Deutsche Städtebilder/Stuttgart
Deutsche Städtebilder.
Für eine Großstadt ist, wie man weiß, die Lage Stuttgarts und seine nächste Umgebung so ungeeignet, wie sich nur denken läßt. Eine Großstadt will Raum zur Entwicklung, Zugänglichkeit von allen Seiten, wo möglich auch einen großen Strom. Stuttgart aber liegt recht eigentlich im Kessel, ist rings von ansehnlichen Bergen umschlossen, und der Nesenbach, durch dessen Thalrinne die Stadt mit der Welt draußen in Verkehr tritt, ist kein Rhein und kein Main. Die Sache erscheint um so wunderbarer, weil kaum eine Stunde abwärts, wo der Nesenbach in den Neckar fällt, die schönste Gelegenheit zu bequemer Ausbreitung geboten war. In der That hat auch schon vor 200 Jahren kein Geringerer als Leibniz in einer seiner Flugschriften (Amsterdam 1682) den Herzog und seine Räthe darauf hingewiesen, wie günstig für die Entwicklung des Handels und der Wohlfahrt des ganzen Landes es werden müßte, wenn die Universität von Tübingen und der Hof von Stuttgart nach Cannstatt verlegt und damit dem Lande sein natürlicher Mittelpunkt gegeben würde, und noch der verstorbene König Wilhelm soll sich, wie man von bejahrten Herren erzählen hört, im Anfang seiner Regierung mit dem Gedanken beschäftigt haben. Inzwischen ist aber Stuttgart der Theorie zum Trotz in seinem Kessel thatsächlich zur Großstadt geworden, und es hat nicht an Geschichtsphilosophen gefehlt, die es ganz bezeichnend für die Hauptstadt des schwäbischen Stammes gefunden haben, daß sie sich, seitab vom Strom der Welt, in sich selbst zu vergnügen und ihre mehr oder minder berechtigten Eigenthümlichkeiten ungestört auszubilden befähigt sei. – Wie dem auch sein mag, jedenfalls ist, was Handel und Verkehr als lästige Schranke empfinden, für ein Auge, das an schönen Landschafts- und Städtebildern seine Freude hat, eine Quelle unendlichen Genusses. Stuttgart hat von jeher in seiner Art als ein Juwel unter den deutschen Städten gegolten. Es dankte das seiner Lage im weichen Schoß der schöngeformten Berge, die es in mannigfach gegliedertem Kranze umziehen, und so lange die mäßig große Stadt noch ganz im Grün der Gärten und Baumkronen eingebettet lag, bedurfte es kaum der Menschenhand, um dem Bilde nachzuhelfen. Als aber das überwältigende Wachsthum der Häusermasse mehr und mehr den Thalgrund nach allen Richtungen ausfüllte, mußte sich die Stadt auch der besondern Verpflichtungen bewußt werden, welche die Gunst dieser Lage ihr auferlegt, und seit einem Jahrzehnt etwa wetteifert das Talent erfindungsreicher Architekten und bewährter Gartenkünstler, um nicht nur das Stadtbild selbst, sondern auch die herrliche Umgebung immer reicher und eigenartiger zu gestalten.
Glänzende Straßenlinien schlingen sich an den weicheren Abhängen der Berge hin, breiten sich, von rückwärts emporgestiegen, überraschend auf den vorgelagerten steilen Hügeln aus; zahllose Landhäuser tauchen in den traulichen Schluchten und Bergfalten aus den Baumwipfeln der Gärten auf, setzen sich keck auf jeder Kuppe, jeder vorspringenden Ecke, über dem schroffen Abfall der Steinbrüche fest; in mächtigen Windungen, durch Tunnel und über Viadukte weg, steigt an der einen Langseite des Bergzugs die Eisenbahn, die nach der Schweiz, dem Gotthard führt, zu imposanter Höhe hinan, während gegenüber auf der andern Seite des Thales die Zahnradbahn kurzer Hand den steilen Berg emporklimmt. Da, wo die beiden Bahnen den höchsten Punkt erreichen, steht hier wie dort am Saume prächtiger Wälder, welche die Hochfläche bedecken, ein steinerner Aussichtsthurm, beide mit weiter Schau ins Land hinaus.
