Die Entwicklung der Chirurgie (1914)
Große Fortschritte der Chirurgie.
So bedeutsam die Fortschritte der gesamten Medizin im letzten Vierteljahrhundert gewesen sind, nur wenigen Zweigen ärztlicher Wissenschaft ist eine Entwicklung beschieden gewesen, wie die Chirurgie sie in diesen Dezennien erlebt hat. Zwar waren schon vor Beginn des letzten Vierteljahrhunderts die Zeiten längst vorüber, in denen die Chirurgie, dem Handwerke gleich geachtet, als Handlangerin der theoretischen Medizin galt, die großen Chirurgen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ihr längst die gebührende Stellung verschafft. Aber noch immer blieb die Operation das ultimum refugium, das erst in verzweifelter Situation seine Berechtigung fand, sie blieb es, obwohl die Entdeckungen der Narkose, der antiseptischen Wundbehandlung, der künstlichen Blutleere bereits gemacht waren.
Heute ist die Sachlage eine durchaus andere. Die Chirurgie hat ihre Schrecken verloren, ihre außerordentlichen Erfolge haben sie volkstümlich gemacht, denn der erfreuliche dauernde Rückgang der Volkssterblichkeit ist zu einem guten Teile auf ihre Errungenschaften zurückzuführen. Nicht mehr den äußersten Notbehelf stellt heute der operative Eingriff dar, die Frühoperation hat ihre Berechtigung gewonnen, die dem Leiden die Wurzel abschneidet, ehe es zu spät ist, und weit häufiger als unmittelbar lebensrettende Operationen werden vorbeugende, kosmetische und andere nicht nur von der Not diktierte Eingriffe ausgeführt. Dieser Aufschwung, der die ganze segensreiche Kraft der Chirurgie erst recht ins helle Licht gesetzt hat, fällt in die letzten 25 Jahre, und Deutschland hat in diesem Zeitraum die führende Rolle in der Chirurgie erlangt.
Bedeutung der deutschen Forschung für die moderne Chirurgie.
Daß gerade Deutschland berufen war, diese Führerschaft zu übernehmen, darf nicht als reiner Zufall angesehen werden, denn die mächtig aufblühende Chirurgie hat nicht nur in deutschen Landen, sondern in aller Welt Scharen talentvoller Menschen angezogen und eine besondere Steigerung der Leistungen des einzelnen bewirkt. Die Gründlichkeit deutscher Forschung ist es gewesen, die ihr auch hier die leitende Stellung verschafft hat, denn das Fundament der Chirurgie ist nicht die Technik, wie heute noch vielfach angenommen wird, sondern das naturwissenschaftliche Denken und Ergründen. Gewiß stellt die moderne Chirurgie außerordentliche Anforderungen an die Handfertigkeit des Operateurs, [1367] der zudem, soll er die Höhen seiner Kunst erreichen, noch andere, nicht erlernbare Eigenschaften auf die Welt mitbringen muß, vor allem Mut und Fähigkeit zu raschem Entschluß. Groß geworden aber ist die Chirurgie nicht durch die Technik, sondern einzig und allein durch die wissenschaftliche Vertiefung; diese hat bewirkt, daß gerade in den jüngst vergangenen Dezennien der deutsche Charakter der Chirurgie mehr und mehr hervorgetreten ist.
Ausbau der aseptischen Wundbehandlung.
Das stattliche Gebäude der modernen Chirurgie erhebt sich auf den beiden Grundpfeilern der aseptischen Wundbehandlung und der Bekämpfung des Schmerzes. Gerade der Ausbau der aseptischen Wundbehandlung ist ein Beispiel, wie wenig einfache Empirie, wieviel die freie Tat des erfinderischen und kritischen Menschengeistes zu leisten vermag: Was jahrhundertelange Erfahrung nicht zu zeitigen vermochte, schuf in wenigen Jahren der Genius einiger großer Männer, unter denen Pasteur, Lister und Koch an erster Stelle zu nennen sind. Es ist bezeichnend für die Größe Listers, daß ihm, dem eigentlichen Begründer der Antisepsis, die Rolle der Bakterien bei der Wundinfektion noch nicht offenbar war, er kämpfte vorahnenden Geistes gegen einen unbekannten Feind. Zwar hatte er aus seinen Studien die Überzeugung gewonnen, daß lebende Keime, welche in der Luft und auf allen Gegenständen verbreitet sind, in der Wunde eine der Gärung und Fäulnis ähnliche Zersetzung herbeizuführen vermögen, der streng wissenschaftliche Nachweis der Bakterien als Ursache von Wundinfektionen aber gelang erst dem deutschen Forscher Robert Koch.
Entdeckungen Kochs.
Wie eine Offenbarung wirkte die Entdeckung Kochs, der mit genial erdachten, einfachsten Methoden auf künstlichen Nährböden die Bakterien züchtete und ihre Gewinnung in Reinkultur ermöglichte. Mit überraschender Schnelligkeit wuchs der Kreis der nun mit einem Schlage in ihrer Ursache erkannten und einer rationellen Bekämpfung zugänglich gemachten Infektionskrankheiten. Zu ihnen gehörte auch die Wundentzündung und Wundeiterung, welche man früher als eine natürliche Reaktion des Körpers auf den äußeren Insult wie ein Fatum hingenommen hatte, obwohl ihr ständiges Auftreten nach operativen Eingriffen jede wahre wundärztliche Kunst im Keime erstickt hatte. Mit Robert Kochs unübertroffenen Methoden gelang es F. J. Rosenbach, die Erreger dieser Wundentzündung und Wundeiterung ausfindig zu machen. Sie sind Glieder einer großen Gruppe von Bakterien, die wir als Kugelbakterien oder Kokken bezeichnen, und werden Staphylokokken und Streptokokken genannt. Die Staphylokokken oder Traubenkokken, so benannt wegen ihrer Anordnung in traubenförmigen Haufen, sind die verbreitetsten Eitererreger; sie bilden auf künstlichen Nährböden Kolonien von gelber und weißer Farbe und verursachen, je nach ihrer Virulenz, in dem einen Falle nur eine harmlose Rötung und Schwellung der Wundumgebung, in dem anderen die schwerste fortschreitende Zellgewebseiterung und tödliche Blutvergiftung. Nicht ganz so häufige, aber fast noch gefährlichere Schädlinge sind die Streptokokken, die in Ketten angeordneten Kugelbakterien; die von ihnen hervorgerufenen Wundinfektionen pflegen sich durch besondere Bösartigkeit auszuzeichnen: Streptokokken sind die Erreger der [1368] schwersten Bauch- und Rippenfellentzündungen, der mit unheimlicher Schnelligkeit tötenden Zellgewebseiterungen, denen alljährlich eine große Zahl von Ärzten als Opfer des Berufes erliegt. Neben diesen wichtigsten Arten haben wir noch zahlreiche andere Mikroorganismen kennen gelernt, die gelegentlich oder immer eitererregende Eigenschaften entfalten, gegen die Staphylo- und Streptokokken jedoch an praktischer Bedeutung weit zurücktreten.
Listers antiseptische Wundbehandlung.
Durch die aufblühende bakteriologische Forschung war somit die Jahrhunderte lang in tiefes Dunkel gehüllte Bedeutung der Bakterien für die Entstehung der Wundinfektion endgültig geklärt worden. Auf die Annahme einer solchen äußeren, nicht im Körper selbst liegenden Schädlichkeit hatte Lister bereits seine epochemachende Behandlungsmethode gegründet; jetzt, wo man den Feind kannte, vermochte man den Kampf mit ihm weit zielbewußter zu führen. Listers Gedanke war, in der Wunde chemische Mittel auf die von ihm richtig vermuteten Keime wirken zu lassen, um sie, mit möglichster Schonung der Körpergewebe, zu vergiften und abzutöten. Solche Mittel heißen Antiseptika, weil sie der Fäulnis entgegenwirken, und die auf ihrer Anwendung beruhende Wundbehandlung wurde die „antiseptische“ genannt. Das von Lister eingeführte Karbol ist bald durch das von v. Bergmann und Schede empfohlene wirksamere Sublimat verdrängt worden, weitere Antiseptika wie das Salizyl, Bor, Thymol, vor allem aber das wichtige, durch v. Mosetig-Moorhof eingebürgerte Jodoform und seine zahlreichen Ersatzpräparate fanden und erprobten Chemiker und Ärzte in gemeinsamer Arbeit.
Luftinfektion.
Für besonders gefährlich hielt man im Beginne der antiseptischen Ära auf Grund der Pasteurschen Versuche die in der Luft schwebenden Keime. Nicht nur, daß man sie durch eine komplizierte Verbandtechnik nach vollendeter Operation von der Wunde fernzuhalten suchte, man glaubte vor allem auch die offene Wunde während der Operation vor den aus der Luft herabfallenden Bakterien auf jede Weise schützen zu müssen. Als wirksamste Methode zur Verhütung der Luftinfektion galt einige Zeit die mittels eines Dampfsprays erzielte feinste Verstäubung des Antiseptikums in der Luft des Operationssaales, ein Verfahren, welches durch die ständige reichliche Zufuhr von Gift auf dem Atmungswege gar manchen Chirurgen um Gesundheit und Leben gebracht hat. Erst jahrelange mühsame Untersuchungen stellten fest, daß die Luftinfektion in ihrer Bedeutung überschätzt worden war, denn man fand, daß fast nur harmlose Schmarotzerpilze in geringer Zahl, nicht aber die eigentlich gefährlichen Eitererreger die Luft zum Aufenthaltsorte wählen. Ja, Paul Bruns stellte sogar die wichtige Tatsache fest, daß es für eine bereits versorgte Wunde sehr viel günstiger ist, wenn durch austrocknende, aufsaugende Verbandstoffe die Wundsekrete nach außen abgeleitet, als wenn sie durch abschließende Verbände zur Stagnation gezwungen und dadurch zu Brutstätten der Bakterien gemacht werden. So wurden Spray und hermetisch abschließender Wundverband verlassen.
Kontaktinfektion.
Der „Luftinfektion“ hatte schon Lister die „Kontaktinfektion“ gegenübergestellt, sie erwies sich im weiteren [1369] Verlaufe der antiseptischen Ära als der weitaus gefährlichere Übertragungsmodus. Kontaktinfektion findet statt durch die Bakterien, welche an dem chirurgischen Instrumente, an der Hand des Operateurs, an der Haut des Patienten haften. Durch die während des Eingriffes notwendigen Manipulationen werden sie in die Wunde verbracht und können hier, falls sie den für den Menschen schädlichen „pathogenen“ Arten angehören, entweder zu mehr oder weniger schwerer lokaler Wundentzündung und Wundeiterung, oder auch zu rasch tödlicher septischer Allgemeininfektion führen. Mit einer geringen Anzahl nicht zu virulenter Keime vermag allerdings der Körper infolge seiner reichen Schutzkräfte erfolgreich den Kampf aufzunehmen, die Zahl und Virulenz der Bakterien jedoch, welche in vorantiseptischer Zeit bei einer Operation in die Wunde drangen, war so groß, daß die natürlichen Schutzmittel des Organismus niemals ausreichten, um Wundfieber und Eiterung zu verhüten.
Gegen diese durch Kontaktinfektion übertragenen Bakterien suchte man nun nach Listers Vorgang durch Spülung der Wunde mit antiseptischen Flüssigkeiten vorzugehen und erreichte dadurch in der Tat eine außerordentliche Verminderung der Wundinfektionen. Aber die Gifte, die schädigend auf die Bakterien wirkten, waren auch nicht gänzlich harmlos für die Körpergewebe, und niemals gelang es selbst der gründlichsten Wundirrigation, die zahlreichen Mikroorganismen unschädlich zu machen, welche bereits in die Gewebe eingedrungen waren. Hier liegen die Schwächen der antiseptischen Wundbehandlung, und wenn auch ihre Resultate zunächst befriedigten und gegenüber denen der früheren Zeit, in der die kleinste Operation zum Tode an allgemeiner Blutvergiftung führen konnte, sogar glänzende waren, so wuchsen doch mit der ständigen Besserung der Erfolge die Ansprüche und ließen die bei antiseptischer Wundbehandlung noch immer nicht allzuseltenen Infektionen als schwerwiegende Nachteile erscheinen, die zu immer neuen Vervollkommnungen anregten.
Asepsis.
Gelang es nicht, die einmal in die Wunde eingedrungenen Bakterien auf gewaltsame Weise abzutöten, so blieb als einzige Lösung die an und für sich erstrebenswerte Forderung einer wirksamen Prophylaxe: es mußte verhindert werden, daß überhaupt Bakterien in die Wunde gelangen. Diesem Ideal gelten alle Bestrebungen der modernen Wundbehandlung, welche im Gegensatze zur antiseptischen als die aseptische bezeichnet wird. Welche Schwierigkeiten sich aber der Durchführung einer solchen Prophylaxe entgegenstellen, erhellt allein aus der einen, durch große Reihen von Einzeluntersuchungen erhärteten Tatsache, daß es kein einziges zuverlässiges Mittel gibt, die Haut völlig zu desinfizieren, gänzlich keimfrei zu machen. Somit mußte sowohl die Hand des Operateurs wie die bei der Operation zu durchtrennende Haut des Patienten eine ständige, kaum auszuschaltende Infektionsquelle darstellen.
Hand des Operateurs.
Verhältnismäßig leicht war die Ausschaltung der Hand des Operateurs zu erreichen. Zuerst versuchte man es mit dem sogenannten „händelosen Operieren“: man vermied ängstlich jede direkte Berührung der Wunde mit der Hand, und benutzte zu allen Manipulationen sicher sterilisierbare Metallinstrumente. An diesem Prinzip halten wir auch heute noch [1370] nach Möglichkeit fest, obwohl wir über zuverlässige Mittel zur Ausschaltung der Hand verfügen; namentlich unterlassen wir bei Verbandwechseln grundsätzlich die unmittelbare Berührung, weil jede nicht ganz frische Wunde Bakterien enthält, und die einmal der Hand anheftenden Mikroorganismen nur sehr schwer wieder zu entfernen sind.
Weit sicherer als das nicht immer strikt durchführbare „händelose Operieren“ ist die Verwendung des Handschuhs bei der Wundbehandlung. Da ein völliger undurchlässiger Abschluß der auch trotz gründlichster Desinfektion niemals ganz keimfreien Hand erreicht werden muß, so kommt nur ein undurchlässiger und gleichzeitig gut sterilisierbarer Handschuh in Frage, der Gummihandschuh, den heute fast alle Chirurgen sowohl zu Operationen, wie zu infektiösen Verbandwechseln und Untersuchungen benutzen. Da die Gummihandschuhe glatt sind, und solche mit rauher Oberfläche sich nicht bewährt haben, so tragen viele Operateure über den Gummihandschuhen noch sterilisierbare Zwirnhandschuhe, die als alleinige Bedeckung der Forderung einer völligen Ausschaltung der Hand nicht genügen, als Überzug des Gummihandschuhes aber nicht nur dessen Glätte mindern, sondern auch ein wirksames Schutzmittel für den zarten Gummi darstellen. Die Handschuhe schließen unmittelbar an die Ärmel des sterilisierten Operationsmantels an und bedecken sie zum Teil, so daß Hand und Arm des Operateurs an keiner Stelle freiliegen und mit der Wunde nur Material in Berührung kommt, welches in strömendem Dampf oder durch Auskochen mit voller Sicherheit keimfrei gemacht worden ist. Man wird einwenden, daß es doch nicht möglich sei, mit einfachen oder gar doppelten Handschuhen überhaupt zu fühlen, um wieviel weniger sicher zu operieren. In der Tat haben wir alle, als die Handschuhe eingeführt wurden, erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, in kurzer Zeit aber haben wir uns an den veränderten Zustand angepaßt, und heute kann wohl die Mehrzahl der Chirurgen kaum noch ohne Handschuhe operieren, weil das überfeinerte Gefühl der Finger und die Zartheit der verwöhnten Haut schon das feste Knüpfen eines Fadens nicht mehr verträgt.
Haut des Operationsfeldes.
Weit größere Schwierigkeiten als die Hand des Operateurs bot die Haut des Operationsfeldes. Auch hier hat man, da die üblichen Desinfektionsverfahren keine völlige Keimfreiheit erzielten, eine gewisse Ausschaltung der Haut zu erreichen versucht durch kollodiumartige Überzüge, die auch zur Bedeckung der Hand empfohlen wurden. Aber abgesehen davon, daß derartige Überzüge nicht haltbar genug sind, versagen sie naturgemäß an der Stelle, an welcher der Operationsschnitt die nicht keimfreie Haut durchtrennt. Eine große Zahl zum Teil komplizierter Desinfektionsverfahren, die sämtlich aufs eingehendste bakteriologisch geprüft wurden, hat hier lange Zeit eine wirksame Ausschaltung der Haut ersetzen müssen, voll befriedigt haben sie nicht. Erst in den letzten Jahren haben wir in der Grossichschen Jodtinkturdesinfektion ein ebenso einfaches wie zuverlässiges Verfahren kennen gelernt, das sich in kürzester Zeit allgemein eingebürgert hat. Ein zweimaliger Anstrich mit frisch bereiteter 5prozentiger Jodtinktur genügt, um das Operationsfeld mit einer Sicherheit zu desinfizieren, welche die früheren, für den Arzt zeitraubenden, für den Patienten infolge des vielen Reibens und Bürstens höchst unangenehmen Verfahren nicht zu bieten vermochten.
