Die Eroberung des Brotes/Die Expropriation
DIE EXPROPRIATION.
I.
Man erzählt, daß Rothschild im Jahre 1848, als er sein Vermögen durch die Revolution bedroht sah, folgende Posse erfand. „Ich will gerne zugeben,“ sagte er, „daß mein Vermögen auf Kosten Anderer erworben ist. Aber verteilt unter soundsoviele Millionen Europäer, würde auf die Person nur ein Taler entfallen. Ich verpflichte mich nun, jedem seinen Taler zurückzustellen, falls er ihn fordern sollte.“
Nachdem er dies erklärt und gehörig publiziert hatte, ging unser Millionär ruhig in den Straßen Frankfurts spazieren. Drei oder vier Passanten forderten ihren Taler, und er verabreichte ihnen diesen mit sardonischem Lächeln; und der Zweck war erreicht: die Familie des Millionärs ist heute noch im Besitz ihrer Schätze.
Einer ähnlichen Logik huldigen jene Schlauköpfe der Bourgeoisie, die uns sagen: „Ah! die Expropriation? ich weiß schon: Ihr nehmt allen die Ueberzieher und legt sie auf einen Haufen, und Jeder kommt dann, sich einen zu holen. Folge davon? – Man wird sich um den besten prügeln.“
Es ist dies ein fauler Scherz. Wir werden nicht sämtliche Röcke auf einen Haufen werfen, um sie alsdann zu verteilen; davon würden die, welche vor Kälte zittern, kaum einen Nutzen haben. Es handelt sich noch weniger für uns darum, die Taler Rothschilds zu verteilen. Unser Ziel geht dahin, uns derart zu organisieren, daß jedes menschliche Wesen, das zur Welt kommt, die Sicherheit hat, erstlich, eine produktive Arbeit zu erlernen und an ihr Gefallen zu finden, und zweitens, diese Arbeit leisten zu können, ohne den Grundeigentümer oder Fabrikbesitzer erst um Erlaubnis zu fragen und ohne an diese den Löwenanteil von seinen Erzeugnissen abzuführen.
Was die Reichtümer aller Art, die sich in den Händen der Rothschilds und Vanderbilts befinden, anbelangt, so werden diese uns einzig dazu dienen, unsere gemeinschaftliche Produktion besser zu organisieren.
An dem Tage, wo der Landarbeiter den Boden wird bestellen können, ohne daß er die Hälfte seiner Produkte abzugeben hat; an dem Tage, wo die Maschinen, die notwendig sind, um den Boden für große Ernten ertragsfähig zu machen, im Ueberfluß vorhanden sein und den Landwirten zur freien Verfügung stehen werden; an dem [29] Tage, wo der Arbeiter des Hüttenwerkes für die Allgemeinheit und nicht mehr für das Monopol produzieren wird, werden die Arbeiter nicht mehr in Lumpen einherzugehen brauchen, und es wird keine Rothschilds mehr, noch andere Ausbeuter geben.
Niemand wird es dann mehr notwendig haben, seine Arbeitskraft für einen Lohn zu verkaufen, der nur einen Teil dessen, was er in Wirklichkeit produziert hat, repräsentiert.
„Nun gut“, erwidert man uns, „so werden die Rothschilds von außerhalb kommen. Könnt Ihr es verhindern, daß ein Mann, der sich in China Millionen zusammengescharrt hat, sich unter Euch niederläßt, Arbeiter gegen Lohn annimmt, sie ausbeutet und sich auf ihre Kosten bereichert?“
„Ihr könnt doch nicht die Revolution auf der Erde mit einem Male machen. Oder werdet Ihr etwa Zollschranken an den Grenzen errichten, die Ankömmlinge durchsuchen und ihnen das Geld, welches sie bei sich tragen konfiszieren? – Gendarmen, die auf Schmuggler schießen – das wäre ein nettes Bildchen.“
Nun, in diesem Räsonnement steckt ein großer Irrtum. Er besteht darin, daß man sich niemals gefragt hat, woher denn eigentlich die Vermögen der Reichen stammen. Eine kurze Ueberlegung würde den Nachweis erbringen, daß der Ursprung dieser Vermögen das Elend der Armen ist.
Dort, wo es keine Elenden mehr geben wird, wird es auch keine Reichen mehr geben, welche sie ausbeuten könnten.
