Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern/Nr. 3. Das Münster zu Ulm
Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern.
Es war im wunderschönen Monat Mai, als mich der Schnellzug von Stuttgart nach Ulm trug. Nach dreistündiger Fahrt brauste die Wagenreihe unter den riesigen Schutzherren des letzteren, den Bastionen, hindurch, dann ein freier Blick: im Vordergründe eine freundlich gelegene Caserne, aus rothen Backsteinen ausgeführt, darüber hinweg Dächer, Thürme und Thürmchen, Alles aber hoch überragend, wie eine kolossale Steinblume – das Münster. Welch ein Bau! Aus der imposanten, gedrungenen Steinmasse glänzt hie und da ein schmales Luftlicht, welches sich durch die schlanken Schallfenster des Glockenhauses stiehlt und die imposante Silhouette unterbricht. Gleich einem Riesentorso steigt dieses unvollendete Prachtwerk mittelalterlicher Baukunst zum Himmel empor. Die Ausdehnung dieses größten Domes der protestantischen Christenheit wetteifert mit den kolossalen Dimensionen des Kölner Münsters, und bis zum völligen Ausbau dieser Kirche war das Münster in Ulm thatsächlich die größte Deutschlands.
Die Ulmer scheuten sich nicht vor dem kühnen Unternehmen, mit ihrem Münster ein „Futteral für den Straßburger Dom“ zu bauen, und ließen es an Beiträgen dazu nicht fehlen. Rührend ist die Opferfreudigkeit, mit der Hoch und Niedrig die Gaben zum Bau des Münsters herbeibrachten. Der ansehnliche Theil der aus jener Zeit noch heute erhaltenen Münsterrechnungen belehrt uns über die verschiedenen Arten der Beiträge. Beim Acte der Grundsteinlegung ging der Bürgermeister Kraft mit einhundert Goldgulden, die er auf den Stein legte, voran, Andere folgten ihm mit Geldbeiträgen, dann kamen Schenkungen an Kleidungsstücken,
[533][534] Möbeln, Karten mit Würfeln, Brettspiele („Schachzagel“), ja selbst „von den gefangenen cliten im elend“ (Criminalverbrechern) gingen vier Schilling, gelöst „um einen Kappenzipfel und einen Filzhut“, ein.
Ein frisch-patriotischer, frommer Sinn trug vor Allem dazu bei, diesen großartigen Bau zu ermöglichen. Im Gegensatze zu dem Straßburger und zu anderen Münstern sollte der Dom aus eigenen Mitteln der Ulmer aufgeführt werden. Der Reichthum der Ulmer war in jener Zeit sprichwörtlich geworden:
„Venediger Macht,
Augsburger Pracht,
Straßburger Geschütz,
Nürnberger Witz
Und Ulmer Geld.
Regiert die Welt.“
Allein die Blüthezeit der damals dicht bevölkerten freien Reichsstadt ging vorüber, die Beiträge blieben nach und nach ganz aus, und heute noch ragen die herrlichen Formen des Münsters, verunziert mit einem Nothdache, als ein unvollendeter Bau zum Himmel empor.
Jenes bunte, schillernde, lebendige Treiben der Reichsstadt, wie es Hauff in seinem unvergänglichen Werke, dem „Lichtenstein“, schildert, ist längst erstorben. Die Stadt mit ihren ernst blickenden, hochgiebeligen Patricierhäusern, hinter deren gewaltigen Mauern die leichtfertigen Bauten unserer modernen Miethscasernen sich verstecken können, das altertümliche Rathhaus, die großen und kleinen Kunstbrunnen, die riesigen Wachtthürme mit den breiten Thoren: Alles zeugt von dem ehemaligen Wohlstand der freien Reichsstadt. Aber es ist nur eine sichtbare Tradition; wie Licht vom Schatten unterscheidet sich jenes willensstarke, stolze Ulm vom heutigen.
Aus dem Straßennetze ragt in steter Wiederkehr das Münster empor, wodurch der Fremde sich schnell zurecht findet. Eine kleine schmale Straße zu unserer Linken, „Auf der Dolle“, versperrt uns noch den vollen Blick, dann befinden wir uns auf dem Domplatz, vor dem Münster.
