Die Eroberung des Brotes/Die Wohnung
DIE WOHNUNG.
I.
Diejenigen, welche mit Aufmerksamkeit der Ideenentwicklung bei den Arbeitern folgen, haben bemerken müssen, daß sich unter ihnen ganz unmerkbar ein Einverständnis über eine sehr wichtige Frage, über die Wohnungsfrage, herausbildet. Es ist unleugbar: in den Großstädten Frankreichs und ebenso in vielen kleineren kommen die Arbeiter mehr und mehr zu dem Schlusse, daß die Wohnhäuser keineswegs das Eigentum derer sein sollten, welche der Staat als deren Eigentümer anerkennt.
Diese Entwickelung vollzieht sich in den Geistern und man wird es die Arbeiter nicht mehr glauben machen können, daß das Eigentum an den Häusern etwas Gerechtes sei.
Das Haus ist nicht vom Eigentümer erbaut worden; es ist aufgerichtet, geputzt, tapeziert worden von Hunderten von Arbeitern, welche der Hunger auf die Bauplätze getrieben hat, welche das Bedürfnis, zu leben, gezwungen hat, einen verkürzten Lohn zu akzeptieren.
Das von dem angeblichen Eigentümer aufgewendete Geld war nicht das Produkt seiner eigenen Arbeit. Er hatte es aufgehäuft – was der Fall bei allen Reichtümern ist – indem er den Arbeitern zwei Drittel oder nur die Hälfte von dem, was er ihnen eigentlich schuldete, zahlte.
Endlich – und gerade hier springt die Ungeheuerlichkeit dieser Institution am klarsten in die Augen – verdankt das Haus seinen gegenwärtigen Wert einzig dem Nutzen, den der Eigentümer aus ihm ziehen kann. Und dieser Nutzen wird dem Umstande gedankt, daß das Haus in einer gepflasterten, mit Gas erleuchteten Stadt liegt, einer Stadt, die in regelmäßiger Verbindung mit anderen Städten steht, und in ihrem Busen industrielle Etablissements, Handels- und Kunstinstitute vereinigt; daß dieser Ort mit Brücken, Quais und Monumenten der Architektur geschmückt ist und dem Bewohner tausenderlei Komfort und Annehmlichkeiten bietet, die dem Dorfe unbekannt sind; kurz, daß zwanzig, dreißig Generationen daran gearbeitet haben, ihn zu einer wohnlichen, gesunden und schönen Stadt zu machen.
Der Wert eines Hauses in bestimmten Vierteln von Paris beträgt eine Million, nicht weil es für eine Million Arbeit enthält, sondern weil es in Paris liegt; weil seit Jahrhunderten Arbeiter, Künstler, Denker, Gelehrte und Schriftsteller ihre Mühen vereinigt haben, um [60] Paris zu dem zu machen, was es heute ist: ein Zentrum der Industrie, des Handels, der Politik, der Kunst und der Wissenschaft; weil es eine Vergangenheit hat; weil seine Straßen dank der Literatur bekannt sind – in der Provinz wie im Ausland; weil es ein Produkt der Arbeit von 18 Jahrhunderten, von 50 Generationen der gesamten französischen Nation ist.
Wer hat da das Recht, den kleinsten Teil dieses Terrains oder das letzte der Häuser sein Eigen zu nennen, ohne eine schreiende Ungerechtigkeit zu begehen? Wer hat da ein Recht, das kleinste Teilchen des gemeinsamen Erbteils zu verkaufen, an wen es auch sei?
Darüber, sagen wir, besteht unter den Arbeitern nur ein Einverständnis. Die Idee der unentgeltlichen Wohnung hat sich während der Belagerung von Paris klar offenbart, damals, als man klipp und klar den Erlaß des von den Eigentümern geforderten Mietzinses verlangte. Sie hat sich auch noch während der Kommune vom Jahre 1871 offenbart, als der Pariser Arbeiter von dem Rat der Kommune eine mannhafte Entscheidung bezüglich der Abschaffung des Mietzinses erwartete. Dieses wird immer die erste Sorge des Armen sein, sobald eine Revolution ausgebrochen ist.
