Die Eroberung des Brotes/Unsere Reichtümer
UNSERE REICHTÜMER.
I.
Die Menschheit hat einen weiten Weg seit jenen verflossenen Zeitaltern zurückgelegt, in welchen der Mensch noch aus Kieselsteinen seine kümmerlichen Werkzeuge formte, wo er noch von den Zufälligkeiten der Jagd lebte und als gesamte Erbschaft seinen Kindern einen Schlupfwinkel unter Felsen, ein paar armselige Steinwerkzeuge hinterließ, und im übrigen sie der Natur preisgab, der gewaltigen, furchtbaren Natur, mit der sie den Kampf aufnehmen mußten, um ihre elende Existenz zu fristen.
Indeß, während dieser wirren Epoche, welche tausend und aber tausend Jahre gewährt hat, hat das Menschengeschlecht unerhörte Schätze gesammelt. Es hat den Boden urbar gemacht, die Sümpfe getrocknet, die Wälder ausgerodet, Straßen angelegt, gebaut, erfunden, beobachtet, gedacht; es hat einen komplizierten Werkzeugsapparat geschaffen, der Natur ihre Geheimnisse entrissen, den Dampf gebändigt; kurz, man hat es dahin gebracht, daß das Kind des zivilisierten Menschen heute bei seiner Geburt ein unermeßliches, von seinen Vorfahren aufgehäuftes Kapital vorfindet. Und dieses Kapital erlaubt heute jedem, falls er nur seine Arbeit mit der anderer kombiniert, Reichtümer zu gewinnen, welche die Träume der Orientalen in ihren Erzählungen von „Tausend und eine Nacht“ weit übertreffen.
Der Boden, soweit er kultiviert ist, und wenn man ihn nur zweckmäßig bestellt und für die Saat ausgewählte Körner verwendet, ist bereit, sich mit üppigen Ernten zu schmücken, reicheren Ernten, als es die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse erforderte. Und die Mittel, deren sich die Landwirtschaft dazu bedient, sind bekannt.
Auf dem jungfräulichen Boden der Prairien Amerikas produzieren hundert Menschen mit Hilfe gewaltiger Maschinen in einigen Monaten soviel Getreide, als zur Erhaltung von 10 000 Menschen während eines ganzen Jahres notwendig ist. Da, wo der Mensch seinen Ertrag verdoppeln, verdreifachen, verhundertfachen will, fabriziert er sich den geeigneten Boden, wendet er jeder Pflanze die Sorge zu, deren sie bedarf, und er erzielt geradezu fabelhafte Ernten. Und während der Jäger sich ehemals hundert Quadratkilometer bemächtigen mußte, um die Nahrung für seine Familie zu finden, läßt der zivilisierte[WS 1] Mensch heute mit unendlich geringerer Mühe und weit größerer Sicherheit auf [2] einem Zehntausendstel dieses Raumes alles hervorsprießen, was die Erhaltung der Seinigen erheischt.
Das Klima ist kein Hindernis mehr. Wenn die Sonne nicht scheint, so ersetzt sie der Mensch durch künstliche Wärme, und es steht zu erwarten, daß er zur Beschleunigung des Wachstums auch das Licht bald künstlich herstellen wird. Mit Hilfe von Glasdächern und Wasserheizung erntet er auf einem gegebenen Raum das Zehnfache von dem, was man früher auf ihm erzielte.
Die in der Industrie vollbrachten Wunder sind noch viel erstaunlicher. Mit Hilfe jener mit Intelligenz begabten Wesen, – der modernen Maschinen (die Frucht dreier oder vier Generationen meist unbekannter Erfinder) fabrizieren heute hundert Menschen das, wovon 10 000 Menschen während zweier Jahre sich kleiden können. In den gut organisierten Kohlenbergwerken fördern in jedem Jahre hundert Menschen soviel Heizmaterial, als zur Erwärmung der Wohnungen von 10 000 Familien im kältesten Klima ausreicht. Man kann eine ganze Stadt voller wunderbarer Schönheit in wenigen Monaten entstehen sehen, ohne daß dabei auch nur die geringste Unterbrechung in den gewöhnlichen Arbeiten eingetreten ist.