Es ist schwer, den Eindruck zu beschreiben, den dieser großartige Dom hervorruft. Ein solcher Reichthum künstlerischer Phantasie, eine solche Zierlichkeit der Formen gegenüber der wuchtigen Masse, die kühn und gewaltig als ein Riesendenkmal vollendeter Kunst emporsteigt, muß auf Jedermann, und sei es auch der unempfindlichste Beschauer, nachhaltig und ergreifend wirken. Am Thurme mit seiner verschwenderischen Ornamentik scheint sich die Phantasie des Baukünstlers erschöpft zu haben. Auffallend dagegen ist eine gewisse Monotonie, welche in den Seitenfacaden, ja selbst im Chöre herrscht, auf dessen reiche Gliederung die Baumeister sonst so bedeutendes Gewicht legen.
Die Aufnahme des Münsters in mein Skizzenbuch beschäftigte mich bis zum Abend. Die Donaunebel senkten sich auf die Stadt herab, wie hinter einem grauen Schleier ragten die Häuser empor, während hoch oben vom Dome ein einsames Licht aus dem Wärterstübchen herabschimmerte, dessen Bewohner die Feuer- und Wettersignale zu telegraphiren hat.
Für den nächsten Tag hatte ich mir die Besichtigung des Inneren und die Besteigung des Münsters aufgespart.
Es war Sonntag. Die Glocken hielten noch ihren Morgenschlummer, als ich vor der „Bauhütte“ neben dem Dome schellte, um den dort wohnenden Werkmeister, Herrn Seebold, zu bitten, mich in das Münster und in dessen oberen Labyrinthen hinauf bis in das enge Wärterstübchen zu führen. Eigentlich ist dies Sache des Küsters. Ich erwartete deshalb auch kein gerade freundliches Gesicht; trotzdem war Herr Seebold die Gefälligkeit selbst und um so bereitwilliger, als er erfuhr, daß ich speciell im Auftrage der Gartenlaube nach Ulm gereist sei, um über das Münster zu berichten.
„Die Geschichte des Münsters ist alt,“ erzählte mir mein Begleiter. „Der Bau wurde im Jahre 1377 begonnen. Der Sage nach hat[WS 1] man beim Beginn des Baues einen förmlichen Wald von Ulmen in das Fundament gerammt, welcher auf dem sumpfigen Boden den mächtigen Mauerwänden des Münsters als Rost zu dienen hatte. Bis zum Jahre 1507 bauten sechszehn Baumeister an dem Dome. Der bekannteste unter ihnen ist Matthäus Böblinger[WS 2] von Eßlingen, der im Jahre 1494 durch das Herabstürzen des Schlußsteins aus einem Gewölbe des Münsters während des Gottesdienstes flüchten mußte, um dem Zorne der Ulmer zu entgehen.“
Der alte, auf Pergament gezeichnete Originalplan, den ich Tags zuvor durch die Freundlichkeit des Herrn Professors Beesenmeyer auf der Ulmer Stadtbibliothek sah, enthält am Thurme die Randbemerkung: „Da hat angefangen zu machen an dem durm zu ulm mathes Döblinger.“ Ungeachtet seiner gewaltigen Verhältnisse sollte das Gebäude sich von den Kathedralen unterscheiden und den Charakter einer Pfarrkirche behalten, man gab ihm daher nur einen, nicht zwei Thürme an der Facade, beabsichtigte dagegen die Anlegung zweier kleiner Thürme neben dem Chöre, im Osten der Seitenschiffe, welche die halbe Höhe des Hauptthurmes einnehmen sollten. Der Grundplan war im Wesentlichen derselbe, wie er damals in den Pfarrkirchen vorkam: drei Schiffe von fast gleicher Weite und unmittelbar daran, ohne Kreuzschiff, ein fünfseitig angelegter Chorraum von der Breite des Mittelschiffes.
Wir schritten zunächst durch das imposante Hauptportal, welches von den beiden beinahe gleich hohen Seitenportalen flankirt wird. Das Thürbogenfeld enthält eine Fülle von Steinsculpturen, die ihren archäologischen Werth durch das hohe Alter haben. Dieselben sollen aus dem ältesten Gotteshause Ulms, der ehemaligen Allerheiligenkirche, herrühren und geben in ihrer Einfachheit der Darstellung ein treffendes Bild jener alten, schlichten Zeit und ihrer Kunstbestrebungen. – Ein kühler Luftzug wehte uns aus den hohen Hallen entgegen, als wir das gewaltige, Innere betraten, dessen Gesammtbreite von einhundert fünfundfünfzig Fuß diejenige des Kölner Domes, abgesehen von dessen Querschiff, übertrifft, während die Höhe des Mittelschiffs dem Kölner Dome ähnlich und zwar auf einhundert dreiunddreißig Fuß bestimmt ist. Wir staunen über die großartigen Verhältnisse! Das Innere überdeckt einen Raum von fünfundachtzigtausend siebenhundert und siebenzig Quadratfuß, nach Abzug aller Pfeiler, Säulen etc., so daß, wenn man zwei Quadratfuß Raum für einen Menschen rechnet, die Kirche, gedrängt gefüllt, die enorme Summe von achtundzwanzigtausend siebenhundert fünfundneunzig Menschen faßt. In dem Säulenwalde, welcher im Hauptschiff Kreuzgewölbe, in den zwei getheilten Seitenschiffen – das Innere ist seit dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts fünfschiffig – Sterngewölbe trägt, fällt uns nicht allein an den Säulenschäften, sondern auch an der Ausstattung des ganzen Inneren eine bis an’s Dürftige grenzende Schmucklosigkeit auf, welche mit dem verschwenderischen Reichthume der Ornamentik des Thurmes im schärfsten Contraste steht. Wahrscheinlich lag den Meistern dieses Riesenbaues an strenger Solidität der Ausführung.