Werfen wir einen Blick auf das Mittelalter, in welchem sich die großen Vermögen zu bilden anfingen.
Ein Feudalbaron hat sich eines fruchtbaren Tales bemächtigt. Aber so lange diese Ländereien nicht bevölkert sind, repräsentieren sie für unseren Feudalbaron keinen Reichtum. Sein Grund und Boden liefert ihm keine Erträge; die Tatsache, Güter auf dem Monde zu besitzen, hätte für ihn den gleichen Wert gehabt. Was wird er also tun, um sich zu bereichern? Er muß sich Bauern suchen.
Indessen, wenn jeder Landbebauer ein pachtfreies Stück Land, wenn er außerdem für die Bestellung die nötigen Gerätschaften und das nötige Vieh hätte, würde er dann hingehen und die Ländereien des Barons urbar machen? Jeder würde auf seinem Besitztum bleiben. Aber es gibt ja ganze Bevölkerungen von Elenden. Sie sind durch Kriege, Dürre und Seuchen an den Rand des Abgrundes gebracht, sie haben weder Pferd noch Pflugschar. (Das Eisen war teuer im Mittelalter, noch teurer das Arbeitspferd.)
Alle diese Elenden streben nach besseren Existenzbedingungen. Sie sehen eines Tages an der Landstraße, an dem Grenzrain der dem Baron gehörigen Ländereien einen Pfahl mit einem Schilde; auf diesem findet sich in bestimmten verständlichen Zeichen die Ankündigung, daß der Landarbeiter, der sich auf diesen Ländereien niederlassen wolle, mit dem Boden zugleich auch die Arbeitsinstrumente und das Material zum Bau seiner Hütte und zum Bestellen des Feldes empfangen würde, ohne daß er während einer bestimmten Anzahl von Jahren einen [30] Grundzins zu bezahlen brauche. Diese Anzahl von Jahren ist auf dem Grenzpfahl mit eben so viel Kreuzen markiert: der Bauer begreift, was diese Kreuze bedeuten.
Die Elenden überfluten die Ländereien des Barons. Sie bauen Straßen, trocknen Sümpfe aus, schaffen Dörfer. Nach neun Jahren vielleicht wird ihnen der Baron eine Pacht auflegen; nach weiteren fünf Jahren wird er einen im voraus zu bezahlenden Grundzins erheben, welchen er dann bald wieder verdoppelt, und so fort! – und der Landbebauer wird immer diese neuen Bedingungen annehmen, weil ihm anderwärts nicht bessere geboten werden. Und allmählig, unter Hilfe des von dem Herrn Baron gemachten Gesetzes, wird das Elend des Bauern eine Quelle des Reichtums des Edelmannes, und nicht allein des Edelmannes, sondern einer ganzen Schar von Wucherern, welche sich in den Dörfern niederlassen und sich im gleichen Maße vermehren, als der Bauer mehr und mehr verarmt.
So ging es im Mittelalter, so geht es heute noch. Wenn es heute freie Ländereien gäbe, welche der Bauer nach seinem Belieben kultivieren könnte, dann würde er dem gnädigen Herrn Grafen, der ihm ein Teilchen Landes verkaufen will, nicht 800 Mk. pro Hektar zahlen; noch würde er ihm eine lästige Pacht zahlen, die ihn eines Drittels dessen beraubt, was er produziert, noch würde er sich zum Halbbauer hergeben, der die Hälfte seiner Ernte dem Eigentümer überlassen muß?
Aber es gibt deren keine; also muß er alle Bedingungen annehmen, vorausgesetzt, daß er nur sein kümmerliches Leben bei dem Ackerbau fristen kann; und den Herrn Edelmann wird er bereichern.
Wie im Mittelalter, ist es auch heute immer noch die Armut des Bauern, welche den Reichtum des Grundeigentümers bedingt.
II.
Der Eigentümer des Bodens bereichert sich also an dem Elend des Bauern. Ebenso steht es mit dem industriellen Unternehmer.