Und wenn auch heute in der Industrie und im Ackerbau, wie in der Gesamtheit unserer sozialen Organisation die Arbeit unserer Vorfahren nur einer kleinen Minderzahl zugute kommt – so ist es doch nicht weniger sicher, daß sich heute schon die Menschheit eine Existenz in Reichtum und Luxus würde schaffen können, – unter einziger Hilfe jener Diener aus Eisen und Stahl, welche sie besitzt.
Ja, wir sind reich, unendlich viel reicher, als wir gemeiniglich denken: reich durch das, was wir schon besitzen, reicher noch durch das, was wir mit Hilfe des gegenwärtigen Werkzeugmechanismus produzieren können und unermeßlich viel reicher durch das, was wir aus unserem Boden, aus unseren Manufakturen, mit Hilfe der Wissenschaft und unserem technischen Wissen werden erzielen können, wenn diese erst dazu dienen würden, um allen den Wohlstand zu schaffen.
II.
Wir sind reich in unseren zivilisierten Gesellschaften.
Woher also das Elend, das um uns herum herrscht? Warum da die harte, die Massen abstumpfende Arbeit? Warum diese Unsicherheit, wie es einem morgen ergehen wird, die selbst den bestbezahlten Arbeiter nicht verschont? Warum alles dies inmitten der von der Vergangenheit ererbten Reichtümer und trotz der gewaltigen Produktionsmittel, welche bei einer täglichen Arbeit von nur wenigen Stunden allen den Wohlstand schaffen könnten?
Die Sozialisten haben es ausgesprochen und es bis zum Ueberdruß wiederholt; sie wiederholen es jeden Tag und belegen es durch Beweise, die den gesamten Wissenschaften entlehnt sind: Weil alles, was zur Produktion nötig ist, der Boden, die Bergwerke, die Maschinen, [3] die Verkehrswege, die Nahrungsmittel, die Wohnungen, die Erziehung, das Wissen, weil alles dieses der ausschließliche Besitz einiger Weniger geworden ist – im Verlauf einer langen Geschichtsperiode voller Raub, Auswanderungen, Kriege, Unwissenheit und Unterdrückung, welche die Menschheit durchlebte, ehe sie die Naturkräfte zu bändigen gelernt hatte.
Weil diese Wenigen sogenannte Rechte, welche sie in der Vergangenheit erworben haben wollen, vorschützen und auf Grund dessen sich heute zwei Drittel des Ertrages der menschlichen Arbeit, mit der sie die unsinnigste und empörendste Verschwendung treiben, aneignen; weil sie die Massen dahin gebracht haben, daß diese nie mehr für einen Monat, kaum einmal für acht Tage genug zu leben haben, weil sie infolgedessen die Macht haben (welche sie auch ausnutzen), Niemanden arbeiten zu lassen, der ihnen nicht stillschweigend den Löwenanteil am Gewinn überläßt; weil sie die Produktion dessen erzwingen, was dem Ausbeuter den größten Gewinn verheißt.
Das ist das Wesen des Kapitalismus!
Wie sieht ein zivilisiertes Land heute aus? Die Wälder, welche es ehemals bedeckten, sind gelichtet, die Sümpfe sind getrocknet, das Klima ist ein gesundes, kurz, das Land ist bewohnbar geworden. Der Boden, welcher ehemals nur Gras und Kräuter trug, liefert heute reichliche Getreide-Ernten. Die Felsen, welche seiner Zeit die Täler des Südens überhingen, sind in Terrassen umgewandelt, an denen der Weinstock mit seiner goldigen Frucht emporklettert. Die wilden Kräuter und Sträucher, welche früher nur herbe Früchte und ungenießbare Wurzeln lieferten, sind auf dem Wege schrittweiser Veredlung in nahrhafte Gemüse, in Bäume, die ausgesuchte Früchte tragen, verwandelt worden.