Es ist in der That ein unvergleichlicher Blick, den man von diesen Höhen genießt, auf das Häusermeer tief unten im Thalgrund mit all den Thürmen und Kuppeln und Palästen, auf die saftig grünen Rebengehänge, die rings die weichgeschwungenen Bergeshalden umkleiden, auf die dunkeln Laubmassen des langgestreckten Schloßgartens, der den Blick zu der sonnigen Breite des Neckarthales hinausgeleitet, auf die reichgesegneten Fluren des Unterlands mit all den milden Thälern und Höhenzügen.
Dort grüßt der Rothenberg mit seiner Kapelle herüber, wo die Stammburg der Württemberger stand, dort Ludwigsburg und Marbach mit ihren Schiller-Erinnerungen, dahinter der Hohenasperg [245] Schubart’schen Angedenkens, und weiterhin das bestimmte Profil des Wunnensteins, wo einst der „gleißend Wolf“ gehaust; rechts aber, von der blauen Kette der schwäbischen Alb herüber, zwischen Hohenzollern und Achalm, glänzt die Perle des schwäbischen Landes, der poesieverklärte Lichtenstein.
Das Besondere Stuttgarts ist eben die schwesterliche Beziehung der Stadt zur Natur, zum frischen Schmuck ihrer Berge, an die sie sich so traulich anschmiegt. Stuttgart ist darum auch das eigentliche Dorado für den Freund friedlicher Naturspaziergänge: wo immer er die Stadt verlassen mag, steht ihm eine Fülle von genußreichen Pfaden offen, und wie lange er auch Tag um Tag in der Umgegend herumgewandert sei, immer noch hat er die Freude, einen hübschen Berg, eine malerische Partie, einen entzückenden Ausblick zu entdecken.
Auch der Stift unseres Zeichners, den wir nun auf seinen Wanderungen zu begleiten uns anschicken, ist durch manchen schönen Punkt in der Umgebung der schwäbischen Hauptstadt gefesselt und zu liebenswürdig gewandter Wiedergabe aufgefordert worden.
Von der Höhe des Schützenhauses, von wo er das wohlgetroffene Gesammtbild der Stadt vor uns ausbreitet (vergl. S. 240 und 241), steigen wir zunächst mit ihm zum Schloßgarten hinab, zu dem reizvollen obern See, wo zwischen den uralten Baumriesen der Kastanien, die ihn in weitem Rund umgeben, die eine Front des königlichen Schlosses den Hintergrund abschließt, wo die Schaumwolken der großen Fontaine auf die bewegte Fläche mit den schaukelnden Schwänen und Enten niederstäuben, wo die herrliche Nymphengruppe, eines der edelsten Werke Dannecker’s, und erlesene Marmorkopien antiker Statuen im See sich spiegeln. Wir folgen ihm weiter durch das grandiose Laubgewölbe der Platanenallee zu dem Kolossaldenkmal, das vor wenigen Jahren König Karl der treuen Anhänglichkeit des württembergischen Volkes an das angestammte Fürstenhaus aufgerichtet hat: Graf Eberhard nach Kerner’s bekanntem Gedicht im Schoß eines Hirten ruhend.
Die langen Baumgänge des Schloßgartens führen uns von selbst über das Lustschloß Rosenstein (vergl. S. 246) zur Wilhelma (S. 240 u. 241) bei Cannstatt, jener ganz eigenartigen Schöpfung des verstorbenen Königs, welche die maurische Wunderpracht der Alhambra in großartig reichen Bauwerken und die zauberhafte Ueppigkeit der südlichen Pflanzenwelt in einer unendlichen Flucht von herrlichen Gewächshäusern und weitgedehnten Gärten wiedergiebt.
