Die Einsame
Du schläfst noch nicht, Tante?“ fragte besorgt ein junges Mädchen, als es in vorgerückter Nachtstunde die Stubenthür hastig hinter sich ins Schloß drückte, um sogleich neben den bequemen Sessel am mächtigen Kachelofen zu treten, in welchem die Greisin saß. „Ich verstehe, alte Erinnerungen wurden wach!“ sprach sie weiter und blickte auf eine altmodische Truhe nieder, welche geöffnet zu deren Füßen stand und als Behältniß für das schimmernde Brautgewand dienen mochte, das auf den Knieen der alten Dame lag. Wie beruhigt wandte sie sich erst dann zur Seite, um den dunklen Mantel von den Schultern zu nehmen, in dem sie augenscheinlich einem dichten Schneegestöber ausgesetzt gewesen sein mußte; denn noch lagen in den Falten desselben Flocken, die alsbald in der warmen Zimmerluft zu schmelzen begannen.
Die großen, ausdruckslosen Augen der weißhaarigen Frau starrten vor sich hin, während der horchende, gespannte Ausdruck der Blinden nicht von dem faltigen Antlitz wich.
„Wie hast Du Dich amüsirt, Kordula?“ fragte sie dann nach einer kurzen Weile des Schweigens die Nichte, welche indessen langsam und sorgfältig die Handschuhe von den Fingern streifte. „Hatte Frau Melly vielleicht heute einmal nicht ihren liebenswürdigen Tag? Du bist wortkarg, mein Kind; fandest Du bisher an einem derartigen Abend Gefallen, so pflegtest Du mittheilsamer zu sein!“
Kordula’s Achseln hoben sich langsam, und der bittere Zug um den Mund, die finster zusammengezogenen Brauen gaben ihr eine seltsame Aehnlichkeit mit dem starren Frauenantlitz, in welches der Finger von Sorge und Gram untilgbare Spuren eingegraben hatte und das sich jetzt in geisterhafter Blässe vom Hintergrund der dunklen Sessellehne abhob. Dann schob sie einen Stuhl neben den Sitz der Tante und ließ sich in müder Haltung nieder.
„Wie es bei Wolfersdorff’s war? Je nun, wie immer, Tante Renate,“ erzählte sie in scheinbar gleichgültigem Tone; „man hat musicirt, soupirt, getanzt, das ist Alles!“
„Das heißt also, Du hast die Sängerinnen auf dem Piano begleitet, im Nothfall die zweite Stimme eines Duettes übernommen, zum Tanz aufgespielt, ist es nicht so?“ fragte die alte Frau hart und schonungslos. „Sage mir, wie kannst Du immer wieder ihre Einladungen annehmen; warum folgst Du nicht meinem Rath, Dich ihnen fernzuhalten? Darf man nur vegetiren, nicht leben, mein Kind, so vollzieht sich das leichter in der Einsamkeit. Auch der trotzigste Geist wird in der Stille zahm und giebt sich drein!“
Kordula warf mit einer eigenthümlichen Gebärde den vorher leicht geneigten Kopf in den Nacken zurück, und ein heißer Strahl brach aus den halb von schweren Lidern bedeckten Augen.
„Ich bin jung, Tante! Melly ist das einzige Band, welches mich noch mit dem Leben außerhalb unserer vier Wände verknüpft!“
„Sind die Feste im Wolfersdorff’schen Hause denn so genußreich, daß sie die Demüthigungen aufwiegen, welche Du in diesem Kreise vom Schicksal begünstigter Menschen zweifellos ertragen mußt? Nein, ich will Dir sagen, was Dich zwingt, Dich ihnen immer von Neuem wieder auszusetzen!“ fuhr die Blinde wie vorhin fort – „Du hoffst dort einen Gatten zu finden! – Träume – Schäume! Wer heirathet heut zu Tage noch ein armes Mädchen! Ja, wärest Du schön, dann vielleicht! Aber Du selbst gestehst es ein, unansehnlich zu sein. Könnte ich Dich noch einmal sehen, Kora,“ fügte sie nach kurzem Sinnen hinzu, und ihre Hand glitt tastend über das Antlitz der Nichte. „Die lieblichen Kinderzüge mögen scharf geworden sein – einen schmallippigen Mund hast Du, ein energisches Kinn. Ach ja, Sorge und Kampf ums Dasein von Kindheit an machen nicht schön, das glaube ich nur zu wohl!“
„Geld, Tante Renate! Gieb mir ein Vermögen, und mich findet Keiner häßlich.“
Die Greisin lachte kurz bei dem leidenschaftlichen Ausruf auf. „Ein flüchtiger Vogel, den Niemand erhascht, es sei denn, er flattere Dir freiwillig in den Schoß.“
Kordula blickte indessen verächtlich an dem schwarzen, vertragenen Seidenkleid nieder, das ihre schlanke, ein wenig vornüber geneigte Gestalt umschloß.
„Wenn ich mich doch ein einziges Mal wie Melly kleiden könnte,“ entschlüpfte es ihr plötzlich. „Ach Tante, liebe Tante, laß mich ein einziges meiner Papiere wechseln – laß mich einen einzigen Winter lang leben –“
„Ein paar Monate leben, um dann ein ganzes Dasein lang dafür zu büßen? Nein – nein – nein, Kordula!“ stieß die Blinde hervor.
In diesem Augenblick glitt der schimmernde Brokat an ihr nieder, und sein Rauschen brachte eine eigene Bewegung in die erstarrten Züge. Wie ein holder Schein einstigen Glückes zog es durch die erstorbenen Augen, und als Tante Renate sich niederbeugte, um das kostbare Gewebe in die Truhe zurück zu legen, strichen ihre Finger fast zärtlich darüber hin.
„Warte geduldig, mein Kind!“ murmelte sie dabei in ungewohnter Milde. „Jedes Dasein hat einen Tag, wenigstens eine Stunde Glück zu verzeichnen, und der Glanz einer solchen Stunde wirft auch in die dunkelste Existenz einen hellen versöhnlichen Schimmer. Warte, Kora, warte!“
Indessen hatte sie die Truhe geschlossen und trug sie vorsichtig in den großen Eichenschrank in der Ecke; nur der feine Lavendelduft, der den ganzen Stoff durchdrungen, zog noch durch das Gemach.
Kordula Adrian verharrte währenddem unbeweglich auf ihrem Platze; nur immer tiefer gruben sich die Falten auf ihrer Stirn ein. Mußte sie um der Tante willen den Schrei ihres Herzens zurückdrängen, ihren Mienen wenigstens brauchte sie keinen Zwang aufzuerlegen, und unablässig nagten die weißen Zähne an der Unterlippe. Ah, dürfte sie es Einem anvertrauen, wie sie litt, was man ihr heute wieder angethan! Und die schmalen Hände ballten sich in ohnmächtigem Zorn zusammen.
Sie war fast seit der Geburt vater- und mutterlose Waise. Die einzige Schwester des Vaters hatte sich ihrer angenommen. Obwohl sie als Hauptmannswittwe auf neunhundert Mark Pension [350] angewiesen war, so hatte sie es dennoch möglich gemacht, dem Mädchen eine gute Erziehung geben zu lassen. Mit unermüdlichem Fleiß arbeitete Frau von Velsen für Tapisseriegeschäfte, dann, als ihre Augen langsam, aber rettungslos ihre Sehkraft einbüßten, strickte sie für den Verkauf, Tag für Tag, und so gelang es ihr, die wenigen hundert Thaler, welche der Nichte als Erbe geblieben waren, unangegriffen zu erhalten.
Derartige Existenzen finden sich häufiger, als man für gewöhnlich glaubt, doch bleiben sie meistens in ihrer ganzen Dürftigkeit unerkannt, denn es ist der Frauennatur gegeben, immer noch einen Schein von Behaglichkeit und Wohlhabenheit zur Schau zu tragen, welcher den flüchtigen Beobachter leicht täuscht. Frau von Velsen jedoch wies jede Verschleierung ihrer Verhältnisse weit von sich – und warum sollte sie sich auch irgend welchen Zwang auferlegen? Betrat doch außer der alten Aufwärterin, welche neben ihr wohnte, kein Mensch die kleine Wohnung, welche aus dem mäßig großen, zweifenstrigen Wohnzimmer, der kleinen Küche und einer Schlafkammer bestand.
Seit fünfundzwanzig Jahren hatte die Blinde diese Wohnung inne und kannte begreiflicherweise jeden Winkel so genau, daß sie sich völlig selbständig in den Räumen bewegen konnte. Ueber die Schwelle war sie seit ihrer Erblindung nicht mehr geschritten. Die Frühlings- und Sommerluft genoß sie an dem geöffneten Fenster, welches auf ein kleines Hofgärtchen blicken ließ, mit einer alten Linde darin. Fast alljährlich starb einer der starken Aeste des mächtigen Baumes ab, denn immer höher stiegen die Häuser rundum auf, Licht und Luft absperrend, aber das frische Leben in dem markigen Stamm ließ immer neue Zweige sprossen, und so sandte die Linde auch alljährlich, trotz Allem, süßen Blüthenduft bis zu der alten Frau hin. Hoch oben im Gipfel summten dann Tausende von Bienen, und die Blinde lauschte fast andächtig auf den Glockenklang des Sommers, wie sie den Ton nannte. Dann kam auch ein Tag, wo sie zur Nichte sagte: „Es wird Herbst, Kordula,“ und auf das leise Fallen der dürren Blätter horchte. „Ob ich sie im Frühling noch einmal werde rauschen hören, die alte Linde?“
Aber ein lebendes Wesen trat doch noch als Lichtgestalt in die dunkle Behausung, ein Sonnenkind von Freude und Lebenslust, Melanie von Wolfersdorff, Kordula’s einzige Freundin. In einem reichen Hause aufgewachsen, zwischen zärtlichen Eltern und blühenden Geschwistern lernte sie den Geliebten kennen, um ohne Hinderniß nach Jahr und Tag seine Gattin zu werden. Das junge Paar lebte in sorglosem Glück, von einem schönen Knaben umspielt, und war mit sich und der ganzen Welt zufrieden.
Melanie oder Melly, wie man sie nannte, die ihre ganze Schulzeit neben Kordula durchgemacht, hing noch heute mit unveränderter Freundschaft an dem eigenartigen ernsten Mädchen. Von der Kinderzeit her an Kordula’s Heim gewöhnt, empfand sie nicht mehr dessen Dürftigkeit, sie freute sich nur immer an der musterhaften Ordnung und Sauberkeit, welche darin herrschte, und sprach das oft genug in herzlichen Worten aus. Kordula hingegen bewunderte wieder mit ungekünsteltem Enthusiasmus alles Schöne, das ein gütiger Gott ihrer Freundin so reichlich in den Schoß streute, und – Melly ließ sich und ihr Eigenthum so gern bewundern! Sie schwor auch dafür auf die Freundin und schwärmte jedem Bekannten gegenüber von ihrer Kora.
„Ein Charakter, sage ich Ihnen – ein Charakter,“ versicherte sie immer von Neuem, und wenn und wo es sich irgend einrichten ließ, erschien die Freundin in ihrer Begleitung. Melly war auch in heftigem Unwillen erglüht, als sie eines Tages erfuhr, man nenne Kordula Adrian „ihre Folie“. Mein Himmel, wie konnte man sie dafür verantwortlich machen, daß die blasse müde Kora ihr rosiges blondes Köpfchen doppelt hübsch erscheinen ließ, daß deren gedrücktes einsilbiges Wesen ihren sprühenden Uebermuth nur um so reizvoller hervorhob! Sie folgte bei diesem Freundschaftsbündniß ganz allein ihrem guten Herzen und nur ein ganz klein wenig – ihrer Bequemlichkeit, und sie eiferte im hellen Zorn gegen den abscheulichen Spitznamen; dieser Zorn aber stand ihr wieder gar zu reizend! Es war nur natürlich, daß man das auch fand und ihr versicherte.
