Die Eroberung des Brotes/Die Bekleidung
DIE BEKLEIDUNG.
Wenn die Häuser als gemeinsames Erbteil der Bürgerschaft betrachtet werden und wenn man einmal zu einer gerechten Zumessung der Lebensmittel schreitet, so wird man sich gezwungen sehen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Man wird notwendigerweise auch zur Bekleidungsfrage Stellung nehmen müssen, und ihre einzig mögliche Lösung wird darin bestehen, daß man sich im Namen des Volkes aller Kleidermagazine bemächtigt und deren Türen Allen öffnet, damit Jeder denselben entnehmen kann, so viel er bedarf. Die Ueberführung der Bekleidungsmittel in Gemeineigentum, die Konstatierung des Rechts eines Jeden, seinen Bedarf in den Magazinen auszuwählen, oder in den Konfektionswerkstätten zu bestellen, diese Lösung wird sich von selbst ergeben, so bald man das kommunistische Prinzip erst für die Häuser und die Lebensmittel eingeführt hat.
Sicherlich, wir werden es nicht nötig haben, zu diesem Zweck allen Bürgern die Ueberzieher fortzunehmen und auf einen Haufen zu werfen, um sie alsdann zu verlosen, – wie einige unserer ebenso geistreichen, wie erfinderischen Kritiker behaupten. Jeder wird seinen Paletot, falls er nur einen hat, behalten können; und es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß, wenn er deren zehn hätte, sie Niemand ihm wegnehmen würde. Man wird einen neuen Rock dem, welchen der Bourgeois schon längere Zeit auf seinem Leibe getragen hat, vorziehen, und es wird genug neue Kleider geben, als daß man zu den alten Garderoben seine Zuflucht zu nehmen brauchte.
Wenn wir eine Statistik über die in den Magazinen der Großstädte aufgehäuften Bekleidungsmittel aufstellen würden, so würden wir aller Voraussicht nach sehen, daß sich deren genug finden, damit die Kommune einem jeden Bürger eine neue Kleidung bieten könnte. Wenn übrigens Jedermann nicht etwas nach seinem Geschmack finden sollte, so werden die Gemeindewerkstätten bald die fehlenden Lücken gestopft haben. Man weiß, mit welcher Schnelligkeit heute unsere Konfektionswerkstätten arbeiten, falls sie mit vervollkommneten Maschinen ausgerüstet und für die Produktion in großem Maßstabe organisiert sind.
„Aber jeder Mann wird dann einen Zobelpelz und jede Frau eine Sammetrobe haben wollen“, höre ich schon unsere Gegner ausrufen.
Offen gestanden, wir glauben dies nicht. Jedermann liebt nicht Sammet und träumt auch nicht von einem Zobelpelz. Wenn man [68] heutigen Tages unseren Frauen den Vorschlag machte, eine jede sollte sich ihre Robe wählen, so würde es unter ihnen eine ziemliche Anzahl geben, die ein einfaches Kleid allem phantastischen Schmuck unserer Weltdamen vorziehen würde.
Der Geschmack wechselt außerdem mit den Zeiten; und der Geschmack, der im Momente einer Revolution die Oberhand gewinnt, wird sicherlich ein einfacher sein. Die Gesellschaft hat wie das Individuum ihre Stunden der Verweichlichung, aber sie hat auch ihre heroischen Stunden. So elend sie auch sein mag, wenn sie sich wie heute nur der Verfolgung kleinlicher und töricht persönlicher Interessen hingibt, so sicher ist es auch, daß sie in großen Epochen einen anderen Anblick gewährt. Sie hat ihre Momente von Edelmut und Begeisterung. Und dann nehmen edle Männer das Wirkungsfeld ein, welches heute von Schwätzern eingenommen wird. Der Opfermut bricht sich Bahn und die großen Beispiele der Geschichte finden Nachahmung. Es gibt nicht viele Menschen, die soweit Egoisten sind, daß sie es nicht als beschämend empfänden, hinter Anderen zurückzustehen und die sich nicht wohl oder übel beeilen sollten in den Chorus der Großherzigen und Wackeren einzustimmen.