Ueber dem Haupteingange befindet sich im Inneren die vom Orgelbauer Walker in Ludwigsburg erbaute berühmte Orgel, deren Gehäuse nach der Zeichnung des Dombaumeisters Thrän angefertigt wurde. Auf der linken Seite, am zweiten Pfeiler des Hauptschiffes, erhebt sich die Kanzel, mit ihrem überaus zierlichen, von Jörg Syrlin im Jahre 1510 aus Lindenholz geschnitzten gothischen Deckel. Wie diese ein wahres Kleinod mittelalterlicher Holzschnitzkunst ist und unser volles Interesse in Anspruch nimmt, ebenso fällt uns das reizende Sacramentshäuschen als ein Meisterwerk der Steinsculptur auf, welches hinsichtlich des Kunstwerthes mit dem in der Lorenzkirche zu Nürnberg befindlichen Tabernakel dreist in die Schranken treten kann. Früher nahm man allgemein an, daß Adam Kraft, der Meister des Nürnberger Sacramentshäuschens, auch das Ulmer geschaffen habe, bis Professor Haßler in Ulm, ein unermüdlicher Forscher der mittelalterlichen Kunst in Schwaben, vor dreißig Jahren zufällig auf dem Trödelmarkte eine alte geschriebene Privatrechnung des Patricier Haus Neidhardt fand, aus der hervorgeht, daß ein „Maister von Wingarten“ (Weingarten bei Ravensburg) der Verfertiger des Sacramentshäuschens ist.
Jörg Syrlin, den wir bereits als Schöpfer der prächtigen Kanzel kennen, hat für das Münster außerdem den nicht minder kunstvollen Taufstein und den Weihwasserkessel geliefert; sein bedeutendstes Werk aber sind die Chorstühle, welche in der Holzschnitzkunst unerreicht dastehen. Ein durchlaufender, reichgeschnitzter Baldachin, je nach der Anordnung wieder mit vorspringenden Ecken unterbrochen, bildet gleichsam den Kanzeldeckel der darunter angebrachten Brustbilder. Ueber diesen Baldachinen erheben sich hohe durchbrochene Pyramiden. Der Reichthum der Ideen giebt Zeugniß von der lebendigen Phantasie des Erbauers, welche sich sowohl in der Conception des Ganzen, wie in der überraschenden Ausführung des Einzelnen ausspricht. Sein Portrait, einen geistvoll [535] aussehenden Kopf, sowie dasjenige seiner Frau, hat der Meister an einem der Chorstühle verewigt.
Eine kleine, links vom Hauptportale gelegene Thür führt zum Thurm. Wir hatten auf der engen Wendeltreppe lange zu steigen, dann traten wir durch ein ganz kleines Thürchen am sogenannten „Umgange“ heraus auf das freie Gerüst, um die Restaurationsarbeiten in Augenschein zu nehmen.