Die „Folie“ war endlich auch bis zu Kordula’s Ohr gedrungen und zwar durch einen Zufall diesen Abend. In einer Pause, die zwischen dem Tanzen eingetreten war, zu dem natürlich ihre „Goldkora“ aufgespielt, schlüpfte die zierliche Melly mit Wangen, die von der Lust des Abends geröthet waren, an das Piano, die dunkle schlichte Freundin stürmisch zu umschlingen. „Herzensschatz,“ bettelte sie dann heimlich, „sieh doch einmal nach dem Buben. Ich als Wirthin kann mich so schwer losmachen!“ Und dienstfertig, wie immer, erhob sich Kordula, der Bitte sofort nachzukommen. Der Knabe schlief fest und ruhig, und sie durfte sogleich zurückkehren. Als sie das kleine duftende Boudoir der Freundin betrat und ausruhend einen Moment in seinem Dämmerlicht verweilte, hörte sie erst einzelne Worte einer Unterhaltung aus dem Spielzimmer nebenan, dann zusammenhängende Reden, und deutlich unterschied sie die etwas lärmende Stimme eines Rittmeisters, der soeben fragte, warum denn in aller Welt das Tanzen aufgehört habe?
„Ich danke immer Gott, wenn die Weiber auf diese Weise untergebracht sind, da darf man doch in aller Ruhe seine Partie machen! Ich finde, die ‚Folie‘ ist ein ganz vorzügliches Mädchen,“ Kordula hörte zwischen hindurch die Karten fallen, „immer bereit, den Leierkasten zu machen, ich werde meine Frau veranlassen, sie auch in unsere Gesellschaften einzuladen, dann giebt es niemals mehr ein Hinderniß für das Drehvergnügen. Wo wohnt sie denn eigentlich, Wolfersdorff?“
„Auf der Domstraße bei ihrer Tante, Frau von Velsen,“ antwortete sogleich die Stimme des Wirthes. „Sie ist in der That ein nettes gefälliges Ding, die Kleine, ich freue mich aufrichtig dieser Jugendfreundschaft!“
„Das glaube ich,“ rief mit schallendem Lachen der Rittmeister. „Ihr allein danken Sie auch den ewigen Sonnenschein Ihres Hauses. Kriecht der Störenfried jedes ehelichen Glückes, Langeweile genannt, an Ihre kleine Frau heran, flugs wird die Folie geholt und erweist sich als wahrer Schatz von Geduld und Bewunderungsfähigkeit. Welches weibliche Wesen würde da nicht sofort guter Laune!“
„Der Name ‚Folie‘ ist aber ein durchaus unzutreffender!“ mischte sich jetzt ins Gespräch die Stimme des Doktor Kersten, eines angesehenen jungen Arztes. „Lassen Sie die junge Dame einmal gute Toilette machen, und Sie würden sofort die Wahrheit meines Ausspruches empfinden!“
„Der Doktor hat ganz Recht!“ stimmte sofort Wolfersdorff eifrig bei. „Nur ihrem ewigen schwarzseidenen Fähnchen hat sie diesen Namen zu verdanken! Meine Frau versuchte auch schon ihr in Betreff der Kleidersorgen ein wenig unter die Arme zu greifen, aber sie hat einen verteufelten Stolz, an dem jede Andeutung wirkungslos abprallt!“
„Schellen ist Trumpf!“ unterbrach jetzt die ungeduldige Stimme Kersten’s die Unterredung. „Ich denke, wir setzen jetzt endlich unseren Skat fort. Der Rittmeister reizt!“
Athemlos horchte das junge Mädchen. Sie war einen Schein tiefer erblaßt, und ihre Zähne knirschten leise auf einander. Als die Herren verstummten, lachte sie kurz auf.
„Sehr gut – Folie!“ murmelte sie mit zuckenden Lippen. Dann, obwohl ihre Kniee wankten, erhob sie sich und betrat, als sei nichts vorgefallen, den großen Salon, wo man sie stürmisch willkommen hieß.
Sie lächelte ganz eigen vor sich hin, dann ließ sie sich sogleich vor dem Instrument nieder.
„Eine lange Pause, nicht wahr, doch ohne meine Schuld!“ nickte sie einem eleganten Herrn zu, der ihr im Lauf der Zeit etwas nähergetreten war, da er als Vortänzer so mancherlei Anliegen an sie hatte.
„In der That, Fraulein Adrian, Sie haben sich ganz unentbehrlich zu machen verstanden, Sie tyrannisiren uns sogar in gewissem Sinn!“ plauderte er im Ton mitleidiger Freundlichkeit, während die zerstreuten Augen im ganzen Raum umherwanderten. „Jetzt wieder lege ich die Bitte der ganzen Gesellschaft zu Ihren Füßen nieder, uns eine Quadrille à la cour aus Ihrem fast unerschöpflichen Melodienfüllhorn zu spenden.“
„Vortrefflich gesagt, Herr von Stangen!“ Dann schlug sie schnell die einleitenden Takte an, welche das Engagement der Tanzlustigen zur Folge hatten. Ein kurzer düsterer Blick folgte dem eleganten Kavalier, der, sorglos über das spiegelblanke Parquet gleitend, schon im nächsten Augenblick Melly seinen Arm bot, um sie in das ihr zunächst stehende Karré zu führen. Dann musterte sie das duftige weiße Spitzenkleid der Freundin. Hatte der Doktor wirklich Recht mit seiner Behauptung, daß ihr [351] nur der Rahmen fehle, um mit diesem lieblichen Geschöpfchen rivalisiren zu können? Lag es wirklich nur an der Toilette, um ihr die Sicherheit einzuflößen, welche diese vom Glück begünstigten Frauen dort besaßen? Und wie als Antwort klang ein abgerissenes Stück Gespräch zu ihr hin: „Ja ja, Kleider machen Leute!“
Soweit war Kordula in ihren Erinnerungen gerathen, als plötzlich die Tante neben ihr zum Schlafengehen mahnte. Hastig strich sie über die geröthete Stirn, dann zog sie fürsorglich den Arm der Blinden unter den ihren. „Verzeih, Tante!“ bat sie fast zärtlich.
[361]
Der nächste Tag und auch der darauf folgende gingen im gewohnten
Gleichmaß hin. In der Fensternische saßen sich wie
immer Tante und Nichte gegenüber, und die langen Holznadeln
der ersteren klapperten unaufhörlich gegen einander, während
Kordula, tief über die kunstvolle Blattstichstickerei gebückt, emsig
arbeitete. Nur selten einmal hob sie die Augen, um einen Blick
durchs Fenster zu werfen, sie kannte ja längst jede Hand voll
Erde da unten, und die Leute, die hin und wieder über den
schnurgeraden Kiesweg eilten, konnten ihr durchaus kein Interesse
abgewinnen.
„Wie lange noch und der Baum wird neue Blätter tragen,“ brach wieder einmal die alte Frau das tiefe Schweigen, in welches sie nur zu oft versanken. „An dem Rauschen der Gossen höre ich, daß es mit Schnee und Eis für diesmal vorbei ist.“ Und lauschend wandte sie ihr Antlitz dem Fenster zu, an welches der Wind unaufhörlich dicke Tropfen warf.
Müde hob das junge Mädchen den Kopf, und die halbverschleierten Augen glitten fast widerwillig zu den rauchdunklen kahlen Aesten der alten Linde hinaus. „Du hast Recht, Tante, die Knospen schwellen mit jedem Tage dicker an. Wie seltsam doch, daß der schöne Baum Jahr für Jahr in diesem luftlosen Raum immer wieder keimt und sproßt,“ setzte sie nachdenklich hinzu, für einen Augenblick die Hände müßig in den Schoß senkend.
„Kind, die Natur hat keine Launen, sondern thut redlich ihre Pflicht. Sie bleibt uns nichts schuldig, wie das Leben.“
„Pflicht, Pflicht!“ lachte Kordula spöttisch, „der arme einsame Baum wird nicht gefragt, ob er weiter vegetiren will oder nicht, er muß einfach leben!“ Dann schwiegen Beide wieder; nur das eintönige Geräusch des stürzenden Regens klang durch die Stille, bis dieser durch ein kräftiges Pochen an die Thür ein Ende gemacht wurde.
[362] Sogleich erhob sich die Stickerin. „Immer herein, Melly,“ rief sie der Freundin entgegen, die sich bereits in gewohnter Lebhaftigkeit im Vorflur des nassen Mantels entledigte.
„Und bei solchem Wetter komme ich, nach Ihnen zu sehen, liebste Frau von Velsen – ist das nicht lobenswerth?“ plauderte die junge schöne Frau im Eintreten und rückte sich rasch einen Stuhl neben den der Greisin. „Nein, wie frisch Sie wieder aussehen!“ unterbrach sie sich. „Ihr liebes Gesichtchen im Rahmen der blüthenweißen Haube mag ich gar zu gern! Ich wünschte nur, mich auch einmal so vortrefflich konserviren zu können!“ Dann lehnte sie sich selbstzufrieden zurück, um verstohlen der Freundin zuzuwinken.
„Sie kommen gewiß wieder mit irgend einer Einladung für Kordula, Frau von Wolfersdorff,“ wehrte die alte Dame kühl ab, „und wollen mich dafür in möglichst gute Laune versetzen, nicht wahr? Nun, ich bin Ihnen ja dankbar, das wissen Sie wohl,“ warf sie, ihre schroffe Art zu begütigen, freundlicher ein, „doch es taugt nicht für Kora. Das Geschick hat sie einmal bestimmt, abseits des Weges zu gehen, und jedes Fest macht ihr nur von Neuem klar, wie es ist und wie es hätte sein können!“
In ihrer ungestümen Art faßte die junge Frau die beiden Hände der Greisin. „Errathen!“ lachte sie, „errathen – aber Ihre Bedenken lasse ich allesammt nicht gelten! Kordula muß doch, ums Himmels willen, etwas erleben, damit sie späterhin sich an etwas erinnern kann,“ sprudelte sie unbedacht hervor, „und ihr Dasein in diesen vier Wänden eignet sich wirklich nicht dazu.“
Frau von Velsen schwieg. Glückliche Menschen sind rücksichtslos, das hatte sie in ihrem Leben zu oft erfahren müssen, da aber die kleine Frau es in ihrer Art gut meinte, grollte sie ihr nicht. „Was haben Sie denn wieder mit dem Mädchen vor?“ forschte sie dann gelassen – mit der größten Sorgfalt eine neue Reihe an ihrer Arbeit beginnend.
„Ein Maskenball im Kasino, denken Sie nur!“ beeilte sich Melly erfreut zu antworten. „Kordula wünschte sich schon lange, ein derartiges Fest mitzumachen, und ich werde so lange betteln, gnädige Frau, bis Sie uns Kora auch diesmal anvertrauen!“
Das bisher blasse Gesicht des Mädchens röthete sich leise. Unter der Maske würde sie sich wie andere Leute fühlen können, und erwartungsvoll blickte sie nach der Tante hin.
Diese indessen wiegte mißbilligend den Kopf hin und her. „Meine beste Frau von Wolfersdorff, ein Maskenkostüm ist ein theueres Vergnügen – wir sind nicht in der Lage, unnöthige Ausgaben machen zu können.“
„Das sollen Sie auch nicht, gnädige Frau! Unter den früher von mir benützten Quadrillenanzügen findet sich ganz gewiß etwas Passendes für Kora!“
Diese bückte sich rasch zu ihrer Arbeit nieder. „Ich danke für Deine Güte, ich würde mich nie in geliehenen Kleidern behaglich fühlen! Aber ich denke, Tante,“ wandte sie sich im ungewohnten Ton einer Bitte an letztere, „ein Domino würde sich leicht herstellen lassen. Bitte, erlaube mir, Melly zu begleiten!“
Frau von Velsen sann schweigend nach. „Mein braunseidner Rock mit seiner altmodischen Weite ließe sich dazu verwenden. Was meinen Sie, kleine Frau?“ wandte sie sich jetzt, schon halb gewonnen, Melly zu, welche ein wenig schmollend die Arme unter der zierlichen Büste verschränkt hatte. „Nun, meinetwegen denn,“ gab sie gleich darauf ihren Entschluß kund, „mag sie mit Ihnen gehen. Wann findet denn diese Maskerade statt?“
Melly, schnell versöhnt, nannte den kommenden Sonnabend, dann beschrieb sie den aufmerksamen Zuhörerinnen die Maske, welche sie für sich ausgesonnen, plauderte noch von diesem und jenem, rühmte zu guter Letzt die wonnige erfrischende Ruhe dieses Stübchens, wirbelte dann wie der Lenzwind von dannen, und nur ein feiner Maiglöckchenduft erinnerte die Zurückgebliebenen an die kurze Unterbrechung ihres Stilllebens.