In derartigen Zeiten oder überhaupt nicht bedarf der Arbeiter eines Schlupfwinkels, einer Wohnung. Doch so schlecht, so ungesund sie auch sei, es gibt immer einen Eigentümer, welcher die Proletarier daraus vertreiben könnte. Allerdings wird während der revolutionären Epoche der Eigentümer keinen Gerichtsvollzieher noch Polizisten an der Hand haben, der das Lumpenpack auf die Straße wirft. Aber wer weiß, ob sich nicht morgen schon eine neue Regierung, so revolutionär sie sich auch gebärdete, eine exekutive Gewalt schafft und die Polizeimeute gegen die Arbeiter los läßt. Man hat wohl gesehen, daß die Kommune den Erlaß des Mietzinses bis zum 1. April proklamierte – aber eben nur bis zum 1. April[UE 1]. Nach diesem Termin mußte er wieder erlegt werden. Selbst als in Paris alles „drunter und drüber“ war, selbst als die gesamte Industrie ruhte und der Revolutionär einzig auf seine 30 Sous (Mk. 1,20) angewiesen war.
Der Arbeiter muß wissen, daß eine Mietsfreiheit nicht allein die Folge einer zufälligen Desorganisation der exekutiven Macht sein darf. Er muß wissen, daß die Unentgeltlichkeit der Wohnung im Prinzip anerkannt und durch Volkszustimmung gewissermaßen sanktioniert ist; daß die unentgeltliche Wohnung ein Recht, ein vom Volke laut proklamiertes Recht bedeutet.
Können wir nun erwarten, daß diese Maßnahme, so sehr dem Gerechtigkeitsgefühl jedes rechtlich denkenden Mannes zusagend, von den Sozialisten ergriffen werden wird, von jenen Sozialisten, die im Verein mit Bourgeois sich einst in einer provisorischen Regierung [61] befinden werden? Wir würden lange darauf warten können – bis zur Wiederkehr der Reaktion!
Aus diesem Grunde sollten auch alle aufrichtigen Revolutionäre, auf Schärpe und Käppi, die Insignien der Herrschaft und Knechtschaft, verzichtend und auf der Seite des Volkes verbleibend, mit dem Volke darauf hinarbeiten, daß die Expropriation der Häuser eine vollendete Tatsache wird. Sie sollten darauf hinarbeiten, daß der allgemeine Ideengang eine derartige Richtung annimmt, sie sollten sich bemühen, diese Ideen zu verwirklichen. Und wenn sie gereift sein werden, wird das Volk zur Expropriation der Häuser schreiten, ohne den Theorien Achtung zu schenken, die man ihm zweifelsohne zwischen die Füße werfen wird, jene Theorien über die Entschädigung der Eigentümer und andere Hirngespinste.
An dem Tage, wo die Expropriation der Häuser geschehen sein wird, wird der Ausgebeutete, der Arbeiter, begriffen haben, daß neue Zeiten angebrochen sind, daß er nicht mehr den Rücken vor den Reichen und Angesehenen zu beugen hat, daß die Gleichheit aller ein Recht geworden, daß die Revolution eine vollendete Tatsache ist und nicht ein Theatercoup, wie man deren in dieser Richtung schon zu viele gesehen hat.
II.
Wenn die Idee der Expropriation eine populäre wird, so wird ihre Verwirklichung keineswegs vor unüberwindlichen Hindernissen, mit denen man uns stets zu drohen beliebt, Halt manchen müssen.
Gewiß, die betreßten Herren, welche auf den leeren Sesseln der Ministerien und des Hotel de Ville Platz genommen haben werden, werden nicht verfehlen, derartige Hindernisse aufzutürmen. Sie werden davon sprechen, daß man die Eigentümer schadlos halten, daß man zu diesem Zwecke Statistiken und Berichte anfertigen müsse – und diese Berichte werden dann so lang sein, und deren Verlesung wird so lange währen, daß das Volk inzwischen vor Elend verkommt und, an der Revolution verzweifelnd, den Reaktionären freien Spielraum läßt; kurz, sie werden damit endigen, einem Jeden die bureaukratische Expropriation verhaßt zu machen.
Das ist in der Tat eine Klippe, an der alles scheitern kann. Wenn aber das Volk den falschen Beweisführungen, mit denen man es zu verblenden sucht, kein Gehör schenkt, wenn es begreift, daß ein neues Leben neue Wege erfordert, und wenn es die Führung seiner Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt, – dann wird die Expropriation keine großen Schwierigkeiten haben.