Nehmt einen Bourgeois, welcher auf die eine oder andere Weise in den Besitz eines Vermögens von 500 000 Mk. gekommen ist. Er könnte dieses leicht bei einem jährlichen Verbrauch von 50 000 Mk. verzehren – eine nicht zu hohe Summe bei dem phantastischen und unsinnigen Luxus unserer Tage. Aber dann hätte er nichts mehr nach Verlauf von 10 Jahren. Als „praktischer“ Mann wird er es vorziehen, sein Vermögen intakt zu erhalten und sich ein kleines, nettes jährliches Einkommen zu verschaffen.
Es ist doch ein Leichtes in unserer Gesellschaft, wo unsere Städte und Dörfer von Arbeitern wimmeln, die nicht einmal alle 14 Tage, geschweige denn für einen Monat zu leben haben. Unser Bourgeois entschließt sich also, eine Fabrik zu erbauen. Die Bankiers leihen ihm sofort weitere 500 000 Mk. zu diesem Zweck, namentlich wenn er in dem Ruf steht, „gewandt“ zu sein. Mit seiner Million kann er jetzt 500 Arbeiter beschäftigen.
Wenn es nun in der Umgebung der Fabriken nur Männer und Frauen gäbe, deren Existenz gesichert wäre – wer würde da zu unserem Bourgeois arbeiten gehen? Niemanden würde es einfallen, [31] ihm für einen täglichen Lohn von 3 Mk. Waren im Werte von 5 oder gar 10 Mk. herzustellen.
Leider wimmeln aber – wir wissen es nur zu gut – die armen Viertel der Stadt und die benachbarten Dörfer von Tausenden von Männern, deren Kinder vor leeren Speiseschränken tanzen. Die Fabrik ist noch nicht einmal vollendet, so strömen schon die Arbeiter herbei, um sich einstellen zu lassen. Bedarf der Bourgeois nur 100 Arbeiter, so kommen deren 1000. Und wenn die Fabrik erst im Gange ist, so wird er – falls er nicht ein sehr großer Einfaltspinsel ist – ein hübsches Sümmchen von 1000 Mk. im Jahre an jedem Mann, der bei ihm arbeitet, verdienen.
Unser Fabrikbesitzer wird sich auf diese Weise ein nettes Einkommen verschaffen. Und wenn er einen lukrativen Industriezweig erwählt hat, wenn er ein „Geschäftsmann“ ist, so wird er allmählig seine Fabrik vergrößern und seine Einkünfte erhöhen, dadurch, daß er die Zahl der Männer, welche er ausbeutet, verdoppelt.
Dann wird er ein angesehener Mann in seiner Gegend. Er wird andere angesehene Männer, die Herren Stadträte, den Herren Deputierten zum Dejeuner einladen können. Er wird sein Vermögen mit einem anderen verheiraten und später seinen Kindern vorteilhafte Stellungen verschaffen, endlich irgend welche staatliche Konzession erlangen. Man wird ihm eine Armeelieferung zuwenden, ihn für die Präfektur vorschlagen; und alle diese Gelegenheiten wird er natürlich dazu benutzen, sein Vermögen immer mehr nach oben abzurunden. Und wenn schließlich ein Krieg kommt oder das Gerücht eines solchen auftaucht, wird er mittels einer Börsenspekulation einen großen Coup machen.
Neun Zehntel der kolossalen Vermögen in den Vereinigten Staaten (Henry George erzählt es uns in seinen „Sozialen Problemen“) stammen aus irgend einer großen Schurkerei, verübt mit der Hilfe des Staates. In unseren europäischen Monarchien oder Republiken haben sie denselben Ursprung: es gibt eben nur einen Weg, auf dem man Millionär werden kann.
Die ganze Wissenschaft, reich zu werden, besteht darin, Barfüßler zu finden, diese mit 3 Mk. zu bezahlen und sie dafür Produkte im Werte von 10 Mk. fabrizieren zu lassen, auf diese Weise ein Vermögen zusammenzuraffen, und es dann durch irgend einen großen Coup und unter Hilfe des Staates „abzurunden“.
Ist es noch notwendig, von den kleinen Vermögen zu reden, deren Entstehen von den Oekonomisten der Sparsamkeit zugeschrieben wird? Man weiß doch nur zu gut, daß die Sparsamkeit durch sich selbst nichts „einbringt“ und nichts einbringen kann, solange nicht die „ersparten“ Pfennige zur Ausbeutung von Hungerleidern verwendet werden.