Doch nein, die leichte, nervöse Unruhe der jungen Frau schien jetzt über Kordula gekommen zu sein. Sobald die Tante sich frühzeitig, wie immer, zur Ruhe begeben hatte, trat sie zu dem eichenen Schrank in der Ecke, um schon heut an die Fertigstellung des Dominos zu gehen. Wie dünn und abgetragen dieses Seidenkleid war! Muthlos ließ sie die Arme sinken, daß es ihren Händen entglitt. Als sie sich niederbeugte, es aufzuheben, stieß sie hart gegen die alte Truhe am Boden, die Tante Renate’s Schatz barg, und plötzlich flog es wie ein Zittern durch ihre Glieder. Da drinnen lag ein Stoff, der im Schimmer eines Ballsaales in märchenhafter Pracht erglänzen mußte, der seine Trägerin vor Allen herausheben würde! Und ehe sie sich noch recht besonnen, drehte sie schon den Schlüssel herum, der stets im Schlosse steckte, schlug den Deckel zurück und griff nach dem schweren Brokatkleid.
Die lange Schneppentaille war der Mode einer längst vergangenen Zeit entsprechend geformt, eben so der faltenreiche Rock mit dem gelblichen Spitzengekräusel. Gepuderte Haare, mit ein paar Blumen oder Federn geschmückt, mußten ein Kostüm vollenden, wie sie es kostbarer oder schöner nicht zu wünschen gewagt hätte. Doch die Tante gab es zu diesem Zweck nimmermehr her, das wußte sie nur zu gut, und traurig begann sie, es wieder in das Behältniß zurückzulegen, während doch jede Arabeske des Brokats ihr in die Augen lachte. Ihre Finger zögerten – da stand sie wieder einmal, wie so manches Mal in ihrem Leben, und sah die goldenen Früchte hangen und durfte nicht nach ihnen greifen; denn sie war zum Hungern und Dürsten verdammt! – Doch wie thöricht, sich zu betrüben! Wußte sie denn, ob das Kleid ihr überhaupt paßte? Und wie um sich selbst zu beruhigen, zog sie es von Neuem hervor. Mit unruhigen Händen löste sie dann die Bänder und Knöpfe ihres Hauskleides, um geräuschlos den seidenen Rock überzuwerfen. Das schwere Gewebe bauschte sich in unverwüstlicher Pracht um ihre Glieder und ließ gerade noch die Spitze ihres Fußes sehen. Alle ihre Pulse begannen zu fliegen und mit glühenden Wangen zog sie die Taille an – auch diese paßte, sie saß, als sei sie für ihren Körper gearbeitet!
Mit weitgeöffneten Augen starrte sie dann ihr Spiegelbild an. Wie stolz aufgerichtet stand sie jetzt! Der tiefe Ausschnitt der Taille ließ einen zarten, tadellos geformten Nacken von blendender Weiße sehen, die blitzenden Augen mit den dunkelbewimperten Lidern, die glühenden Wangen gehörten ihr an; eine zauberhafte Wandlung war mit ihr vorgegangen – o, der Doktor hatte damals Recht: so brauchte sie keiner Andern mehr als Folie zu dienen, und wäre es selbst eine Melanie von Wolfersdorff!
Sie konnte sich nicht sattsehen an ihrem Spiegelbild, das ihr völlig fremd erschien. Endlich, nachdem mehr als eine halbe Stunde verflossen, riß sie sich los. Langsam, mit fest auf einander gebissenen Zähnen entkleidete sie sich, und als die Freude an der eigenen ungeahnten Wohlbildung geschwunden war, trat eine tiefe Zerknirschung an ihre Stelle. Ihr Thun erschien ihr wie ein Kirchenraub, wie ein Frevel an Tante Renate’s Heiligthum, und tief geängstet beeilte sie sich, das Kleid in die Truhe zu legen, als sie plötzlich am Boden derselben ein Kästchen bemerkte, von dessen Vorhandensein sie bisher noch nichts gewußt hatte. Als sie es emporhob und öffnete, entfloh ihrem Mund ein halberstickter Laut grenzenloser Ueberraschung, denn im matten Schein der Lampe blitzte es ihr in allen Farben des Regenbogens entgegen: herrliche Diamanten, wenn auch altmodisch geschliffen und gefaßt. Wie kam die Tante zu diesem kostbaren Schmuck? Und im Anschauen des flimmernden Arm- und Halsgeschmeides stieg ein bitteres Gefühl in ihr auf, das sich nach und nach bis zum offenen Groll steigerte. Sie mußte um ihrer dürftigen Kleidung willen Nichtachtung und Spott ertragen, während die Tante herrliche Kleinodien im Kasten vergraben hielt! Fast heftig schleuderte sie das Etui in die Truhe zurück, bettete das Kleid darauf und schlug den Deckel zu, um dann stundenlang im Zimmer auf und nieder zu wandern. So oft sie jedoch am Spiegel vorüber kam, wandte sie finster den Kopf ab – ihr Bild jetzt und vorhin bildete einen zu schreienden Gegensatz, als daß er unbemerkt hätte bleiben können.
Eine ruhelose Aufregung hatte Kordula ergriffen und nahm
mit jedem kommenden Tage zu, welcher sie dem Fest näher
brachte. Ihr Bild im Brautkleide der Tante verließ sie nicht
mehr, eine bisher nie geahnte Eitelkeit hob sich aus todestiefem
Schlaf und rang nach fernerer Befriedigung. Dennoch nähte sie
in den stillen Abendstunden an dem Domino, der sie in seiner
Dürftigkeit fraglos jedem Bekannten verrathen mußte. Aber dabei
wuchs immer übermächtiger der Wunsch, das Kleid auch ohne die
Erlaubniß der Tante zu tragen. Konnte sie nicht den Schlüssel von
der Truhe abziehen, oder auch für den Abend als unauffindbar
[363] erklären? Wenn sie sich nach scheinbarem Abschied dann zum
zweiten Mal in der kleinen abliegenden Küche umkleidete, mußte
da ihr Thun der Tante nicht verborgen bleiben? Und Melly, die
Einzige, welche ihr von dem Kostüm erzählen könnte? Nun, diese
würde sich schon zum Schweigen bestimmen lassen.
Wie schnell sie sich an den Gedanken der Täuschung gewöhnte! Wo früher das Herz erschreckt schneller gepocht im tiefsten Angstgefühl, klopfte es heut nur noch stärker in Erwartung des heißersehnten Genusses. Mit der kaltblütigsten Umsicht traf sie alle Vorbereitungen, stellte auch die Uhr vor, um Zeit für ein zweites Ankleiden zu gewinnen – ihre Hand zitterte nicht, als sie die Tante, welche über Kopfschmerz klagte, schon frühzeitig zur Ruhe brachte. Sorgfältig stellte sie ihr die Klingel bereit, deren Klang die freundliche Aufwärterin und Nachbarin herbeirief, bereitete noch das Süppchen zum Abendbrot, dann erst begann sie, an sich zu denken. Sie hatte ja Zeit.
Schon während des Mittagsschlafes der Tante hatte sie das Kleid, wie alle übrigen Bestandtheile ihres Maskenanzuges in die kleine Küche gebracht. Jetzt, als sie in derselben Licht ansteckte, sich umzukleiden, begann endlich doch eine tiefe Erregung sich ihrer zu bemächtigen. In stiegender Hast steckte sie das volle braune Haar in hohen Puffen auf, dasselbe dicht mit weißem Puder überschüttend, dann befestigte sie den bunten Federtuff und sah ein paar Minuten regungslos ihr Bild im Spiegel an. Wie schön, wie merkwürdig schön stand das Alles zusammen! Dann griff sie in wachsender Ungeduld nach dem schimmernden Kleide, als plötzlich sich leise Schritte näherten und, nachdem die Klinke niedergedrückt worden war, sich das runde Gesicht der Nachbarin im Spalt der Thür zeigte.
„I du meine Güte!“ rief Frau Bünger in heller Bewunderung aus. „Sind Sie aber prächtig!“ Und hilfsbereit trat sie näher, um die schweren Falten zurecht zu ziehen. „Ich wußte es ja, daß die Karten nicht lügen – also ist doch die Erbschaft gekommen! Seit Wochen weicht die Treffneun nicht von Ihrer Seite – nun kommt auch die Hochzeit bald hinterdrein, Sie sollen sehen!“ Sie half wie eine Kammerjungfer und nestelte die Taille vollends zu.
Ein lähmendes Entsetzen hatte zuerst die überraschte Kordula erfaßt; doch während Frau Bünger zog und richtete, gewann sie schnell ihre Haltung wieder.
„Sie haben errathen,“ sagte sie möglichst gleichmüthig, „eine entfernte Verwandte bedachte mich in ihrem Testament. Doch ich bitte Sie, liebe Frau Bünger, der Tante gegenüber zu verschweigen, daß ich Ihnen davon gesprochen, sie fürchtet das Gerede der Leute, die ja gleich aus der Mücke einen Elefanten machen!“
„Ich sage nichts, verlassen Sie sich darauf,“ versicherte diese eifrig, „sie mag auch so Unrecht damit nicht haben. Aber wie mich das freut! Die Frau Tante hielt Sie doch ein wenig gar zu knapp!“
„Ja, ja,“ erwiederte Kordula, immer sicherer im Ton. „Wie würde sie zum Beispiel schelten über die Ausgaben, die ich mir mit diesem Anzug gemacht habe! Vom Maskenverleiher natürlich,“ setzte sie erklärend hinzu. „Daß Sie auch über ihn schweigen, Büngerchen, nicht wahr? Das wäre eine schöne Geschichte, wenn die Tante erführe, daß ich in geliehenen Kleidern einherginge!“
Die Frau, stolz über die Vertraulichkeit der sonst so wortkargen Kordula, nickte kichernd. „Na, überhaupt ist die Frau Tante doch wohl ein Bissel zu geizig. So jämmerlich kann es doch um feine Leute, wie Ihresgleichen, nicht stehen, wie sie immer thut!“
Inzwischen war das Ankleiden beendet, und die Bünger beeilte sich, Kordula Fächer und Handschuhe zu reichen, als ihr Auge plötzlich auf das unscheinbare Etui fiel, das halb im Dunkeln auf dem Tische lag.
„Da ist noch was!“ meinte sie, das Kästchen öffnend. „Ah, der Schmuck! – Diamanten! Meine Frau Baronin, bei der ich Köchin war, hatte auch nicht schönere!“
Kordula stutzte einen Moment. Es hatte nicht in ihrem Willen gelegen, die Brillanten der Tante heute Abend zu tragen; dieselben mußten in den Kleiderfalten mit herausgekommen sein; doch dieser Zufall änderte sogleich ihren Entschluß.
„Theaterbrillanten!“ sagte sie leichthin, „nicht wahr, man ist weit gekommen in der Nachahmung echter Steine!“ Dann schob sie mit scheinbar vollkommener Ruhe den kostbaren Reif über ihr Armgelenk und beugte sich, damit ihr Frau Bünger den strahlenden Halsschmuck umlegen konnte.
Draußen schlug die Uhr, und eilig nahm sie den weiten Mantel um, der sie völlig verhüllte – noch ein paar freundliche Dankesworte an die Nachbarin, dann flog sie die Treppe hinab.
Bei Wolfersdorffs, welche sie abzuholen ging, erregte sie gleichfalls das höchste Erstaunen, das junge Ehepaar stand zuerst völlig wortlos der glänzenden Erscheinung gegenüber.
„Donnerwetter, Fräulein Kora, Sie sehen ja famos aus!“ sagte endlich der Gatte. „Ist denn irgend eine gütige Fee bei Ihnen eingekehrt? Und die Brillanten! Na, Simili, was?“ setzte er schon wieder im alten neckenden Tone hinzu, indem er mit vielen Umständen den Kneifer putzte und auf die Nase zwängte, um sie von Neuem von allen Seiten zu betrachten.