„Doch wie? Wie soll sie vor sich gehen?“[WS 1] wird man uns fragen. Wir werden es sagen, wenn auch mit einer Reserve. Es widerstrebt uns, einen Expropriationsplan bis in seine kleinsten Details auszuarbeiten. Wir wissen im voraus, daß alles das, was heute ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen plant, vom wirklichen Leben überholt werden wird. Dieses – sagen wir uns – wird alles das, was man ihm vorschreiben könnte, besser und einfacher verwirklichen.
[62] Und wenn wir die Methode skizzieren, nach welcher die Expropriation und die Verteilung der expropriierten Reichtümer ohne die Intervention einer Regierung stattfinden könnte, so tun wir dies nur, um denjenigen zu antworten, die dieses für unmöglich erklären. Auch möchten wir erinnern, daß wir keineswegs die Absicht haben, diese oder jene Organisationsform zu prophezeien. Was uns von Wichtigkeit ist, das ist einzig der Nachweis, daß die Expropriation durch die Initiative des Volkes möglich ist, oder sogar allein durch diese möglich ist.
Es ist vorauszusehen, daß mit den ersten Akten der Expropriation in jedem Viertel, in jeder Straße, für jeden Häuserkomplex sich Gruppen wohlgesinnter Bürger bilden werden, die bereitwillig die Zahlen der leerstehenden Wohnungen, der Wohnungen, die von zu zahlreichen Familien eingenommen werden, der ungesunden Räume, der Häuser ermitteln werden, die zu geräumig für ihre Insassen sind und noch von anderen und denen bewohnt werden könnten, denen Luft und Licht in ihren gegenwärtigen Höhlen mangelt. In einigen Tagen werden diese Freiwilligen für jede Straße, jedes Viertel genaue Listen über alle Wohnungen angefertigt haben, mit den Angaben, ob sie gesund oder ungesund, ob sie zu eng oder zu geräumig, ob sie sich in schlechtem oder gutem Zustand befinden.
Aus freiem Antriebe werden sie die Resultate ihrer Listen vereinigen und in wenigen Tagen werden sie eine vollständige Statistik haben. Der Ort für trügerische Statistiken sind die Bureaus; die wahre exakte Statistik kann nur vom Individuum ausgehen; sie muß vom Einfachen zum Komplizierten aufsteigen und nicht umgekehrt.
Und dann, ohne auf Jemandes Befehl zu warten, werden diese Bürger ihre Kameraden, die in Pesthöhlen wohnen, aufsuchen und werden zu ihnen sprechen: „Dieses Mal, Kameraden, bringt die Revolution etwas Gutes. Kommt heute abend nach dem und dem Ort. Das ganze Viertel wird dort versammelt sein und man wird die Wohnungen verteilen. Wenn es euch nicht in eurem Loche gefällt, so werdet ihr euch eine der Wohnungen, sagen wir zu 5 Zimmern, auswählen. Und wenn ihr sie dann bezogen habt, so wird euch für immer geholfen sein. Das Volk wird dann mit dem ein Wörtchen reden, der euch aus ihr zu entfernen wünschte.
„Aber jeder wird dann eine Wohnung mit 20 Zimmern haben wollen!“ – wird man uns entgegnen.
Das ist ein Irrtum. Niemals hat das Volk Unmögliches verlangt. Im Gegenteil, so oft wir sie als Gleichgestellte an die Aufgabe treten sahen, Ungerechtigkeiten zu beseitigen, waren wir immer von dem Opfermut und dem Gerechtigkeitsgefühl betroffen, von dem die Masse beseelt war. Hat man jemals das Volk das Unmögliche fordern sehen, als es während der zwei Belagerungen sich seine Rationen Brot und Holz holen ging? Man stellte sich ordnungsmäßig hintereinander auf, so wie man gekommen war, und zwar mit einer Resignation, über welche [63] die Korrespondenten der ausländischen Journale sich nicht genug wundern konnten, und dies, obwohl man wußte, daß die zuletzt Gekommenen den Tag ohne Brot und Holz zubringen mußten.