Betrachten wir uns einen Schuhmacher. Nehmen wir an, daß seine Arbeit gut bezahlt wird, daß er gute Kundschaft hat und daß er [32] mittels Entbehrungen dahin gelangt ist, täglich 2 Mk., also monatlich 60 Mk. bei Seite zu legen.
Nehmen wir weiter an, daß er niemals in seinem Leben krank ist, daß er sich stets satt ißt, trotz seines Eifers, zu sparen, daß er sich nicht verheiratet, daß er keine Kinder hat, daß er nicht an der Schwindsucht stirbt – nehmen wir dies alles an!
Nun im Alter von 50 Jahren hätte er noch nicht einmal 15 000 Mk. erspart; und er würde während seines Alters nicht genug zum Leben haben, falls er arbeitsunfähig wird. Sicherlich nicht auf diese Weise sammeln sich die großen Vermögen an.
Aber betrachten wir jetzt einmal einen anderen Schuhmacher. Sobald er einige Pfennige erübrigt hat, legt er sie auf die hohe Kante, und die Sparkasse leiht sie gegen hohe Zinsen einem Bourgeois, der gerade im Begriff steht, eine Ausbeutung von Barfüßlern vorzunehmen. Alsdann wird er sich einen Lehrling nehmen, das Kind irgend eines armen Mannes, welcher sich glücklich schätzt, wenn sein Sohn nach Verlauf von fünf Jahren das Handwerk erlernt hat und dahin gelangt ist, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.
Der Lehrling „verdient“ seinem Meister natürlich etwas und wenn seine Kundschaft wächst, wird er sich beeilen, einen zweiten Lehrling zu nehmen. Später wird er sich noch zwei oder drei Arbeiter dazu halten, elende Menschen, welche glücklich sind, wenn sie für eine Tagesarbeit im Werte von 6 Mk. 3 Mk. beziehen. Und wenn unser Schuhmacher „Glück“ hat, das heißt, wenn er genügend „gerieben“ ist, so werden ihm seine Arbeiter und Lehrlinge einige 20 Mk. pro Tag zu seiner eigenen Arbeit „hinzuverdienen“. Er wird sein Unternehmen vergrößern, allmählig immer wohlhabender werden und es nicht mehr nötig haben, seinen Lebensunterhalt auf das gerade Notwendige zu beschränken. Seinem Sohne wird er schließlich etwas hinterlassen.
Das ist es, was man einen „sparsamen und soliden Mann“ nennt. Im Grunde genommen ist er aber auch weiter nichts, als ein Ausbeuter von Hungerleidern.
Der Handel scheint eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. „So ein Mann“, sagt man uns, „kauft Tee in China, importiert ihn nach Frankreich und erzielt auf sein Anlagekapital einen Gewinn von 30 Prozent. Er hat Niemanden ausgebeutet.“
Und dennoch ist der Fall der gleiche. Wenn unser Kaufmann den Tee auf seinem Rücken von China nach Frankreich transportiert hätte – alle Ehre! Ehemals, im Anfange des Mittelalters, betrieb man wohl den Handel auf diese Weise. Aber man gelangte auch niemals zu den erstaunlichen Vermögen unserer Tage: kaum, daß damals ein Kaufmann nach einer mühevollen und gefährlichen Reise einige Taler bei Seite legen konnte. Es war vielfach auch weniger das Verlangen nach Gewinn, als die Lust am Reisen und an Abenteuern, welche ihn zum Handel drängte.
Heute ist die Methode einfacher. Der Kaufmann, welcher ein Kapital besitzt, hat es zum Zwecke seiner Bereicherung nicht notwendig, sich aus seinem Kontor zu rühren. Er telegraphiert an einen [33] Kommissionär die Order, hundert Tonnen Tee zu kaufen; er befrachtet Schiffe und in wenigen Wochen oder in drei Monaten (wenn es ein Segelschiff ist) wird ihm die gewünschte Ladung gebracht werden. Er trägt nicht einmal die Gefahren der Ueberfahrt – denn sein Tee und sein Schiff sind versichert. Und wenn er 100 000 Mk. an das Geschäft gewagt hat, so wird er 130 000 Mk. herausziehen, – vorausgesetzt, daß er nicht auf einen neuen Handelsartikel hatte spekulieren wollen, in welchem Falle er sein Vermögen verdoppeln konnte, aber auch Gefahr lief, es ganz zu verlieren.