Ein kurzer Gang über die Neckarbrücke und durch die freundliche Bäderstadt Cannstatt führt uns zu den Anlagen am Sulzerrain über dem Kursaal. Da mögen wir uns gerne unter dem köstlich kühlen Schattendach zur Seite der plätschernden Fontaine niederlassen und zwischen den Bäumen und Sträuchern durch auf Cannstatt und Stuttgart und die wunderbar reiche und weiche Fülle dieser gesegneten Gegend hinausblicken. Oder, noch besser, wir suchen das stille Plätzchen am obern Rande der Anlagen auf, das ein schlichter Stein neben der von wilden Rosen umwachsenen Ruhebank als „Freiligrathsblick“ bezeichnet. Dort ruhte er am liebsten, der edle Dichter, der nach manchem Sturm den milden Lebensabend hier in Cannstatt verbracht hat, und erfreute sich an dem Blick auf das grüne Neckarthal mit seinen Pappeln und Erlen, auf das freundliche Untertürkheim und die Grabkapelle des Rothenbergs (vergl. S. 247) und die ferne Kette der Alb. Dort mag auch das schöne Lied zu Hölderlin’s hundertjährigem Geburtstag entstanden sein, in dem er so stimmungsvoll die stillen Reize dieses „wonnigen Landes“ und „seines Flusses blaue Wogen“ preist. Dort sehen wir auch ganz nahe unter uns den traulich schlichten Thurm des uralten „Uffkirchleins“ über die Kirchhofmauer sich erheben, an dessen Seite Freiligrath seit zehn Jahren im Grabe ruht, das sein mächtiges Haupt, von Donndorf’s Meisterhand geformt, in schimmerndem Erz bezeichnet.
Der Weg zur Stadt zurück führt uns an der königlichen Villa bei Berg vorüber (vergl. Vignette S. 247). Vor nun schon vierzig Jahren von Leins erdacht und ausgeführt, ist dieser Prachtbau eines der frühesten und maßvoll edelsten Muster der wiedererstandenen italienischen Renaissance in Deutschland und darum von dauerndem Werth für unsere Kunstgeschichte, besonders ansprechend durch die Mannigfaltigkeit der feinsten geistigen Durchbildung und durch einen unaussprechlichen Hauch von ewiger Jugend. Dazu die entzückende Lage auf beherrschender Höhe über dem Stuttgarter und Cannstatter Thal und die herrliche Pracht der musterhaft gehaltenen Gärten, welche den ganzen Hügel und seine Abhänge bedecken, fürwahr ein Kleinod höchster Art unter den deutschen Fürstensitzen!
Wollen wir nun dem Künstler nach der entgegengesetzten Richtung folgen, so thun wir am besten, vom Hauptbahnhof mitten in der Stadt zum Hasenbergbahnhof zu fahren. Das ist wohl eine lange Fahrt in weitausgezogenem Bogen, aber vom mannigfaltigsten Genuß durch den Ausblick auf das Stadtbild unter uns und die Höhen gegenüber und die farbenreiche Landschaft in der Ferne, mit jeder Minute wechselnd und immer neue Gruppirungen vor das Auge stellend.
[246]Auf der Hasenbergstation nimmt uns sofort der Buchenwald in seine kühlen Schatten und geleitet uns auf anmuthigen Pfaden rasch zu dem runden Aussichtsthurm (vergl. S. 240 und S. 241), wo wir wieder mit unserem Künstler zusammentreffen. Haben wir dann vom hohen Thurm des Blicks genossen „hernieder auf ein schönes Land“, so wenden wir uns dem Denkmal des Dichters zu, der den Reiz dieser Gegend so voll empfunden, so hinreißend geschildert hat. Nur fünfzig Schritte abwärts in den Gartenanlagen an wunderschöner Stelle erhebt sich über dem Halbrund einer edelgeformten Exedra die Marmorbüste Wilhelm Hauff’s, während die Ruhebank unter ihr zu beschaulicher Betrachtung einlädt. Es war ein sinniger Gedanke, hier in freier, lichter Höhe, wo der Blick zur Alb mit dem Lichtenstein schweift, dem liebenswürdigsten der schwäbischen Dichter sein Denkmal zu setzen, der, in Stuttgart geboren und, noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt, in Stuttgart gestorben, am frühesten von allen, denen die Muse den Scheitel berührt, von der Welt hat scheiden müssen, die so sonnenhell vor seinem Auge lag. Seine Märchen sind das Labsal der Kinder, sein „Lichtenstein“ das Entzücken der ersten, romantisch empfindenden Jugend, und es hat etwas Rührendes, wenn so eine jugendliche Schar die Feldsträuße, die sie droben im Walde gepflückt, heimkehrend an seiner Büste niederlegt.
