht Tage später mußte er diesen Finderlohn an einen Beerensucher zahlen. Der hatte das Messer im Walde im Moos gefunden.

Fünfzig Mark für diese hysterische Gans! Hoffentlich sehe ich sie nie wieder!

Dennoch verpackte Herr Wegen das Messer und schrieb und legte einen Zettel dazu: „Beiliegendes Andenken zur Versöhnung. Im Auftrage von Frau Alice Bartens.“ Das sandte er ohne Absendernennung an Frau Eva van Stowen.