Melly, die bisher noch keine Silbe hervorgebracht hatte, schüttelte jetzt energisch den kleinen, lockenumflatterten Kopf.
„Hans Narr,“ schalt sie, „das und unecht!“ Dann küßte sie leise und vorsichtig die Freundin, um das eigenthümlich fremde Gefühl, welches sie plötzlich beschlichen, niederzudrücken. „Du siehst bildhübsch aus, Kora,“ gestand sie freimüthig, „ich glaube, Du machst uns heute Alle todt!“ Und ungesäumt trippelte sie zum hohen Spiegel, ihre reizende Erscheinung von Neuem mit kritischem Blick zu betrachten.
Indessen brachte Kordula ihr Märchen hervor mit einer bewundernswürdigen Geläufigkeit, nur daß hier Kleid und Diamanten in die Erbschaftsmasse geworfen wurden, und keiner ihrer Zuhörer kam auf den Gedanken, daß es sich nicht genau so verhalte, wie sie erzählt.
„Aber ich bitte Dich, Melly, so lange die Tante nicht selbst von dieser Erbschaft zu Dir spricht, davon zu schweigen. Die Ansprüche der Leute würden sich sofort steigern und – die Tante ist mit der Zeit ein wenig genau geworden. Dann noch Eins,“ fuhr sie langsamer fort, stockend, mit brennender Röthe auf den Wangen, „ich muß Dich auch noch bitten, nichts von meinem heutigen Kostüm zu erwähnen, da sie mich in meinem Mullkleid vermuthet. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich das Brautkleid nach ihrer Meinung derartig entweihte.“
Melly lachte hell auf. „Gottlob, so bist Du endlich einmal von Deinem Postament herabgestiegen, Du Tugendausbund! Mir bist Du durch diese Täuschung noch viel, viel lieber geworden, denn Du erdrücktest mich fast mit Deiner Schuldlosigkeit!“ Und stürmisch umfaßte sie die Freundin, sie mit sich im Zimmer herumdrehend.
Wolfersdorf indessen wandte noch immer kein Auge von dem so plötzlich verwandelten Mädchen ab, und diese rückhaltlose Anerkennung ihrer Person übte eine ganz gewaltige Wirkung auf Kordula aus. Die Sicherheit des Benehmens, welche sie für sich so heiß ersehnt, bei Anderen so tief beneidet hatte, ließ sie jetzt den Kopf stolz in den Nacken werfen; die Augen flimmerten aus den weit zurückgeschlagenen, dicht bewimperten Lidern triumphirend hervor und die Röthe tiefer Erregung verschönte sie in ganz unerwarteter Weise. Als sie nun die Maske vorband, fühlte sie sich wirklich als ein anderer Mensch, und das übermächtige Wonnegefühl ihres Inneren drängte jedes Bewußtsein einer Schuld in den tiefsten Winkel ihres Herzens zurück.
Die Huldigungen, welche Kordula an jenem Ballabende
erfuhr, hätten selbst einen sieggewohnteren Kopf als den ihren
berauschen können. Alle Kräfte ihrer Seele drängten sich jetzt,
da sie sich auf gleicher Stufe mit denen fühlen durfte, zu welchen
sie bisher in hoffnungslosem Sehnen aufgeblickt hatte, mit
Ungestüm hervor, aber auch die dunklen dämonischen Gewalten
blieben nicht zurück: schon an diesem Abend war sie entschlossen,
jedes Mittel zu ergreifen, welches den köstlichen Rausch noch länger
andauern lassen konnte. Jetzt, da sie vom Genuß gekostet, wollte
sie den Becher um keinen Preis mehr aus der Hand geben. Mit
diesem Entschluß, der jede andere Regung übertäubte, kehrte sie
von dem Balle nach Hause zurück.
Nächst Wolfersdorff geleiteten sie auch noch Herren, welche für die „Folie“ früher kaum ein Wort übrig gehabt hatten, sich jetzt aber in Artigkeiten überboten für die „Erbin“, wie man sie schleunigst umgetauft, da Wolfersdorff, der es ja wissen mußte, [364] mit geheimnißvollen Worten von einer Millionentante gesprochen, die Kordula nun beerbt hatte.
Der phantasievolle Erfinder dieser Details hielt sich bei dieser Wanderung mehr im Hintergrunde und rieb sich als stiller Beobachter nur schmunzelnd die Hände über das „Preisrennen“, das er durch seine Worte hervorgerufen hatte, unbesorgt um ernsthafte Folgen. Er hatte ja offene Augen, konnte also bei einem nicht zu besorgenden „Reinfall“ eines Kameraden zur rechten Zeit einschreiten. An eine größere Erbschaft der Kleinen glaubte er nicht, doch gönnte er ihr die kurze Blüthezeit von ganzem Herzen. Besonders machte ihm Stangen Spaß, den die plötzlich entdeckten fascinirenden Augen Kora’s, ihre strahlenden Brillanten und die vermeintlichen Geldsäcke völlig überwältigt hatten. Diesem eleganten Gesellschafter konnte es Kordula zumeist danken, daß sie so schnell der Mittelpunkt des Festes geworden war, hatte er sie doch als pikantes reizvolles Mädchen bezeichnet!
Jetzt, als sich die kleine Gesellschaft von Kordula vor deren Wohnung verabschiedete, behielt Stangen ihre Hand auch länger in der seinen, als gerade nöthig gewesen, und seine Augen suchten mit ganz besonderem Blick die ihren. Ein alter Kunstgriff, welcher aber bei dem unverwöhnten Mädchen seine Wirkung nicht verfehlte, denn ihre Finger bebten leicht zwischen den seinen, und dieses Zittern hielt noch an, als sie die finstere schmale Treppe emporstieg.
Leise öffnete sie die Stubenthür, doch kaum war sie eingetreten und hatte Licht angezündet, als die Stimme der Tante vom Nebenzimmer her ihren Namen rief. Kordula stand athemlos. Noch knisterte die Seide an ihrem Körper, noch lagen die Steine schwer um Hals und Arm – was sollte sie thun? Antwortete sie, so begehrte die Tante wie sonst, daß sie sich auf den Bettrand setze, um ihre Erlebnisse zu schildern. Mußte dann nicht der tastende Finger, jede von unvermeidlichem Rauschen begleitete Bewegung der Blinden ihre Handlung offenbaren? Während sie noch überlegte, was zu thun sei, hörte sie die Tante sich von ihrem Lager erheben, und bald stand die gebückte Gestalt unter der Thür, mit den erstorbenen Augen unruhvoll durchs Gemach spähend.
Kordula regte sich nicht, kaum hob der Athem ihre Brust, und nur die Blicke folgten angstvoll jeder Bewegung der Blinden, welche langsam durch das Zimmer herangeschritten kam und, nur durch einen Tisch von ihr getrennt, vorüber wandelte.
„Kordula?“ frug diese von Neuem, doch leiser, ungewisser; dann plötzlich erhob sich der Kopf mit bebenden Nasenflügeln. „Das ist doch Lavendel!“ murmelte sie, und plötzlich, indem sich ihr Gesicht eigenthümlich verzog, tastete sie sich in ungewohnter Hast dem Schrank in der Ecke des Zimmers zu. Nachdem sie ihn geöffnet, bückte sie sich, um bald darnach einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen „Da ist er ja,“ hörte Kora Tante Renate wieder leise vor sich hinsprechen – „Thorheit, Thorheit – aber wo mag der Schlüssel sein?“
Die Finger streiften suchend am Boden, immer unruhiger und hastiger, dann plötzlich schüttelte sie wie im Aerger über sich selbst den Kopf. „Er wird hinabgefallen sein – vielleicht unter den Schrank – was weiter!“ beruhigte sie sich, um dann endlich wieder nach dem Schlafzimmer zurückzugehen
Kordula schien zur Bildsäule erstarrt zu sein; nur die großen brennenden Augen ließen nicht von der gebrechlichen Frauengestalt, und tiefe Blässe und Röthe wechselten auf ihrem Antlitz. Reue war es nicht, was sie fühlte, nur die Furcht, der alten Frau Schmerz zu bereiten, und eine brennende Scham vor dem Ertapptwerden. Die kurzen Minuten wurden ihr furchtbar lang.
Noch als Frau von Velsen längst das Zimmer verlassen, stand das Mädchen bewegungslos, erst als tiefe Athemzüge den eingetretenen Schlummer verriethen, wagte Kordula sich von der Stelle zu rühren. Völlig unhörbar verließ sie von Neuem das Zimmer und begann sich in der Küche aus- und wieder anzukleiden; mit dem Domino über dem Arm kehrte sie dann geräuschvoller zurück.
Wie sie vermuthet, schreckte die alte Frau auch diesmal wieder empor, und sogleich beeilte sich Kordula, zu antworten, und nachdem sie scheinbar den Mantel abgelegt und die Lampe entzündet, in Wahrheit aber das Kleid und den Schmuck in die Truhe eingeschlossen, trat sie an das Lager der Tante.
Mit Genugthuung fühlte sie, wie der dürre Finger heimlich über ihr Kleid hinstrich; doch bald sprach der gerade Sinn der Alten aus, was sie „thörichterweise“ vermuthet, wie sie kopfschüttelnd eingestand.
„Ich weiß nicht, woher es mir plötzlich durch den Sinn schoß, daß Du mein Brautkleid anhabest, Kind, ich muß es wohl geträumt haben, eben so, daß ich deutlich die Thür gehen hörte. Mein Gott, riecht mir denn heute Alles nach Lavendel?“ unterbrach sie sich plötzlich, sich über des Mädchens Hand beugend.
Kordula strich zärtlich über die faltige Wange. „Wie mußt Du Dich aufgeregt haben, Tante, um solch’ hartnäckige Sinnestäuschungen zu erleiden! Aber sage mir,“ begann sie vorsichtig das Gespräch zu wenden, „Du hängst in wahrhaft rührender Liebe an diesem Kleide und doch warst Du nicht glücklich in Deiner Ehe? Ein seltsamer Widerspruch, den ich mir nicht zu erklären vermag!“
Frau von Velsen richtete sich halb auf ihrem Lager empor. „Du fragtest mich bisher nie nach meinen Schicksalen, Kind! Ich will Dir aber den Widerspruch verständlich zu machen suchen, vielleicht auch zugleich mein eigenes Wesen, das Dir gewiß manchmal schrullenhaft und ungerecht erschienen ist. – Ich war, wie Du weißt, das Kind eines Kavallerie-Officiers. Gerade, als ich in die Gesellschaft eintrat, ernannte man meinen Vater zum Regimentskommandeur der Gardedragoner. Die Eltern lebten auf großem Fuß; man sah uns überall, wir machten große Reisen, und der ganze Zuschnitt unseres Hauses war überhaupt ein derartiger, daß Jedermann uns für reich halten mußte. Es war nicht der Fall, doch thaten meine Eltern nichts, mir meinen Glauben zu nehmen, eben so wenig, die anderen Menschen aufzuklären. Ein Tag wie der andere schwand in Saus und Braus dahin, und ich ließ mich, vom Glück übermüthig gemacht, von der Woge tragen. Es stellten sich genug Bewerber um meine Hand ein, doch ganz besonders Einem schien mein Vater seine Gunst zu schenken, und daß ich mit dieser Vorliebe nicht unzufrieden war, kannst Du Dir denken, da Du die Bilder meines späteren Gatten kennst und ich noch hinzusetzen darf, daß er einer der elegantesten Reiter und Tänzer war und in den glänzendsten Vermögensverhältnissen sich zu befinden schien.
Als wir uns verlobten, schmunzelte mein Vater über die glänzende Partie seiner ältesten Tochter – und doch hatten sich beide gegenseitig betrogen. Kurz vor der Hochzeit, bei Eingabe des Konsenses kam es zur Aussprache, doch noch immer versuchte Einer dem Andern allerlei Vorspiegelungen zu machen. Erbschaften erschienen am Horizont, niedrige Spekulationspapiere und Aehnliches mehr, und – mir noch heute unerklärlich – sie glaubten einer dem Anderen.