[1371] Eine weitere Gefahr für die Wunde stellen Haar und Bart des Operateurs dar, von denen Staubteilchen herabfallen können; vor allem aber müssen als Infektionsquelle die feinsten Speicheltröpfchen gelten, welche nach den Untersuchungen Flügges bei jedem Sprechen auf größere Entfernung versprüht werden und selbst bei bester Mundpflege zahllose Keime enthalten. Obwohl wir uns bei Operationen möglichsten Stillschweigens befleißigen, ist doch ein völliges Vermeiden des Sprechens wegen der Anweisungen an Assistenz und Personal nicht durchzuführen. Deshalb bedecken wir Mund und Nase, Haupt- und Barthaar mit sterilen Hauben, Schleiern oder Masken und schalten auf diese Weise die genannten Infektionsmöglichkeiten aus.
Der übrige Körper des Operateurs wird über einer Gummischürze mit einem in strömendem Dampf sterilisierten Operationsanzug bekleidet, das Schuhwerk ist durch Gummischuhe abgedeckt, welche vor dem Betreten des Operationssaales angezogen werden und jedes Verschleppen von Schmutz in die Operationsräume verhindern. All dieser moderne Bekleidungsapparat, der vom Operateur nur die Augen freiläßt, gehört nicht zu den Annehmlichkeiten des chirurgischen Berufes, denn es ist nicht leicht, in Räumen, welche des zu operierenden entkleideten Patienten wegen überhitzt sein müssen und mit Wasser-, Alkohol- und Ätherdämpfen erfüllt sind, stundenlang eine anstrengende und höchst verantwortungsvolle Tätigkeit auszuüben. Trotzdem wird heute kein Chirurg, der weit größeren Sicherheit des Erfolges halber, diese vielleicht unbequemen Vorsichtsmaßregeln mehr missen wollen.
Sonstige aseptische Maßnahmen.
Mit gleicher Sorgfalt muß alles leblose Material behandelt werden, welches mit der Wunde in Berührung kommt. Die Instrumente werden durch Kochen in Sodalösung, die Verbandstoffe, welche zum Auftupfen des Blutes oder zum Ausfüllen und Bedecken der Wunde dienen, durch Erhitzen in strömendem Dampf keimfrei gemacht. Das Unterbindungs- und Nahtmaterial wird entweder durch Kochen oder, wenn es sich um tierisches Material (Catgut) handelt, mittels komplizierter chemischer Methoden sterilisiert. Kurz, es geschieht zur Verhütung der Wundinfektion alles, was in menschlichen Kräften steht. Trotzdem aber operieren wir, wie bakteriologische Untersuchungen einwandsfrei erwiesen haben, auch heute noch nicht keimfrei; die Zahl der bei der Operation in die Wunde dringenden Bakterien ist zwar außerordentlich verringert, jedoch nicht auf Null reduziert worden, und es würden trotz aller Vorsichtsmaßregeln noch zahlreiche Operationswunden vereitern, wenn nicht der Körper mittels seiner natürlichen Schutzkräfte die wenigen eingedrungenen Bakterien unschädlich machen würde. „Auf der keimvernichtenden Fähigkeit des Blutes beruht der Bestand der Welt“ hat schon 1874 Moritz Traube geschrieben. Die natürlichen Schutzkräfte des Organismus aber vermag der Operateur zu unterstützen, indem er durch eine vollendete Technik, durch rasches, sicheres und zielbewußtes Operieren die Wunden so gestaltet, daß den Bakterien die Ansiedelung nach Möglichkeit erschwert wird. Hier liegt die Ursache, warum trotz gleicher äußerer Kautelen nicht alle Operateure die gleich guten Resultate erzielen, denn der geschilderte Apparat stellt nur die notwendige Unterlage dar, auf der die ärztliche und technische Begabung des Chirurgen sich voll entfalten kann.
[1372] Nicht minder wichtig als der Ausbau der aseptischen Wundbehandlung war für die Entwicklung der modernen Chirurgie die Besiegung des Schmerzes. Von jeher muß ein solches Ziel den Chirurgen vorgeschwebt haben, und doch haben wir weder aus dem Altertum noch aus dem Mittelalter Kunde von Erfolgen oder auch nur Bemühungen auf diesem Gebiete. Nur roheste Versuche sind uns bekannt geworden. Mittel, wie die gewaltsame Umschnürung eines zu operierenden Gliedes, wirkten eigentlich nur dadurch, daß ein heftiger Schmerz die Aufmerksamkeit vom anderen ablenkte. Erst das neunzehnte Jahrhundert hat auch hier die entscheidende Wendung herbeigeführt und die unendlichen Wohltaten der Narkose und der wirkungsvollen örtlichen Schmerzbetäubung geschaffen.
Narkose.
Die allgemeine Betäubung ist zwar schon in der ersten Hälfte des vergangenen Säkulums mit Lachgas geübt worden, die eigentliche Ära der Narkose aber beginnt erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als von Amerika aus im Jahre 1846 der Äther und schon im folgenden Jahre von England her das Chloroform zu uns gelangte. Zahlreiche andere Betäubungsmittel sind seitdem entdeckt und angewandt worden, sie haben dem Äther und Chloroform niemals ernsthafte Konkurrenz gemacht. Sehr merkwürdig ist es, daß das ursprüngliche Narkotikum, der Äther, von dem später eingeführten Chloroform zunächst fast völlig verdrängt wurde, daß aber in neuerer Zeit wiederum das Chloroform dem Äther hat weichen müssen. Die Gründe für die Niederlage des Äthers lagen vorwiegend in technischen Momenten, es sprachen gegen ihn seine Feuergefährlichkeit, die Schwierigkeit des Transportes, die größere zur Narkose notwendige Dosis. Daher blieben zunächst nur wenige Ärzte dem Äther treu, in klarer Erkenntnis seiner großen Vorzüge, nach und nach aber nahm ihre Zahl wieder zu, und heute gibt es kaum noch Operateure, welche die Betäubung mit Chloroform der mit Äther vorziehen. Den Umschwung hat die große, Hunderttausende von Narkosen umfassende Statistik der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie gebracht. Sie ergab die anfänglich überraschende Tatsache, daß beim Äther auf etwa 5000, beim Chloroform aber schon auf 1200–2000 Narkosen ein Todesfall kommt. Dieses Zahlenverhältnis ergab sich immer wieder, je weiter die Statistik fortgeführt wurde, und damit war endgültig erwiesen, daß das Chloroform zwar das in der Anwendung bequemere, aber das weitaus gefährlichere Narkotikum ist. Der Unterschied der beiden Narkotika liegt vorwiegend in der Einwirkung auf das Herz, denn während der Äther ein beliebtes Anregungsmittel für das Herz darstellt, ist das Chloroform ein Herzgift, gegen welches selbst Menschen mit völlig gesundem Herzen eine unberechenbare Idiosynkrasie haben können.
Äthertropfnarkose.
Daß trotzdem der Siegeszug des Äthers zunächst noch auf sich warten ließ, hängt damit zusammen, daß die Technik der Äthernarkose schwieriger ist als die der Chloroformnarkose, und daß auch der Äther Nachteile besitzt, die besonders in einer starken Anregung der Speichel- und Schleimsekretion bestehen. Nachdem aber einmal die geringere Fährlichkeit der Äthernarkose einwandfrei erwiesen war, warfen sich nun die Chirurgen mit Feuereifer auf die [1373] technische Vervollkommnung dieser Betäubungsart, und wir dürfen heute sagen, daß die Ätherbetäubung in Form der Tropfnarkose nach Witzel und in Verbindung mit der einschläfernden Wirkung einer Morphium-, Skopolamin- oder Veronalgabe dem Ideale der Allgemeinnarkose sehr nahe kommt.
Ätherrausch.
Ein großer Vorzug des Äthers besteht auch darin, daß er in Form des von Sudeck im Jahre 1901 eingeführten Ätherrausches auch für kurzdauernde Narkosen äußerst brauchbar ist. Wenige tiefe Atemzüge unter der Äthermaske genügen, um einen rauschähnlichen Zustand herbeizuführen, in welchem kleinere, für Lokalanästhesie ungeeignete Eingriffe völlig schmerzlos ausgeführt werden können. Das Verfahren hat den Vorzug der absoluten Gefahrlosigkeit und des Fehlens unangenehmer Nachwirkungen bei großer Sicherheit des Erfolges, daher hat es in Deutschland die ebenfalls für kurzdauernde Eingriffe geeigneten, aber nicht gänzlich ungefährlichen Narkosen mit Bromäthyl, Stickoxydul, Chloräthyl und Pental verdrängt oder nicht aufkommen lassen.
Mischnarkosen.
Die mit verschiedenen, außerhalb des Organismus gemischten Betäubungsmitteln ausgeführten Mischnarkosen, welche sich lange Zeit großer Beliebtheit erfreuten, sind ebenfalls durch die Vervollkommnung der Äthernarkose mehr in den Hintergrund getreten, dagegen findet die belebende Wirkung des Sauerstoffes in steigendem Maße bei der Allgemeinnarkose Verwendung.
Zuführung des Narkotikums.
Die Zuführung des Narkotikums geschieht vorwiegend durch die Atemwege: in geeigneten Masken, welche Mund und Nase bedecken, verdampft das Betäubungsmittel und wird mit der Atemluft aufgenommen. Um die Reizung der Mund-, Rachen- und Nasenschleimhaut, sowie die Behinderung des Operateurs durch die Maske bei Operationen an Gesicht und Hals zu vermeiden, hat man in neuester Zeit das Narkotikum auch mit Hilfe eines vom Munde eingeführten Rohres direkt in den Kehlkopf geleitet. Der von Kuhn 1902 angegebenen „pulmonalen Narkose mittels peroraler Tubage“ beginnt die von Meltzer und Auer 1910 erdachte Insufflationsnarkose den Rang streitig zu machen, ein Verfahren, bei dem durch ein, die Luftröhre etwa zur Hälfte ausfüllendes Gummirohr mit Hilfe eines Gebläses oder einer Sauerstoffbombe Druckluft in die Lunge eingeblasen wird.
Auch unmittelbar in die Ader hat man das Narkotikum eingeleitet, von der Erwägung ausgehend, daß das mit der Atmung aufgenommene Betäubungsmittel doch auch nur auf dem Blutwege zum Gehirn gelangt, und daß die Vermeidung der Atmungswege große Vorteile bieten müsse; der von Burkhardt 1909 angegebenen intravenösen Äthernarkose ist für Ausnahmefälle eine Brauchbarkeit nicht abzusprechen. Dagegen hat sich die Einführung verdunstender Betäubungsmittel vom Mastdarme aus (rektale Narkose) nicht bewährt, auch die Erzeugung der Narkose durch ausschließlich subkutane Einverleibung von Morphium oder Pantopon in Verbindung mit Skopolamin hat sich nicht einzubürgern vermocht, außer vielleicht in der Form einer Halbnarkose, des Dämmerschlafes, den die Geburtshelfer zur Bekämpfung des Wehenschmerzes benutzen.
Die Bestrebungen, die Giftwirkung des Narkotikums auf ein möglichst geringes [1374] Maß herabzusetzen, haben Klapp zur Einführung der „Narkose bei verkleinertem Kreislauf“ veranlaßt. Die Methode beruht auf der Erfahrung, daß blutarme Kranke zur Erzielung der Inhalationsnarkose geringerer Mengen des Narkotikums bedürfen als kräftige, vollblütige Menschen. Auch bei dem von Momburg angegebenen Verfahren, nach Analogie der Esmarch’schen Blutleere durch festes Umlegen eines Gummischlauches um die Taille die ganze untere Körperhälfte bei sehr eingreifenden Operationen blutleer zu machen, werden stets auffallend geringe Mengen des Narkotikums gebraucht. Diese Erfahrungen machte sich Klapp zunutze und erreichte durch Abbinden der Gliedmaßen unmittelbar vor Beginn der Narkose eine künstliche Verkleinerung des Kreislaufs, bei welcher der in den Extremitäten zurückgehaltene Teil des Blutes vom Narkotikum unberührt bleibt. Die Klapp’sche Narkose hat zweifellos ihre großen Vorzüge, nur darf sie nicht bei gefäßkranken Menschen angewandt werden, da durch die mechanische Strombehinderung das Auftreten von Gerinnselbildungen in den Gefäßen begünstigt wird.
Örtliche Schmerzstillung.
Je mehr die Sicherheit des chirurgischen Eingriffes wuchs, je geringer die Zahl der postoperativen Todesfälle wurde, desto schwerer mußte jeder Unglückfall wiegen, der auf das Konto der Narkose zu setzen war. So gingen mit der Bemühung, die Gefahren der Allgemeinbetäubung nach Möglichkeit zu verringern, Hand in Hand die Bestrebungen, die Narkose überhaupt einzuschränken und sie durch die örtliche Schmerzstillung zu ersetzen. Es ist eine auffallende Erscheinung, daß erst in neuerer Zeit die Lokalanästhesie brauchbare Formen angenommen hat, während doch gerade vor Entdeckung der Narkose das Bedürfnis nach örtlich schmerzstillenden Mitteln am größten war. Die außerordentliche Entwicklung der chemischen Industrie, vor allem in Deutschland, ist hier der Medizin zu Hilfe gekommen, ihr ist es zu danken, daß wir heute über eine Fülle ausgezeichneter lokal anästhesierender Mittel verfügen, welche den von Ärzten ersonnenen mannigfachen Anwendungsmethoden ein immer weiteres Feld erschlossen haben.
Kälteanwendung.
Lange Zeit hat die örtliche Kälteanwendung die Lokalanästhesie beherrscht. Larrey, der große Leibarzt Napoleon I., hatte ihre Bedeutung auf dem Schlachtfelde von Preußisch-Eylau kennen gelernt, wo an den frosterstarrten Gliedern der Verwundeten schmerzlos Amputationen ausgeführt werden konnten. Von der gewöhnlichen, aus Eis und Salz bestehenden Kältemischung, deren Verwendung den Forderungen der Sauberkeit widersprach, ging man zum Ätherzerstäuber über, der heute wiederum durch den weit wirksameren Äthylchlorid-Spray ersetzt ist.
Kokain.
Die Kälte, deren Erzeugung stets mit einem leichten Schmerz verbunden ist, genügt indessen nur, um die oberflächlichen Hautpartien unempfindlich zu machen, die schmerzlose Ausführung größerer Operationen gestattet sie nicht. Dieser wichtige Fortschritt wurde erst ermöglicht durch Kollers Einführung des Kokains in die Medizin, jenes Mittels, welches von Niemann im Jahre 1859 aus den Blättern von Erythroxylon Coca hergestellt worden war. Das Kokain hat die größten Umwälzungen hervorgerufen und manche Disziplinen, wie die operative Augen-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde, [1375] in ihrer heutigen Vollendung erst geschaffen. Fast alle Arten der Lokalanästhesie, über die wir zurzeit verfügen, sind schon sehr bald nach Entdeckung des Kokains angewandt worden, sie gerieten wieder in Vergessenheit, weil das Kokain sich als ein Präparat von beträchtlicher, vor allem aber gänzlich unberechenbarer Giftigkeit erwies. Deshalb wird es heute fast nur noch zur Anästhesierung von Schleimhäuten benutzt, auf die es einfach aufgepinselt zu werden braucht; die höchst wirksame Einspritzung des Kokains dagegen ist verlassen worden, weil die chemische Industrie uns Mittel an die Hand gegeben hat, welche dem Kokain an Wirksamkeit gleichkommen, seine Giftigkeit aber nicht entfernt erreichen.