Tausende von Straßen, mit Steinen und Eisen gepflastert, durchschneiden das Land, durchbohren die Berge; die Lokomotive pfeift in den wilden Schluchten der Alpen, des Kaukasus, des Himalaya. Die Flüsse sind schiffbar gemacht worden. Die Küsten, ausgelotet und sorglich vermessen, gestatten ein leichtes Landen; künstliche Häfen, unter unsäglichen Mühen ausgegraben und gegen das Wüten des Ozeans geschützt, gewähren Schiffern sichere Zuflucht. Tiefe Schachte durchstechen die Felsen; ganze Labyrinthe unterirdischer Gänge breiten sich überall dort aus, wo es Kohle zu fördern oder Erze zu graben gibt. An allen Punkten, wo Straßen sich kreuzen, sind Städte emporgewachsen, zu Großstädten geworden, und in ihren Mauern finden sich alle Schätze der Industrie, der Kunst und der Wissenschaft.
Ganze Generationen, geboren und gestorben im Elend, unterdrückt, entkräftet durch Ueberarbeit und mißhandelt von ihren Herren, haben diese ungeheuere Erbschaft dem neunzehnten Jahrhundert vermacht.
Während Tausenden von Jahren haben Millionen von Menschen daran gearbeitet, die Wälder zu lichten, die Sümpfe auszutrocknen, die Straßen zu bahnen, die Flüsse einzudeichen. Jeder Hektar Erde, welchen [4] wir in Europa bebauen, ist gedüngt mit dem Schweiße mehrerer Rassen; jede Straße hat eine ganze Geschichte von Frondiensten, von übermenschlicher Arbeit, von Leiden des Volkes. Jede Meile Eisenbahn, jeder Meter eines Tunnels haben Menschenblut erfordert.
Die Gänge der Bergwerke tragen noch ganz frische Spuren von den Hieben, die der Bergmann gegen den Felsen geführt hat, und schon könnte jeder Pfeiler der unterirdischen Galerien gekennzeichnet sein durch das Grab eines Bergmanns, der in der Blüte der Jahre vom schlagenden Wetter, durch einen Einsturz oder eine Ueberschwemmung hinweggerafft wurde; und man weiß, was für Tränen, Entbehrungen und namenloses Elend jedes dieser Gräber der Familie gekostet hat, welche von dem mageren Lohn des im Schutte verscharrten Mannes gelebt hat.
Die Städte, untereinander durch Eisenbahngürtel und Schiffahrtslinien verbunden, sind Organismen von einem Jahrhunderte langen Leben. Durchgrabet ihren Untergrund, und ihr werdet die Schichten finden, welche davon Zeugnis ablegen, welche aber jetzt durch Straßen, Häuser, Theater, Spielplätze und öffentliche Bauten verdeckt sind. Vertieft Euch in die Geschichte, und Ihr werdet sehen, wie die Zivilisation der Städte, ihre Industrie, ihr Geist ganz allmählig herangewachsen und herangereift sind durch die vereinigten Bemühungen aller ihrer Bewohner; so allein konnten sie das werden, was sie heute sind.
Und weiter – der Wert eines jeden Hauses, einer jeden Fabrik, eines jeden Bergwerkes, eines jeden Magazins ist wieder nur das Resultat der aufgehäuften Arbeit von Millionen begrabener Arbeiter, und sie bewahren ihn einzig nur durch die Anstrengungen ganzer Legionen von Menschen, welche über den ganzen Erdball hin wohnen. Jedes Atömchen dessen, was wir Nationalreichtum nennen, erwirbt seinen Wert erst durch die Tatsache, daß es ein Teil dieses unermeßlichen Ganzen ist. Was würde ein Dock in London, ein großes Magazin in Paris sein, wenn es nicht in diesen großen Zentren des internationalen Handels gelegen wäre? Was wären unsere Bergwerke, unsere Fabriken, unsere Bauplätze, unsere Eisenbahnen ohne die Masse der täglich zu Wasser und zu Lande transportierten Waren?
Millionen menschlicher Wesen haben daran gearbeitet, diese Zivilisation, deren wir uns heute rühmen, zu schaffen. Andere Millionen, verstreut über alle Teile des Erdballs, arbeiten daran, sie zu erhalten. Ohne sie würden nach Verlauf von 50 Jahren nur noch Schutthaufen von vergangener Herrlichkeit zeugen.