Aber wie hat er Menschen finden können, welche sich entschlossen, den Transport zu bewirken, während dieser Zeit hart zu arbeiten, Strapazen zu ertragen, ihr Leben für einen mageren Lohn aufs Spiel zu setzen? Wie hat er in den Docks Auf- und Ablader finden können, welche er gerade so hoch bezahlte, daß sie nicht während dieser Arbeit vor Hunger starben? Wie kam dies? – Weil diese Leute im Elend waren! Gehet nach einem unserer Häfen, besuchet die Strand-Cafés und beobachtet jene Menschen, welche dort nach Arbeit verlangen, welche sich an den Docktoren schlagen, die sie vom Sonnenaufgang ab belagern, um nur zur Arbeit an den Schiffen zugelassen zu werden. Sehet Euch auch jene Seeleute an, die glücklich sind, nach wochen- und monatelangem Warten endlich für eine weite Reise engagiert zu werden; während ihres ganzen Lebens sind sie von Schiff zu Schiff gegangen und sie werden deren neue besteigen, bis sie schließlich eines Tages in den Wellen umkommen.
Tretet in ihre Hütten, betrachtet diese zerlumpten Weiber und Kinder, welche während der Abwesenheit des Vaters leben, man weiß nicht wie, – und ihr habt die Antwort.
Vermehrt diese Beispiele, wählt sie, wo es euch gut dünkt, denket über den Ursprung aller Vermögen nach, der großen wie der kleinen, ob sie aus dem Handel, aus dem Bankwesen, aus der Industrie oder der Landwirtschaft stammen. Ueberall werdet ihr konstatieren können, daß der Reichtum der einen aus der Armut der anderen stammt. Deswegen hat eine anarchistische Gesellschaft keinen Rothschild zu fürchten, der sich in ihrem Schoße niederlassen wollte. Wenn jedes Glied der Gesellschaft weiß, daß es nach einigen Stunden produktiver Arbeit ein Recht auf alle Freuden hat, welche die Zivilisation schafft, auf alle tiefen und wahren Genüsse, welche die Wissenschaft und die Kunst ihrem, Jünger gewährt, so wird er nicht für einen mageren Bissen Brotes mehr seine Arbeitskraft verkaufen. Niemand wird jenen Rothschild bereichern. Seine Taler werden Metallstücke sein, nützlich für verschiedene Verwendungen, aber unfähig, sich zu vermehren.
Mit der Antwort auf den obigen Einwurf haben wir zu gleicher Zeit den Umfang der Expropriation bestimmt.
Die Expropriation soll sich auf alles das erstrecken, was jemanden – den Bankiers, den Industriellen oder den Landwirt – in Stand setzen könnte, sich den Arbeitsertrag anderer anzueignen. Diese Forderung ist einfach und verständlich.
[34] Wir wollen nicht jeden seines Rockes entblößen, sondern wir wollen den Arbeitern alles das zurückgeben, was ihrer Ausbeutung Vorschub leisten könnte. Mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften wollen wir auf einen gesellschaftlichen Zustand hinarbeiten, in dem niemand mehr Mangel leiden soll, in dem auch nicht ein einziger Mann gezwungen ist, zu seiner und seiner Kinder Ernährung seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Dies verstehen wir unter der „Expropriation“, und ihre Verwirklichung ist unsere Aufgabe während der kommenden Revolution, deren Ausbruch wir nicht nach zwei Jahrhunderten, sondern innerhalb der nächsten Zukunft erhoffen.
III.
Die anarchistische Idee im allgemeinen und die der Expropriation im besonderen finden unter den unabhängigen Charakteren und den Männern, für welche der Müßiggang nicht das höchste Ideal ist, viel mehr Sympathie, als man glaubt. „Hütet euch indessen“, entgegnen uns häufig unsere Freunde, „zu weit zu gehen. Die Menschheit wird sich eines Tages nicht mäßigen können; und wenn ihr zu weit in euren Forderungen bezüglich der Expropriation und der Anarchie geht, so könntet ihr Gefahr laufen, etwas zu schaffen, was ohne Bestand ist.“
Nun, was wir hinsichtlich der Expropriation befürchten, ist keineswegs, zu weit zu gehen. Wir fürchten im Gegenteil, daß die Expropriation sich in zu engen Grenzen vollzieht, um von Dauer zu sein; daß die revolutionäre Begeisterung auf halbem Wege schwindet, sich in halben Maßregeln, welche niemanden befriedigen werden, erschöpft; daß eine halbe Expropriation, die eine gewaltige Umwälzung in der Gesellschaft und einen Stillstand ihrer Funktionen zur Folge haben würde, nicht lebensfähig ist, vielmehr allgemeine Unzufriedenheit sät und den Triumph der Reaktion unvermeidlich macht.