Damit war ermöglicht, weit größere Mengen des Anästhetikums zu injizieren, und es konnte dazu übergegangen werden, nicht nur kleine Eingriffe, sondern große, ja die größten Operationen in Lokalanästhesie vorzunehmen. Während früher die sogenannte kleine Chirurgie die Domäne der örtlichen Schmerzstillung war, werden heute alle Bruch- und Kropfoperationen, zahlreiche Eingriffe an Gehirn und Rückenmark, an den Bauch- und Brustorganen, ja bis zu 40 und 50 Prozent sämtlicher Operationen ohne allgemeine Narkose ausgeführt, wodurch die Gefahr des operativen Eingriffes eine weitere erhebliche Herabsetzung erfahren hat. Die Kenntnis dieser Tatsache ist bereits so weit ins Publikum gedrungen, daß die Patienten sehr oft von sich aus die Forderung der Lokalanästhesie stellen. Um die psychische Beteiligung des Patienten auszuschalten oder wenigstens nach Möglichkeit zu vermindern, wird die beruhigende Wirkung des Morphiums oder eines verwandten Mittels zu Hilfe genommen. Auch die Kombination der Lokalanästhesie mit der oben erwähnten Rauschnarkose kann von Vorteil sein.
Novokain – Nebennierenpräparate.
Unter den zahlreichen Ersatzmitteln des Kokains ist am wichtigsten das von den Höchster Farbwerken hergestellte Novokain, welches dem Eukain, Stovain, Tropakokain und vielen anderen Präparaten durch die sehr geringe Giftigkeit, durch das Fehlen reizender und gefäßerweiternder Eigenschaften überlegen ist. Die Wirkung aller örtlich wirkenden Anästhetika aber vermögen wir heute dadurch außerordentlich zu steigern, daß wir nach dem Vorschlage von Heinrich Braun der einzuspritzenden Lösung in ganz geringen Mengen das aus tierischer Nebennierensubstanz hergestellte Suprarenin oder Adrenalin hinzufügen. Diese Nebennierenpräparate haben, wie das Tierexperiment gelehrt hat, gefäßverengernde Eigenschaften. Da die Blutgefäße in erster Linie die Aufsaugung der injizierten Lösung besorgen, so mußte die Zufügung von Suprarenin zur Folge haben, daß das Anästhetikum länger an Ort und Stelle verbleibt, also intensiver örtlich wirkt, während es gleichzeitig langsamer in den Kreislauf gelangt, also eine denkbar geringe allgemeine Giftwirkung entfaltet.
Infiltrationsanästhesie.
Für die Injektion der anästhesierenden Flüssigkeit, also vor allem der ½–2 prozentigen Novokainlösung mit Suprareninzusatz, sind verschiedene Methoden im Gebrauch. Großes Aufsehen hat seinerzeit die im Jahre 1892 von Schleich bekannt gegebene Infiltrationsanästhesie gemacht, weil sie uns zum ersten Male in den Stand setzte, die zur Ausführung großer Operationen unbedingt nötigen reichlichen Mengen des Anästhetikums [1376] zu injizieren. Dadurch, daß die Gewebe „infiltriert“, also mit großen Flüssigkeitsmassen durchtränkt wurden, gelang auch mit sehr dünnen Lösungen des damals noch im Vordergrunde stehenden Kokains die Erzeugung einer wirksamen Anästhesie. Das Verfahren hat zwar durch die Einführung der fast ungiftigen Ersatzpräparate des Kokains etwas an prinzipieller Bedeutung verloren, doch ist es das bleibende Verdienst Schleichs, durch seine Methode den Siegeslauf der Lokalanästhesie eingeleitet zu haben.
Leitungsanästhesie.
Ein anderes Prinzip liegt der von Oberst erdachten regionären oder Leitungsanästhesie zugrunde, welche ursprünglich nur für Operationen an Fingern und Zehen geeignet war, in ihrer heutigen, namentlich Heinrich Braun zu dankenden Vollendung jedoch die Ausführung gerade der größten Operationen, besonders an der oberen Körperhälfte, ohne Allgemeinnarkose ermöglicht. Bei dem Verfahren wird das Anästhetikum durch Injektion an die zum Operationsfelde ziehenden Nerven verbracht und so das ganze, von diesen versorgte Gebiet gefühllos gemacht. Es ist ersichtlich, daß auf solche Weise in ganz besonderem Maße das erstrebte Ziel erreicht wird, mit möglichst geringen Mengen des chemischen Präparates möglichst große Bezirke zu anästhesieren. Wo infolge der anatomischen Anordnung isolierte Nervenstämme nicht erreichbar sind, bedienen wir uns des Prinzips der „Umspritzung“, indem wir rings um das Operationsfeld einen kontinuierlichen Infiltrationswall anlegen und so mit Sicherheit alle zuführenden Nervenstämme treffen. Das gleiche Ziel erreichen wir, wenn wir zum Zwecke einer Amputation den ganzen Querschnitt der Extremität mit der anästhesierenden Flüssigkeit durchtränken.
Venenanästhesie.
Um tiefgreifende Operationen an den Extremitäten, Resektionen und Amputationen, schmerzlos ausführen zu können, hat man sich auch der Injektion in die Blutgefäße bedient. Die Arterien sind für diesen Zweck weniger geeignet als die Venen. Bei der von Bier 1908 angegebenen Venenanästhesie wird die Extremität zunächst durch Wickelung mit einer elastischen Binde blutleer gemacht und die zu operierende Partie dann zwischen zwei Gummibinden abgeschnürt. In eine unter Lokalanästhesie freigelegte subkutane Vene dieses ausgeschalteten Bezirks werden 40–100 ccm einer ½prozentigen Novokainlösung eingespritzt, welche auf dem Blutwege mit allen Nerven des betreffenden Extremitätenteils in Berührung gelangen und so eine völlige Querschnittsanästhesie herbeiführen.
Rückenmarksanästhesie.
Den kühnen Schritt, an Stelle der peripheren Nerven die hinteren Wurzeln des Rückenmarks selbst mit dem schmerzstillenden Mittel in Kontakt zu bringen, hat im Jahre 1898 ebenfalls August Bier getan. Nachdem er dieses sein Verfahren der Rückenmarksanästhesie an sich selbst erprobt hatte, ging er zu allgemeinerer Anwendung über. Mittels der Quinckeschen Lumbalpunktion wird in den das Rückenmark umgebenden Subduralraum eine kräftige Hohlnadel eingestoßen und ein geringes Quantum der hier normalerweise vorhandenen Flüssigkeit entleert. Dann wird in einer aufgesetzten Spritze das Anästhetikum mit der angesaugten Zerebrospinalflüssigkeit gemischt und diese Mischung langsam eingespritzt. Nach 5–10 Minuten beginnt die Anästhesie am Damm und schreitet segmentweise nach unten und oben fort, bis schließlich die ganze untere Körperhälfte bis etwa [1377] zum Rippenbogen vollkommen gefühllos geworden ist. Da diese Anästhesie 1–2 Stunden anhält und den ganzen Körperquerschnitt betrifft, so können in dem genannten Bereich die größten Operationen ohne die geringste Schmerzempfindung ausgeführt werden. Für große Eingriffe an den unteren Extremitäten und im Becken ist die Methode, deren Gefahren und unangenehme Nachwirkungen durch eine sorgfältig ausgebildete Technik jetzt sehr herabgemindert sind, ganz besonders geeignet; es gibt heute eine beträchtliche Zahl hervorragender Frauenärzte, die sich für große gynäkologische Operationen keines anderen Anästhesierungsverfahrens mehr bedienen.
Röntgenstrahlen.
Die epochemachendste Entdeckung, welche das letzte Vierteljahrhundert der Medizin gebracht hat, ist zweifellos die der Röntgenstrahlen. Am Ende des Jahres 1895 gab der Würzburger Physiker Konrad Röntgen seine Forschungen „Über eine neue Art von Strahlen“ bekannt. Die Begeisterung, welche sein Vortrag in der denkwürdigen Sitzung der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg am 23. Januar 1896 hervorrief, verbreitete sich rasch über die ganze zivilisierte Welt, und sofort tauchte auch der Gedanke auf, daß es sich hier nicht nur um eine der bedeutungsvollsten physikalischen Entdeckungen handle, sondern daß auch die Medizin von ihr den größten Nutzen davontragen werde. Röntgen antwortete in jener Sitzung auf eine diesbezügliche Frage des großen Anatomen Kölliker, er müsse die Verwertung für die Medizin vertrauensvoll in die Hände der Ärzte legen. Sein Vertrauen hat ihn nicht getäuscht, denn mit einem Eifer ohnegleichen haben sich die Ärzte des neuen Verfahrens angenommen und, wie die Entdeckung selbst aus deutschem Geiste entsprungen ist, so ging auch von Deutschland die Bewegung aus, welche eine ganz neue Wissenschaft auf Röntgens Entdeckung gegründet und über alle Länder verbreitet hat.
Radiotherapie.
Die Perspektiven, welche sich bei Bekanntwerden der neuen Strahlenart für die Medizin eröffneten, sind weit hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben, denn das Verfahren hat sich nicht nur als ein diagnostisches Hilfsmittel allerersten Ranges erwiesen, sondern die Strahlen haben sich auch als Träger ganz unerwarteter, für die Behandlung mannigfacher Leiden brauchbarer Eigenschaften herausgestellt. Ja es scheint fast, als solle die Radiotherapie, jener von den Röntgenstrahlen ausgegangene neue Zweig der Heilkunde, berufen sein, den Jahrhunderte alten Traum der Menschheit von einem wirksamen Krebsheilmittel der Erfüllung näher zu bringen.
Durch die Röntgenologie, welche heut ein Spezialstudium erfordert und von besonderen Gesellschaften auf eigenen Kongressen gepflegt wird, während ihre technische Seite in dauerndem Fortschreiten begriffen ist, sind fast alle Zweige der theoretischen und praktischen Medizin befruchtet worden. Ihre außerordentliche Bedeutung für die Chirurgie ergibt sich daraus, daß die Lehre von den Knochen- und Gelenkkrankheiten, von den Knochenbrüchen und Verrenkungen auf eine gänzlich veränderte Basis gestellt worden ist, daß die Diagnostik der Erkrankungen der Schädel-, Brust- und Bauchhöhle bedeutend vervollkommnet werden konnte, daß die Behandlung der chirurgischen Hautaffektionen, [1378] der Lymphdrüsen, Gelenk- und Knochenkrankheiten, der Fremdkörper und Steine, der bösartigen Geschwülste eine weitgehende Förderung erfahren hat. Die Wichtigkeit der Röntgenstrahlen für die Bekämpfung des Krebses, für die Therapie der Knochenbrüche, für die Orthopädie und Kriegschirurgie wird uns im einzelnen noch zu beschäftigen haben. Eine wissenschaftliche Chirurgie ohne Röntgenverfahren ist heute nicht mehr denkbar.
Bekämpfung der Wundinfektionskrankheiten.
Der Aufschwung, den die Lehre von der Infektion in den jüngst vergangenen Dezennien genommen hat, auf dem, wie wir sahen, auch der ganze stolze Bau der Asepsis letzten Endes beruht, ist nicht nur der Erkenntnis und Bewältigung der eigentlichen Seuchen, sondern auch der Verhütung und Bekämpfung der Wundinfektionskrankheiten zugute gekommen. Dank der Asepsis sind furchtbare Wunderkrankungen, wie der Hospitalbrand, der früher, namentlich in Kriegszeiten, die verheerendsten Hospitalendemien veranlaßt hat, völlig verschwunden; in Kulturländern wird man kaum noch ein Mitglied der jüngeren Ärztegeneration finden, dem ein echter Fall von Hospitalbrand zu Gesicht gekommen ist. Andere Wundinfektionskrankheiten sind zwar nicht erloschen, aber sie haben doch aufgehört, als Komplikation operativer Eingriffe und als ständiger Gast chirurgischer Krankenräume eine Rolle zu spielen. So hat noch vor wenigen Dezennien mancher Krankensaal geräumt werden müssen, weil das Erysipel, die Wundrose, immer von neuem aufflammte und von Bett zu Bett wanderte. Die Sorgfalt unserer modernen Wundbehandlung hat dazu geführt, daß wir mit dieser und mancher anderen ernsten Gefährdung operativer Resultate nicht mehr zu rechnen brauchen.
Aber nicht nur in der Verhütung, auch in der Bekämpfung der Wundinfektionskrankheiten haben wir einen guten Schritt vorwärts getan. Die Serumbehandlung leistet wertvolle Dienste im Kampfe gegen die Wunddiphtherie, den Wundstarrkrampf, die allgemeine Blutvergiftung durch Streptokokken, den menschlichen Milzbrand, den Biß giftiger Schlangen. Die Pasteursche Schutzimpfung hat der Hundswut den größten Teil ihres Schreckens genommen.
Bei der Bewältigung der so häufigen Wundinfektion durch Eiter- und Fäulniserreger, mag sie nun unter dem Bilde der Zellgewebseiterung (Phlegmone), der eitrigen Knochenmarkentzündung, der Vereiterung von Sehnenscheiden, Schleimbeuteln und Gelenken in Erscheinung treten, wird stets der rechtzeitige operative Eingriff das ausschlaggebende Verfahren bleiben; die frühe Entdeckung und kunstgerechte Eröffnung des gefährlichen Eiterherdes ist das beste und meist das einzige Mittel, um dem Fortschreiten der Eiterung und dem Eintritte der septischen Allgemeininfektion vorzubeugen. Ist letztere einmal zustande gekommen, so besitzen wir zwar in der Serumbehandlung, in der Einspritzung kolloidaler Antiseptika in die Blutbahn, in dem ganzen ärztlichen Apparate, der die Kräfte zu erhalten, die Schädigungen des Herzens und der Nieren zu beseitigen dient, gewisse Hilfsmittel, um den Körper in seinem Kampfe gegen die Eindringlinge und ihre giftigen Stoffwechselprodukte zu unterstützen: eine eigentliche Heilwirkung [1379] aber vermögen wir bei einmal ausgebrochener allgemeiner Sepsis nur in sehr beschränktem Maße auszuüben.
Biersche Hyperämiebehandlung.
Um so wichtiger sind alle Bestrebungen, durch Steigerung der natürlichen Abwehrvorgänge den Organismus dazu anzuregen, daß er selbst möglichst viel zur Überwindung der Infektion beiträgt. Hier ist neben einigen Verfahren, welche die Widerstandskraft des Bauchfells gegen entzündliche Prozesse zu erhöhen bestimmt sind (v. Mikulicz), vor allem die Biersche Hyperämiebehandlung zu nennen, welche sowohl der akuten wie der chronischen Entzündung entgegenwirkt. Die Hyperämie ist entweder eine passive venöse oder eine aktive arterielle; beiden Behandlungsarten liegt der Gedanke zugrunde, durch Vermehrung der Blutfülle die Zuführung der im Blute kreisenden Schutzstoffe zu steigern. Die passive venöse Hyperämie wird in einfachster Weise durch Umlegen einer mäßig komprimierenden Gummibinde zentral vom Entzündungsherde erreicht, sie bewirkt eine venöse Stauung (Stauungshyperämie) und den Austritt von Blutflüssigkeit in die Gewebe. Man unterscheidet eine langdauernde und eine kurzdauernde Stauung; die erstere wird 20–22 Stunden nacheinander durchgeführt und dient der Bekämpfung der akuten Eiterung, während die kurzdauernde, 1–4 Stunden einwirkende Stauung für die Therapie chronisch entzündlicher, auch tuberkulöser Erkrankungen, namentlich der Gelenke geeignet ist, ein Zweck, den auch die allgemein anerkannte Behandlung mit arterieller, in den bekannten Heißluftkästen erzeugter aktiver Hyperämie verfolgt.
Das Urteil über die Stauungshyperämie ist noch nicht abgeschlossen, zweifellos ist jedoch, daß gewisse sehr ernste, akute Zellgewebseiterungen, vor allem die früher so gefürchteten, fast stets zur Versteifung der Finger und der Hand, nicht selten zur Amputation führenden Sehnenscheidenphlegmonen bei richtiger Technik in günstiger Weise beeinflußt werden. Während ehedem zur Behandlung dieser Eiterungen große Einschnitte nötig waren, welche häufig genug ein Absterben der Sehnen zur Folge hatten, kommt man bei gleichzeitiger Stauung mit kleinen Inzisionen aus und hat den Vorteil, frühzeitig mit Bewegungen anfangen und wegen der Ausschwemmung der Infektionsstoffe die schmerzhafte Tamponade der Wunden unterlassen zu können. Auch die von Bier und Klapp eingeführte Saugbehandlung kleinerer Eiter- und Entzündungsherde mittels schröpfkopfähnlicher Saugglocken ist in vielen Fällen sehr wirksam. Beide Verfahren machen den operativen Eingriff nicht entbehrlich, aber sie beschränken seine Ausdehnung und beschleunigen die Heilung, allerdings bedürfen sie dauernder Überwachung und sorgfältigster Auswahl der geeigneten Fälle.
Chirurgische Tuberkulose.