Man nahm es damals nicht so streng mit Sicherstellung des Heirathsgutes, wie heut zu Tage, und so gründeten wir unseren Hausstand eigentlich auf Nichts.
Ich hatte von dem, was sich hinter den Koulissen abgespielt, keine Ahnung, ging ganz in der Liebe zu meimm Bräutigam auf und stand strahlend glücklich mit ihm vor dem Altar. – Wie der letzte Blick vor dem Scheiden auch der schönste zu sein scheint, also erging es mir in der Erinnerung mit diesem Tag. Alle Seligkeit meiner Jugend, das ganze Glück meiner Kinderjahre koncentrirte sich in meiner Erinnerung an ihn – begreifst Du jetzt vielleicht meine Liebe für das Gewand, das greifbare Andenken an jene Stunden reinen vollkommenen Glückes?“
Tief aufseufzend ließ sich die Greisin in die Kissen zurücksinken, und aus den todten Augen rollten schwere Tropfen langsam über die runzlige Wange.
„Und wie kam dann das Unheil, Tante?“ wagte endlich nach längerer Pause Kordula zu fragen.
„Schritt für Schritt, unerbittlich!“ sagte die Frau mit veränderter schneidender Stimme. „Schon am Tage nach unserer Hochzeit wurde mein Gatte unruhig und argwöhnisch, durch irgend ein Manöver meines Vaters aufgeschreckt, und seine Liebe begann rasch vor dem Mangel zurückzuweichen. Nicht der Blick auf die Zukunft stachelte ihn aber zu den rücksichtslosen Vorwürfen auf, die mich von nun an Tag und Nacht verfolgten, vielmehr das unerbittliche Muß, welches ihn zwang, endlich den falschen Schein abzuthun und unsere Dürftigkeit einzugestehen. Es war ein harter Kampf, mit meinem ganzen Glück hab’ ich den Sieg bezahlt – und seit jener Zeit hasse ich den Schein, wie sonst nichts in der Welt!“
[366] Schwer athmend lag die Sprecherin zwischen den Kissen und von dem Antlitz war jede Spur von Milde verschwunden, wahrend Kordula mit fest auf einander gepreßten Lippen der kurzen Erzählung nachsann.
„Und das Kästchen am Boden der Truhe – birgt es auch eine Erinnerung an jene Zeit?“
Tante Renate lachte kurz und schneidend auf. „Nein, Kind, wenn ich seinem Inhalt auch vielleicht mein ganzes Elend danke. Es enthält kostbare Diamanten, den fürstlichen Familienschmuck meiner Mutter, welcher meinem Vater für die Tausende Kredit verschaffte, die dann den Leuten Sand in die Augen streuten. Mir graut vor ihm!“
Tiefe Stille folgte dem letzten, fast wilden Aufschrei der gequälten Frau – und leise brach der erste Dämmerschein des kommenden Morgens durch den Vorhang, mit dem rothen Licht der Lampe zu kämpfen, die zu verlöschen drohte. Kein Laut war hörbar, als das leise Uhrticken von der Wand her.
[377]
Die Erzählung der Greisin hatte Kordula tief ergriffen, aber ihre Seele war noch zu voll von eigenen Empfindungen, um lange an dem Eindruck zu haften. Die Tante war doch einmal glücklich, dachte Kordula; sie hat doch einmal von den goldenen Früchten gekostet, zu denen ich bisher nur hungernd und dürstend aufschauen durfte!
Schon der nächste Tag brachte den Besuch Melly’s, die mit heimlichem Blinzeln der Freundin allerlei Schmeichelhaftes zuraunte, ohne der alten Dame irgend etwas zu verrathen. Als sie dann, beim Abschied von Kordula geleitet, schon an der Treppe stand, sprach sie noch einmal warme Worte zu Kordula’s Lob und konnte nicht oft genug wiederholen, wie diese im Fluge Aller Herzen gewonnen habe. „Und nun,“ fuhr sie fort, „wird doch Deine Raupenhaut, das ewige schwarzseidne Fähnchen, in die tiefste Rumpelkammer verbannt und Du erscheinst niemals wieder so dürftig und jämmerlich wie bisher. Wer so pompöse Brillanten vererbte, speiste Dich nicht mit ein paar Thalern ab. O, wie mich das freut!“ sprudelte sie weiter, „daß nun endlich das Glück bei Euch Einzug hält! Du hast wirklich riesige Eroberungen gemacht! Die allergrößte jedoch bei Doktor Kersten,“ flüsterte sie geheimnißvoll mit vielsagendem Lächeln, „ich ertappte ihn mehr als einmal dabei, wie er aus irgend einem verborgenen Winkel Dich nicht aus den Augen ließ, und ich habe ihm das auf den Kopf zu gesagt. Weißt Du, was er mir antwortete? ‚Allerdings, ein zu seltsamer plötzlicher Wechsel im Wesen der jungen Dame, um mich nicht zu interessiren!‘ – Die Männer kleiden ihre Bewunderung doch recht oft in ein eigenthümliches Mäntelchen, nicht wahr?“ Dann sprang sie windschnell die Treppe hinab, um unten angelangt noch ein paar Kußhände hinauf zu werfen.
Kordula lehnte schweigend und betroffen am Geländer. Noch hatte sie nicht an die Folgen ihres gestrigen Auftretens gedacht; erst Melly mußte sie daran erinnern, und tief bestürzt kehrte sie zur Arbeit zurück. Dennoch fand sie die Kraft, der Tante gegenüber ihr Inneres völlig zu verhüllen, sie konnte auch auf deren Unterhaltung eingehen, heute sogar besonders freundlich und liebevoll. Doch als sie zur Ruhe gingen, begann ihre Gedankenarbeit. Was thun? Alles Grübeln, alles Zurechtlegen der Verhältnisse kam immer wieder auf den einen Punkt zurück: sie mußte sich die Mittel verschaffen, ihren Vorspiegelungen gemäß auftreten zu können. Aber woher? Sie besaß wohl ein paar hundert Thaler, war auch mündig – aber die Tante gab diesen Nothpfennig nimmer freiwillig her. Und dennoch mußte sie eines der Werthpapiere zu erlangen suchen. Die Papiere lagen im Sekretär der Tante, nur wenn die Koupons abgeschnitten wurden, kamen sie in ihre Hand, und dieser Termin mußte benutzt werden!
Der Gedanke wurde in den kommenden Tagen weiter ausgesponnen und seine Verwirklichung fest beschlossen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, strebte sie nur dem einen Ziele nach, und als die günstige Stunde kam, legte sie mit kühler Besonnenheit ein leeres Blatt von gleichem Format und derselben Stärke zwischen die Scheine. Vor der Hand reichte die so gewonnene Summe, und keine Spur von Reue oder Vorwürfen stellte sich ein. Aber ihr Wesen veränderte sich seltsam, ein gewissermaßen lauerndes, gespanntes Spähen blitzte aus ihren Augen, ein Mißtrauen, das sie zwang, überall zu sein, Worte jeder halbwegs leise geführten Unterhaltung aufzusaugen, eine tiefe Unruhe, die ihrer ganzen Person ihren Stempel aufdrückte.
Das Geld floß ihr jedoch unerwartet schnell zwischen den Fingern davon. Gerade weil sie einen wirklich guten Geschmack entwickelte, fühlte sie, daß ihre Toilette von Grund auf erneuert werden mußte, sie fürchtete es fast, eine Lücke sehen zu lassen, und so kam es, daß die Summe ausgegeben war, ehe sie es gedacht. Doch der Rausch ihres Innern hatte sie derart überwältigt, daß sie nicht einen Augenblick zögerte, neue Papiere einzuwechseln – wen ging es am Ende an, wenn sie dereinst betteln gehen mußte?
Einmal allerdings erhielt das ganze Gebäude von Lug und Trug einen empfindlichen Stoß. Es war in einer kleinen Gesellschaft in dem stets offenen Hause Wolferdorff’s. Kordula konnte des Abends nicht froh werden, sie fühlte sich unablässig verfolgt von zwei Augen, die schon seit längerer Zeit immer auf ihr ruhten, wie Melly meinte in grenzenloser Verliebtheit, aber, wie Kordula heute nicht zum ersten Male fühlte in gespannter, unablässiger Beobachtung. Was hatte denn nur dieser Doktor Kersten, um sie mit solchem Inquisitorblick zu verfolgen? Was konnte er von ihr denken oder argwöhnen? Sie fing an, ihm eben so beflissen aus dem Wege zu gehen, wie sie früher seine lebhafte und angenehme Unterhaltung gesucht hatte.
Eben hatte sie sich in den nur durch eine rosige Ampel erhellten Erker zurückgezogen, umduftet von einer Fülle blühender Frühlingsblumen, als plötzlich der Doktor in der schmalen Thüröffnung sichtbar wurde. Kordula fuhr unwillkürlich auf, um den einsamen Platz zu verlassen, als ein in ganz besonderem Ton gesprochenes: „Sie fürchten sich vor mir, mein Fräulein, warum?“ sie an die Stelle bannte.
Es kostete Mühe, seinen Blick auszuhalten. „Was für einen Grund sollte ich haben, Sie zu fürchten, Herr Doktor?“ erwiederte sie so kühl wie möglich, aber ihr Herz schlug gewaltig. Und nun rollte er auch noch einen Fauteuil heran und ließ sich in ihrer nächsten Nähe nieder!
„Darum eben, weil ich keinen Grund weiß, mein Fräulein, beängstigt mich als Arzt, als Seelenarzt Ihr scheues Ausweichen. Ich habe Sie eigens hier aufgesucht, um ernsthaft und ungestört mit Ihnen darüber zu sprechen.“
Kordula lachte laut und schneidend auf „Suchen Sie vielleicht in mir die interessanten Anfänge irgend einer Wahnsinnsart? Am Ende haben Sie schon einen ausgebildeten Verfolgungswahn in mir entdeckt?“
Ein flüchtiges Lächeln, das sie im Innersten empörte, umspielte seinen Mund, aber der forschende Blick wich nicht einen Augenblick von ihr. „Sie ereifern sich, mein Fräulein, und abermals frage ich: warum?“
Kordula öffnete und schloß den Fächer in nervöser Bewegung, und ihre Blicke suchten umher, ob denn Niemand komme, dieses peinvolle tête à tête zu unterbrechen. Doch Alles blieb todtenstill; sie schien dem gefürchteten Inquisitor rettungslos verfallen.
Als sie ihm noch immer die Antwort schuldig blieb, beugte er sich noch näher zu ihr und blickte ihr mit fast beleidigender Schärfe ins Gesicht. „Spotten Sie nicht! Die Menschen wissen es nur zu oft nicht, wenn sie körperlich oder seelisch erkrankt sind. Wer hielte sich zum Beispiel für leidend, der Wünsche zu erfüllen strebt, die nur außerhalb seiner Verhältnisse Befriedigung finden könnten? Da schlagen Sie nun wieder die Augen nieder,“ unterbrach er sich in einem gezwungen scherzenden Ton, „rücken unruhig hin und her, alles Zeichen, daß Sie meiner Gegenwart gern entfliehen möchten. Fürchten Sie am Ende gar in mir einen Dieb oder Mörder – eine im Leben reicher Leute oft erscheinende Sorge?“
Kordula lachte gequält auf. „Ich wünschte, ich hätte mehr Grund, Räuber zu fürchten!“
Sie barg sich in den Lehnstuhl zurück und wandte den Kopf zur Seite, so daß ihr Profil sich von dem dunkeln Pflanzenhintergrund fein und scharf abhob. Doktor Kersten betrachtete die schlanke Gestalt und vergaß darüber für einige Sekunden fast den Zweck, der ihn hergeführt. Sie sah reizend aus in diesem Augenblick, das mattweiße Kleid bildete einen so eigenartigen Gegensatz zu dem dunkeln krausen Haar und den tief umschatteten Augen. Die Züge, welche in heller Beleuchtnug leicht etwas Scharfes bekamen, waren hier im Halbschatten so lieblich gedämpft; nur die rothen Lippen schimmerten aus dem blassen Gesicht heraus.