Es haben sich in unseren Gesellschaften tatsächlich derartig enge Beziehungen herausgebildet, daß eine Aenderung in ihnen unmöglich geworden ist – auf dem Wege von partiellen Reformen. Die verschiedenen Teile unserer ökonomischen Organisation stehen in solchem unbedingten Abhängigkeitsverhältnis zu einander, daß man nicht an dem einen eine Aenderung vornehmen kann, ohne das ganze in Mitleidenschaft zu ziehen: man wird diese Beobachtung machen, sobald man einmal an einer Stelle mit der Expropriation beginnen wird.
Nehmen wir einmal an, daß in irgend einer Gegend eine teilweise Expropriation vorgenommen wird: daß man sich zum Beispiel – wie unlängst Henry George gefordert hat – darauf beschränkt, die Großgrundbesitzer zu expropriieren, ohne zu gleicher Zeit Hand an die Fabriken zu legen; daß man in irgend einer Stadt die Häuser enteignet, ohne die Lebensmittel als Gemeingut zu erklären; oder daß man in irgend einem industriellen Landstrich die Fabriken expropriiert und die großen Güter im Privatbesitz läßt.
[35] Das Resultat wäre stets das gleiche: eine gewaltige Umwälzung im ökonomischen Leben, ohne die Möglichkeit, es auf neuer Grundlage zu organisieren; Stillstand in der Industrie, im Handel, ohne Rückkehr zu gerechten Prinzipien; eine absolute Unmöglichkeit für die Gesellschaft, ein harmonisches Ganzes zu schaffen.
Wenn der Landarbeiter sich vom Großgrundbesitzer befreit, ohne daß die Industrie sich vom industriellen Kapitalisten, vom Kaufmann, vom Bankier befreit – nichts wäre damit geschehen. Der Landmann leidet unter der Gesamtheit der bestehenden Verhältnisse; er leidet unter dem Tribut, den ihm der Industrielle auferlegt, indem er ihn 3 Mark für einen Spaten, der – im Verhältnis zur Arbeit des Landmanns – nur 0,75 Mark wert ist, zahlen läßt; unter den vom Staate erhobenen Steuern, der einmal nicht ohne eine entsetzliche Beamten-Hierarchie existieren kann; unter den Unterhaltungskosten der Heere: der Staat hält sie, da sich die Industriellen der verschiedenen Nationen in fortwährendem Kampfe um die Märkte befinden, da mit jedem Tag infolge eines Streites wegen der Ausbeutung irgend eines Teiles von Asien oder Afrika ein Krieg ausbrechen kann.
Der Landmann leidet unter der Entvölkerung des flachen Landes, dessen Jugend sich von den Fabriken der Großstädte anziehen läßt, sei es durch den Köder höherer Löhne, die zeitweise von den Fabrikanten der Luxusartikel gezahlt werden, sei es durch die Annehmlichkeiten des regen, bewegten Großstadtlebens; er leidet ferner unter der künstlichen Bevorzugung der Industrie, unter der Ausbeutung der Nachbarländer durch den Handel, unter dem Börsenspiel, unter der Schwierigkeit, den Grund und Boden und den Werkzeugmechanismus zu verbessern usw. usw. Kurz, der Ackerbau leidet nicht allein unter der Grundrente, sondern unter der Gesamtheit unseres gesellschaftlichen Lebens, – das auf der Ausbeutung beruht. Und wenn die Expropriation Allen nur die Möglichkeit schaffte, den Boden zu kultivieren und ihn auszunutzen, ohne daß man an jemand Renten zu zahlen brauchte, so würde – selbst wenn der Ackerbau dadurch einen zeitweisen Aufschwung erlebte, was noch nicht bewiesen ist – er doch bald wieder in den Zustand der Auszehrung zurückfallen, in dem er sich heute befindet. Kurz, es würden sich die gleichen Unzuträglichkeiten einstellen, und zwar noch in verstärktem Maßstabe.