Unter den chirurgischen Infektionskrankheiten sind es vor allem die beiden wichtigsten, die Tuberkulose und die Syphilis, deren Kenntnis und Behandlung in den letzten 25 Jahren eine wesentliche Förderung erfahren hat. Die chirurgische Tuberkulose, also die tuberkulöse Erkrankung der Haut und Schleimhaut, der Lymphdrüsen, Knochen und Gelenke, ist durch die bakteriologische Forschung unserem Verständnis immer näher gerückt worden, ihrer Therapie aber sind in den natürlichen Heilfaktoren, Sonne und Licht, sowie in den künstlichen Strahlungsquellen die wichtigsten Helfer erstanden. In der Behandlung [1380] der furchtbaren Hauttuberkulose, des Lupus, spielen das Finsenlicht, die Kromayersche Quarzlampe und die Röntgenstrahlen heute eine solche Rolle, daß der operative Eingriff daneben völlig in den Hintergrund getreten ist. Geradezu wunderbar aber sind die Erfolge, welche bei allen Formen chirurgischer Tuberkulose mit der Heliotherapie, der Sonnenbehandlung im Hochgebirge, erzielt werden. Es ist das Verdienst Rolliers in Leysin, diese Art der Behandlung systematisch ausgebildet und gerade bei der äußeren Tuberkulose wahrhaft verblüffende Resultate erzielt zu haben. Hoffentlich finden sich Mittel und Wege, um das segensreiche Verfahren auch im Deutschen Reiche einzuführen und es allen Bevölkerungsklassen, auch den unbemittelten, zugänglich zu machen. So erfreulich die an den Küsten unserer Meere erzielten Resultate sind, mit den Erfolgen der Behandlung im Hochgebirge, wo die Sonne keine Dunstschicht des Tieflandes zu durchdringen braucht, können sie nicht wetteifern.
Syphilis.
Eine völlige Umwandlung hat in den letzten Jahren die Lehre von der Syphilis erfahren. Die jahrhundertelang dunkle Ursache der auch für den Chirurgen höchst wichtigen Krankheit wurde im Jahre 1905 durch Schaudinns Entdeckung der Spirochaete pallida geklärt, die Diagnose ist durch Wassermanns sinnreiches serodiagnostisches Verfahren auf eine zuverlässige Grundlage gestellt worden, und Ehrlich fand im Salvarsan das wirksamste bisher bekannte Heilmittel der völkerverheerenden Krankheit. Drei Großtaten, die stets ein Ruhmesblatt in der Geschichte deutscher medizinischer Wissenschaft bilden werden!
Erforschung und Bekämpfung des Krebses.
Weniger Erfolg ist der Erforschung und Bekämpfung des Krebses beschieden gewesen, doch scheint auch hier die Hoffnung auf bessere Zeiten zu dämmern. Allerdings haben wir gerade auf diesem Gebiete so viele und schwere Enttäuschungen erlebt, daß größte Zurückhaltung am Platze ist.
Die beiden wesentlichen Errungenschaften der Krebsbekämpfung während der letzten 25 Jahre liegen in der Vervollkommnung der Krebsoperationen und in der Nutzbarmachung der Radiotherapie. Die eigentliche Ursache der Krebserkrankung allerdings ist noch immer ungeklärt, und so tappen wir mit unseren therapeutischen Maßnahmen bis zu einem gewissen Grade im Dunklen. Immerhin hat die pathologisch-anatomische, epidemiologische und experimentelle Forschung schon so manches der vielen Krebsprobleme gelöst, und es ist zu hoffen, daß die ungeheure Arbeit, welche auf der ganzen Erde und vielfach in besonderen Krebsinstituten auf die Erforschung der schrecklichen Krankheit verwandt wird, auch hier uns endlich die ersehnte Klarheit bringen wird.
Krebs-Operationen.
Solange ein sicheres Heilmittel des Krebses nicht gefunden ist, – und leider sind wir trotz manchen bemerkenswerten Erfolges noch weit von diesem Ziele entfernt – wird die Operation ihre herrschende Stellung in der Behandlung des Karzinoms behalten. Erst wenn das Aftergebilde aus dem menschlichen Körper entfernt oder wenn es nicht mehr operabel ist, treten die übrigen Behandlungsmethoden in ihr Recht. Die Notwendigkeit der operativen Inangriffnahme ergibt sich aus der unerschütterlich feststehenden Tatsache, [1381] daß der Krebs im Anfange stets ein ganz lokalisiertes Leiden ist, und erst im späteren Verlaufe durch Verbreitung auf dem Lymph- und Blutwege zu einer Verallgemeinerung im Körper führt. Gelänge es, jeden Krebs in seinen Anfängen zu entdecken, so würde das Problem der Krebsbekämpfung gelöst sein, denn die im Frühstadium, vor Beginn der Weiterverbreitung, radikal entfernte Geschwulst kehrt fast niemals wieder. Daher bieten die Krebse, welche sich am frühesten bemerkbar machen, auch die besten Aussichten auf dauernde Heilung. Der Hautkrebs, der an der freien Körperoberfläche nur schwer der Beobachtung entgeht, wird bei rechtzeitiger Operation fast stets endgültig geheilt, der Lippenkrebs, der zwar auch früh auffällig wird, wegen seiner Häufigkeit bei der Landbevölkerung aber meist recht spät in Behandlung kommt, gibt trotzdem, selbst wenn man die ungünstigsten, vorgeschrittensten Fälle mit in Rechnung zieht, noch eine Dauerheilungsziffer von 50–60% durch die Operation. Liegt der Krebs jedoch versteckt in den inneren Organen, macht er erst spät Erscheinungen, so sind die Resultate der Operation weit schlechter. Auch hier bestehen charakteristische Unterschiede: so ist das Magenkarzinom fast nur operabel und wird fast nur dann durch die Operation dauernd beseitigt, wenn es am Magenausgang seinen Sitz an, weil es hier frühzeitig zu einer Verengerung und damit zu schweren Passagestörungen führt; sitzt es am Magenkörper, so bleiben diese Symptome lange aus, und der Krebs tritt klinisch erst zutage, wenn eine Operation nicht mehr ausführbar ist. Aber auch das am Magenausgang sitzende Karzinom macht sich doch im Vergleiche mit einem Haut- oder Lippenkrebs erst sehr spät bemerkbar: der Magenkrebs, den wir noch als gut operierbar bezeichnen, ist meist unendlich viel größer als ein Lippenkarzinom, das schon für recht vorgeschritten gilt.
Abgesehen von dem mehr oder weniger verborgenen Sitze bestehen aber noch andere Unterschiede im Charakter des Krebses, welche die Aussichten des operativen Eingriffes in sehr verschiedenem Lichte erscheinen lassen. So gehört das Zungenkarzinom zu den furchtbarsten Erscheinungen der Krebskrankheit überhaupt, obwohl es meist frühzeitig bemerkt wird; der außerordentliche Reichtum der Zunge an Lymphgefäßen, der komplizierte Muskelapparat des Organs, der die Krebskeime in die abführenden Lymphbahnen geradezu hineinmassiert, bedingt hier die besondere Bösartigkeit. Auf der anderen Seite wächst z. B. der Speiseröhrenkrebs nur langsam, verursacht auch frühzeitig bedrohliche Symptome, und doch ist er die ungünstigste Krebsform, weil die Speiseröhre zu den operativ unzugänglichsten Organen gehört.
Auch an ein und demselben Organe bestehen große Unterschiede in der Bösartigkeit des Karzinoms. Je zellreicher, desto maligner ist der Krebs. Während von den zellarmen Brustkrebsen, den sogenannten Skirrhen, ein großer Prozentsatz durch die Operation endgültig geheilt wird, ist jeder Fall des besonders zellreichen sogenannten Markschwammes der Brustdrüse, wie er namentlich im jugendlichen Alter beobachtet wird, als verloren zu betrachten. Überhaupt tritt ja der echte Krebs, das Karzinom – nicht nur das Sarkom – viel häufiger in verhältnismäßig jungen Jahren auf, als meist angenommen wird. Darm- und besonders Mastdarmkrebse sehen wir schon im zweiten Dezennium, Brust- und Magenkarzinome sind in den dreißiger und vierziger Jahren kaum seltener als im späteren Lebensalter. Es handelt sich hier nicht um eine Erscheinung, welche mit der keineswegs [1382] bewiesenen Zunahme der Krebskrankheit zusammenhängt; daß derartige Beobachtungen früher weniger häufig gemacht wurden, ist darauf zurückzuführen, daß man bei einer bösartigen Geschwulst im jugendlichen Alter ehedem das Karzinom einfach ausschloß, während die verbesserte mikroskopische Diagnostik der Geschwülste uns heute solche Irrtümer vermeiden läßt.
Kenntnis der Verbreitungswege des Krebses.
Der große Fortschritt in der operativen Behandlung des Krebses, den uns die letzten Dezennien gebracht haben, liegt nun darin, daß wir durch eingehende anatomische Untersuchungen (Heidenhain, Küttner, Most, Rotter u. a) die Verbreitungswege der einzelnen Krebsformen genau kennen gelernt haben, und daß die verfeinerte Technik und verbesserte Asepsis uns in den Stand gesetzt hat, durch ausgiebige Operationen diesen Verbreitungswegen in viel vollkommenerer Weise nachzugehen, als dies bisher möglich war. Nehmen wir als Beispiel den Brustkrebs. Nachdem man sich zuerst begnügt hatte, den Krebsknoten aus dem Brustdrüsenkörper zu entfernen, ging man dazu über, die ganze Brust fortzunehmen. Da auch die Resultate dieser Operation nicht befriedigten, fügte man die prinzipielle Ausräumung der Achselhöhle hinzu, welche die für die Ausbreitung des Brustkrebses wichtigsten Lymphdrüsen enthält. Jetzt wurden die Resultate wesentlich besser, noch mehr aber haben die Dauerheilungen, ohne größere Gefährdung der Kranken, zugenommen, seit wir, entsprechend den erwähnten anatomischen Studien, die Lymphdrüsenausräumungen noch umfangreicher gestalten und auch die von wichtigen Lymphbahnen durchsetzten Muskeln mit entfernen. Beim Zungen-, Lippen-, Gebärmutter-, Magenkrebs und vielen anderen Karzinomformen sind mit bestem Erfolge ebenfalls erweiterte Operationen eingeführt worden, die in erster Linie das für die Verbreitung des Krebses so besonders wichtige Lymphgefäßsystem berücksichtigen.
Wirkliche Erfolge werden aber auch bei dieser Art der operativen Behandlung nur möglich sein, wenn der Krebs in den Frühstadien zur Behandlung kommt, und gerade die Frühdiagnose ist in den letzten Jahrzehnten für viele Krebsformen durch Ausbildung der diagnostischen Methoden und Einführung ganz neuer, auf moderner biologischer Forschung beruhender Verfahren sehr erheblich gefördert worden. Wie maßgebend die Frühdiagnose für die Resultate der operativen Behandlung ist, geht aus folgenden Erhebungen des Stuttgarter Chirurgen Steinthal über den Brustkrebs hervor. Von den Frauen, welche rechtzeitig zur Operation kamen, bei denen also der Krebs noch klein und auf die Brustdrüse selbst beschränkt war, wurden nicht weniger als 86 Prozent dauernd geheilt; bei den Kranken, welche den Krebs so lange hatten wachsen lassen, bis er die Haut der Brust und die Lymphdrüsen der Achselhöhle ergriffen hatte, betrug die Zahl der Dauerheilungen nur noch 32 Prozent; von den Frauen aber, die dem Krebs Zeit gelassen hatten, sich noch weiter zu verbreiten, wurde keine einzige mehr geheilt.
Radiotherapie.
Die zweite wichtige Errungenschaft auf dem Gebiete der Krebsbekämpfung ist die Einführung der Radiotherapie in die Behandlung der bösartigen Geschwülste. Schüchterne Anfänge gehen bis in das Jahr 1897 [1383] zurück, in welchem Gocht zum ersten Male die Röntgenstrahlen zur Behandlung des Krebses heranzog. Sehr bald zeigte sich, daß man es hier mit einem höchst wirksamen Mittel zu tun hatte, doch war wegen der schweren Schädigungen durch die Röntgenstrahlen Vorsicht geboten, um so mehr, als diese Strahlen nicht nur ausgedehnte, schwer heilbare Geschwüre, sondern auch echte Krebse hervorzurufen vermögen, die schon so manchem, um unsere Kenntnis der Röntgenstrahlen hochverdienten Arzte das Leben gekostet haben. Durch weitere Forschungen lernte man die Schädigungen nach Möglichkeit vermeiden, und gleichzeitig fand man Verfahren, welche die Röntgenstrahlen nicht nur an der Körperoberfläche, sondern auch in der Tiefe ihre Wirkung entfalten lassen. Es ist deshalb heute als Regel anzusehen, daß man der Operation des Krebses eine sorgfältige Bestrahlungsbehandlung folgen läßt. Die Zahl der Rezidive nach Krebsoperationen scheint sich dadurch in der Tat einschränken zu lassen.
Große Erwartungen wurden auch hinsichtlich der Krebsbekämpfung an die Entdeckung des Radiums geknüpft; sie haben sich bisher nicht völlig erfüllt, hauptsächlich deshalb, weil die Beschaffung eines ausreichend großen Quantums Radium mit enormen Unkosten verbunden ist. Dagegen scheint nach den neuesten Erfahrungen das zwar ebenfalls kostbare, aber doch nicht ganz unerschwingliche Mesothorium in hohen Dosen eine Einwirkung auf den Krebs zu haben, wie wir sie bisher bei keinem anderen Mittel außer dem Radium kennen gelernt haben. Die auf dem letzten Gynäkologenkongreß bekanntgegebenen Erfolge der Frauenärzte bei Gebärmutterkrebs übertreffen alles, was bisher beobachtet worden ist. Es ist zu hoffen, daß durch die Entdeckung des Mesothoriums, die wir Otto Hahn in Charlottenburg (1905) verdanken, ein wahrer Fortschritt in der Bekämpfung des furchtbarsten Feindes der Menschheit angebahnt worden ist. Namentlich die Kombination der frühstmöglichen Operation mit der vervollkommneten Strahlungsbehandlung dürfte die Resultate der Krebstherapie in Zukunft erfreulicher gestalten. Da wir aber mit den Tausenden von Krebsheilmitteln, die im Laufe der Zeit empfohlen wurden, und die auch während der letzten Jahre wieder in großer Zahl aufgetaucht sind, bisher nur Enttäuschungen erlebt haben, so wollen wir auch hier unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, damit wir nicht, mit zahllosen unglücklichen Kranken und ihren Angehörigen, wieder zu schmerzlicher Resignation genötigt werden.
Es würde den Rahmen dieses Überblickes weit überschreiten, wollte ich auch nur mit annähernder Vollständigkeit die Fortschritte schildern, welche die Chirurgie der einzelnen Körperteile im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts gemacht hat. Es gibt kein Organ, kein Glied des menschlichen Körpers, dessen Chirurgie in diesem Zeitraume nicht eine wesentliche Förderung, oder gar eine völlige Umgestaltung erfahren hätte. Deshalb muß ich mich darauf beschränken, einige besonders wichtige Kapitel als Beispiele herauszugreifen.
Gehirn.
Das Zentralorgan des menschlichen Körpers, welches alle seine Funktionen regelt und erhält, ist das Gehirn. Deshalb galt es noch vor kurzem als ein „Noli me tangere“, bis das Tierexperiment lehrte, daß operative Eingriffe [1384] am Gehirn weit besser ertragen werden, als man je für möglich gehalten hatte. Die weitere Erforschung gewährte dann in das ganze komplizierte System der Zentren und Leitungsbahnen des Gehirns den Einblick, der uns heute in den Stand setzt, mit großer Sicherheit die Lage eines Krankheitsherdes zu ermitteln. Hatte sich die Chirurgie zunächst darauf beschränkt, Eiterherde im Gehirn an der Stelle einer Verletzung operativ zu eröffnen, so wurde nun, nach dem Vorgange Ernst v. Bergmanns, ein Gebiet nach dem anderen erobert, und die Diagnostik in hohem Maße dadurch gefördert, daß mittels der sogenannten „Gehirnpunktion“ durch feinste Bohrlöcher im Schädel die Punktionsnadel in das Gehirn eingesenkt und krankhaftes Material auch aus versteckten Regionen zutage gefördert wurde.
Mit Hilfe der verfeinerten Diagnostik und Technik gelang es nunmehr, auch eine der schrecklichsten Krankheiten operativ anzugreifen, die ohne Operation mit voller Gewißheit zum Tode führt, die Gehirngeschwulst. Ein Gewächs im Gehirn ist deshalb so unabwendbar tödlich, weil die in der geschlossenen Schädelkapsel ständig wachsende Neubildung den Raum immer mehr beengt und das Gehirn unter schwersten Qualen für den erblindenden Patienten gleichsam erdrückt. Jede gelungene radikale Entfernung einer Hirngeschwulst ist also eine absolute Lebensrettung.