Der junge Arzt entriß sich aber sofort wieder diesem stummen Schauen, er wollte die angefangene Operation nicht aufgeben.
„Sie scheinen schnell den Werth des Goldes begriffen zu haben, Fräulein Adrian,“ sagte er hart. „In der That, eine gewaltige Macht. Wie sagt Shakespeare? ‚Durch zerlumpte Kleider sieht man das kleinste Laster; lange Pelzmäntel und Röcke verbergen Alles!‘ und weiter: ‚Beschlage die Sünde mit Gold und [378] die starke Lanze der Gerechtigkeit wird an ihr zersplittern, ohne sie zu verwunden!‘“
Kordula erhob sich; ihre Glieder bebten; doch suchte sie mit ungeheurer Ueberwindung ruhig zu scheinen.
„Auch die interessanteste Unterhaltung läßt mich meine Pflicht als Gast nicht vergessen, Herr Doktor; ich denke, wir kehren zur Gesellschaft zurück!“
„Warum schon jetzt?“ Und der Doktor blieb ruhig auf seinem Platze, welcher den Eingang ins Zimmer fast vollständig versperrte. „Ich glaubte bisher immer, Sie zögen sich aus Liebe zur Einsamkeit manchmal in dieses duftende Kämmerchen zurück!“
„Sagen wir lieber, ich bin zu sehr an die Einsamkeit gewöhnt, um sie ganz vermissen zu können. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie niemals aufzugeben. Freilich – hätte sie mich nicht gar so knapp gehalten, so unbarmherzig fasten lassen, wer weiß, ob ich heute mit solchem Genuß schlürfte, was die Welt mir bietet, ob ich nicht vielleicht übersättigt diese nichtigen Freuden belächeln würde, wie gewisse blasirte Herren,“ schloß sie mit leisem schelmischen Anflug.
„Jedenfalls ließ Ihnen die Einsamkeit ein eigenartiges Gepräge – ein nicht zu unterschätzender Vorzug in unserer alles abschleifenden Zeit,“ sagte Kersten langsam und nachdenklich. Mit diesen Worten hatte auch er sich erhoben und stand jetzt vor ihr, mit flammenden Augen auf sie niederblickend.
In Kordula’s Schläfen pochte es fieberhaft. „Der Blumemduft wird hier unerträglich!“ sagte sie; dann drängte sie sich fast ungestüm an ihm vorüber, dem Klange fröhlicher Menschenstimmen nach.
Seit jener Unterredung mit Kersten wollte ein geheimes Angstgefühl nicht mehr von ihr weichen; sie sah sich und ihr ganzes gewagtes Spiel von diesem Mann durchschaut – aber ihr Trotz war stärker als die Furcht, entlarvt zu werden, und mehr als je ergriff sie jede Gelegenheit, die Lust in vollen Zügen zu trinken.
Tante Renate war leicht zu täuschen; den Wechsel in der Straßentoilette wußte ihr Kordula durch neue Aufträge und bessere Preise des Kaufmannes, für den sie arbeitete, zu erklären. Die alte Dame schüttelte indessen so manches Mal sorgenvoll den Kopf über die leichtsinnige Nichte. Sie dachte dabei nicht an sich selbst, wie oft sie allein bleiben mußte, ach nein! Aber das bereitete ihr tiefe Sorge, daß das Mädchen Gefallen finden konnte an dem oberflächlichen Treiben, in dem sie auch noch fraglos die Letzte war. Denn sie konnte und wollte nicht den Worten Frau von Wolfersdorff’s glauben, die ihr immer wieder versicherte, daß ihre Nichte gefalle, unter den jungen Mädchen eine hervorragende Rolle spiele, von den Herren ausgezeichnet werde, von Einem sogar derartig, daß sie, Melly, bereits an eine Toilette für Kora’s Hochzeit denken dürfe. Es wäre das für die alte Frau eine Freude gewesen, die kaum noch in ihr umdüstertes Leben gepaßt hätte.
Stangen hatte übrigens wirklich sein Herz an Kora verloren. Das eigenartige Mädchen bezauberte ihn derart, daß er fest entschlossen war, um sie anzuhalten. Wolfersdorff, an den er sich mit dem „wie“ und „wo“ gewandt, entschloß sich wohl oder übel, mit Kordula vorher zu sprechen, und war nach dieser Unterredung wahrhaft beschämt, seiner Phantasie so freien Lauf gelassen zu haben, da das Mädchen, vor diese Entscheidung gestellt, ihre Erzählung von der Erbschaft wohl aufrecht erhalten, sie aber als eine ganz geringfügige hinstellen mußte. Er nahm vor den Kameraden freimüthig alle Schuld auf sich, und seine Klarlegung von Kordula’s Vermögensverhältnissen hatte zur Folge, daß Stangen, so verliebt er auch war, den Verhältnissen Rechnung trug und sich, wenn auch mit blutendem Herzen, zu einer anderen Schwadron seines Regimentes versetzen ließ.
Als der goldene Nimbus der Erbin zerfloß, mußte Kordula zu ihrem Schrecken bemerken, wie viel sie von ihren Triumphen diesem zuzuschreiben hatte. Zuerst nahm sie tief erbittert den Kampf mit der Nichtachtung der früheren Freunde auf. Noch war sie ja dieselbe, noch trug sie sich eben so elegant wie früher, doch vergeblich – man schien ihre so vielgepriesenen inneren wie äußeren Vorzüge nicht mehr zu sehen. Die frühere Bewunderung verwandelte sich in gleichgültige Höflichkeit, und bald schon war Kordula so weit, sich tief verletzt zurückzuziehen. Aber nun, sobald sie aus dem magnetischen Kreis herausgetreten war, kam der Rückschlag, so bitter und vernichtend, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Ihr starker Verstand begann die Genüsse der letzten Monate zu untersuchen und zu zergliedern, bei jeder einzelnen Erinnerung fragte sie sich, ob das, um was sie gelogen und getrogen, denn in der That einen Werth gehabt, und immer unerbittlicher lautete das Nein, das die innere Stimme zur Antwort gab. Es waren qualvolle Erkenntnisse, die ihr jetzt aufgingen: sie sah plötzlich ihre ganze jüngste Vergangenheit in neuem, unerträglichem Lichte. Aber dennoch – ihre Reue galt nicht so sehr dem, was sie gethan, sondern dem hohen Preis, den sie dafür hingegeben. Fast ihr ganzes kleines Kapital, den Nothpfennig für böse Tage, für Nichts verschleudert: das war’s, was ihr bittere Angst- und Reuethränen erpreßte, sie verwünschte tausendmal den frevelhaften Leichtsinn, der nicht allein sie, die Schuldige, sondern auch die hilflose Blinde jedem schlimmen Zufall preisgeben konnte!
Aber ihre kraftvolle Natur war nicht zur thatlosen Verzweiflung gemacht, sie suchte sofort nach möglicher Abhilfe. Arbeiten wollte sie, arbeiten bis zur letzten Anspannung, um das Vergeudete zurückzuschaffen. Vom frühesten Morgen bis tief in die Nacht saß sie über ihren Stickrahmen gebückt, nur die nöthigsten Besorgungen konnten sie veranlassen, die Arbeit aus der Hand zu legen oder gar auf die Straße zu gehen. Traf sie dann Einen oder den Andern aus der Gesellschaft, so sah er ihr wohl einen Moment mitleidig nach, indem er dachte, die unglückliche Liebe für Stangen wirke nicht gerade vortheilhaft auf ihr Aeußeres ein. Auch Melly theilte diese Ansicht, und da sie sich und ihren Gatten als schuldig in dieser Angelegenheit betrachtete, mied sie die alte Freundin. Das Gefühl war so unbequem, und sie wußte in der That nicht, wie sie sich Kora nach dieser Affaire gegenüber stellen sollte; denn eigentlich war diese doch alt genug, um zu wissen, daß sie in ihren Verhältnissen keinen armen Lieutenant heirathen könne.
Das unermüdliche Arbeiten wurde Kordula herzlich schwer, besonders da der Lohn nach wie vor so sehr dürftig ausfiel. Ihr heißblütiges Temperament wollte sie oft genug verleiten, die ganze Stickerei über den Haufen zu werfen, doch immer wieder strebte sie mit doppeltem Eifer vorwärts, um dann am Ende des Monats einzusehen, daß Jahrzehnte äußerster Entbehrung und angespanntesten Fleißes kaum genügen würden, das Verlorene zu ersetzen. Dennoch arbeitete sie fort, gönnte sich nicht die kleinste Erholung, und ihr Gesicht verlor wieder seine sanfte Rundung, das leise Wangenroth – sie fühlte, daß in dem Augenblick, in welchem sie ihr Ziel aus den Augen ließ, sie halt- und muthlos in sich zusammenstürzen würde, eine Beute härtester Anklagen und Vorwürfe!
So kam der Sommer ins Land. Schon begann sich Kordula an den neuen Zustand der Dinge zu gewöhnen, als plötzlich ein Schlag auf ihr Haupt niederschmetterte, der sie völlig zu Boden warf.
Eines Tages kehrte sie von einem kaum eine Viertelstunde währenden Ausgang zurück und fand Tante Renate leblos am Zimmerboden liegen. In größter Bestürzung rief sie Frau Bünger herbei, um mit deren Hilfe die alte Dame auf ihr Lager zu tragen, und während Kordula sich bemühte, diese ins Leben zurückzurufen, eilte die Aufwärterin, einen Arzt zu suchen.
Angstvoll lauschte sie auf sein Kommen. Endlich erschien er – es war Kersten. Sie zuckte bei seinem Anblick zusammen, aber die Sorge um die Tante drängte jetzt alle anderen Empfindungen zurück und mit schwer athmender Brust theilte sie ihm die Sachlage mit.
Ein blitzschneller prüfender Blick des jungen Mannes streifte sie und ihre dürftige Umgebung, dann trat er eiligst an das Lager, sich eingehend mit Frau von Velsen zu beschäftigen, die bald unter seinen Bemühungen zum Bewußtsein zurückkehrte, aber nur, um sogleich in heftige Klagen über ihr rechtes Bein auszubrechen. Nach Untersuchung desselben erkannte der Arzt, daß es einen Bruch erlitten habe bei einem Fall, den Frau von Velsen auf der blanken Diele gethan.
Kordula lehnte, nachdem sie dieses Resultat erfahren, fassungslos am Kopfende des Bettes. Angst und Entsetzen lähmten ihr völlig die Sinne. Dann aber raffte sie sich auf, um schweigend und ohne Zagen die nöthigen Handreichungen auszuführen. Sie schaffte Verbandzeug her, half dem Doktor beim Verbinden und streifte manchmal zärtlich die Wange der an Schmerz gewöhnten Frau, die, als Kersten endlich gehen konnte, wieder mit ruhiger Miene in ihren Kissen lag.
„Flicken Sie mich nur wieder zusammen, Herr Doktor,“ meinte sie zwischen Scherz und bitterem Ernst schwankend – „ich bin noch nicht abkömmlich!“
[379] Kora geleitete den Arzt auf Wunsch der Tante hinaus, und auf dem Flur suchte ihr Blick tief besorgt den seinen.
„Sie werden die Tante wiederherstellen nicht wahr?“ fragte sie mit bebender Stimme.
Er nickte.
„Ich denke, es ist kein schlimmer Bruch. Sorgsame Pflege, späterhin eben so kräftige wie leichte Kost, von Zeit zu Zeit ein Tropfen Wein sollen sie uns bald genug wieder in die Höhe bringen. Allerdings wird eine Nachkur in Wiesbaden unvermeidlich sein, gewöhnen Sie die alte Dame bei Zeiten an diesen Gedanken, Fräulein Adrian!“
Kordula starrte mit schmerzlichem Lächeln vor sich hin. Woher würde sie die Mittel nehmen, um das Alles schaffen zu können? fragte sie sich im Fluge. In diesem Augenblicke rief die Kranke nach ihr, und nach kurzem „Adieu“ flog sie in das Zimmer zurück.