Es gibt nichts, und sei es ein Gedanke oder eine Erfindung, was nicht Kollektivarbeit wäre, was nicht in der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich seinen Ursprung hätte. Tausende von Erfindern, bekannt oder unbekannt, gestorben im Elend, haben die Erfindungen dieser Maschinen, in denen der Mensch von heute sein Genie bewundert, vorbereitet. Tausende von Schriftstellern, Dichtern und Gelehrten haben an dem Aufbau unseres Wissens, an der Beseitigung der Irrtümer, an der Schaffung jener wissenschaftlichen Atmosphäre, ohne welche [5] keines der Wunder unseres Jahrhunderts hätte in Erscheinung treten können, gearbeitet. Aber diese Tausende von Philosophen, Gelehrten, Erfinder sind selbst wieder nur durch die Arbeit vergangener Jahrhunderte angeregt worden. Sind sie nicht während ihres Lebens ernährt und erhalten worden (in körperlicher wie geistiger Beziehung) durch Legionen von Arbeitern und Handwerkern aller Art? Haben sie nicht ihre treibende Kraft aus ihrer ganzen Umgebung geschöpft?
Das Genie eines[WS 2] Séguin, eines Mayer und eines Grove haben sicherlich mehr dazu getan, die Industrie auf neue Bahnen zu lenken, als alle Kapitalisten der Welt. Aber diese Genies sind selbst wieder nur die Kinder der Industrie, nicht weniger als die der Wissenschaft. Denn es war notwendig, daß Tausende von Dampfmaschinen von Jahr zu Jahr unter Aller Augen die Wärme in dynamische Kraft und diese wieder in Schall und Licht und in Elektrizität umsetzten, bevor diese genialen Geister den mechanischen Ursprung und die Einheit der physischen Kräfte proklamieren konnten. Und wenn wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, endlich diese Idee begriffen haben, wenn wir verstanden haben, sie praktisch zu verwenden, so rührt dies wieder nur daher, weil wir durch die Masse der Erfahrungen aller früheren Tage fast darauf gestoßen wurden. Die Denker des verflossenen Jahrhunderts hatten sie gleichfalls erfaßt und ausgesprochen: aber sie war unbegriffen geblieben, weil das 18. Jahrhundert nicht wie wir mit der Dampfmaschine aufgewachsen war.
Man denke nur, wie lange Jahre noch in Unkenntnis jenes Gesetzes, welches uns erlaubte, die ganze moderne Industrie zu revolutionieren, verflossen wären, wenn nicht Watt in Soho Arbeiter gefunden hätte, die geschickt genug waren, seine theoretischen Anschläge in Metallkonstruktionen und in vollendeter Form aller Teile auszuführen, und so den Dampf, eingeschlossen in einem vollständigen Mechanismus, gelehriger wie das Pferd, fügsamer wie das Wasser, zur Seele der modernen Industrie gemacht hätten.
Jede Maschine hat die gleiche Geschichte: eine lange Geschichte erfolglos durchwachter Nächte, von Enttäuschungen und Freuden, von partiellen Verbesserungen, ausfindig gemacht durch mehrere Generationen unbekannter Arbeiter, welche der primitiven Erfindung jene kleinen Unbedeutenheiten hinzufügen sollten, ohne welche die fruchtbare Idee unfruchtbar geblieben wäre. Ueberhaupt jede neue Erfindung ist eine Verbindung – ein Resultat von tausend vorangegangenen Erfindungen auf dem unermeßlichen Gebiete der Mechanik und Industrie.
Wissenschaft und Industrie, das Wissen und seine Anwendung, Erfindung und ihre Verwirklichung, die wieder zu neuen Erfindungen führt, Gehirnarbeit und Handarbeit – Gedanke und Muskelanstrengung – alles steht in inniger Verbindung. Jede Entdeckung, jeder Fortschritt, jede Vermehrung des Reichtums der Menschheit hat seinen Ursprung in der Gesamtheit von Hand- und Hirnarbeit der Vergangenheit und Gegenwart.