Bis vor wenigen Jahren schien es, als ob wir Geschwülste nur an der Oberfläche des Gehirns, besonders in den Regionen, die die Bewegungen des Gesichtes, der Arme und der Beine regeln, zu erreichen vermöchten; seitdem aber sind wir weit kühner geworden, und es gibt heute nur wenige Gegenden des Gehirns, aus denen nicht schon Geschwülste mit Erfolg entfernt worden wären.
Liegt eine Neubildung an der Oberfläche des Gehirns und ist ihr Sitz aus den Symptomen, vielleicht unter Zuhilfenahme der Gehirnpunktion, mit möglichster Sicherheit festgestellt worden, so eröffnen wir die knöcherne Schädelkapsel mittels elektrisch betriebener Instrumente innerhalb weniger Minuten unter Bildung eines Knochendeckels, der nach Beendigung der Operation wieder eingefügt wird. Die harte Hirnhaut wird durchtrennt und die Geschwulst unter möglichster Schonung der benachbarten Gehirnabschnitte ausgelöst.
Bieten diese Operationen an der Oberfläche des Gehirns keine besonderen Schwierigkeiten, so wird die Situation eine durchaus andere, wenn es sich um Geschwülste handelt, die, bedeckt vom Gehirn, an dessen Unterfläche gelegen sind. So werden heute Neubildungen operiert, die wegen ihrer Lage zwischen dem Kleinhirn und der sogenannten Brücke „Kleinhirnbrückenwinkelgeschwülste“ genannt werden. Diese Geschwülste sind deswegen so gefährlich, weil sie in unmittelbarer Nähe des eigentlichen Knotenpunktes des Lebens, des verlängerten Markes, gelegen sind und bei zunehmender Größe durch Erdrücken des Atmungszentrums töten. Wegen dieser äußerst heiklen Lage muß die Entfernung mit größter Vorsicht geschehen. Vom Nacken her wird die hintere Schädelgrube freigelegt und die harte Hirnhaut unter sorgfältiger Vermeidung der hier gelegenen großen Blutleiter eröffnet. Nun liegt das Kleinhirn zutage, welches die Geschwulst bedeckt; es wird mit großer Vorsicht emporgehoben und nach einwärts verschoben, dann unter künstlicher Beleuchtung die in großer Tiefe gelegene Geschwulst zugänglich gemacht und unter Leitung [1385] des Auges ohne jeden Druck auf die lebenswichtigen Nachbarteile des Gehirns und ohne Verletzung der großen, in der Tiefe eben sichtbaren Nervenstämme, entfernt. Ist dieser Akt der Operation beendet, so wird das Kleinhirn wieder an Ort und Stelle gelagert, die harte Hirnhaut vernäht, der Knochendeckel eingefügt und die Wunde durch Naht geschlossen.
Aber an noch unzugänglichere Regionen wagen wir uns heran, um Gehirngeschwülste zu entfernen. So gibt es Neubildungen des ziemlich genau in der Mitte der Schädel- und Gehirnbasis gelegenen Hirnanhanges, der sogenannten Hypophyse, die ein höchst eigentümliches, durch Vergrößerung der Extremitäten und des Kopfes ausgezeichnetes Krankheitsbild hervorrufen und durch Druck auf den Sehnerven zur Erblindung führen. Diese noch vor wenigen Jahren für völlig unzugänglich gehaltenen Geschwülste erreichen wir nun nach dem Vorgange von Schloffer dadurch, daß wir die äußere Nase an drei Seiten aus ihren Verbindungen lösen, sie nach abwärts umlegen, uns dann den Weg an der Schädelbasis bis an die in großer Tiefe gelegene Keilbeinhöhle bahnen und durch deren obere und hintere Wand gegen die Geschwulst vordringen, ohne den benachbarten Sehnerven zu verletzen. Nach der durch starke Blutung erschwerten Entfernung des Gewächses wird die Nase wieder in ihre natürliche Lage gebracht und heilt hier ohne besondere Entstellung an. Auch ohne Aufklappung der Nase und in Lokalanästhesie läßt sich in geeigneten Fällen die Operation ausführen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich nach dem Eingriffe die hochgradigsten Veränderungen der äußeren Körperform zurückbilden können.
Begreiflicherweise sind alle Operationen wegen Hirntumors sehr gefährlich, und ihre Sterblichkeit ist eine hohe, vor allem deshalb, weil die Mehrzahl dieser Geschwülste äußerst bösartig ist und sich diffus im Gehirn verbreitet. Die Resultate sind unter dem bereits betonten Gesichtspunkte zu betrachten, daß jeder sich selbst überlassene Hirntumor unabwendbar zu einem qualvollen Tode führt. Von 92 Patienten mit Hirngeschwulst, welche ich im Laufe der letzten 5½ Jahre beobachtet habe, konnten 72 einer Operation unterzogen werden. Von diesen leben heute noch, bis zu 4 und 5 Jahre nach der Operation, 22, und zwar haben 10 ihre volle Arbeitskraft, 20 ihre Sehfähigkeit wiedererlangt. Von 16 Patienten mit Geschwülsten der Hypophyse, welche sich von den eigentlichen Hirntumoren durch langsames Wachstum und gutartigen Charakter auszeichnen, hat v. Eiselsberg nur 4 verloren.
Außer der Gehirngeschwulst werden erfolgreich operativ angegriffen die Blutungen innerhalb der Schädelhöhle, die Abszesse des Gehirns, einzelne Formen der eitrigen Gehirnhautentzündung und der Gerinnselbildung in den großen Blutleitern der harten Hirnhaut, namentlich aber die vom mittleren und inneren Ohr ausgehenden Gehirnkomplikationen. Bei allen den genannten Affektionen des Gehirns und der Gehirnhäute ist es von größter Bedeutung, daß die Operation so früh als irgend möglich stattfindet; nur unter dieser Voraussetzung ist bei den überaus gefährlichen Erkrankungen eine Rettung möglich. Deshalb sind die großen Erfolge, welche die Diagnostik hier aufzuweisen hat, von gleicher praktischer Bedeutung wie die Fortschritte der operativen Technik.
[1386]
Hals.
Die Chirurgie des Halses, früher wegen der anatomischen Schwierigkeiten ein Gebiet, auf dem der Operateur seine besondere Kunst zeigen konnte, ist heute jedem Chirurgen geläufig. Bei allen Eingriffen am Halse legen wir heute, weil uns die damit verbundene größere technische Schwierigkeit nicht mehr schreckt, großes Gewicht auf die möglichste Vermeidung der Entstellung durch die Narbe. Wir gehen darin, wenn besondere Umstände es gebieten, nach dem Vorschlage von Dollinger so weit, daß wir den Schnitt gar nicht am Halse, sondern an der Haargrenze anbringen, so daß die Narbe später überhaupt nicht sichtbar ist; den weiten Weg vom Hautschnitte zum Krankheitsherde bahnen wir uns dann unter Vermeidung der wichtigen Gefäß- und Nervenstämme mit Hilfe künstlicher Beleuchtung.
Besonders hervorgehoben sei unter den Operationen am Halse wegen ihrer glänzenden Resultate die durch Kocher, v. Bruns, Sozin, v. Mikulicz und andere geförderte Operation des Kropfes. Während man früher den Kropf, die Struma, nur für ein entstellendes Leiden gehalten hat, wissen wir heute, daß durch den Druck der vergrößerten Schilddrüse auf die lebenswichtigen Organe des Halses und der oberen Brustöffnung sehr schwere, ja tödliche Störungen hervorgerufen werden können. Da nur bestimmte, leichte Formen des Kropfes auf eine interne Behandlung reagieren, gewisse Medikamente, wie Jod oder Schilddrüsentabletten, auch nur mit größter Vorsicht angewandt werden dürfen, so hat die operative Behandlung der Struma außerordentlich an Popularität gewonnen, zumal die Sterblichkeit der früher für sehr gefährlich und schwierig gehaltenen Operation bis auf Bruchteile von Prozenten heruntergegangen ist. Der große hier erzielte Fortschritt ist, abgesehen von der verfeinerten Asepsis, auf die besonders durch Kocher verbesserte Technik der Operation und auf die prinzipielle Anwendung der Lokalanästhesie zurückzuführen.
Die Strumaoperation hat dadurch noch besondere Bedeutung gewonnen, daß Moebius als Ursache der gefürchteten Basedowschen Krankheit eine übermäßige Tätigkeit der Schilddrüse festgestellt hat. Die Überlegung, daß dieser Schädlichkeit durch eine operative Verkleinerung der Schilddrüse abgeholfen werden könnte, hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Wird die Operation frühzeitig ausgeführt, ehe das gefährliche Leiden zu irreparablen Störungen namentlich des Herzens geführt hat, so sind die Resultate so erfreulich, daß der Chirurg auf wenigen Gebieten so viel Dank erntet, wie auf dem der Operation bei Basedowscher Krankheit.
Den entgegengesetzten Zustand, die verminderte Tätigkeit der Schilddrüse, die sich in krassester Form als Kretinismus äußert, haben wir dagegen bisher nur mit sehr geringem Erfolge zu bekämpfen vermocht. Es gelingt zwar durch Zufuhr von Schilddrüsensubstanz, am besten vom Munde aus in Gestalt der bekannten Schilddrüsentabletten, eine gewisse Besserung der körperlichen und geistigen Funktionen bei kretinistischen Kindern herbeizuführen, noch keines der bedauernswerten Geschöpfe aber ist durch diese Behandlung zu einem brauchbaren Mitgliede der menschlichen Gesellschaft geworden. Auch die Versuche, auf operativem Wege die fehlende oder mangelhaft entwickelte Schilddrüse zu ersetzen, sind als gescheitert anzusehen, wie bei Besprechung der Lehre von der Transplantation noch näher erörtert werden soll.
[1387] Auf die außerordentliche Entwickelung der Kehlkopfheilkunde kann hier nur kurz verwiesen werden, hat sich doch dieser Zweig der Chirurgie in den letzten Dezennien zu einem Sonderfache entwickelt, welches heute auf fast allen deutschen Universitäten durch eigene Kliniken und Lehrinstitute vertreten ist. War eine eigentliche Laryngologie erst durch die Entdeckung des Kehlkopfspiegels möglich geworden, so ist inzwischen die Beleuchtung auch anderer innerer Organe vom Munde aus weitgehend gefördert worden. Die durch v. Mikulicz eingeführte Oesophagoskopie ist uns heute ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Diagnostik von Erkrankungen der Speiseröhre, zur Entfernung der in ihr steckengebliebenen Fremdkörper, und wird als Gastroskopie auch für die Beleuchtung des Mageninneren verwertet, während Killians Bronchoskopie (1898) die Einführung des Tubus durch die Luftröhre bis in die großen Bronchien und somit die Entfernung von Fremdkörpern selbst aus der Lunge ohne äußere Operation ermöglicht.
Brusthöhle.
Ein Gebiet, welches erst im Laufe des letzten Jahrzehnts der operativen Heilkunde erschlossen wurde, ist die Chirurgie der inneren Organe der Brusthöhle. Daß sie so gar nicht Schritt hielt mit der inzwischen weit gediehenen Entwickelung der Bauchhöhlenchirurgie hatte seinen Grund darin, daß kein sicheres Mittel bekannt war, um die großen Gefahren einer Eröffnung der Brusthöhle mit Sicherheit auszuschalten. Während die Eröffnung der Bauchhöhle bei einwandfreier Asepsis ganz ungefährlich ist, liegen die Verhältnisse bei der Brusthöhle wesentlich anders. Mit dem Moment, der Luft in die Brusthöhle eindringen läßt, stürzt die Lunge, die durch den negativen Druck im Brustraume ausgespannt gehalten wird, zusammen; sie wird nicht nur selbst aus der Atemtätigkeit ausgeschaltet, sondern beeinträchtigt durch Verschiebung des Mittelfelles auch die Atmung der anderen Lunge in einer Weise, daß unter Umständen blitzartig schnell der Tod erfolgen kann, jedenfalls aber schwere Kollapserscheinungen auftreten. Viele Methoden wurden ersonnen, um diese Gefahr zu beseitigen, die eigentliche Lösung des Problems gelang aber erst im Jahre 1904 einem jungen Assistenten der Breslauer Klinik, Sauerbruch, jetzt ordentlicher Professor der Chirurgie an der Universität Zürich. Sein Druckdifferenzverfahren verhindert die Lunge dadurch am Zusammensinken, daß es auf ihre Oberfläche einen negativen Druck einwirken läßt.
Zu diesem Zweck konstruierte Sauerbruch eine pneumatische Kammer. In ihr befindet sich der Körper des Patienten, während der Kopf außerhalb ruht. Dieser und mit ihm die an Mund und Nase ausmündende Innenfläche der Lunge steht also unter Atmosphärendruck, während in der Kammer, die gleichzeitig den Operateur und Assistenten aufnimmt, mittels Luftpumpe ein geringer negativer Druck erzeugt wird. Eröffnet man nun in der Kammer den Brustkorb, so bleibt die Lunge entfaltet, weil auf ihre Oberfläche ein negativer, auf ihre Innenfläche der Atmosphärendruck einwirkt. Diesem Prinzip des Unterdruckes steht das des Überdruckes, welches besonders von Brauer ausgebildet wurde, gegenüber; hier wird in einem den Kopf umgebenden Kasten oder in einer, Mund- und Nasenöffnung bedeckenden Maske ein erhöhter Druck erzeugt, der nun ausschließlich auf die Innenfläche der Lunge wirkt, diese gleichsam aufbläst und so ebenfalls [1388] am Zusammensinken bei Eröffnung des Brustkorbes hindert. Das Druckdifferenzverfahren ist in neuester Zeit außerordentlich vereinfacht worden. An Stelle komplizierter pneumatischer Kammern und großer Apparate werden heute kleine, auf dem Prinzip des Überdruckes beruhende Vorrichtungen benutzt, die wenig kostspielig und daher auch kleineren Betrieben zugänglich sind. Besonders aussichtsreich ist ein höchst einfaches, schon bei Besprechung der Narkose kurz erwähntes Verfahren, die Insufflationsmethode von Meltzer und Auer (1909). Durch ein elastisches Gummirohr, welches nur einen Teil der Luftröhre ausfüllt und durch den Kehlkopf bis zu den Bronchien geführt wird, gelangt ein kontinuierlicher Sauerstoffstrom aus einer Bombe unter geringem Druck in die Lungen und hindert diese am Zusammensinken bei Eröffnung der Brusthöhle.
Das Druckdifferenzverfahren erleichtert jedes operative Vorgehen an den inneren Brustorganen erheblich und hat manche Eingriffe, so die Entfernung bösartiger Lungengeschwülste und die Operation des intrathorakal gelegenen Speiseröhrenkarzinoms, überhaupt erst in das Bereich der Möglichkeit gebracht. Das letzte, noch ungelöste und bis in die neueste Zeit für unlösbar gehaltene Problem der operativen Chirurgie, die erfolgreiche Entfernung des im Innern des Brustkorbes befindlichen Speiseröhrenkrebses ist nun auch gelöst worden: vor wenigen Monaten operierte Zaaijer einen Krebs am unteren Ende der Speiseröhre und Torek einen solchen in Höhe des Aortenbogens mit Ausgang in Heilung.
Auf operativem Wege vermögen wir heute auch zwei der häufigsten Lungenkrankheiten in bestimmten schweren Formen günstig zu beeinflussen, die chronische Lungenblähung, das Emphysem und die Lungentuberkulose. Beim Emphysem kann die Lunge nicht genügend atmen, weil der faßförmige Brustkorb für die Atembewegungen zu starr ist. Wir machen ihn nach dem Vorschlage von Freund beweglich, indem wir auf einer oder beiden Seiten des Brustbeins durch Entfernung kleiner Stücke aus jeder Rippe eine Art künstlicher Gelenke herstellen. Bei der Lungentuberkulose behandeln wir operativ naturgemäß nicht die beginnende Erkrankung, welche große Neigung zur spontanen Ausheilung besitzt, sondern die fortgeschrittenen, mit Bildung von Höhlen, sogenannten Kavernen, einhergehenden Formen. Die Eröffnung der Höhlen von außen her, die bei Eiterungen und brandigen Zerstörungen der Lunge so gute Dienste leistet, ist bei der Tuberkulose nicht zweckmäßig, viel besser sind die Erfolge der Verfahren, welche sich auf die Tatsache gründen, daß eine Höhle in der Lunge deshalb nicht von selbst ausheilt, weil die Ausspannung der Lunge in dem unnachgiebigen Brustkörbe ein Schrumpfen und Verwachsen der Höhle verhindert. Unser Bestreben muß deshalb sein, die Lunge gleichsam wie einen Schwamm zusammenzudrücken. Wir gelangen an dieses, nur bei einseitiger Erkrankung erreichbare Ziel entweder dadurch, daß wir sterilen Stickstoff durch eine feine Punktionsnadel in den Brustfellraum einströmen lassen und so in einem durch Röntgenstrahlen leicht kontrollierbaren Grade die Lunge zusammenpressen (künstlicher Pneumothorax nach Forlanini-Brauer), oder dadurch, daß wir über der erkrankten Lunge die Rippen entfernen und so die starre Brustwand in eine nachgiebige, für die Ausheilung der Höhlen günstige verwandeln (Brauer, Friedrich, Wilms).