Gewiß, es finden sich viel egoistische Instinkte bei den isolierten Individuen unserer Gesellschaften. Wir wissen dies sehr wohl. Aber wir wissen auch, daß das beste Mittel, diese Instinkte zu wecken oder zu nähren, wäre, wenn man die Regelung der Wohnungsfrage irgend einem Bureau anvertraute. Dann werden allerdings alle jene häßlichen Leidenschaften zutage treten. Und alles wird der entgelten müssen, der in diesem Bureau den größten Einfluß hat. Die geringste Ungleichheit wird großes Geschrei erwecken, der geringste Vorteil, der Jemandem gewährt wird, wird den Vorwurf der Bestechlichkeit laut werden lassen – und dies nicht ohne Grund!
Wenn indessen das Volk selbst, nach Straßen, Vierteln, Bezirken vereinigt, die Aufgabe auf sich nimmt, die Bewohner der Höhlen in den allzu geräumigen Wohnungen der Reichen unterzubringen, so werden die geringen Unzuträglichkeiten und die kleinen Ungleichheiten, die sich einstellen sollten, leicht aufgenommen werden. Man hat selten an die edlen Instinkte der Massen appelliert. Man hat es zuweilen während der Revolution getan, als es sich darum handelte, das versinkende Schiff zu retten – und niemals hat man sich dabei enttäuscht gefunden. Der Mann der Arbeit hat stets dem Appell an großen Opfermut zu entsprechen gewußt.
So wird es auch in einer kommenden Revolution sein.
Trotz alledem werden wahrlich Ungerechtigkeiten unvermeidlich sein. Es gibt Individuen in unseren Gesellschaften, die selbst ein großes Ereignis nicht aus ihrem egoistischen Geleise bringen wird. Aber es handelt sich hier auch gar nicht darum, ob es noch Ungerechtigkeiten geben wird oder nicht, sondern es handelt sich um die Mittel und Wege, mittels deren man ihre Zahl beschränken kann.
Nun, die gesamte Geschichte, die gesamte Erfahrung der Menschheit, ebenso wie die Psychologie der Gesellschaften bestätigen, daß das geeignetste Mittel dafür heißt: Die Interessenten ihre eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu lassen. Sie allein können die tausend Einzelheiten, die notwendig dem Bureaukraten entgehen müssen, bemerken und ihnen abhelfen.
III.
Uebrigens würde es sich auch gar nicht darum handeln, mit einem Schlage eine absolut gleiche Verteilung der Wohnungen zu erreichen; die kleinen Unzuträglichkeiten, unter denen vielleicht noch manche Wirtschaften zu leiden haben würden, ließen sich leicht und bald in einer Gesellschaft beseitigen, die sich auf dem Wege der Expropriation befindet.
Vorausgesetzt, daß die Maurer, die Steinmetzen - kurz, die Bauarbeiter – wissen, daß ihre Existenz gesichert ist, so werden sie sich [64] gern für einige Stunden täglich der Arbeit widmen, die sie gewohnt sind. Sie werden mit jenen großen Wohnungen, die einen ganzen Stab von Dienern erfordern, aufräumen. In wenigen Monaten werden nötigenfalls Hunderte von Häusern, viel praktischer und gesunder eingerichtet als die heutigen, entstanden sein. Und vor der Hand wird die anarchistische Kommune zu denen, die noch ein ungenügendes Heim haben, sagen:
„Geduldet euch ein wenig, Kameraden! Gesunde, komfortable und schöne Paläste, allen denen, welche die Kapitalisten erbauten, weit überlegen, werden sich in Kürze auf dem Boden der freien Stadt erheben. Sie werden denen gehören, die deren am meisten bedürfen. Die anarchistische Kommune baut nicht, um für sich Vorteile zu schaffen. Die Gebäude – wahre Monumente, welche sie für ihre Bürger errichtet, werden, ein Produkt des Kollektivgeistes, der ganzen Menschheit als Muster dienen und – sie werden euch gehören.“
Wenn das revoltierende Volk die Häuser expropriiert und die Unentgeltlichkeit der Wohnung, die Ueberführung sämtlicher Gelasse in Gemeineigentum und das Recht jeder Familie auf ein gesundes Quartier proklamiert, so wird die Revolution mit ihrem Beginn einen kommunistischen Charakter haben und wird einen Weg einschlagen, von dem man sie nicht so bald wieder abbringen kann. Sie wird einen tödlichen Streich gegen das individuelle Eigentum geführt haben.