Dasselbe gilt für die Industrie. Uebergebt morgen den Arbeitern die Fabriken; macht, was man für eine gewisse Anzahl von Bauern getan hat, welche man zu Eigentümern an Grund und Boden machte. Beseitigt den Fabrikbesitzer, doch laßt dem „gnädigen Herrn“ das Land, dem Bankier das Geld, dem Kaufmann die Börse, laßt in der Gesellschaft diese große Schar der Müßiggänger, welche von der Arbeit des Arbeiters leben, bestehen, behaltet jene Tausende von Schmarotzerexistenzen bei, den Staat mit seinen unzähligen Beamten – und die Industrie wird nicht in Fluß kommen. Da man in der Masse der arm gebliebenen Bauern keine Käufer findet, da man nicht im Besitz der Rohstoffe ist, noch im Stande ist, die geschaffenen Produkte [36] zu exportieren – zum Teil wegen des im Handel eingetretenen Stillstands, hauptsächlich wegen der Dezentralisation der Industrien – so wird die Industrie nur eben vegetieren können, sie wird die Arbeiter auf dem Straßenpflaster belassen, und diese Bataillone von Hungerleidern werden stets bereit sein, sich dem ersten besten Intriganten in die Arme zu werfen oder auch zum alten Regime zurückzukehren, vorausgesetzt, daß es ihnen nur Arbeit garantiert.
Oder endlich auch: expropriiert die Grundeigentümer und übergebt den Arbeitern die Fabriken, ohne jedoch die Expropriation auf die Scharen von Zwischenpersonen, welche heute in den großen Zentren auf Mehl, Getreide, Fleisch und Gewürze spekulieren und gleichzeitig die Produkte unserer Manufaktur in Umlauf bringen, auszudehnen. Nun, sobald der Handel stockt und die Produkte nicht mehr zirkulieren, sobald Paris des Brotes ermangelt und sobald Lyon keine Käufer mehr für seine Seidenwaren findet, in demselben Augenblick wird die Reaktion wieder kommen und furchtbar hausen. Ueber zahllose Leichname wird sie dahinschreiten, die Mitrailleuse wird in den Städten und Dörfern ihr blutiges Werk verrichten und Orgien von Hinrichtungen und Deportationen, wie in den Jahren 1815, 1848 und 1871, werden die Folge sein.
Alles steht in unseren Gesellschaften in inniger Verknüpfung, und es ist unmöglich, an irgendeiner Stelle eine Reformation eintreten zu lassen, ohne das Ganze dadurch zum Sturz zu bringen.
An dem Tage, wo man das Privateigentum in einer seiner Erscheinungsformen – in der landwirtschaftlichen oder industriellen – treffen wird, wird man gezwungen sein, es auch in allen anderen zu treffen. Der Erfolg der Revolution wird hiervon abhängen.
Im Uebrigen könnte man sich nicht, selbst wenn man es wollte, auf eine partielle Expropriation beschränken. Ist einmal das Prinzip des heiligen Eigentums erschüttert, so werden es die Theoretiker nicht verhindern können, daß es auch ganz beseitigt wird, hier durch die Sklaven der Scholle, dort durch die Sklaven der Industrie.
Wenn eine große Stadt – Paris zum Beispiel – Hand an die Häuser oder die Fabriken legt, so wird sie durch die Macht der Ereignisse selbst dahin geführt werden, auch den Bankiers das Recht abzuerkennen, von der Kommune 50 Millionen Francs Steuern in Form von Zinsen für früher geliehene Gelder zu erheben. Sie wird gezwungen sein, sich mit den Landleuten in Verbindung zu setzen, und sie wird diese dazu treiben müssen, sich von dem Herrn des Bodens zu befreien. Um essen und produzieren zu können, bedarf sie der Eisenbahnen; und um die Verschwendung von Lebensmitteln zu verhüten und um nicht, wie die Kommune im Jahre 1793, auf die Gnade der Getreidespekulanten angewiesen zu sein, wird Paris seinen eigenen Bürgern die Sorge übertragen ihre Magazine mit Lebensmitteln zu versehen und die Produkte zu verteilen.