Das gleiche Prinzip leistet uns ausgezeichnete Dienste bei einer besonderen Art [1389] von Herzkrankheit, bei der das Herz mit dem Herzbeutel und dieser wiederum mit der vorderen Brustwand verwächst. Das Herz muß nun bei jedem Schlage die Brustwand mitbewegen und erlahmt daher in kurzer Zeit. Wir entfernen in solchen Fällen mittels der von Brauer (1902) empfohlenen Cardiolyse die Rippen, soweit sie das Herz decken, und erzielen damit, falls die Operation nicht zu spät ausgeführt wird, in Kürze eine gänzliche Erholung des Herzens.
Herz.
„Auch das Herz, dieses unruhige und trotzige Ding, hat den Fortschritten der Chirurgie nicht zu trotzen vermocht, und damit ist das letzte Organ des menschlichen Körpers dem Bereiche regelrechter chirurgischer Therapie erobert worden“, schrieb Kocher in seiner klassischen Operationslehre. Den großen Schritt der ersten erfolgreichen Herznaht bei Verletzung hat im Jahre 1896 L. Rehn in Frankfurt a. M. getan; seitdem ist das verwundete Herz mehr als 200 mal genäht, und weit über 100 Menschen sind durch die Operation dem sicheren Tode entrissen worden. Über die Naht des verletzten Herzens aber sind wir heute noch nicht hinausgekommen, und wenn auch mancherlei Versuche und Vorschläge auftauchten, das eigentliche Gebiet der Herzkrankheiten der operativen Heilkunde zugänglich zu machen, so sind dies zurzeit noch Utopien.
Große Blutgefäßstämme.
Eine weitere Ausbildung als die Operationen am Herzen selbst hat die Chirurgie der großen Blutgefäßstämme erfahren. Es ist heute selbstverständlich, daß wir eine verletzte große Schlagader, deren Unterbindung zum brandigen Absterben des zugehörigen Körperteiles führen könnte, nicht mehr unterbinden, sondern, wenn irgend möglich, durch Naht vereinigen. Die Gefäßnaht, welche uns bei Besprechung der Lehre von der freien Gewebsverpflanzung noch mehr beschäftigen soll, wird mit allerfeinsten Nadeln und Seidenfäden ausgeführt; sie gehört, namentlich bei feinen Gefäßen, zu den zierlichsten Operationen, welche die moderne Chirurgie kennt, weil mit der notwendigen absoluten Dichtheit der Naht eine möglichste Schonung des Gefäßrohres zur Vermeidung von Gerinnselbildungen verbunden werden muß. Die Gefäßnaht kommt nicht nur bei Verletzungen, sondern auch bei Abtragungen von Gefäßgeschwülsten und bei der Transplantation zur Anwendung. Heinrich Braun ist es im Jahre 1908 sogar gelungen, bei Entfernung einer großen, mit der Aorta verwachsenen Geschwulst ein Stück aus dieser größten Schlagader des Körpers herauszunehmen und ohne jede Störung des Blutkreislaufes das Gefäßrohr wieder zu vereinigen.
Transfusion und Infusion.
Auch zur Transfusion, der Überleitung von Blut aus einem Körper in den anderen bei schweren Blutverlusten und Bluterkrankungen, wird die Gefäßnaht jetzt viel herangezogen (Enderlen). Überhaupt ist die Transfusion von Mensch zu Mensch – jedes andere Verfahren ist gefährlich – nach dem Vorgange der Amerikaner wieder mehr in Aufnahme gekommen. Sie war lange Zeit vernachlässigt worden zugunsten der Methoden des künstlichen Blutersatzes, bei denen physiologische Kochsalzlösung oder andere Salzlösungen, die der Zusammensetzung des Blutserums noch näherkommen (Ringersche, Lockesche Flüssigkeit), unter die Haut oder in die Ader infundiert werden. Um den roten Blutkörperchen gleichzeitig den mangelnden Sauerstoff zuzuführen, hat Küttner [1390] empfohlen, die Flüssigkeit in besonderen Irrigatoren mit Sauerstoff durchzuschütteln, wobei sich die Lösung mit diesem Gase sättigt.
Bauchhöhle.
Die Chirurgie der Bauchhöhle, die noch vor einigen Jahren nur von wenigen Auserwählten geübt wurde, ist heute Allgemeingut und meist das eigentliche Betätigungsgebiet jedes Chirurgie treibenden Arztes geworden. Da das hier Erreichte allgemein bekannt ist, so genügt ein Hinweis auf die Gallensteinchirurgie, deren Dauererfolge soviel bessere geworden sind durch die prinzipielle Eröffnung der Gallengänge (Kehr) und die grundsätzliche Entfernung der Gallenblase als der eigentlichen Bildungsstätte der Steine (Langenbuch).
Erinnert sei auch an die Operationen bei der Blinddarmentzündung, dieser ständig an Häufigkeit zunehmenden und bereits die Volkssterblichkeit beeinflussenden Krankheit. Als die Haupterrungenschaft auf dem Gebiete der Wurmfortsatzentzündung, welche erst im letzten Vierteljahrhundert durch die von Sonnenburg eingeleiteten Bemühungen der Chirurgen aller Länder bis in alle Einzelheiten bekannt geworden ist, muß die Frühoperation, d. h. die Operation möglichst in den ersten vierundzwanzig Stunden des Anfalles, angesehen werden. Sie verbindet den Vorteil der radikalen Entfernung des gefährlichen, weil fast stets chronisch kranken Organs mit dem der sicheren Verhütung aller unberechenbaren Folgen der akuten Attacke.
Weniger bekannt als die Erfolge der Operationen am Wurmfortsatz und an den Gallenwegen sind die guten Resultate, die eine auf sorgfältigster Auswahl der Fälle und präzise Diagnose beruhende operative Behandlung der Magenkrankheiten zeitigt. Zu den dankbarsten operativen Maßnahmen, die wir überhaupt kennen, gehören die Operationen bei Verengerung des Magenausganges, sei es, daß diese Verengerung bedingt ist durch schrumpfende Geschwüre des Magens oder durch ein Geschwür im Anfangsteile des Zwölffingerdarms. Da die Speisen durch die Enge hindurch nicht mehr aus dem Magen in den Darm gelangen können, stellen wir unter Umgehung der engen Stelle eine neue Verbindung zwischen dem Magen und der obersten Dünndarmschlinge her (Gastroenterostomie nach Wölfler und v. Hacker). Daß die dem Hungertode nahen, auf ein jahrelanges Leiden zurückblickenden Kranken nach einer solchen Operation in kurzer Zeit fast das Doppelte ihres bisherigen Gewichtes erreichen, ist keine Seltenheit.
Eine sehr merkwürdige Erscheinung ist die, daß das Geschwür des Zwölffingerdarms, eine Erkrankung, die noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts für eine Rarität gehalten wurde, jetzt immer zahlreicher zur Beobachtung kommt. Die ersten Nachrichten über das gehäufte Auftreten kamen aus England und Amerika (Moynihan, W. Mayo), in den letzten Jahren aber ist auch in Deutschland das Leiden immer häufiger operiert worden und hat den deutschen Chirurgenkongreß eingehend beschäftigt. Die Zunahme der Krankheit ist zum Teil eine scheinbare und auf die verbesserte Diagnostik zurückzuführen, welche besonders durch die von Rieder (1906) eingeführte Sichtbarmachung des Magendarmkanals im Röntgenbilde in hohem Maße gefördert worden ist, zum Teil aber ist sie eine reelle und hängt wohl mit der unzweckmäßigen Lebensweise zusammen, die der moderne Kampf ums Dasein vielen Ständen aufnötigt. Beide Ursachen [1391] der gehäuften Beobachtung hat das Leiden mit der Blinddarmentzündung gemein, die ihrerseits sekundär ein Geschwür des Zwölffingerdarmes hervorrufen kann.
Auch die Resultate der wegen Magenkrebs ausgeführten Operationen werden von Jahr zu Jahr bessere, in erster Linie deswegen, weil die Patienten frühzeitiger zur Operation kommen. Es ist nicht nur die unmittelbare Sterblichkeit der von Billroth geschaffenen, durch v. Mikulicz vervollkommneten großen Operation ständig geringer geworden, sondern es nimmt auch die Zahl der Dauerheilungen entschieden zu. Die Resultate würden noch weit bessere sein, wenn nicht in weiten Kreisen das Vorurteil herrschte, der Magenkrebs sei eine unheilbare Krankheit, und deshalb die überwiegende Mehrzahl der Patienten viel zu spät den Chirurgen aufsuchte. Das Hauptziel der Magenchirurgie, welches in Schlesien wegen der Häufigkeit des Magenkrebses vielleicht mehr als in anderen Teilen unseres Vaterlandes bereits erreicht ist, muß darin gesucht werden, daß jeder Patient, bei dem der geringste Verdacht einer Krebserkrankung des Magens besteht, dem Chirurgen zum Zwecke des heute gänzlich ungefährlichen diagnostischen Leibschnittes so bald als irgend möglich zugeführt wird.
Rückenmark.
Ein Gebiet, auf dem die Erfolge ebenfalls ständig wachsen, obwohl es erst in jüngster Zeit für die operative Heilkunde gewonnen wurde, ist die Chirurgie des Rückenmarks. Es seien wiederum nur einige Beispiele herausgegriffen. Ein überaus qualvolles Leiden ist die Rückenmarksgeschwulst. Unabwendbar erlag ihr früher der Betroffene langsam und unter größten Schmerzen, ein Schicksal, das um so trauriger war, als die Neubildung in der Mehrzahl der Fälle gutartigen Charakter trägt und nur dadurch zum Tode führt, daß sie in dem engen Rückenmarkskanal mit zunehmendem Wachstum das Rückenmark förmlich abquetscht. Durch das fruchtbare Zusammenarbeiten mit der inneren Medizin und Nervenheilkunde, welches überhaupt zu den wichtigsten Errungenschaften des letzten Vierteljahrhunderts zählt, ist es hier wie auf vielen anderen Gebieten der Chirurgie gelungen, völligen Wandel zu schaffen. Wir legen heute ohne besondere Gefahr und Schwierigkeit das Rückenmark an der vorher aus den Symptomen genau bestimmten Stelle frei und entfernen vorsichtig die Geschwulst, ohne die wichtigen Leitungsbahnen des Rückenmarks zu schädigen. Das Heilungsresultat ist wegen der Gutartigkeit der Geschwülste meist ein dauerndes. Die erste erfolgreiche Operation bei Rückenmarkstumor ist im Jahre 1889 von Horsley und Gowers ausgeführt worden, heute sind bereits Hunderte von gelungenen Operationen dieser Art in der Literatur verzeichnet.
Einen höchst originellen Weg, der uns ermöglicht, einige bisher jeder Behandlung unzugängliche Krankheiten zu heilen, hat uns im Jahre 1908 der Breslauer Neurologe Otfried Foerster gewiesen. Es handelt sich vor allem um die angeborene Gliederstarre, die trostlose Littlesche Krankheit, bei deren schwersten Formen die Menschen als völlig starre Klötze in gänzlicher Hilflosigkeit dauernd ans Bett gefesselt sind. Foerster erkannte, daß die Ursache dieser Starre darin zu suchen ist, daß die von der Körperoberfläche ausgehenden Gefühlsreize, die normalerweise das Gehirn regelt, hier durch den [1392] sogenannten Reflexbogen im Rückenmark ungehemmt auf die Bewegungsnerven und die Muskeln übertragen werden und diese zu einer dauernden übermäßigen Spannung anregen. Er empfahl daraufhin, das Übermaß dieser Gefühlsreize dadurch zu vermindern, daß man das einzig isoliert zugängliche Glied des Reflexbogens, die hintere Rückenmarkswurzel, durchtrennt, eine Operation, die von Tietze zum ersten Male ausgeführt worden ist. Zu diesem Zweck wird der Rückenmarkskanal eröffnet, sodann werden auf Grund genauer anatomischer Kenntnisse die zu den jeweilig starren Gliedmaßen führenden Rückenmarkswurzeln freigelegt und aus jeder ein mehrere Zentimeter langes Stück entfernt. Verfasser hat die Operation 31 mal ausgeführt, mit zwei Todesfällen durch gleichzeitig bestehende Epilepsie, und eine Reihe von sehr wesentlich gebesserten Kindern auf dem 39. Chirurgenkongreß den Fachgenossen vorgeführt. Auch bei einem anderen schrecklichen Leiden, den sogenannten gastrischen Krisen der Rückenmarksschwindsüchtigen, die andauernde, der schwersten Seekrankheit vergleichbare Übelkeit mit Erbrechen herbeiführen und die armen Kranken dem Hungertode preisgeben, vermag eine ähnliche, von Foerster erdachte und von Küttner zum ersten Male ausgeführte Operation, die hier die zum Magen führenden sensiblen Bahnen des Rückenmarks betrifft, wirksame Hilfe zu bringen.
Harnorgane.
Außerordentliche Fortschritte hat in den letzten 25 Jahren die Chirurgie der Harnorgane gemacht, die sich infolge der zu beherrschenden komplizierten Technik zu einer besonderen chirurgischen Spezialität, der Urologie, entwickelt hat. Die glänzenden dauernden Heilerfolge, welche bei so schweren Nierenerkrankungen, wie die Tuberkulose, die Sackniere, die Nierenvereiterung, bei Verletzungen, Steinen und Geschwülsten der Niere erzielt werden, sind in erster Linie einer außerordentlichen Verfeinerung der Diagnostik zu danken. Das bahnbrechende Verfahren der inneren Beleuchtung der Blase, die Zystoskopie, war zwar bereits im Jahre 1877 durch Nitze erfunden worden, für die Nierenchirurgie aber machten es erst spätere Verfeinerungen nutzbar. Durch getrenntes Auffangen des Sekretes jeder einzelnen Niere mittels des Ureterenkatheterismus – das erste brauchbare Instrument für diesen Zweck stammt von Casper (1895) –, durch Darstellung des Nierenbeckens und der Harnleiter mit Hilfe der Röntgenstrahlen, welche auch die Diagnose der Nierensteinkrankheit auf eine sichere Basis gestellt haben, durch eine auf den neuesten physikalischen Methoden beruhende Funktionsprüfung gelingt es heute nicht nur, mit Sicherheit festzustellen, welche Niere ertrankt ist, sondern auch nachzuweisen, ob die andere Niere funktionstüchtig genug ist, um bei operativen Eingriffen für das erkrankte und eventuell zu entfernende Organ einzutreten. Männer wie Israel, Küster, Kümmell, Völcker, Guyon, Albarran verdienen unter den Förderern dieses Zweiges der Chirurgie an erster Stelle genannt zu werden.
Die von Edebohls inaugurierte operative Behandlung der Brightschen Krankheit hat bisher nicht die Erfolge aufzuweisen, die man erhofft hatte, dagegen gelingt es, manche schwerste Form der akuten Nierenentzündung auf chirurgischem Wege zur Ausheilung zu bringen.
[1393] Auch eines der häufigsten Leiden des Harnapparates, die Vergrößerung der Vorsteherdrüse, die Prostatahypertrophie, wird heute mit bestem Erfolge operativ in Angriff genommen. Durch eine einfache und fast ungefährliche Operation, die Prostatektomie, wird der vergrößerte Teil des Organs, welches man früher für sehr unzugänglich gehalten hatte, entfernt und dadurch der überaus qualvolle Zustand der Patienten rasch und sicher beseitigt. Selbst äußerst heruntergekommene und sehr alte Männer pflegen den Eingriff, der stets in Rückenmark- oder Lokalanästhesie ein- oder zweizeitig ausgeführt wird, gut zu überstehen.
Extremitäten.