„Wir sind hier auf der hohen, luftigen Werkstätte der Steinmetzen angelangt, wo die einzelnen Werksteine zum Ganzen gefügt werden,“ sagte Seebold. Dann setzte er hinzu, während wir da oben auf einer Breite von drei Brettern außerhalb des Domes entlang gingen: „Nehmen Sie sich in Acht und sehen Sie stets auf’s Dach, nicht nach unten auf den Domplatz, wenn Sie nicht schwindelfrei sind!“ Mir war einen Augenblick in der sehr respectabeln Höhe neben der Dachtraufe allerdings nicht ganz behaglich zu Muthe, zumal auf dem freien Gerüste von einem Geländer keine Spur zu sehen war. Bald hatte ich jedoch den soliden, steinernen Bau des Umgangs unter den Füßen; ein steinernes Geländer, mit reizenden gothischen Rosetten (Pässen) geschmückt, schützte außerdem vor dem Herabstürzen, und so wuchs denn auch meine Neugierde, die Restaurationsarbeiten in unmittelbarer Nähe zu sehen. Der von der Sonne hell beleuchtete Neckarkeupersandstein, welcher bei der Restauration verwandt wird, glänzte wie weißer Marmor. Dicht unter uns reckte ein kolossaler, steingehauener Bär als Wasserspeier den Kopf mit den beiden Vordertatzen in die Luft. Sehr treu und charakteristisch gemeißelt sieht er aus, als ob er aus dem Atelier des besten Bildhauers hervorgegangen wäre. Er soll die nordwärts fliehende Urcultur, der weiter befindliche Adler die siegende Kirche etc. andeuten. Mächtige Strebebögen von siebenundsechszig Fuß Spannweite, die größten der Welt, jeder Stütze spottend, spannen sich als kühne Arcaden über uns. Mit einem Male hörte die Passage auf.
„Wir brechen hier in der nächsten Woche die Wände und Pfeiler durch, um den Bau des Umgangs weiter fortzusetzen,“ sagte mein Cicerone. „Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt unter dem Dache über dem Hauptschiffe der Kirche nach dem Chore.“
Eine schmale Luke führte uns in den halbdunkeln, großen Raum. In unendlich langer Perspective zog sich über uns das Sparrwerk mit den Balkenlagen des Dachstuhls. Hier besonders fällt einem die eminente Ausdehnung des Münsters auf. An halbfertigen Werksteinen, Fragmenten von Dachziegeln, Schutthaufen vorbei, gelangten wir im Dämmerlicht durch eine Thür hinaus auf das Chor, welches von zwei Capellen flankirt wird, die jedoch später zwei Thürmen Platz machen sollen, deren Höhe die gegenwärtige des Hauptthurmes erreichen wird. In dem verwitterten Gestein des Chores haben die Dohlen ihre Nester aufgeschlagen und unterhalten dort Tags ein sehr lebhaftes Zwiegespräch.
Ich fragte Seebold, wo ich den Ulmer Spatz, dieses alte historische Wahrzeichen der Stadt, sehen könne.
„Den will ich Ihnen zeigen, sobald wir uns im Glockenhause befinden. Kennen Sie die humoristische Sage?“
Da ich in Schwaben schon öfters den „Ulmer Spatz“ zwar hatte nennen hören, mir aber noch nie ausführlich darüber erzählt wurde, bat ich ihn, mir Näheres mitzutheilen. Lächelnd berichtete er mir nun ungefähr Folgendes:
„Die Werkleute (Zimmerleute) Ulms wollten im grauen Alterthume einen langen Balken zum Thor hineinfahren. Sie hatten ihn aber überzwerch (quer) auf den Wagen gelegt und konnten so begreiflicherweise zum Thore nicht hinein. Sie überlegten, was da wohl zu thun sei, kamen jedoch zu keinem rechten Entschluß. Da flog ein Spatz, der einen Strohhalm im Schnabel hatte, diesen aber auch überzwerch hielt, zu seinem im Thore befindlichen Neste. Er flatterte hin und her, brachte jedoch den Strohhalm ebenso wenig in’s Nest, wie die Werkleute ihren Balken in’s Thor. Endlich faßte er den Strohhalm der Länge nach und trug ihn auf diese Weise glücklich in’s Nest. Die Werkleute aber sahen dies und nahmen sich ein Exempel daran. – Vor zehn Jahren wurde in Ulm während der Stadtverordneten Versammlung die Frage aufgeworfen, ob man dem Ulmer Spatz wieder seinen Platz auf dem Dachfirst des Münsters geben, oder ob man ihn nicht lieber fortlassen solle. Hitzige Debatten fielen hüben und drüben. Die eine Partei wollte nicht, daß durch Erneuerung dieses Denkmals kommenden Generationen Gelegenheit zum Spott auf die Ulmer geboten würde, während die andere Partei die Sache freisinniger auffaßte. Endlich entschlossen sich die Väter der Stadt, einen neuen Spatz an Stelle des alten, schadhaft gewordenen auf den Dachfirst, nahe dem Thurme, zu setzen, der denn auch jetzt seine Flügel vergnügt über Ulm ausbreitet.“
Vom Glockenhause ans sah ich den steingehauenen Spatz, der eine Höhe von ungefähr drei Fuß hat, von unten aber trotzdem klein erscheint.