Täglich kam der Doktor wieder, das Allgemeinbefinden Frau von Velsen’s hatte, ein paar Tage leichten Fiebers abgerechnet, nicht gelitten. Immer fand Kersten die kleine Behausung in tadelloser Ordnung, seine Anordnungen aufs Sorgsamste ausgeführt, Kordula selbst in der Nähe der Kranken, eifrig mit Handarbeit beschäftigt.
Nach und nach hielt er sich wohl ein paar Minuten länger als nöthig am Bett seiner Patientin auf, die ihm durch ihre bizarren Ansichten reges Interesse abgewann. Dagegen konnte er des Mißtrauens, welches er gegen die Jüngere gefaßt, durchaus nicht Herr werden. Korrekt in jedem Thun und Handeln, von einem gewissen selbstgefälligen geistigen Hochmuth beseelt, fühlte er immer eine gewisse innere Abneigung gegen die „abenteuerliche Person“, wie er gewohnt war, sie im Stillen zu nennen, und so kam es, daß sich die jungen Leute noch nach Wochen scheinbar auf derselben Stufe des Verkehrs befanden.
Als in dieser Zeit der Gipsverband abgenommen werden konnte, fand es sich, daß der gutartige Bruch des Gliedes zur Zufriedenheit verheilt und nur eine natürliche Schwäche zurückgeblieben war, die mit der Zeit schwinden mußte.
Frau von Velsen hatte bitter geklagt, als sie erfahren, daß Kordula, durch ungewöhnliche Ausgaben gezwungen, ein Werthpapier habe wechseln müssen, sich aber endlich doch hinein gefunden. Jetzt aber, als der Doktor von einem Aufenthalt in Wiesbaden sprach, weigerte sie sich energisch, seinem Wunsche nachzukommen.
„Ihr Aerzte seid alle unvernünftige Leute,“ polterte sie hervor. ,Ob es die offenkundigen Verhältnisse des Kranken erlauben oder nicht, Ihr fordert einfach das Blaue vom Himmel. Es geht nicht, sage ich Ihnen ein- für allemal; es wird mir schon schwer genug, für das Allernothwendigste jetzt die Hilfe Kordula’s annehmen zu müssen – aber auf ihre Kosten schlemmen, nimmermehr!“
„Aber, gnädige Frau,“ erwiederte Kersten, „hier fallen Sie selbst in eine starke Uebertreibung. Ausgaben, die im täglichen Leben Luxus scheinen, werden im Ausnahmsfall zur Nothwendigkeit, und bei den Vermögensverhältnissen Fräulein Adrian’s –“ Er hielt inne, durch ihr bitteres Lachen überrascht.
„Schöne Vermögensverhältnisse, hörst Du, Kordula? Er hält Dich für eine Erbin!“
„Ich wußte nicht anders, als daß Ihre Nichte wohlhabend sei.“
Nochmals stockte er, aber diesmal veranlaßt durch einen Blick auf Kordula’s leichenblaß gewordenes Gesicht und den angstvollen Ausdruck ihrer groß geöffneten Augen. Sie war der Verzweiflung nahe. Mußte nun dennoch die Entdeckung folgen? War ihre Reue und alles ehrliche Ringen doch umsonst gewesen? Alles um sich vergessend, drückte sie mit flehender Bitte den Finger auf ihre Lippen, und Kersten fragte nicht weiter. Während dessen hatte die alte Frau spöttisch erwiedert:
„Wenn Sie ein paar hundert Thaler ein Vermögen nennen, dann ist Kordula allerdings sehr wohlhabend.“
Die Blicke der beiden jungen Leute begegneten sich, dann beugte sich Kordula wieder tief über ihre Arbeit; doch eine dunkle Blutwelle zog langsam die Schläfe hinauf bis unter den dunklen Scheitel.
„Wie lieblich und mädchenhaft sie aussehen kann!“ dachte betroffen der Doktor. Dann begann er von Neuem. „Dennoch muß ich Sie bitten, sich mit dem Gedanken dieser Reise vertraut zu machen, die Kur ist durchaus nöthig für Sie, gnädige Frau!“
„Die Tante wird fahren, verlassen Sie sich darauf!“ antwortete statt ihrer Kordula. „Sie wird mir mit einer Weigerung nicht weh thun; sie weiß, wie glücklich es mich macht, einen winzigen Theil meiner großen Schuld an sie abtragen zu dürfen!“ Doch ihre Züge, gespannt und voller Sorge, widersprachen ihren Worten – sie wußte ja heute noch nicht, woher sie das Geld für die kostspielige Reise nehmen würde. Der Rest ihres kleinen Kapitals würde kaum für dieselbe reichen.
Als sie dann den Doktor durch das Nebenzimmer zur Thür geleitete, ließ er ein Weilchen schweigend seine Hand auf der Klinke ruhen, ohne sie niederzudrücken.
„Was bezweckten Sie vorhin mit dem Zeichen des Schweigens?“ fragte er plötzlich.
Kordula’s Kinn sank auf die Brust, dann warf sie kraftvoll den Kopf zurück.
„Ich wußte, daß Sie nie an die thörichte Millionenerbschaft geglaubt haben, dennoch zitterte ich, daß Sie Tante Renate davon sprechen könnten.“
„So war das Alles damals ein Märchen?“
„Das ich nicht ausgesprengt hatte, Herr Doktor!“
„Aber geduldet, daß man es sich in die Ohren flüsterte, so laut, daß Sie es hören mußten, Fräulein Adrian, und – dementiren!“
Der verächtliche Ton ließ ihre Augen zornig aufsprühen.
„Sie haben kein Recht sich zum Richter aufzuwerfen,“ sagte sie mit zuckenden Lippen. „Gehören Sie doch in die Klasse der Unversuchten, die nicht ahnen können oder – wollen, in welche Lagen das Leben Andere bringen kann! Wer nicht selbst eine Situation durchgemacht, hat kein Urtheil, was Andere darin thun oder nicht thun, hören Sie? gar kein Urtheil!“
Halb Aerger, halb Bewunderung sprach aus seinen Augen, mit denen er sie langsam vom Scheitel bis zur Sohle musterte. „Würden Sie mir noch eine Frage beantworten, mein Fräulein, nicht zum Zweck, ein Urtheil zu fällen,“ setzte er ironisch hinzu. „nur um mir zu beweisen, daß ich damals meine Diagnose richtig gestellt habe?“
„Sie können fragen, was Ihnen beliebt.“
„Sie haben überhaupt keine Erbschaft gemacht, sondern sich die Mittel zur Befriedigung Ihrer Eitelkeit aus – verzeihen Sie den vielleicht krassen Ausdruck – auf unrechtmäßige Weise verschafft?“
Sie starrte den Sprecher wie sinnlos an.
„Wer – wer sagt das?“
„Der Seelenarzt! Ich versuchte schon vor Monaten, Sie zu warnen – in der Form des Scherzes, doch Sie wollten nicht verstehen – schon damals sah ich deutlich hinter Ihrer krampfhaften Heiterkeit das geängstigte schuldbeladene Gewissen.“
Kordula wankte, doch keine Muskel ihres Gesichtes regte sich mehr.
„Ein bewundernswürdiger Scharfblick!“ spottete sie mit eisiger Kälte in der Stimme.
„Und – ist das Alles, was Sie mir antworten?“ fragte er, als sie verstummte.
Sie rang in unbeschreiblicher Aufregung nach äußerer Ruhe, aber es gelang nicht, der Sturm war zu heftig. Mit der Hand ihr Gesicht halb verhüllend, glitt sie abgewandt in einen Sessel und flüsterte. „Ja, ich trage eine Schuld, eine große Schuld sogar, aber sie ist völlig anders, als Sie wohl denken.“
Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an ihr Spiel mit Stangen. „Und Sie mußten schwer büßen?“ fragte er leise und mitleidig.
„Ja – furchtbar schwer!“ kam es eben so leise von ihren Lippen, und ein verhaltenes Schluchzen erschütterte ihre ganze Gestalt.
In seltsamer Unruhe stand er vor ihr. Er wollte sprechen, trösten, doch es fehlten ihm die Worte; er hatte das Gefühl, daß hier kein Fremder eingreifen könne. Seinen Hut nehmend, empfahl er sich stumm mit einer fast linkischen Verneigung.
Die Forderungen des Arztes waren von nun an allein maßgebend für Kordula’s ferneres Handeln. Sie mußte das Geld für die Badereise schaffen um jeden Preis. Sie nahm jetzt auch noch die Nacht zu Hilfe, um ihren Erwerb zu vergrößern. Mit fieberhaft brennendem Kopf und schmerzenden Augen nähte sie Stich für Stich, nur wenige Stunden für den allernöthigsten Schlaf sich gönnend. Der junge Körper war zähe, er ertrug auch diese Lebensweise, nicht aber der Geist, der immer denken und grübeln konnte, den nichts abzog von seinen peinigenden Vorwürfen. Mit jedem Tage blickte sie apathischer drein, um
[382] doch wieder bei einer unerwarteten Frage des Doktors zitternd aufzuschrecken, trotzdem dieser nie auch nur mit einer Silbe oder Andeutung an jene Unterredung erinnerte.
Kersten, trotz scheinbarer Gleichgültigkeit, hatte ein wachsames Auge auf das Mädchen und konnte sich einer wachsenden Besorgniß auf die Dauer nicht erwehren.
Frau von Velsen ahnte augenscheinlich nichts von dem Seelenzustand ihrer Nichte, die sich immer noch so weit beherrschen konnte, um ihre Fragen zu beantworten. An diese konnte er sich also nicht wenden, und so sann er lange hin und her, bis er endlich den Entschluß faßte, Kordula zu einer Aussprache unter vier Augen zu gewinnen. Er wußte, daß Frau von Velsen täglich ihr Mittagsschläfchen hielt, und so stieg er denn entschlossen eines Tages um diese Zeit die Treppe zu deren Wohnung empor. Als auf sein Klopfen kein „Herein“ erfolgte, klinkte er unbesorgt auf in der festen Zuversicht, Kordula in irgend ein Buch vertieft vorzufinden. Diese jedoch saß mit der Arbeit am Fenster, und in dem helleren Raum konnte er mit Schrecken bemerken, wie hier schleunige Hilfe Noth that.
Lautlos schritt er zu der überrascht empor Blickenden hin, sie sanft auf ihren Platz niederdrückend.
„Ich weiß, daß Ihre Frau Tante schläft,“ begann er hastig, „gerade darum komme ich her. Ich muß mit Ihnen sprechen, wie Ihnen zu helfen ist, denn so wie bisher darf es nicht mehr fortgehen.“
Einen Augenblick schlossen sich ihre Augen; dann athmete sie tief auf. „Mir ist nicht zu helfen!“ sagte sie einfach.
„Haben Sie ihn denn so sehr geliebt? Verdient er denn eine so tiefe Neigung?“ fragte er kurz entschlossen mit vor Aufregung leicht verschleierter Stimme.
Sie ließ die Hände einen Augenblick ruhen und sah ihn erstaunt an.
„Sie sind im Irrthum, Herr Doktor – ich habe noch nie einen Mann geliebt, weder glücklich noch unglücklich. Einen derartigen Luxus dürfen sich die Mädchen in meinen Verhältnissen nicht gestatten!“
Er überhörte fast den schneidenden Ton tiefer Bitterkeit über dem unerwarteten Aufschluß, den er erhalten, und der ihm ein seltsam angenehmes Gefühl erregte. Aber wie sollte er nun weiter fortfahren, ihren Kummer zu ergründen? Rathlos fragend blickte er ihr in die leidenden Züge.
„Fräulein Kora!“ begann er plötzlich in entschiedenem Ton, „wollen Sie mir nicht einmal ehrlich Ihr Inneres öffnen? Sie gehen bei dieser Verschlossenheit zu Grunde, und das kann – das will ich nicht mehr länger mit ansehen!“
Das Mädchen schüttelte finster den Kopf. „Ich könnte Ihnen nur Dinge enthüllen, welche Sie, einen ‚Gerechten‘, empören müßten, auch will und kann ich keinen Tadel darüber anhören. Ich habe mich selbst als schuldig erkannt, es ist nicht nothwendig, daß noch Andere mich verurtheilen. Zudem kann mich Keiner schlimmer richten, als ich das selbst schon thue!“
Er preßte die Lippen fest auf einander. „Dieser ‚Gerechte‘,“ sagte er endlich, „paßt vollkommen zu dem ‚Unversuchten‘ von neulich. Ich habe über das Wort nachgedacht, Fräulein Kora, und gestehe Ihnen ein, daß Sie berechtigt waren, es auszusprechen.“
Ihre düstere Miene veränderte sich nicht.