Die unzähligen Errungenschaften, welche die Chirurgie der Extremitäten in den letzten Dezennien zu verzeichnen hat, können hier nur angedeutet werden. Außerordentlich sind die Fortschritte der orthopädischen Chirurgie, die sich durch Hoffa, Lorenz und viele andere ebenfalls zu einem eigenen, an den meisten Universitäten als Sonderfach vertretenen Zweige unserer Wissenschaft emporgeschwungen hat. Die Orthopädie, welcher aus der Einführung der Röntgenstrahlen, der Wassermannschen Reaktion und anderer Entdeckungen allgemeiner Natur große Vorteile erwachsen sind, hat sich mit glänzendem Erfolge der Heilung der einzelnen Verkrüppelungen zugewandt. Als Beispiel sei nur das traurige Leiden der angeborenen Hüftverrenkung genannt, welches früher für unheilbar galt und heute mit großer Sicherheit durch die unblutige Einrenkung nach Lorenz oder in den hierfür ungeeigneten Fällen durch die operative Behandlung nach Hoffa und Ludloff geheilt wird. In der Therapie der Wirbelsäulenverkrümmungen, des Klumpfußes und zahlreicher anderer Deformitäten sind ebenfalls große Fortschritte gemacht worden, und die von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie auf Anregung von Biesalski eingeleitete Krüppelfürsorge ist ein Wert von allgemeinster humanitärer Bedeutung. Daß die soziale Gesetzgebung durch die regelmäßige Kontrolle der Behandlungsresultate allen Zweigen der Chirurgie, insbesondere aber der Orthopädie, hohen Nutzen gebracht hat, ist ein weiterer Vorzug dieser Großtat Kaiser Wilhelms I., durch welche Deutschland an die Spitze aller anderen Nationen getreten ist.
Die Lehre von den Knochenbrüchen und Verrenkungen ist durch die Röntgensche Entdeckung ebenfalls in ungeahnter Weise gefördert worden; nirgends ist die Bedeutung der Röntgenologie so augenfällig wie hier. Nicht nur unsere theoretischen Kenntnisse dieser Verletzungen sind vertieft und zum Teil völlig umgestaltet worden, auch die Diagnostik und Behandlung hat eine weit zuverlässigere Grundlage erhalten. Es ist heute undenkbar, daß man Knochenbrüche ohne das Hilfsmittel der regelmäßigen Kontrolle durch die Röntgenstrahlen behandelt. Unter den Fortschritten, welche die Therapie der Frakturen aufzuweisen hat, ist vor allem die Bardenheuersche Vervollkommnung der schon älteren Behandlung mit Zugverbänden zu nennen, ferner die Steinmannsche Nagelextension, bei welcher der Gewichtszug direkt an kräftigen, im peripheren Teile des gebrochenen Knochens befestigten Nägeln angreift.
Die Behandlung des Extremitätenbrandes läßt naturgemäß noch vieles zu wünschen übrig, verstümmelnde Operationen sind auch heute noch unvermeidbar. Immerhin [1394] haben wir in der Heißluftbehandlung ein wertvolles Hilfsmittel gewonnen, um den Brand zu begrenzen, und auch in den Gliedabsetzungen sind wir heute weit konservativer als früher. Über die originelle Wietingsche Operation, bei welcher mittels Gefäßnaht das Blut aus der verkalkten Arterie in die unveränderte Vene übergeleitet wird, sind die Akten noch nicht geschlossen.
Freie Gewebsüberpflanzung.
Nur wenige Probleme haben im letzten Vierteljahrhundert die Chirurgie mehr beschäftigt, als das der Transplantation, der freien Gewebsüberpflanzung. Sie bedeutet den Gipfelpunkt der konservativen Chirurgie, welche die mutilierende Wundheilkunde abgelöst hat. Regte sich bereits in den großen Chirurgen der vorantiseptischen Zeit der Widerwille gegen die operative Verstümmelung, gegen das testimonium paupertatis, welches schon Langenbeck in jeder Amputation sah, so gewann mit der zunehmenden Sicherheit des chirurgischen Handelns das konservative Prinzip immer mehr die Oberhand und ließ nicht nur die möglichste Vermeidung jeder operativen Beraubung, sondern vielmehr den Wiederaufbau verstümmelter und den Ersatz verloren gegangener Teile des menschlichen Körpers als das würdigste Ziel der modernen Chirurgie erscheinen.
Der Weg aber zu dieser Errungenschaft war ein weiter und mühseliger. Als ihre Vorläufer haben die uralten plastischen Operationen zu gelten, welche den Wiederersatz abgetrennter Teile des Gesichtes, besonders der Nase, anstrebten und weit über die Leistungen der zeitgenössischen wundärztlichen Kunst hinausgingen. Heute haben diese Operationen, welche das zu überpflanzende Material im Zusammenhang mit dem Mutterboden belassen, unter dem Schutze der Asepsis einen hohen Grad der Vollendung erreicht, und dennoch werden sie durch die Erfolge der freien Transplantation, bei welcher das Verpflanzungsmaterial völlig aus dem Mutterboden ausgelöst wird, weit in den Schatten gestellt.
Die heutige Lehre von der freien Gewebsübertragung unterscheidet eine Auto-, Homoio- und Hetero-Transplantation.
Unter Auto-Transplantation verstehen wir die Überpflanzung vom gleichen Individuum. Beim Menschen wird also das Transplantationsmaterial vom Patienten selbst entnommen.
Homoio-Transplantation bedeutet die Übertragung aus einem anderen Individuum der gleichen Art. Dem Menschen liefert also ein anderer Mensch den Pfröpfling.
Als Hetero-Transplantation schließlich bezeichnen wir die Überpflanzung aus einem Individuum einer anderen Art. Für den Menschen wird das zu übertragende Gewebe vom Tier gewonnen.
Diesen drei Transplantationsverfahren stellt man als Alloplastik die Einpflanzung körperfremden Materials, wie Metall, Zelluloid, Elfenbein, Horn, gegenüber; sie tritt dann in ihr Recht, wenn anderweitiges Überpflanzungsmaterial nicht erhältlich ist.
Die größten Triumphe feiert die Transplantation bei den niederen Tieren und zwar nicht nur bei Avertebraten, sondern auch bei tiefstehenden Wirbeltieren, vor allem Amphibien, wie die Untersuchungen von Born, Korschelt, Speemann, Braus u. a. gezeigt [1395] haben. Bei Amphibien gelingt es sogar, überpflanzte Körperteile zur Weiterentwicklung zu bringen, doch nur, wenn die Transplantation im embryonalen Zustande sowohl des Spenders wie des Empfängers erfolgte, und wenn beide Tiere in sehr naher Artverwandtschaft stehen. Bei so niederen Tieren ist auch die Züchtung von Körpergeweben auf künstlichen Nährböden mit aller Sicherheit geglückt, während die Carrelschen Kulturen lebender Körperzellen von höheren Tieren heute noch von mancher Seite angezweifelt werden. Braus hat sogar das Herz eines Amphibienembryos auf dem Deckglas wachsen lassen und die Vergrößerung des pulsierenden Organes kinematographisch dargestellt.
Beim Menschen als dem höchststehenden Lebewesen haben wir leider nur mit beschränkten Überpflanzungsmöglichkeiten zu rechnen. Bei ihm ist die Auto-Transplantation, welche auch im Tierversuche stets die größte Sicherheit bietet, durchaus die Methode der Wahl, und das einzige Verfahren, bei dem das übertragene Gewebe mit einer gewissen Regelmäßigkeit am Leben bleibt und nicht nur substituiert wird. Zur Homoi-Transplantation greifen wir, wenn der zu überpflanzende Teil, z. B. ein größeres Gelenk, vom Patienten selbst nicht erhältlich ist. Die Hetero-Transplantation, die Übertragung vom Tier auf den Menschen, wird heute auf Grund der experimentellen Untersuchungen verworfen.
Überpflanzung aus dem Affen.
Nun scheint es, daß man in dieser Beziehung vielleicht etwas zu weit gegangen und überhaupt wohl ein wenig in den Fehler verfallen ist, vom Tierversuche zu sehr auf den Menschen zu exemplifizieren. Jedenfalls hat Küttner einwandfreie Erfolge mit der Transplantation aus dem Affen erzielt. Er verfügt über eine Beobachtung, bei welcher die Transplantation 1¾ Jahre zurückliegt, also eine Beurteilung des Resultates möglich ist. Das wegen angeborenen Mangels der Fibula übertragene Wadenbein eines Java-Affen (Macacus cynomolgus) ist in dem Kinderkörper vollkommen unverändert geblieben, es weist keine Spur einer Resorption auf, welche an dem schlanken Affenknochen in den 1¾ Jahren sicher deutlich geworden wäre, und die mitübertragene Wachstumslinie des Knochens ist haarscharf erhalten geblieben.
Sollte sich die Überpflanzung aus dem Affen weiter bewähren – die außerordentliche Ähnlichkeit der Skelettformation, die Möglichkeit, jugendliche Knochen mit Wachstumslinien zu übertragen, lassen sie besonders für das Kindesalter empfehlenswert erscheinen –, so wäre damit ein brauchbares Verfahren gewonnen, denn gänzlich einwandfreies, lebendes Transplantationsmaterial jeglicher Art ist auf keine andere Weise leichter zu beschaffen.
Nach der heute gebräuchlichen Nomenklatur handelt es sich bei dieser Überpflanzung aus dem Affen um eine eigentliche Hetero-Transplantation. Daß ihre beim Menschen gewonnenen positiven Ergebnisse mit den bei den üblichen Versuchstieren erzielten nicht übereinstimmen, hängt wohl damit zusammen, daß zwischen Mensch und Affe eine ziemlich weitgehende Blutsverwandtschaft besteht. Die von Uhlenhuth, Wassermann und Schütze, vor allem aber von Friedenthal und Bruck mit Hilfe der spezifischen Blutreaktion angestellten biologischen Differenzierungsversuche haben diese Verwandtschaft klar erwiesen.
[1396] Wenn nun auch diese eine besondere Art der Hetero-Transplantation, welche den Affen als Spender verwendet, sich als gangbar erwiesen hat, so bleibt dennoch für die Operationen am Menschen die Auto- und Homoiotransplantation das gegebene Verfahren. Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus die Überpflanzungsmöglichkeiten bei den einzelnen Geweben.
Überpflanzung ganzer Organe.
Zunächst ist die Frage zu entscheiden: Bietet die Transplantation ganzer Organe, an welche so außerordentliche Hoffnungen geknüpft worden sind, Aussicht auf therapeutische Erfolge? Die Möglichkeit, ganze Organe zu überpflanzen, ergab sich erst, als das Verfahren der Gefäßnaht in den Dienst der Transplantation gestellt wurde, denn die Übertragung des ganzen geschlossenen Organs konnte nur dann mit einer gewissen Aussicht auf Erhaltung des komplizierten Gebildes erfolgen, wenn dessen gesamter Kreislauf mit seinen zu- und abführenden Bahnen in das Gefäßsystem des neuen Standortes eingeschaltet wurde. Die technische Ausbildung der zirkulären Gefäßnaht, um welche sich besonders Alexis Carrel, Garrè und Stich verdient gemacht haben, hat hier die Wege geebnet. Sie hat uns in den Stand gesetzt, die Kontinuität quer durchtrennter Arterien und Venen wieder herzustellen, sie ermöglicht uns auch, ohne störende Gerinnselbildungen ein Gefäßgebiet an ein anderes anzuschließen und so den Blutstrom in neue Bahnen überzuleiten. Auch ein weitgehender Ersatz von Blutgefäßen ist durch die zirkuläre Gefäßnaht ermöglicht worden, denn es gelingt nicht nur, Arterienstücke in Arterien, Venenabschnitte in Venen zu implantieren, sondern es kann auch, was für die menschliche Pathologie besonders bedeutungsvoll ist, ein größerer Arteriendefekt durch ein, am besten vom gleichen Individuum entnommenes Venenstück gedeckt werden, wobei die Zirkulation erhalten bleibt und sogar eine Umformung der Venenstruktur stattfindet.
Eine unendliche Fülle mühsamster Arbeit ist nun darauf verwandt worden, diese Erfolge der Gefäßnaht und Gefäßtransplantation für die Überpflanzung ganzer Organe auszunutzen. Es seien nur die Experimente von Carrel, Stich, Enderlen und Borst erwähnt. Der praktische Erfolg hat leider der aufgewandten Mühe nicht entsprochen. Zwar ist es gelungen, eine vollkommen ausgelöste Niere, welche 50 Minuten lang jede Zirkulation entbehrt hatte, dem gleichen Hunde wieder einzupflanzen, indem die Gefäße des Organs an die der Milz, der Niere oder des Beckens angeschlossen und der Harnleiter wieder in die Blase eingepflanzt wurde. Es gelang sogar, die Funktionstüchtigkeit des Organs dadurch zu erweisen, daß dem Tiere ohne Schaden die andere Niere entfernt werden konnte. Aber der Versuch hatte doch nur dann einen dauernden Erfolg, wenn das Organ in das gleiche Tier zurückgepflanzt, also auto-transplantiert wurde, und mißglückte stets, sobald eine Homoio-, geschweige denn eine Hetero-Transplantation zur Ausführung gelangte.
So mußte man, wollte man überhaupt Organe und Organteile verpflanzen, wieder auf die alten Versuche zurückgreifen, die Transplantation ohne Rücksicht auf die Ernährung durch die Blutgefäße vorzunehmen. Versuche dieser Art sind schon vor längerer Zelt von Kocher, v. Eiselsberg, Enderlen und anderen angestellt worden. Sie experimentierten mit einem Organ, welches durch seine innere Sekretion und die mit der Organtherapie erzielten Erfolge für derartige Versuche ganz besonders geeignet erschien, mit [1397] der Schilddrüse. Die Überpflanzung geschah unter die Haut, in Muskeln, Bauchhöhle, Knochenmark und Milz. Namentlich der letztere, von Payr gewählte Weg erschien wegen der günstigen Ernährungsbedingungen für das Implantat aussichtsvoll. Payr hat einem sechsjährigen kretinistischen Kinde ein Stück der mütterlichen Schilddrüse eingepflanzt und zunächst einen auffälligen Heilerfolg erzielt. Das Resultat hat sich jedoch nicht als dauerhaft erwiesen, und so muß angenommen werden, daß trotz der Entnahme aus der nächsten Blutsverwandten – ein Verfahren, welches bei derartigen Operationen stets den Vorzug verdient – das Implantat auch in der Milz nicht erhalten geblieben ist, sondern das Schicksal aller Überpflanzungen von Schilddrüsengewebe, wohin auch immer sie erfolgten, geteilt hat, das der Resorption.
Von großem Interesse sind die Übertragungen der Keimdrüsen, Hoden und Eierstöcke, von denen man namentlich die letzteren vielfach zu therapeutischen Zwecken transplantiert hat. Während die Verpflanzung von Hodensubstanz stets mit deren Resorption geendet hat, sind mit der Eierstocksübertragung wenigstens bei Tieren günstige Resultate erzielt worden. Man hat die Entwicklung von Eiern aus verpflanzten Ovarien beobachtet. Guthrie will dies Resultat auch bei Austausch der Ovarien von schwarzen und weißen Hennen erreicht haben. Die Zungen sollen dann nicht einfach die Färbung der Henne gezeigt haben, von welcher der Eierstock stammte, sondern sie sollen in der Grundfärbung schwarze und weiße Flecken aufgewiesen haben, welche auf einen Einfluß der Adoptivmutter zurückzuführen waren. So verblüffend diese beim Tiere erzielten Resultate sind, beim Menschen hat die Ovarientransplantation Fiasko gemacht, denn die in der Literatur mitgeteilten Heilerfolge halten einer ernsten Kritik kaum stand.
So hat die Organtransplantation, alles in allem genommen, ebensoviel Enttäuschungen gebracht, wie Erwartungen an sie geknüpft worden sind. Nur bei der Auto-Transplantation entgeht in einigen besonderen Fällen der Pfröpfling dem üblichen Schicksale der Resorption, gerade hier aber ist die Auto-Transplantation ohne jede praktische Bedeutung. Je höher organisiert ein Gewebe ist, desto weniger eignet es sich zur Verpflanzung, denn „das Transplantat braucht um so mehr eigene Wachstumskraft und Ernährungsfähigkeit, je weniger es von gleichartigem, körpereigenem Gewebe substituiert werden kann“ (Lexer). Ob der jeder Homoioplastik, besonders aber der von Organen und Organteilen, hinderliche biochemische Unterschied der Zellen und des Serums durch Immunisierung überwunden werden kann, ist heute noch nicht entschieden. Einen Sinn würde, wie Lexer zutreffend bemerkt, nur die Behandlung des Gebers mit dem Serum des Empfängers haben, denn der umgekehrte Weg würde die Bedingungen für die Transplantation eines Organs nur verschlechtern.
Noch ein weiteres Moment ist der Verpflanzung von Organen und Organteilen ungünstig, das ist ihre funktionelle Abhängigkeit vom Nervensystem. Je mehr die Funktion eines Gewebes nervösen Einflüssen unterliegt, desto ungeeigneter ist es für die freie Transplantation, denn der funktionelle Reiz ist nach Rouxs vielfach bestätigter Feststellung für die Einheilung und Erhaltung des Transplantates von größter Bedeutung. Daher mißlingt auch die freie Verpflanzung von Muskel- und Nervengewebe ohne Ausnahme (Landois), und gerade deren Mißerfolge machen es ohne weiteres [1398] verständlich, daß die Überpflanzung ganzer Extremitäten bisher kein brauchbares Resultat ergeben hat.