Doch der Künstler mahnt zum Weitergehen. Immer auf der Hochfläche fort, und immer im Waldesschatten, gelangen wir nach einer Stunde oder mehr zu seinem fernsten Punkte, dem alten Lustschloß Solitude (vergl. Vignette S. 247). Erstaunt bemerken wir, aus dem Wald an den steilen Abhang tretend, wie hoch wir stehen und welch unermeßliche Fernsicht vor unseren Augen liegt. Noch verwunderter aber betrachten wir das Schloß, das auf dieser einsamen Waldeshöhe in das Land hinausblickt. Da sind wir nun auf einmal in der Welt des Rokoko. Nichts Zierlicheres, Kapriciöseres als dieser elegante Bau mit den breiten, seltsam gewundenen Freitreppen, mit der mächtigen, ringsum laufenden Balustrade, mit den geschweiften Mauern und Wänden, und nun vollends innen die flottgemalten Decken und die verschwenderische Fülle der Spiegel, und die Amoretten und Putten und vergoldeten Schnörkel und all der tändelnde, glitzernde, frivole Zierrath der Kunst von damals – die echte Schöpfung des geistreichsten unter den kleinen Tyrannen jener Tage, des Herzogs Karl Eugen. Fürwahr, wenn man durch diese Prunksäle wandelt, versteht man mit einem Male den Geist der Zeit, in welche Schiller’s Jugendjahre fallen. Und er selbst! – Die Solitude ist ja voll von Schiller-Erinnerungen: hier ist der Dreizehnjährige scheu und schüchtern vor den Gewaltigen getreten, der nun sein Schicksal in die Hand nimmt; hier hat er dritthalb Jahre, so lange die Schule auf der Solitude blieb, unter dem Druck einer geistlosen Disciplin gelitten, während schon der Morgenglanz der Ideale vor seiner trunkenen Seele stand; hier hat dann sein Vater als Verwalter der herzoglichen Gärten tüchtig und würdig geschaltet, und wie manchmal ist der Herr Regimentsmedikus, die „Räuber“ in der Tasche, von Stuttgart heraufgeritten gekommen, als schon der Ruhm mit verlockendem Schimmer seine Stirn streifte! Und wie er mit Streicher in jener Nacht entfloh, da hier oben dem Großfürsten Paul ein Prunkfest gegeben ward, und auf der Straße nach Ludwigsburg die Solitude tageshell erleuchtet sah, da kam, wie uns der treue Streicher erzählt, das ganze Gefühl seines Schicksals über ihn, und mit dem Ruf: „Meine Mutter!“ sank er auf seinen Sitz zurück.
Wenden wir uns nun von diesen Streifzügen in die Umgegend zu der Stadt selbst zurück und durchwandern wir ihre Straßen! Stuttgart fehlt das bestimmt ausgesprochene geschichtliche Gepräge, das den Stolz der alten Reichsstädte bildet. Wohl ist die Vergangenheit in verschiedenen Epochen durch eine Reihe von Bauten nicht unwürdig vertreten; aber der Gesammteindruck der älteren Theile bis über die Hälfte unseres Jahrhunderts hinaus zeugte weder von verbreitetem Wohlstand, noch von besonderer Freude an schöner Gestaltung der Wohnräume. An die alterthümlich hohen Häuser mit den übergebauten Stockwerken in den engen Gassen der Altstadt und an die immerhin behäbigeren, aber doch noch recht schlichten und anspruchslosen Gebäude der sogenannten oberen Stadt, die schon von Graf Eberhard am Ende des 15. Jahrhunderts in regelmäßigen Quadraten angelegt wurde, schlossen sich vom Beginn des jetzigen Jahrhunderts an lange, einförmige Straßenlinien mit den nüchternsten Fachwerkbauten, ganz nur für zinstragende Ausnützung bestimmt. Das ist nun in neuerer Zeit völlig anders geworden.
Die Ansprüche an Bequemlichkeit des Wohnens, an gefälligen Schmuck des Hauses im Aeußern wie im Innern sind im Laufe eines Jahrzehnts in ungeahntem Grade gestiegen, haben immer weitere Schichten der Bevölkerung ergriffen und dadurch einen stets sich steigernden Wettkampf in Befriedigung der veredelten Bedürfnisse hervorgerufen, der für die Physiognomie der Stadt vom größten Einfluß werden mußte. Dabei hat sich die gewaltige Bewegung auf diesem Gebiete durchweg in erfreulichen Bahnen gehalten und eben sowohl in Erfindung und Verwendung der künstlerischen Formen und Stilgattungen wie in der Sorgfalt und Tüchtigkeit der technischen Ausführung den gesteigerten Ansprüchen genügt. Die Grundlage für eine gesunde Entwickelung bot die neue Bau-Ordnung, die den Massivbau zur Vorschrift machte; die Muster und Vorbilder aber und die festen Zielpunkte gaben die beiden Altmeister Egle und Leins, neben und unter denen ein ganzer Generalstab von trefflichen Meistern erstanden und durch die Fülle und Mannigfaltigkeit der Aufgaben zu immer höherem Streben angeregt worden ist.