„Wohl Ihnen,“ sagte sie nur, „daß Sie jener Klasse angehören! Wünschen Sie auch nicht, mich milder beurtheilen zu können, denn dann müßten Sie ja die Macht eines verhängnißvollen Schicksalstages an sich erfahren haben.“
„Und doch lasse ich nicht ab, zu bitten, sich mir anzuvertrauen; ich will kein Richter, nur ein Helfer sein!“
„‚Wer keine Himmelsthür zu öffnen hat, lasse das Höllenthor lieber zu,‘ sagt irgend ein weiser Mann,“ murmelte das Mädchen mit unveränderter Festigkeit.
„Fräulein Kora!“ und in tiefer Bewegung nahm er ihre Hand in die seine. „Fräulein Kora, und dennoch sollen Sie mir Ihr schwerbelastetes Herz darlegen, denn Sie finden volles Verständniß bei mir. Wer so im Schatten wachsen und erblühen mußte, wie Sie, kann nicht süße Früchte bringen, diese Erkenntniß ist in mir gewachsen, seit den Wochen, in welchen ich Sie beobachte. Ich habe viel über Sie nachgedacht und gestehe Ihnen, daß es mich fast wie Scham überkam, wenn ich des sicheren Weges dachte, den ich, ein Mann, gehen durfte, im Vergleich mit Ihrem Los! Sorge, Entbehrung, nirgend ein Wesen, welches das junge heißschlagende Herz verstand, was Wunder, wenn es auf Abwege gerieth!“
Was nicht Härte und Ironie, nicht Gewalt gekonnt, that setzt die weiche, eindringliche Stimme neben ihr – heftig aufschluchzend barg sie plötzlich den Kopf in den Händen. Er ließ sie gewähren, nur, wie beruhigend, strich er leise über den dunkeln Scheitel, bis endlich das krampfhafte Weinen nachließ.
Nachdem sie die Augen getrocknet hatte, drückte sie ihm traurig die Hand. „Ich danke Ihnen. Das waren Worte echten Mitgefühles, welches ich in meinem Leben nicht oft erfuhr.“ Dann begann sie, nachdem sie vorsichtig an der geschlossenen Thür zum Schlafzimmer gelauscht, ihre Schilderung. Sie holte weit aus, von jenem ersten Ballabend an, und je länger sie sprach mit der resignirten müden Stimme, um so ernster wurde seine Miene. Endlich legte er die Hand über die Augen, nicht, daß er sich ihres feuchten Schimmers schämte, aber er wollte die Erzählerin nicht stören oder verwirren, und erst als diese mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung endete, ließ er sie langsam sinken.
„Wissen Sie auch, daß ich mit meiner Aeußerung damals schuld war an Ihrer Verirrung?“ fragte er. „Darum muß ich auch von nun an die Last auf mich nehmen und Sie können es getrost leiden, denn meine Schultern sind breiter als die Ihren,“ versuchte er zu scherzen. „Vor Allem werden Sie die noch fehlende Summe zum Reisegeld von mir annehmen!“
In Kordula’s Antlitz flammte es blutroth auf. „Nur das nicht,“ bat sie tief erschrocken, „demüthigen Sie mich nicht gar so tief, Herr Doktor!“
„Nicht doch, Sie bleiben meine Schuldnerin,“ wehrte er herzlich, „aber davon, daß Sie Ihre Gesundheit noch ferner zu Grunde richten, kann von dieser Stunde an nicht mehr die Rede sein. Habe ich doch als Ihr vertrauter Freund von nun an die Pflicht, über Sie zu wachen.“
Verwirrt schaute sie zu ihm auf. Wie ihr Herz in mächtigen Schlägen klopfte, in dem wonnigen Gefühle, Gegenstand so freundlicher Sorge zu sein! Widerspruchslos ließ sie es geschehen, daß er ihr die Stickerei aus der Hand nahm.
„Bevor Sie nicht wieder ganz frisch sind, dürfen Sie nicht in dieser Weise fortarbeiten; wollen Sie mir das versprechen, Kordula?“ Und als sie scheu nickend die kühlen Finger in seine ausgestreckte Rechte legte, fügte er im tiefsten Ernst hinzu. „Ich glaube Ihnen!“
Eine tiefinnerliche Ruhe war für Kordula die Folge jener Nachmittagsunterredung. Wie eine mildglänzende und wärmende Sonne ging es über ihrem freundlichen Dasein auf, sie fühlte, daß die furchtbar harte Bußezeit zu Ende gehe, und ihr glückentwöhntes Herz fing an, sich den milden Strahlen zu öffnen. Das wortkarge verschlossene Mädchen klagte dem Doktor jedes kleine Bekümmerniß, berichtete auch über das scheinbar unwichtigste Ereigniß, wenn er mit wichtiger Miene zu fragen begann. Ein leiser Frohsinn überkam sie jetzt manchesmal, und die Blässe ihrer Wangen machte wieder einer wärmeren Färbung Platz – wohlbemerkt vom Doktor, der seine Krankenbesuche nicht einstellte, ungeachtet seine Patientin durchaus nicht mehr seiner bedurfte.
Die saß schon wieder mit ihrer Strickerei im Lehnsessel und horchte unbeobachtet mit einem hin und wieder aufhuschenden sonnigen Lächeln auf das Geplauder der jungen Leute, und manchmal falteten sich die dürren Hände zum heißen wortlosen Gebet. Vielleicht schenkte ihr der Allmächtige doch noch ein leuchtendes Abendroth, ehe die lange Nacht anbrach.
Endlich hatten sich ihre Kräfte derartig gehoben, daß sie die Reise antreten konnte.
Kora beendete die geringen Reisevorbereitungen und zwar mit leichterem Herzen, als sie zu hoffen gewagt; denn noch brauchte sie nicht die Güte des Doktors in Anspruch zu nehmen, noch schien das kleine Kapital ausreichen zu wollen. Freilich, wenn sie zurückkehrte, stand sie völlig mittellos da. Doch das Gottvertrauen, über das sie früher gelächelt hatte, ließ sie jetzt muthvoll die schwere Last auf sich nehmen, das knospende Glückgefühl in ihr hatte sie vertrauensvoll gemacht.
Als die Stunde der Abreise schlug, kam Kersten selbst, um die Damen zur Bahn zu bringen. Sorgsam zog er den Arm der Blinden unter den seinen, vorsichtig hob er sie aus [383] dem Wagen, nachdem er für Billette und Gepäck gesorgt, und geleitete sie weiter über den Perron bis zum Koupé, wo er sie bequem in die Kissen lehnte. Dann wandte er sich an Kordula, um erschrocken ein blasses Gesicht mit ängstlich großen Augen zu bemerken.
„Was ist Ihnen?“ fragte er rasch und besorgt, „Sie fühlen sich krank, Fräulein Kordula, gestehen Sie es nur ein!“
„Nicht doch, Doktor, aber Sie haben Billette zweiter Klasse genommen!“ klagte diese kleinlaut; „das ist eine große Vertheuerung unserer Reise.“
Er verfärbte sich leicht. Wirklich, an den Preis hatte er nicht gedacht, nur an die Bequemlichkeit der Damen. Wie schwer es sein mußte, immer nur nach dem leidigen Kostenpunkt zu fragen! Und in komischer Verlegenheit blickte er ihr abbittend in die Augen.
Beide standen sich schweigend gegenüber, und wie ein zauberhafter Bann legte es sich plötzlich über ihre Gedanken. Ein unfaßbares Etwas hob ihre Brust, bis plötzlich eine tiefe Blässe, ein Zittern über Kordula kam, die sich, schwer athmend, rasch zur Seite wandte und, da der grelle Ton der Glocke zum Einsteigen mahnte, eilig in den Wagen schlüpfte. Sie warf dort hastig ihre Gepäckstücke durch einander, welche Kersten so sorgsam aufgestapelt hatte. Sie wollte es um jeden Preis vermeiden, noch einmal den Blicken des Doktors zu begegnen, so viel Mühe er sich auch darum gab. Erst als sich der Zug in Bewegung setzte, drückte sich ihr Antlitz gegen die Scheiben, und er konnte bemerken, daß die großen grauen Augen voll Thränen standen.
So lange noch eine Spur der Wagenreihe zu sehen war, blickte der Doktor ihr nach; dann starrte er noch ein Weilchen in die Weite, bis ihm ein Bekannter auf die Schulter klopfte und er mit diesem den Heimweg antrat. In so schlechter Laune wie die nächstfolgenden Tage hatten ihn bisher weder Bekannte noch Patienten gesehen. Nichts war ihm recht – zu Hause langweilte er sich in seinen Freistunden; im Restaurant störte ihn der vermeintliche Skandal; er vermißte überall irgend etwas; es fehlte ihm an allen Ecken und Enden – bis er sich endlich nach acht Tagen klar über seinen Zustand wurde, was zur Folge hatte, daß er sich noch an demselben Abend einen Stellvertreter suchte und – nach Wiesbaden fuhr.
Kaum daß er sich am Morgen nach der Ankunft Zeit ließ, den Reisestaub abzuschütteln, dann eilte er schon die Straßen entlang bis zu einem halbversteckten Häuschen in einer bescheidenen Nebengasse, welches die Nummer trug, die er in der Kurliste aufgefunden neben: „Frau von Velsen und Fräulein Kordula Adrian aus M.“
Aus dem Flur, in welchen er getreten, konnte er gerade in einen kleinen Garten hinausblicken, in dem die Gesuchten bei einander saßen. Ein helles Roth stieg in sein ehrliches Antlitz; befangen wie noch nie drehte er am kleinen blonden Schnurrbart; dann endlich trat er entschlossen näher.
Der kräftige Schritt ließ Tante wie Nichte den Kopf emporrichten, und die letztere erhob sich mit halb ersticktem Aufschrei vom Sessel.
„Wer ist da, Kind?“ fragte die Blinde mit gespannten Zügen. Doch sie erhielt keine Antwort; denn noch starrte Kordula fassungslos, ohne Worte dem Doktor entgegen.
„Haben Sie denn gar kein ‚Willkommen‘ für mich, Kordula?“ schalt dieser, während ihm doch die helle Freude über die tiefe Ergriffenheit des Mädchens aus den Augen blitzte.
„Welche Ueberraschung!“ stammelte sie befangen, indem sie ihm mit gesenkten Augen und zitternden Knieen entgegenging.
In Kersten’s Antlitz leuchtete es immer siegesgewisser, und ohne sich viel zu bedenken, schlang er den Arm um ihre Schultern. „Wenn ich Dir nur halb so gefehlt habe, wie Du mir, Kordula, so bin ich zufrieden!“ raunte er leise, ihren Kopf zurückbiegend, um in die hartnäckig niedergeschlagenen Augen blicken zu können.
„Mit wem sprichst Du, Kora?“ forschte indessen wieder Frau von Velsen, die ihr Antlitz horchend dem Paare zuwandte.
„Mit einem, der gern Ihr Neffe werden möchte, gnädige Frau!“ antwortete im hellen Uebermuthe des Glückes statt des Mädchens Kersten. „Das heißt, wenn Kora damit einverstanden ist!“ setzte er leiser in tiefzärtlichem Ton hinzu, die Willenlose fest an seine Brust pressend. Und – sie mußte es wohl sein; denn schon nach wenigen Augenblicken fanden seine Lippen die ihren und ihre Arme schlossen sich fest um seinen Nacken.
„Ja, sie will, Tante Renate,“ klang es nach kurzem seligen Schweigen jubelnd zur Blinden hinüber, auf deren lächelndem Antlitz ein goldener Sonnenstrahl zitterte, während die Hände sich in wortlosem Gebet gefaltet hatten.