[6] Also mit welchem Recht darf sich irgend jemand auch nur des geringsten Teiles dieses unermeßlichen Ganzen bemächtigen und sagen: „Das gehört mir und nicht euch“?
III.
Aber in der Reihe der von der Menschheit durchlebten Zeitalter ist es dahin gekommen, daß alles, was dem Menschen zur Produktion notwendig ist, und was zur Vergrößerung seiner Produktionskraft dient, von einigen Wenigen an sich gerissen worden ist. Wir werden seiner Zeit vielleicht näher darauf eingehen und erzählen, wie dieses vor sich gegangen ist. Für den Augenblick genügt es uns, diese Tatsache zu konstatieren und die Konsequenzen aus ihr zu ziehen.
Heute, wo der Grund und Boden gerade durch die Bedürfnisse einer immer wachsenden Bevölkerung seinen Wert erhält, gehört er einer kleinen Minderzahl, welche das Volk verhindern kann – und es auch tut –, ihn überhaupt zu kultivieren, oder es doch verwehrt, ihn entsprechend den modernen Bedürfnissen zu bebauen. Die Bergwerke, welche die Arbeit mehrerer Generationen repräsentieren und ihren Wert erst wohl durch die Bedürfnisse der Industrie und die Dichtigkeit der Bevölkerung erhalten, gehören wieder nur einigen wenigen Personen, und diese wenigen Personen beschränken die Ausbeute der Gruben oder verhindern sie völlig, wenn sie eine günstige Anlage für ihre Kapitalien finden. Auch die Maschine ist das Eigentum Einzelner, und selbst, wenn eine solche unbestreitbar den Stempel der Vervollkommnungen seitens dreier Arbeitergenerationen an sich trägt, sie gehört nichtsdestoweniger einigen Kapitalisten; und wenn die Enkel desselben Erfinders, welcher vor hundert Jahren die erste Spitzenwebmaschine konstruiert hat, heute in einer Manufaktur von Basel oder Nottingham aufträten und ihr Recht geltend machten, so würde man ihnen antworten: „Macht, daß Ihr fortkommt, diese Maschine ist nicht Euer Eigentum“, und man würde sie füsilieren, wenn sie ernsthaft von ihr Besitz ergreifen wollten.
Die Eisenbahnen, welche ohne die dichte Bevölkerung Europas, ohne seine Industrie, ohne seinen Handel und Wandel nur altes Eisen sein würden, gehören einigen Aktionären, die vielleicht nicht einmal wissen, wo die Strecken liegen, welche ihnen Revenuen, weit größer, als die eines mittelalterlichen Königs, eintragen. Und wenn die Kinder Derer, die zu Tausenden bei Durchstichen und Tunnelbauten umkamen, sich eines Tages versammelten und, eine zerlumpte und ausgehungerte Masse, von den Aktionären Brot fordern wollten, so würden sie Bajonetten und Kanonen begegnen, die sie auseinandertreiben und die „wohlerworbenen Rechte“, schützen würden.
In Folge dieser ungeheuerlichen Organisation der Gesellschaft findet der Sohn des Arbeiters, wenn er in das Leben tritt, weder ein Feld, das er bebauen, noch eine Maschine, die er bedienen, noch ein Bergwerk, in dem er graben könnte – wenn er nicht einen großen Teil seines Arbeitsproduktes an den Herrn dieser Produktionsmittel abführt. [7] Er muß seine Arbeitskraft für einen kärglichen Bissen Brot, der ihm jeden Augenblick auch noch ganz verloren gehen kann, verkaufen. Sein Vater und sein Großvater haben sich gemüht, dieses Feld trocken zu legen, jenes Hüttenwerk zu erbauen, jene Maschinen zu vervollkommnen; sie hatten gearbeitet nach voller Maßgabe ihrer Kräfte – und wer kann mehr als dies tun? –, und er, er kommt ärmer als der letzte der Wilden auf die Welt. Wenn er die Erlaubnis erhält, ein Feld zu bebauen, so geschieht dies nur unter der Bedingung, daß er ein Viertel der Regierung abtreten muß. Und diese Steuer, welche von ihm im Voraus vom Staate, vom Kapitalisten, vom Gutsherrn, vom Vermittler erhoben wird, vergrößert sich täglich und läßt ihm in den seltensten Fällen die Möglichkeit, eine Verbesserung des Bodens vorzunehmen. Ist er in der Industrie tätig, so erlaubt man ihm gleichfalls nur zu arbeiten – und dies übrigens nicht einmal immer – unter der Bedingung, daß er sich mit der Hälfte oder gar einem Drittel des von ihm Erzeugten begnügt; der Rest fällt dem zu, welchen das Gesetz als Eigentümer der Maschine anerkennt.