Der Natur der Sache nach sind es auch hier zunächst die Außentheile der Stadt, denen die neue Bau-Entwickelung zu Gute kam. Zumal in jenen Straßen, die an den Höhen emporsteigen, sind auf weite Strecken Bauten zu sehen, welche durch Feinheit der Erfindung und Reiz der Façaden dem musternden Auge Genuß gewähren, und die Hunderte von Landhäusern, die an den Abhängen oder in Bergfalten zerstreut liegen, boten ja von selbst der Phantasie und dem Raumgefühl des erfindenden Künstlers den mannigfaltigsten Anreiz.
Aber auch das Innere der Stadt hat sich in seinen Haupttheilen wesentlich gehoben, in seinem Gesammteindruck völlig verändert. Staat und Gemeinde, Vereine und Institute haben eine stattliche Zahl von glänzenden Monumentalbauten aufgerichtet; vier neue große Kirchen sind erstanden, die zugleich mit ihren Kuppeln und Thürmen die Silhouette der Stadt aufs Günstigste beleben; Lücken in den älteren Straßen sind ausgefüllt, unscheinbare Häuser durch prachtvolle Neubauten ersetzt worden. Das Merkwürdigste aber ist der unaufhaltsame Drang, der dem Alten selbst in die Glieder gefahren ist, durch bunte Bemalung der Façaden, durch farbige Hervorhebung der Bauglieder, durch geschickt aufgesetzte Zieraten, kurz durch Mittel aller Art sich ein [247] stilgerechtes Ansehen zu geben. Das ist ja nun wohl überall so, wo in einer Stadt frisches Leben pulsirt. Aber von der schwäbischen Hauptstadt ist es doch besonders bemerkenswerth, weil in ihr so gar lange die Kunst auf die akademischen Kreise eingeschränkt und sorgsam vor der Berührung mit dem Leben auf der Straße verwahrt worden ist, und nun treibt und sproßt und blüht das Kunstgewerbe an allen Ecken und Enden und überwuchert lustig mit seinen Ranken die puritanische Nüchternheit von ehedem.
Auch der älteste Platz der Stadt, der Marktplatz (vergl. Vignette S. 244), hat nach Kräften sein alterthümliches Gewand stilgemäß aufgefrischt. Zwar das Rathhaus selbst will nicht viel bedeuten, nachdem ihm die Prosa der Zeit vor fünfzig Jahren die zierliche Renaissance-Ornamentik vom Haupte gerissen hat. Es ist längst zu klein und soll in Kurzem einem Neubau weichen. Aber der „Gasthof zum Adler“ z. B., wo der alte Schubart einst nach den bösen Aspergszeiten allabendlich im lustigen Kreis die Funken seines Witzes sprühen ließ, und die ganze gegen die Stiftskirche gelegene Seite mit den hohen Giebeldächern, den traulichen Erkerbauten, den steinernen Heiligen unter zierlichen Baldachinen erinnert noch trefflich an die alten Zeiten, da der Marktplatz der Mittelpunkt eines kräftigen Bürgerthums war, an die guten Tage vor dem „großen Krieg“, da die Herren vom Gericht und von der „Ehrbarkeit“ nach des Tages Last und Hitze in der „Bürgerstube“ beim Becher zusammensaßen, stattliche Gestalten in kurzem Haar und spitzem Bart, vom gefältelten Scheibenkragen ansehnlich umrahmt.