Die Expropriation der Häuser birgt im Keime die ganze Revolution in sich. Von der Art, wie sich erstere vollzieht, wird der Charakter der weiteren Ereignisse abhängen. Entweder öffnen wir mit derselben eine breite und ebene Bahn zum anarchistischen Kommunismus, oder wir werden noch weiterhin in dem Schmutze des autoritären Individualismus herumwaten.
Es ist leicht, die tausend Einwürfe, die man uns machen wird und die teils theoretischer, teils praktischer Natur sind, vorherzusehen.
Da es sich darum handelt, um jeden Preis die Ungleichheit zu erhalten, so ist es sicher, daß man im Namen der Gerechtigkeit sprechen wird: „Ist es nicht unerhört, daß die Pariser sich in ihrem Interesse der schönen Paläste bemächtigen und den Bauern ihre Ställe lassen wollen?“ wird man ausrufen. Doch lassen wir uns nicht täuschen. Diese mutigen Verfechter der Gerechtigkeit übersehen mit einer ihnen eigenen Geistesgewandtheit vollständig die schreiende Ungleichheit, zu deren Verteidiger sie sich machen. Sie vergessen, daß der Pariser Arbeiter in seiner Höhle von Wohnung erstickt – er, seine Frau und seine Kinder – während er von seinem Fenster aus den Palast des Reichen erblickt. Sie vergessen, daß ganze Generationen in den übervölkerten Vierteln aus Mangel an Luft und Licht umkommen und daß die Beseitigung dieser horrenden Ungerechtigkeit die erste Pflicht der Revolution sein müßte.
Lassen wir uns nicht in unserem Werke durch diese nur dem Eigennutze entstammenden Einwürfe aufhalten. Wir wissen, daß die Ungleichheit, welche wirklich zwischen Paris und dem Dorfe bestehen [65] könnte, zu denen gehört, welche sich mit jedem Tag vermindern lassen; das Dorf wird nicht verfehlen, sich gesundere Wohnungen zu geben von dem Augenblick an, wo der Bauer nicht mehr das Lasttier des Pächters, des Fabrikanten, des Wucherers und des Staates ist. Um eine zeitweilige und leicht zu beseitigende Ungerechtigkeit zu vermeiden, sollte es nötig sein, die seit Jahrhunderten bestehende und ungeheure Ungleichheit aufrecht zu erhalten?
Die sogenannten praktischen Einwürfe sind von gleicher Beweiskraft.
„Seht euch einmal jenen armen Teufel an“, wird man zu uns sagen. „Auf Grund von Entbehrungen hat er sich endlich für sich und die Seinen ein Häuschen erwerben können. Er ist darin glücklich; und ihr wollt ihn auf die Straße werfen?“
– Gewiß nicht! Wenn sein Häuschen gerade dazu hinreicht, um seiner Familie ein Obdach zu geben, so möge er es weiter bewohnen, wir haben keineswegs etwas dagegen; möge er auch weiterhin den von seinen Fenstern gelegenen Garten kultivieren. Unsere Genossen werden nötigenfalls ihn aufsuchen und ihm die Bruderhand bieten. Aber wenn sich in seinem Hause ein Gemach befindet, daß er an einen anderen vermietet, so wird das Volk letzteren aufsuchen und zu ihm sprechen: Wisse, Kamerad! Du schuldest jenem Alten nichts mehr. Bleibe in deinem Gemache, aber zahle keinen Mietzins fürderhin. Du brauchst keinen Gerichtsvollzieher mehr zu fürchten.
Und wenn der Eigentümer für sich allein zwanzig Zimmer bewohnt und es in dem gleichen Viertel eine Mutter mit fünf Kindern gibt, die nur ein Zimmer besitzt, so wird das Volk sehen, ob es unter den zwanzig Zimmern nicht einige gibt, die nach etlichen Umänderungen ein nettes kleines Quartier für die Mutter mit den fünf Kinderchen abgeben könnte. Wäre es etwa gerechter, die Mutter und die fünf Kleinen in der stallähnlichen Wohnung zu belassen und den wohlgenährten Herrn im Schlosse? Auch der reiche Herr wird sich übrigens bald in eine solche Aenderung schicken; sobald er keine Bedienten mehr hat, die ihm seine zwanzig Zimmer in Ordnung halten, wird die „gnädige Frau“ froh sein, wenn sie die Hälfte der Räumlichkeiten abgeben kann.