Als wir uns unter den großen und kleinen Glocken des Münsters befanden, machte mich Seebold auf das „Zehn-Uhr-Glöckle“ aufmerksam, welches allabendlich den im Wirthshaus befindlichen Ulmern das Zeichen zum Heimkehren geben soll. Ich glaube aber – und die werthen Ulmer wollen mir das zu gute halten – daß die ehemaligen Reichsstädter dieses Läuten eher als ein Zeichen des Beisammenbleibens im „Hasen“ oder „Rößle“ auffassen, wenigstens fand ich nach zehn Uhr noch sehr heitere Gesellschaft, war dessen froh und – blieb auch sitzen.
Wir stiegen im „Schneckenhause“ des Thurmes die enge Wendeltreppe weiter hinauf und gelangten auf die oberste Galerie, welche das Nothdach mit dem engen Wärterstübchen umgiebt. Man hat da oben eine unendlich weite Aussicht, so entzückend schön, daß man nur schwer sich zur Rückwanderung entschließt. Noch einen Blick sandte ich dem am fernen südlichen Horizonte blitzenden Silberstreifen, dem Bodensee, mit der Alpenkette, zu und stieg dann wieder aus der luftigen Höhe hinab zum Leben und Treiben der Menschen.
Dem echten Ulmer glänzen die Augen feuriger, wenn man auf das Herzenskind zu sprechen kommt: das Münster. „Nur der Thurm, der Thurm!“ hört man da oft ausrufen. Ja, freilich, wäre der vollendet und sähe mit seinem Muttergottesbilde auf der Spitze weit, weit in die Lande, selbst über die Kreuzblumen der Thürme des Kölner Domes hinweg, dann erst würde der Ulmer mit wahrem Stolze hinausblicken zu dem hehren Denkmal seiner Vaterstadt. Und dies mit Recht! Mag man dem Inneren, den Seitenfacaden, ein absichtliches vernachlässigen des Ornamentalen, mag man einzelnen Portalen das Ausarten der Gothik vorwerfen: kein Thurm, die Thürme des Kölner Domes eingerechnet, zeigt einen solch märchenhaften Reichthum der Phantasie, eine solch’ wunderbare Ornamentik, wie derjenige des Ulmer Münsters. Es ist der Thurm der Thürme.
Und unvollendet sollte dieses imposante Kunstwerk bleiben? Ein Riesentorso der Baukunst, ohne Kopf und ohne Krone? Den prachtvollen, nur bis zur Hälfte vollendeten Thurm deckt ein unschönes Nothdach. Der noch vorhandene alte Originalplan des Baukünstlers hat die Gesammthöhe auf fünfhundert Fuß fixirt; sie würde demnach fast die Höhe der St. Peterskirche in Rom erreichen und die Thürme des Kölner Münsters überragen.
Der Dombaumeister Thrän, welcher die Restauration des Münsters leitet, wurde vor vier Jahren aufgefordert, einen Kostenanschlag über die vollständige Restauration und den Aufbau der Thürme zu machen. Die Berechnung belief sich allerdings auf zwei Millionen Gulden. Das ist viel! Sollte aber dennoch die gesammte Christenheit die Summe nicht ausbringen können? Es handelt sich hier nicht sowohl um den Ausbau des größten protestantischen Gotteshauses, als auch um eines der bedeutendsten und schönsten Denkmäler deutscher Baukunst.
Glockengeläute und Kanonensalven sind jüngst über dem Denkmale des großen Reformators verhallt; die Flammenbäche seiner Lehre zündeten in mehr als einer Zone; sollte da, wir wiederholen es, das größte protestantische Gotteshaus unvollendet bleiben?
Wir glauben es nicht!
Wie vor einigen Jahren für den Kölner Dom, ist gegenwärtig für das Ulmer Münster eine Dombaulotterie auf Anregung des Dombaumeisters Thrän eröffnet. (Das Loos kostet zehn Silbergroschen oder fünfunddreißig Kreuzer süddeutsche Währung.) Nach Abzug der Kosten und Gewinne würden, wie ich erfahre, siebenzigtausend Gulden zur Restauration des Münsters übrig bleiben. Wären die Mittel vorhanden und könnte ununterbrochen fortgearbeitet werden, so würde die Restauration in elf Jahren vollendet sein.
Wünschen wir dies nicht blos, sondern möge jeder Einzelne, sei es durch Abnahme von Loosen, sei es durch Sammlungen etc., einen Baustein zur Vollendung des Ulmer Münsters beitragen!
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: sah
- ↑ Vorlage: Döblinger; vergl. Berichtigung in Heft 36