Ganz von alterthümlichen Bauten umschlossen ist auch der nahe Schiller-Platz, zur Seite des schönen Chors der Stiftskirche. Da steht, dem lärmenden Gewühl des Tages entrückt, das älteste aller Schiller-Standbilder, von Thorwaldsen’s Hand, den tiefsinnigen Denker mit mild gesenktem Haupte in ergreifender Hoheit darstellend. Der mäßig große Platz mit seiner würdigen Umgebung stimmt zu dem weihevollen Eindruck des Bildes, und am vollsten wird man seinen Adel empfinden, wenn in stiller Nacht das Mondlicht den schönen Raum erfüllt. Da stehen dann auch die gewaltigen Mauermassen und die riesigen Eckthürme des Alten Schlosses (vergl. S. 240 u. 241) gegenüber doppelt ernst und groß vor dem Auge da. Es ist ein mächtig wuchtiger Bau, der sich so trotzig und unnahbar über die Wipfel der alten Kastanien erhebt; aber wie traulich und würdig heiter sieht sich das Innere (vergl. S. 244) an, wenn wir durch eines der hohen Thorgewölbe in den stillen Hofraum treten, in dem das Reiterstandbild Eberhard’s im Barte steht! In drei Stockwerken über einander ziehen sich die Arkaden hin, starke Säulen mit eigenartiger Ornamentik und durchbrochenem Steingeländer dazwischen, eine seltsame Mischung von schwerwuchtiger Kraft und zierlicher Eleganz. Es ist hier Alles so ganz im Geiste der Zeit, daß wir den hallenden Tritt der Trabanten zu hören glauben, wie sie im spanischen Mantel, den Federhut auf dem Kopfe, die Hellebarde im Arm, zwischen den Säulen auf- und niederschreiten, wenn wir uns nicht gar aus dem Gruftgewölbe der Stiftskirche herüber die weiße Frau geisterhaft durch die Gänge und Wendeltreppen huschend denken.
Sollen wir nun dem Leser, der uns bisher freundlich gefolgt ist, auch noch ein Bild von dem neuen Stuttgart geben, so führen wir ihn natürlich zunächst nach jener Straße, die dem Stuttgarter ans Herz gewachsen ist, zu der großen Hauptader des Verkehrs, wo sich Alles zusammendrängt, was den Charakter der Stadt und der Bevölkerung bezeichnet, wo Mittags, von Hunderten begleitet, mit klingendem Spiel die Parade durchzieht, wo sich vor Tisch und am Abend die Stuttgarter Welt ergeht und alle Zeit das Volk sich bewegt, das „mit Spazieren den Tag lebt“: zur geliebten Königsstraße; wir führen ihn zu den hohen und edlen Hallen des Königsbaus mit den schlanken griechischen Säulen und den glänzenden Läden und Magazinen; wir führen ihn vor Allem zum Schloßplatz (vergl. S. 240 und 241) mit der zum Andenken an die fünfundzwanzigjährige Regierung des Königs Wilhelm 1841 errichteten Jubiläumssäule, den sprudelnden Fontänen links und rechts, den wundervoll gehaltenen Rasenflächen und dem ausgesuchten gärtnerischen Schmuck an Blumen und Teppichbeeten und dunklen Lorbeerbäumen und ernsten Koniferen und wehenden Palmen. Dort wölbt sich über den mächtigen Kastanienkuppen die monumentale Kraft des alten, die heitere Pracht des neuen Schlosses, Theater und Königsbau dazu, und obendrein die grünen Rebenberge im Sonnenglanz, und das Alles um die Mittagsstunde, wenn die Klänge der Militärmusik ertönen, von einer heiter plaudernden Menge erfüllt: es ist ein Bild, das man gern in der Erinnerung festhält. Zu guter Letzt aber geleiten wir den fremden Gast zu dem erlesensten und am feinsten vollendeten Kleinod des heutigen Stuttgart, zu dem Stadtgarten, der, von den Prachtbauten des Polytechnikums, der Baugewerbeschule, der neuen Gewerbehalle umfaßt, alles Schönste in sich vereinigt, was liebende Sorgfalt und geistvolles Verständniß der großartigen und wunderlieblichen Pflanzenwelt abzugewinnen vermag, um es, wirksam gruppirt, zu einer entzückenden Augenweide für empfängliche Herzen zu machen. Ist doch Stuttgart, dank der Anregung seiner Lage und der trauten Beziehung zu der Natur, zur Garten- und Gärtnerstadt im vollsten Sinne des Wortes geworden. Da findet sich denn im Schatten der hundertjährigen Kastanien wohl ein lauschiges Plätzchen, wo wir, von herrlich üppiger Vegetation umgeben und halb den Akkorden des abendlichen Gartenkoncertes lauschend, von der Wanderung ausruhen und in freundlichem Rückblick uns der Bilder erfreuen mögen, die uns Stuttgart und seine Umgebung vor das Auge geführt haben.