Einige Sozialisten haben indessen noch folgenden Unterschied zu machen versucht. – „Man möge den Grund und Boden, die Bergwerke, [37] die Fabriken, die Manufakturen expropriieren, – ganz unsere Meinung“ sagten sie. „Dies alles sind Produktionsmittel und es ist nur gerecht, sie als unser Eigentum zu betrachten. Aber es gibt außerdem Verbrauchsgegenstände: die Nahrungsmittel, die Kleidung, die Wohnung, – diese müssen Privateigentum bleiben.“
Der gesunde Menschenverstand des Volkes hat Recht, wenn er diesen Unterschied spitzfindig bezeichnet. In der Tat, wir sind keine Wilden, die im Walde unter einem Dach von Zweigen leben können. Der arbeitende Europäer bedarf eines Zimmers, eines Hauses, eines Bettes, eines Herdes.
Das Bett, das Zimmer, das Haus sind Orte des Nichtstuns für denjenigen, der nichts produziert. Aber für den Arbeiter ist ein geheiztes und erleuchtetes Zimmer ebenso gut Produktionsmittel, wie die Maschine oder das Werkzeug. Es ist der Ort der Erholung seiner Muskeln und Nerven, deren er morgen wieder bei der Arbeit bedarf. Die Ruhe des Produzenten bedeutet den Gang der Maschine.
Noch augenscheinlicher ist dies bei der Nahrung. Die sogenannten Oekonomisten, von denen wir sprechen, haben niemals daran gedacht, zu sagen, daß die in einer Maschine verbrennende Kohle nicht unter die Gegenstände zu rechnen sei, die für die Produktion ebenso unentbehrlich als die Rohstoffe sind. Und wie käme man nun dazu, die Nahrung, ohne welche die menschliche Maschine nicht die geringste Kraftleistung vollbringen könnte, von den für den Produzenten unbedingt notwendigen Gegenständen auszuschließen? Wäre dies nicht ein Rest religiöser Metaphysik?
Die überreichliche und raffinierte Mahlzeit des Reichen mag wohl ein Luxusgegenstand sein. Aber die Mahlzeit des Produzenten ist eines der für die Produktion notwendigen Gegenstände, ebenso wie die Kohle, die in der Dampfmaschine verbrennt.
Ebenso steht es mit der Kleidung. Wenn die Oekonomisten, welche diesen künstlichen Unterschied zwischen den Produktions- und Konsumtionsgegenständen machen, das Kostüm des Wilden von Neu-Guinea tragen würden – so würden wir diese Vorbehalte begreifen. Aber diese Männer, welche nicht eine Zeile schreiben könnten, ohne ein Hemde am Leibe zu haben, sind nicht dazu berufen, einen so großen Unterschied zwischen ihrem Hemde und ihrer Feder zu machen. Und wenn die aufgeputzten Kleider ihrer Frauen Luxusobjekte sind, so gibt es eine Quantität Leinwand, Baumwolle, deren der Produzent für die Produktion nicht entraten kann. Die Bluse und die Schuhe, ohne welche der Arbeiter sich schämen würde, zur Arbeit zu gehen; der Rock, den er nach beendigter Arbeit anlegt, seine Mütze sind ihm ebenso notwendig, wie der Amboß und der Hammer.
0b man will oder nicht will, das Volk versteht nur so die Revolution. Sobald es einmal die heutige Herrschaft hinweggefegt haben wird, wird es vor allem sich einer gesunden Wohnung, einer hinlänglichen Nahrung und der Kleidung zu versichern suchen, und zwar, ohne einen Tribut zu zahlen.
[38] Und das Volk wird Recht damit haben. Diese seine Handlungsweise wird den Ergebnissen der Wissenschaft unendlich gleichförmiger sein, als diejenige der Oekonomisten, welche so große Unterschiede zwischen Produktions- und Konsumartikel machen. Es wird begreifen, daß die Revolution gerade bei diesen letzteren anzufangen hat; und es wird so die Grundlagen zu einer ökonomischen Wissenschaft legen, welche allein auf den Namen Wissenschaft Anspruch machen kann und welche man bezeichnen könnte als das „Studium der menschlichen Bedürfnisse und der ökonomischen Mittel, diese zu befriedigen.“