Nach all den Enttäuschungen, welche die Transplantation von Organen und hochorganisierten Geweben gebracht hat, haben wir gelernt, uns zu beschränken, und uns mit der Überpflanzung der einfacher organisierten Gewebe, vor allem der Stützgewebe, zu begnügen.
Überpflanzung von Haut, Schleimhaut, Fettgewebe, Faszie.
Den Ausgangspunkt aller Überpflanzungsversuche hat die Transplantation von Haut gebildet. Das Verfahren der Wahl ist das von Thiersch eingeführte, welches möglichst große und dünne Epidermislappen verwendet. Wird eine besondere Widerstandsfähigkeit der verpflanzten Haut gewünscht, so ist die Transplantation nach Wolfe-Krause, bei welcher die Haut in ihrer ganzen Dicke, jedoch ohne Fett übertragen wird, zu empfehlen. Die Transplantation von Schleimhaut bietet viel geringere Aussichten als die Überpflanzung von Haut, weil die Infektion sich in weit höherem Maße störend bemerkbar macht. Weit besser dagegen sind wegen der Möglichkeit, die Asepsis zu wahren, die Resultate der Transplantation von Fettgewebe, eines Verfahrens, welches ein vorzügliches Mittel darstellt, um eingezogene Narben zu korrigieren, und der nicht unbedenklichen Paraffininjektion weit vorzuziehen ist. Vielseitig bewährt hat sich die von Kirschner experimentell erprobte und in die Praxis eingeführte freie Faszien-Transplantation. Auch bei ihr ist wegen der Fülle des vorhandenen Materials stets die Autoplastik angebracht, als Entnahmestelle ist die widerstandsfähige Fascia lata des Oberschenkels besonders zu empfehlen, deren Defekt durch Naht sofort geschlossen werden kann.
Überpflanzung von Knochen.
Das wichtigste Gebiet der Transplantation ist unstreitig die freie Überpflanzung von Knochen. Als feststehende Tatsache kann heute gelten, daß frischer periostbedeckter Knochen dem toten, sterilisierten oder mazerierten unbedingt vorzuziehen ist. Verfügbares autoplastisches Material besitzen wir im Wadenbein, den Rippen, den Knochen einzelner Zehen und in Teilen, welche von dem festesten und gleichzeitig zugänglichsten Knochen des menschlichen Körpers, dem Schienbeine, der Tibia, abgespalten werden. Homoioplastiken, welche bei Übertragung großer Knochenabschnitte und Gelenke nicht zu umgehen sind, geben ebenfalls gute Resultate, wenn sie auch weniger sicher sind, als die der Autoplastiken.
Überpflanzung von Gelenken.
Den Höhepunkt dessen, was wir mit Hilfe der Transplantation heute überhaupt zu leisten vermögen, stellt die durch Lexer eingeführte Transplantation von Gelenken dar. Wir unterscheiden die Überpflanzung halber und ganzer Gelenke. Bei ersterer wird, z. B. nach Entfernung eines Knochengewächses, das betreffende Stück des Röhrenknochens mit dem zugehörigen Gelenkkopfe eingepflanzt; bei der ganzen Gelenktransplantation handelt es sich um die Verpflanzung beider Gelenkflächen samt einem ein bis zwei Finger breiten Knochenanteil und samt den etwaigen Gelenkinnenknorpeln und Bändern. Die Berechtigung beider Verfahren ist durch eine Anzahl von Lexer, [1399] Enderlen und Küttner ausgeführter Operationen, bei denen bereits von Dauerresultaten gesprochen werden darf, erwiesen.
Überpflanzung aus der Leiche.
Die Hauptschwierigkeit liegt in der Beschaffung des Materials. Lexer verwandte Gelenke aus amputierten Gliedmaßen, doch ist gerade aus diesen einwandfreies Material nur schwer zu gewinnen. Deshalb hat Küttner die Transplantation aus der Leiche eingeführt. Die unerläßliche Voraussetzung dieses Verfahrens ist, daß die Überpflanzung mit allen Kautelen umgeben und nur ganz einwandfreies Material benutzt wird. Küttner hat hierfür genaue Vorschriften gegeben und auf den Chirurgenkongressen der Jahre 1911 und 1913 erfolgreiche Verpflanzungen des oberen Oberschenkelabschnittes mit dem Hüftgelenktopf aus der Leiche vorgestellt, welche beweisen, daß das Verfahren gute Dauerresultate liefert und offenbar eine Zukunft hat.
Auf dem Gebiete der freien Gewebsüberpflanzung ist in den letzten Jahren viel geleistet worden, manches vielleicht, was auf den ersten Blick abenteuerlich erscheint und doch nur auf konsequenter Weiterentwicklung des wissenschaftlich als richtig Erkannten und Erprobten beruht. Auf keinem Gebiete berühren sich die Naturwissenschaften, die schon so oft frisches Leben und neue Anregung in die praktische Medizin hineingetragen haben, so eng mit chirurgischer Wissenschaft und Kunst wie auf dem der Transplantation. Möge aus ihrem Zusammenwirken noch manche bedeutsame Errungenschaft hervorgehen!
Kriegschirurgie.
Diese Arbeit darf nicht schließen, ohne daß ein Teil der Chirurgie Erörterung fände, welcher in den letzten Jahrzehnten eine außerordentliche Wandlung erfahren hat, die Kriegschirurgie. Die Ursachen der großen hier erzielten Fortschritte liegen darin, daß die Kriegsheilkunde wie ihre Mutterwissenschaft, die Chirurgie, in den jüngst vergangenen Dezennien ihren Charakter vollkommen geändert hat, und zwar verdankt sie gleich jener ihre hauptsächlichste Förderung der Vertiefung unserer theoretischen Erkenntnis und der rationellen Anwendung des antiseptischen Prinzips. Neben diesen beiden Faktoren ist als ein mehr zufälliges fluktuierendes Moment die Änderung der gebräuchlichen Kriegsmittel zu nennen, welche Unterschiede in der Art der vorkommenden Verwundungen bedingt und dadurch sowohl günstig wie ungünstig auf die Heilerfolge wirken kann.
Vertiefung der theoretischen Erkenntnis.
Die Vertiefung unserer theoretischen Erkenntnis ist hier wie auf allen Gebieten der Chirurgie herbeigeführt worden durch sorgfältige pathologisch-anatomische Untersuchungen und durch das Experiment. Bis in das 19. Jahrhundert hinein waren die Vorstellungen von der anatomischen Beschaffenheit der Schußwunden höchst abenteuerliche gewesen, lehrte doch erst 1787 Ledran seine Zeitgenossen den Unterschied zwischen Ein- und Ausschuß kennen. Hier brachte nun das Experiment eine sprungweise Förderung, und nur dem Schießversuche verdanken wir unsere heutige, bis ins einzelne vervollkommnete Kenntnis der Verwundungen des Krieges. [1400] Die ausgiebigste Anregung zu experimentellen Studien gab die Einführung der kleinkalibrigen Gewehre, der Mantelgeschosse mit ihren verschiedenen Modifikationen und der modernen Artillerieprojektile. Neben den Untersuchungen von Reger, Kocher, Paul v. Bruns, Riedinger, Feßler und anderen sind hier vor allem die umfassenden, unter der Leitung des jetzigen Generalstabsarztes v. Schjerning ausgeführten Schießversuche der Medizinalabteilung des preußischen Kriegsministeriums zu nennen, welche, ein Muster deutschen Fleißes und gewissenhafter Forschung, der gesamten Kriegschirurgie der Neuzeit die wissenschaftliche Grundlage geschaffen haben.
Das Jahr 1896 hat dann durch Konrad Röntgens große Entdeckung auch dem Studium der Kriegsverletzungen eine unerwartete Hilfe gebracht, und namentlich der Lehre von der Schußfraktur ist durch das Röntgenverfahren eine auf anderem Wege nicht erreichbare Förderung zuteil geworden. Die ersten praktischen Erfahrungen vom Kriegsschauplatz hat Küttner im Jahre 1897 während des griechisch-türkischen Krieges auf türkischer Seite zu sammeln Gelegenheit gehabt, seitdem sind in allen Feldzügen der neuesten Zeit die Röntgenstrahlen zur Verwendung gelangt. Sie haben sich als ein hervorragendes kriegschirurgisches Hilfsmittel bewährt, welches außer für die Therapie der Knochenschußbrüche auch für die Beurteilung und Behandlung vieler Verletzungen des zentralen und peripheren Nervensystems, wie für die Feststellung des Sitzes steckengebliebener Geschosse unentbehrlich geworden ist und dank der transportablen Einrichtungen für Kriegszwecke heute selbst in der vorderen Linie Verwendung finden kann.
Wie die Röntgenstrahlen, so sind auch andere technische Errungenschaften der neuesten Zeit mit Erfolg in den Dienst der Kriegschirurgie gestellt worden. Hervorgehoben seien die kinematographischen Studien von Tilmann über die Schädelschüsse und die wiederum im Auftrage der unermüdlichen Medizinalabteilung des Preußischen Kriegsministeriums ausgeführten Untersuchungen von Kranzfelder und Schwinning, welche die Mehrfach-Funkenphotographie für die Darstellung der Geschoßwirkung im menschlichen Körper ausnützten. Gerade diese letztgenannten Experimente zeigen, bis zu welcher Höhe die wissenschaftliche Forschung heute auf einem Gebiete gediehen ist, welches jahrhundertelang dem Vorurteile, dem Aberglauben und der rohen Empirie preisgegeben war.
Anwendung des antiseptischen Prinzips.
Haben alle diese Untersuchungen unsere theoretischen Kenntnisse der Kriegsverwundungen nach jeder Richtung hin entwickelt und vertieft, so sind die großen äußeren Erfolge der Kriegschirurgie vorwiegend dem zweiten erwähnten Faktor zu danken, der rationellen Übertragung des antiseptischen Prinzips auf die Verhältnisse des Krieges. Die Wundbehandlung hat sich den Besonderheiten des Feldes anpassen müssen. Während im Frieden durch die Antisepsis der operativen Therapie immer weitere Gebiete erschlossen wurden, ist die Kriegschirurgie im Gegenteile mit Hilfe der Antisepsis operativ zurückhaltender geworden, sie ist heute konservativ in doppeltem Sinne, denn sie vermag unter unsicheren Verhältnissen jede nicht unmittelbar lebensrettende Operation zu vermeiden, und sie ist konservativ, weil sie erhält, was früher der Verstümmelung anheimfiel. Ein Name verdient hier vor allen anderen genannt zu werden, [1401] Ernst von Bergmann! Er hat uns gelehrt, die Schußwunden trotz ihres Keimgehaltes als nicht infiziert zu betrachten, weil der Körper die Infektion überwindet, er hat die Sonde verbannt, die Fingeruntersuchung der frischen Wunde als Kunstfehler gebrandmarkt und dadurch unendlichen Segen gestiftet.
Die Erkenntnis, daß die frische Schußverletzung in erster Linie der Ruhe bedarf, damit die natürlichen Schutzkräfte des Organismus ungestört wirken können, ist heute zur Richtschnur jedes kriegschirurgischen Handelns geworden. Aus ihr ergeben sich als Grundregeln der modernen Kriegschirurgie: die aseptische Okklusion der frischen Wunde, die Zurückhaltung bei der Entfernung von Geschossen, die primäre Ruhigstellung der Gelenk- und Knochenschüsse, der schonende Transport; aus ihr ergibt sich auch, daß von dem Prinzip der Ruhe nur unter dringender Indikation abgegangen werden darf zugunsten operativen Handelns. Diese Zurückhaltung gilt so lange, als der Verwundete sich nicht unter Bedingungen befindet, welche eine dem Frieden entsprechende Indikationsstellung gestatten; denn der operative Charakter der modernen Chirurgie darf nur dort zur Geltung kommen, wo auch die moderne Sicherheit des operativen Erfolges durch die Gunst der Verhältnisse garantiert wird. Auf dem Verbandplatze ist dies nie, im Feldlazarette nicht immer der Fall, und so wächst die operative Indikationsstellung und nähert sich immer mehr der des Friedens, je mehr der Verwundete sich vom Schlachtfelde entfernt.
Chirurgie des Seekriegs.
Ein Kapitel der Kriegschirurgie ist berufen, in Zukunft eine große Rolle zu spielen, die Chirurgie des Seekrieges, der stets zu den grausamsten Erscheinungen der Kriegsgeschichte gehört hat. Die ersten größeren Erfahrungen auf diesem Gebiete hat der russisch-japanische Feldzug gebracht, während die spärlichen früheren Seekämpfe der letzten Dezennien uns wenig gelehrt haben.
Eine höchst wichtige Eigenart des Seekampfes liegt darin, daß auch ohne Verlust des ganzen Schiffes das Sanitätspersonal in einer Weise ausgeschaltet werden kann, welche im Landkriege undenkbar ist. So traf während der Schlacht am Yalu eine chinesische 30,5 cm-Granate das japanische Kriegsschiff „Hiyei“ und krepierte im Hauptverbandplatz. Beide Ärzte des Schiffes, die Mehrzahl der Lazarettgehilfen und Krankenpfleger wurden augenblicklich getötet, die übrigen schwer verletzt. Ein Dezennium später wurde in der Seeschlacht bei Tsushima auf einem russischen Schiff der gesamte ärztliche Stab durch das Kohlendioxyd der krepierenden japanischen Granaten betäubt. Eine weitere Besonderheit des Seekampfes besteht darin, daß sich eine unverhältnismäßig hohe Zahl schwerster Verwundungen auf engsten Raum und kürzeste Zeit zusammendrängt. Man bedenke, daß die Seeschlacht bei Lissa in 2 Stunden, die gewaltige Schlacht bei Tsushima nach der Angabe Togos gar in 37 Minuten entschieden wurde. Auch die Art der Verwundungen in der Seeschlacht trägt besonderen Charakter. Die Gewehrschußwunde verschwindet fast ganz, im Vordergrunde stehen die Zerreißungen durch die Fragmente der Granaten und die zersplitterten Holz- oder Metallteile des Schiffes. Vielfache Verwundungen sind überaus häufig. An typischen Verletzungen kommen hinzu die oft äußerst schweren Verbrennungen und Verbrühungen, die Läsionen durch den Luftdruck der feuernden Geschütze, die Betäubungen und Erstickungen durch giftige Gase.
[1402] Allen diesen Eigenarten des Seekrieges hat sich der Sanitätsdienst an Bord des kämpfenden Schiffes anzupassen. Das größte Gewicht ist auf eine zweckmäßige vorbereitende Tätigkeit der Schiffsärzte zu legen, die Verbandsplätze sind sorgsam auszuwählen und einzurichten, der Verwundetentransport muß gesichert, gebrauchsfertiges Verbandmaterial an den exponiertesten Punkten bereitgestellt werden. Während des Kampfes selbst sind die Maßnahmen an den Verwundeten auf das Allernotwendigste zu beschränken, Stillung des Durstes und Schmerzes, Anlegen der Esmarchschen Binde bei schweren Blutungen, Notverbände sind wichtiger als alle nicht unmittelbar lebensrettenden Operationen. Erst nach Beendigung des meist kurzen Feuergefechtes findet der Arzt die Zeit, sich der Wunden selbst anzunehmen; er muß der großen Neigung der Zerreißungen zur Infektion durch eine rationelle Antisepsis vorbeugen und, im Gegensatze zum Landkriege, auch den zahlreich eingedrungenen Fremdkörpern wenig harmloser Natur gebührende Aufmerksamkeit zuwenden. Nur die dringendst notwendigen Eingriffe sind noch an Bord des Schlachtschiffes vorzunehmen, alle irgend aufschiebbaren Operationen werden besser auf dem wohleingerichteten Lazarettschiff oder im heimatlichen Küstenlazarett ausgeführt unter aller der Sicherheit, welche die moderne Wundbehandlung in geordneten Verhältnissen zu bieten vermag.
Nur in kurzen, das Wichtigste eben berührenden Umrissen konnte der gewaltige Entwicklungsgang der Chirurgie im vergangenen Vierteljahrhundert geschildert werden. Dem Fernerstehenden könnte es scheinen, als sei ein Gipfelpunkt erreicht, aber immer wieder tauchen Probleme auf, und fast täglich erleben wir es, daß auf einem scheinbar abgeschlossenen Gebiete ein neuer Gedanke den völligen Umschwung herbeiführt und zum Ausgangspunkte unerwarteter Errungenschaften wird. Möge dieser Entwicklungsgang der Chirurgie erhalten bleiben, möge der jugendlich tatkräftigen Wissenschaft niemals die Stunde schlagen, die ihr ein Ausruhen auf Lorbeeren bringt!