Wir zetern gegen den Feudal-Baron, welcher dem Bauer nicht gestattet, das Land zu berühren, wenn er ihm nicht ein Viertel seiner Ernte überließ. Wir nennen jene Zeit eine barbarische. Indeß nur die Form der Ausbeutung hat gewechselt, der Grad derselben ist der gleiche geblieben. Der Arbeiter nimmt heute unter dem Namen des freien Kontraktes Feudallasten auf sich; denn nirgends würde er bessere Bedingungen finden. Wo einmal alles das Eigentum eines Herren geworden, muß er sich fügen oder Hungers sterben.
Bei dieser Lage der Dinge ist es nur natürlich, daß unsere gesamte Produktion eine widersinnige Richtung angenommen hat. Die kapitalistische Unternehmung entspringt nicht den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft: ihr einziges Ziel ist, die Einkünfte des Unternehmens zu steigern. Daher das fortwährende Fluktuieren in der Industrie, daher die chronischen Krisen, von denen eine jede die Arbeiter zu Hunderttausenden auf das Straßenpflaster wirft.
Da die Arbeiter mit ihrem geringen Lohn die Reichtümer, welche sie produziert haben, nicht kaufen können, so sucht die Industrie ihre Waren im Ausland unter den Ausbeutern anderer Nationen abzusetzen. Im Orient, in Afrika, ganz gleich wo, Aegypten, Tonkin oder Kongo, muß der Europäer unter diesen Umständen die Zahl seiner Hörigen vermehren. Aber überall findet er Konkurrenten, denn alle Nationen entwickeln sich im gleichen Sinne. Und damit sind die Kriege – der Krieg in Permanenz – gegeben; sie müssen ausbrechen, weil jeder der Herr der Märkte sein will. Kriege für die Besitzungen im Orient, Kriege für die Herrschaft der Meere, Kriege, um Einfuhrzölle aufzuzwingen und seinen Nachbarn Bedingungen vorzuschreiben; Kriege gegen Diejenigen, welche sich dagegen auflehnen. Der Donner der Kanonen verstummt nicht mehr in Europa, [8] ganze Generationen sind hingeschlachtet worden, die europäischen Staaten verwenden ein Drittel ihres Budgets auf Rüstungen; – und man weiß, was die Steuern sind und was sie dem Armen kosten.
Die Erziehung bleibt das Privilegium einer verschwindenden Minorität. Denn kann man von Erziehung sprechen, wenn das Kind des Arbeiters gezwungen ist, mit 10 Jahren, oft schon früher, in der Industrie tätig zu sein, oder dem Vater bei schwerer landwirtschaftlicher Arbeit zu helfen? Darf man dem Arbeiter, der abends mit zerschlagenen Gliedern von einer langen, aufgezwungenen und stets abstumpfenden Arbeit heimkehrt, von Studien sprechen?! Die Gesellschaft spaltet sich in zwei feindliche Lager, und unter diesen Umständen ist die Freiheit ein bloßes Wort. Fordert der Radikale auch zuweilen eine größere Ausdehnung der politischen Freiheiten, so wird er sich indessen gewöhnlich bald bewußt, daß der Hauch der Freiheit leicht zu einer Erhebung des Proletariats führen kann; und dann macht er Kehrt, ändert seine Meinung und nimmt zu Ausnahmegesetzen und zur Regierung mittels des Säbels seine Zuflucht.
