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Die „Rote Tinktur“

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Die „Rote Tinktur“
Untertitel:
aus: Deutscher Hausschatz, Illustrierte Familienzeitschrift, 42. Jahrgang Oktober 1915 – Oktober 1916, S. 787–788
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Friedrich Pustet
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Erscheinungsort: Regensburg, Rom, New York, Cincinnati
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Die „Rote Tinktur“.
Von W. Kabel.

Neben der Gewinnung des „Steines der Weisen“, durch dessen Berührung mit unedlen Metallen man diese in Gold verwandeln zu können hoffte, beschäftigte die Alchimisten des 15. und 16. Jahrhunderts besonders das Problem der sogenannten „Roten Tinktur“. Hierunter verstanden die Adepten eine besondere Art von goldhaltiger Flüssigkeit, in der man das Gold gleichsam in seinen Urzustand zurückgeführt und in seine Keime zerlegt zu haben glaubte, in Keime, die wie Samen Wurzel treiben und wachsen können. Es kam eben nur darauf an, die richtige Mischung zu finden, dann vermochte man aus einer kleinen Menge der „Roten Tinktur“ eine bedeutende Masse des vielbegehrten Edelmetalls zu gewinnen – so dachten wenigstens die Alchimisten.

Unzählige und zum Teil recht gelehrte Leute haben Jahre ihres Lebens geopfert, um das Mischungsgeheimnis dieser glückverheißenden Lösung zu entdecken, viele glaubten es gefunden zu haben und mußten doch bald wieder einsehen, daß sie Opfer einer Täuschung geworden waren. Zur Ehre der Alchimisten muß man jedoch betonen, daß die „Rote Tinktur“ keineswegs als ein bloßes Hirngespinst angesprochen werden kann, sondern daß sie nach den neuesten chemischen Forschungen sogar einen höchst interessanten Stoff darstellt – ganz im Gegensatz zu dem vielgenannten „Stein der Weisen“, der nichts als ein Phantasiegebilde überhitzter Adeptenköpfe war.

Von Rezepten zur Bereitung der golderzeugenden Lösung sind eine ganze Menge erhalten geblieben. Besonders der Alchimist Korndorffer hat in seinem Traktat „Nun folgt ein Stuck, daß das Golt ad tinkturam gebracht wirdt“ mehrfache Vorschriften hierzu gegeben. Jedenfalls war die „Rote Tinktur“, wie Professor König nachgewiesen hat, nichts anderes als eine Goldlösung von leimartiger Beschaffenheit. Man nahm zu ihrer Herstellung gewöhnlich das äußerst dünne Blattgold der Goldschläger und rieb es stundenlang mit Salz, Salmiak, Spiritus, Fett und auch Pottasche zusammen. Dadurch und noch leichter durch Hinzufügen von pulverisiertem oder gelöstem Eisenvitriol erhielt man eine rote Goldflüssigkeit, die sich unter dem Mikroskop als eine überaus feinkörnige Goldverteilung erweist. Der Chemiker Professor Zsigmondy berechnet die Goldstäubchen, welche die Purpurfarbe der Lösung bedingen, mit 1 bis 80 Millimikron im Durchmesser, wobei ein Millimikron einem Millionstel Millimeter gleich ist, während die feinsten Goldblättchen, die bekanntlich das Licht mit grüner Farbe durchscheinen lassen, eine Dicke von etwa ein Tausendstel Millimeter aufweisen.

Die Alchimisten verstanden es nun sehr gut, aus einer solchen Lösung von metallischem Golde dieses durch Abdampfen des Lösungsmittels in Form einer braunen festen Masse zurückzuerhalten, die in scharfer Glut zum metallischen Goldbarren zusammenschmolz. War Kupfervitriol oder Galmei (ein zinkhaltiges [788] Erz) oder ein häufig vorgeschriebener eigenartiger Sand, wahrscheinlich das im Flußsand bisweilen vorkommende Zinnoxyd, zur Bereitung der Tinktur mit herangezogen worden, so mußte durch das am Ende des Prozesses vorgenommene Glühen der ganzen Masse auch eine kleine Menge Kupfer, Zink, Zinn u. dgl. ausgeschmolzen werden, die ja die stets beigemengten Substanzen wie Öle verkohlten und die Metalloxyde teilweise zu Metallen sich verwandelten. Diese geringfügigen Gewichte unedler Metalle verschmolzen mit dem Golde, und es entstand wegen des überwiegenden Goldes stets eine gelbe Goldlegierung, die somit etwas schwerer war als das anfangs verwendete Blattgold. So mußte der Gewichtszuwachs in dem achtsamen Alchimisten den Wahn von der Wandlung unedler Substanzen in Gold zeitigen. Denn hatte er einmal auch nur wenig Gold mehr erhalten, als er anfangs nahm, so war ja für ihn kein Grund einzusehen, warum gerade nur wenig unedles Metall sich in Gold umgestalten ließe. Seine begehrliche Phantasie log ihm nun vor, daß durch ein einfaches Gewicht Gold das tausend- und millionenfache Gewicht eines anderen Metalles veredelt werden könnte.

Diese Hoffnung war nun gar nicht so absurd, wie Professor Zsigmondy in neuester Zeit nachgewiesen hat. Die feinsten Goldkörnchen, wie sie sich in der „Roten Tinktur“ vorfinden, vermögen nämlich tatsächlich wie Kristallkeime zu wachsen, wenn man sie in ein besonderes goldhaltiges Gemisch tut. Allerdings gedeihen die Goldkeime nur in einem goldhaltigen Mittel, nicht, wie die Alchimisten glaubten, in einem goldfreien! Und hierin lag der schwere Fehler in den Kalkulationen der Adepten.

„Demnach,“‘ sagt Professor König, „bildet die rote Tinktur ein Problem, das man nicht kurzweg verlachen darf. Ehrliche Forscher waren es zumeist, die vor den Wandlungen des Goldes in gründurchscheinendes Blatt und Pulver, in rotes Öl, in braunen Stein, der sich wieder zur roten Tinktur auflöste und in grimmiger Glut wieder zu gutem Golde schmolz, staunend standen, Gründe ergrübelnd, die allerdings dem Reiche der Phantasie entstammten.“

Freilich ist diese rote Lösung auch häufig von Schwindlern mißbraucht worden, die goldgierige Fürsten, so z.B. Ludwig XIV. von Frankreich und den Kurfürsten August den Starken von Sachsen, durch ihre ersten Experimente in kleinem Maßstabe, die sie unter strengster Aufsicht ausführten und bei denen dann ja anscheinend wirklich mehr Gold aus der Retorte herauskam, als für das Anrühren der Tinktur verwendet worden war, völlig blendeten und zur Hergabe immer größerer Summen zu bewegen wußten, bis ihren Opfern dann eines Tages die Augen aufgingen und die leichte Einnahmequelle versiegte. Ebenfalls als Heilmittel wurde die „Rote Tinktur“ unter dem Namen „aurum potabile – Trinkgold“ – von Betrügern angewendet und besonders als lebenverlängerndes Elixier angepriesen.