– „Aber dies wird ein vollständiges Wirrwarr bedeuten“, werden die Verteidiger der Ordnung rufen. „Die Wohnungswechsel werden kein Ende nehmen. Dies käme einem Zustand gleich, wo alle Welt auf die Straße geworfen und dann eine Verlosung der Wohnungen vorgenommen würde.“ – Nun, wir sind überzeugt, daß, falls sich keine Regierung hineinmischt, und falls man die ganze Umgestaltung den Händen der spontan zu diesem Zwecke sich bildenden Gruppen überläßt, die Wohnungswechsel weniger zahlreich sein werden, als sie es heute im Verlauf eines Jahres infolge der Habgier der Eigentümer sind.
Es gibt erstlich in allen einigermaßen großen Städten eine so große Anzahl unbenutzter Wohnungen, daß diese fast genügten, um dem größten Teil der Höhlenbewohner ein nettes Heim zu bieten. Was [66] die Paläste und die kostbaren Quartiere anbelangt, so würden viele Arbeiterfamilien auf ein Beziehen derselben verzichten: man kann sich ihrer nicht bedienen, wenn man nicht eine zahlreiche Dienerschaft zur Verfügung hat. Auch ihre heutigen Bewohner würden sich bald gezwungen sehen, sich nach weniger luxuriösen Wohnungen umzusehen, in denen die Bankiersfrau dann selbst ihre Köchin spielen wird. Und allmählig, ohne daß es nötig wäre, den Bankier mittels einer Eskorte in die Mansarde zu geleiten und den Bewohner der Mansarde in den Palast des Bankiers, würde die Bevölkerung sich in Güte in die vorhandenen Wohnungen teilen und zwar, ohne daß es Anlaß zu großer Unordnung gäbe. Sieht man nicht auch die Agrarkommunen ihre Felder verteilen, ohne die augenblicklichen Inhaber der Parzellen in ihrer Gesamtheit beträchtlich zu stören?
Muß man nicht einfach die Einfachheit und Scharfsichtigkeit der Maßnahmen, zu denen die Agrarkommune ihre Zuflucht nimmt, bewundern? Die russische Landgemeinde – und dies Faktum ist durch Bände von Untersuchungen bewiesen, – hat einen geringeren Wechsel der Besitzer auf ihren Ländereien aufzuweisen, als das individuelle Eigentum mit seinen von den Gerichtshöfen ausgefochtenen Prozessen! Und man will uns glauben machen, daß die Bevölkerung einer großen europäischen Stadt törichter und von geringerem Organisationstalent sein würde, als die russischen Bauern oder die Hindus!
Uebrigens bedeutet jede Revolution eine gewisse Störung des täglichen Einerlei und diejenigen, welche eine große Krisis zu überstehen hoffen, ohne daß ihre Hausfrau bei ihrem Kochtopf gestört würde, laufen Gefahr, arge Enttäuschungen zu erleiden. Man kann eine Regierung wechseln, ohne daß der brave Familienvater sein Essen eine Stunde später bekäme; indes man kann nicht in gleicher ruhiger Weise die Verbrechen, welche eine Gesellschaft an ihren Ernährern begangen hat, wieder gut machen.
Es wird sicherlich ein gewisses Wirrwarr geben. Allein es ist notwendig, daß dieses Wirrwarr nicht zwecklos stattfindet und daß es auf ein verschwindendes Maß reduziert wird. Und dieses ist gut möglich – wir werden nicht müde, es zu wiederholen – wenn man sich an die Interessenten selbst wendet und nicht an die Bureaus; alsdann wird jedermann nur einem Minimum von Unzuträglichkeiten ausgesetzt sein.
Das Volk begeht Dummheit über Dummheit, wenn es in den Urnen zwischen den Schönrednern, zwischen jenen Prahlern wählen soll, welche sich die Ehre anmaßen, es zu vertreten, und beanspruchen, alles zu tun, alles zu wissen, alles zu organisieren. Aber wenn es sich darum handelt, etwas zu organisieren, etwas, das es kennt, was es direkt angeht, so macht es dies besser, als alle Bureaus. Hat man dies nicht in der Kommune gesehen? Sieht man es nicht alle Tage in jeder Landgemeinde?
Anmerkungen des Übersetzers
- ↑ Dekret vom 30. März; nach diesem Dekret fand ein Erlaß der Mietsraten vom Oktober 1870, Januar und April 1871 statt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: schließendes Anführungszeichen fehlt