Ein großer Apparat von Gerichtshöfen, Richtern, Henkersknechten, Gendarmen und Kerkermeistern ist zur Stütze der Privilegien notwendig; und dieser Apparat wird selbst wieder der Ursprung für ein ganzes System von Angebereien, Täuschungen, Drohungen und Korruptionen.
Außerdem wirkt dieses System der Entwicklung gesellschaftlicher Empfindungen entgegen. Ein Jeder sieht ein, daß ohne Redlichkeit, ohne Selbstachtung, ohne Mitgefühl, ohne gegenseitige Unterstützung die Gattung verkommen muß, ebenso wie die Tiergattungen, die nur vom Raube und der Knechtung leben, verkommen. Aber dies ist keine Warnung für die herrschenden Klassen, sie erfinden eine ganze, absolut falsche „Wissenschaft“, um das Gegenteil zu beweisen.
Man redet wohl allerlei Schönes über die Notwendigkeit, den Besitz mit denen zu teilen, welche nichts besitzen. Aber wer es sich einfallen lassen sollte, dieses Prinzip in Wirklichkeit umzusetzen, der wird sogleich belehrt, daß alle solche hohen Empfindungen wohl in die Dichtung gehören – aber keineswegs in das Leben. „Lügen“, denken wir, „das heißt sich erniedrigen, sich demütigen“ – gleichwohl wird aber das ganze zivilisierte Leben mehr und mehr zu einer immensen Lüge. Wir gewöhnen uns, gewöhnen unsere Kinder daran, mit einer doppelgesichtigen Moral, als Heuchler zu leben. Und widersetzt sich dem unser Gehirn, so gewöhnen wir es an den Sophismus. Heuchelei und Sophisterei werden die zweite Natur des zivilisierten Menschen.
Aber eine Gesellschaft kann nicht so leben; sie muß zur Wahrheit zurückkehren oder verschwinden.
So erstreckt die einfache Tatsache der Kapitalkonzentration ihre verhängnisvollen Konsequenzen über das gesamte soziale Leben. Unter [9] der Gefahr des Untergangs sind die menschlichen Gesellschaften gezwungen, auf folgende Fundamentalprinzipien zurückzukommen: die Produktionsmittel müssen als Kollektivprodukt der Menschheit wieder in Kollektivbesitz der Menschheit gelangen; der individuelle Besitz ist weder gerecht noch nutzbringend; Alles soll Allen gehören, da Alle dessen bedürfen, da Alle nach Maßgabe ihrer Kräfte den Reichtum haben schaffen helfen, und da es faktisch unmöglich ist, den Anteil zu bestimmen, welcher in der gegenwärtigen Produktion einem Jeden zufallen könnte.
Alles soll Allen gehören! Sehet jenen ungeheuren Werkzeugmechanismus, welchen das 19. Jahrhundert geschaffen hat, jene Millionen Eisensklaven, Maschinen genannt, die hobeln, sägen, spinnen, weben, die die Rohstoffe zerlegen und neue bilden, und welche die Wunder unserer Zeitepoche ausmachen. Niemand hat das Recht, sich einer einzigen dieser Maschinen zu bemächtigen und zu sagen: „Dieselbe gehört mir; wenn Ihr Euch ihrer bedienen wollt, so müßt Ihr mir auf jedes Eurer Erzeugnisse einen Tribut bezahlen“; ebenso wenig wie der Lehnsherr des Mittelalters das Recht hatte, zum Bauer zu sagen: „Dieser Hügel, diese Wiese gehören mir, und Ihr müßt mir einen Tribut auf jede Garbe Getreide, die Ihr erntet, für jeden Schober Heu, den Ihr aufschichtet, entrichten.“
Alles soll Allen gehören! Vorausgesetzt, daß Mann und Weib die ihnen mögliche Arbeit liefern, haben sie ein Recht auf den ihren Bedürfnissen entsprechenden Teil des Gesamtprodukts. Dieser Anteil wird genügen, um ihnen den Wohlstand zu sichern.
Fort also mit jenen zweideutigen Forderungen, wie „das Recht auf Arbeit“ oder „Jedem der vollständige Ertrag seiner Arbeit“. Was wir proklamieren, das ist das Recht auf Wohlstand, den Wohlstand für Alle.