Die große Revolution vom Jahre 1793 bietet dafür eine Menge von Beispielen. Und gerade während der Krisen einer moralischen Wiedergeburt – bei den Gesellschaften ebenso natürlich wie bei den Individuen – sieht man jene erhabene Begeisterung, welche die Menschheit einen Schritt vorwärts machen läßt.
Wir wollen nicht die voraussichtliche Rolle dieser edlen Leidenschaften überschätzen; nicht auf ihnen baut sich unser Gesellschaftsideal auf. Aber wir übertreiben keineswegs, wenn wir annehmen, daß sie uns behilflich sein werden, die ersten schwierigsten Momente zu überwinden. Wir können nicht auf das beständige Walten dieses Opfermutes während des alltäglichen Lebens rechnen, aber wir können auf ihn für den Anfang zählen – und das ist alles, dessen wir bedürfen. Gerade in den Momenten, wo es das Terrain zu säubern, den Unrat, der sich während der jahrhundertelangen Unterdrückung und Sklaverei aufgehäuft hat, zu beseitigen gilt, bedarf die anarchistische Gesellschaft jenes Aufschwunges brüderlicher Empfindungen. Später wird sie leben können, ohne daß sie an den Geist der Aufopferung zu appellieren brauchte, da sie dann jegliche Knechtschaft beseitigt und dadurch eine neue Gesellschaft, in der sich Raum für alle Empfindungen der Solidarität findet, geschaffen haben wird.
Wenn sich übrigens die Revolution in diesem Geiste vollzieht, so wird die Privatinitiative der Individuen ein weites Feld der Tätigkeit finden, um die Nörgeleien der Egoisten zu vermeiden. In jeder Straße, in jedem Viertel werden sich Gruppen bilden und die Aufgabe übernehmen, ihre Mitbürger mit Kleidern zu versorgen. Sie werden ein Inventar aufstellen von dem, was die aufständische Stadt besitzt und werden auch in kurzer Zeit wissen, über welche Hilfsquellen sie in dieser Richtung verfügt. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Bürger in der Bekleidungsfrage dasselbe Prinzip wie in der Lebensmittelfrage befolgen werden: Aneignung nach Bedürfnis, falls Ueberfluß vorhanden [69] ist; rationsweise Verteilung, falls man mit begrenzten Quantitäten zu rechnen hat.
Wenn die Gesellschaft nicht jedem Bürger einen Zobelpelz und jeder Bürgerin eine Sammetrobe bieten kann, so wird sie wahrscheinlich zwischen dem Ueberflüssigen und dem Notwendigen entscheiden müssen. Und – vor der Hand wenigstens – wird sie die Sammetrobe und den Zobelpelz unter den überflüssigen Gegenständen zählen lassen, – unter dem Vorbehalt, daß das, was sie heute für überflüssig hält, morgen Allgemeinbedürfnis werden könnte. Wenn jedem Bewohner der anarchistischen Stadt das Notwendige garantiert ist, so kann man der Privattätigkeit die Sorge überlassen, für die Kranken und Schwachen jenes zu beschaffen, was man vorläufig als Luxusartikel betrachtet, und die weniger Starken mit dem zu versehen, was nicht in den Bereich des täglichen Konsums Aller fällt.
„Doch dies bedeutet die Nivellierung, die graue Mönchskutte“, wird man uns entgegenhalten. „Es bedeutet das Verschwinden aller Kunstgegenstände, alles dessen, was das Leben verschönert.“
Keineswegs! Und indem wir mit unseren Berechnungen immer nur von dem, was heute schon existiert, ausgehen, werden wir sogleich zeigen, wie eine anarchistische Gesellschaft dem künstlerischen Geschmack ihrer Bürger genügen könnte, ohne ihnen dafür die Vermögen von Millionären anzuweisen.