Deutsche Städtebilder/Stargard in Pommern
Was Rothenburg und Nürnberg für Bayern sind, das sind, wenn auch in bescheidenerer Weise, Stargard und Stralsund für Pommern, die Heimstätten mittelalterlicher Kunst und Größe. Nürnberg und Stralsund sehen alljährlich tausend und aber tausend Fremde in ihren Mauern. Die Besucher kommen, nicht weil diese Städte das direkte Ziel ihrer Reise sind, nein, mehr zufällig finden sie sich dort ein. Wer vom Norden nach den Alpen oder nach Italien fährt, nimmt auch Nürnberg mit, das so bequem am Wege liegt, und wer in ein Ostseebad geht, stattet nebenher auch Stralsund einen Besuch ab. Dort ist es die Lage an der großen Verkehrsstraße, hier die Lage am schönen Ostseegestade, welche die Fremden herbeiführt.
Aber wie wenige von denenen, welche auf ihrer Südlandsreise in Nürnberg vorsprechen, machen bei derselben Gelegenheit auch einen Abstecher nach Rothenburg? Das Städtchen liegt zu weit ab und man müßte, um es aufzusuchen, zwei Tage opfern. Ein ähnliches Geschick widerfährt Stargard. Abseits von der großen Heerstraße, die nach der Ostsee führt, bleibt es den meisten Sommergästen, welche zum Meere kommen, unbekannt. Vielleicht, so denken gewiß viele, verlohnt sich ein Abstecher nach Stargard auch kaum der Mühe. Im Gegenteil, Stargard ist eines Besuches wert. Hält die Stadt auch keinen Vergleich aus mit ihren eben genannten süddeutschen Schwesterstädten, so ist sie doch für den, der ein Interesse nimmt an den Kunstleistungen unserer Altvordern, nach Stralsund die sehenswürdigste Stadt Pommerns.
Stargard hat gegenwärtig rund 25 000 Einwohner, eine weit höhere Bevölkerungsziffer, als sie die Stadt in den Tagen ihrer ersten Blüte gehabt haben kann. Der rasch gestiegenen Einwohnerzahl entsprechend, ist sie über ihren früheren Umfang weit hinausgegangen und zeigt, wie viele zu neuem Aufschwunge gelangte alte Städte eine doppelte Physiognomie, eine regelmäßig angelegte vornehmlich nach der Bahnhofsseite sich ausbreitende Neustadt und das unregelmäßige Häusergewirr der sich um die Hauptkirche drängenden Altstadt. Die industriellen Anlagen, welche Stargard zu neuer Blüte geführt haben, hauptsächlich Eisengießereien und Maschinenbauanstalten, haben wie anderwärts so auch hier in den neuen Vierteln ihren Platz gefunden. Die Altstadt muß sich sehr bescheiden, doch wenn die jährlichen großen Woll- und Viehmärkte nahen, dann gewahrt man, daß sie trotz der sehr veränderten Verhältnisse dennoch das Herz der Stadt geblieben ist, wo Handel und Wandel heute noch ihren Brennpunkt haben.
Stargard ist eine der ältesten Siedelungen der Provinz. Eine Bulle Innocenz’ II. thut bereits 1140 des Ortes Erwähnung, der im Jahre 1253 durch den Pommernherzog Barnim I. zur deutschen Stadt erhoben wurde. Anfangs ein Zankapfel zwischen den Markgrafen von Brandenburg und den Pommernherzögen, wurde sie hernach einer der zuverlässigsten Stützpunkte der herzoglichen Hausgewalt in Pommern. Der etwa 1368 erfolgte Anschluß an den Hansabund und die von den Herzögen Privilegien, vorab die freie Schiffahrt auf der Ihna, brachte Stargard zur hohen Blüte, so daß die Stadt im 14. Jahrhundert als die erfolgreiche Rivalin Stettins und als ein sehr gewichtiges Glied der Hansa angesehen ward. Sie war an Mauern und Mannen die stärkste in Hinterpommern und ihre Bundesgenossenschaft den pommerschen Herzögen bei ihren Kämpfen gegen den rebellischen Adel ebenso willkommen wie der Hansa bei ihren Seezügen gegen die Vitalienbrüder unentbehrlich. Das furchtbare Kriegselend, das von 1627 bis 1643 in immer neuen Schauern über das Land hinwegfegte, hat auf Jahrhunderte Stargards Kraft gebrochen. Aber so sehr auch die Stadt unter dem Dreißigjährigen Kriege gelitten, so unersetzlichen Schaden vor allem die furchtbare Feuersbrunst von 1635 ihr zugefügt hat, es ist doch noch gar manches erhalten
[765]geblieben, was ihre einstige Schönheit und Großartigkeit der Gegenwart bezeugt. Gleich Rothenburg o. d. T. hat auch Stargard sich den alten Mauerkranz nicht nehmen lassen. Zwar sind die neuen Stadtteile an mancher Stelle über das beengende Steinkleid hinausgewachsen, aber nirgend sind die Mauern niedergelegt, sondern ziehen sich ununterbrochen, von Promenaden umgeben, rings um die Altstadt.
Ein Gang auf dem Glacis der alten Wallgräben bietet auf Schritt und Tritt interessante Bilder. Kleine Gärten und Parkanlagen füllen die Sohle des alten Wallgrabens und schmiegen sich an das altersgraue Gemäuer, das mit seinen Schießscharten, Streittürmen und Zinnenresten uns ernst und düster anschaut, wie in Trauer versunken darüber, daß nun der Holunder und Hagedorn wächst, wo einstens der trotzige Bürger stand, die gute Wehr in nerviger Faust. Eine lange Strecke bildet die Ihna den natürlichen Mauergraben und hält uns in respektvoller Entfernung von dem hohen Wehrgange, der dann bei der nächsten Biegung an das Mühlenthor herantritt.
Die Stelle vor dem Mühlenthor ist die schönste und interessanteste, die wir auf unserem Umgange passieren. Still und lauschig ist es hier unter den schattigen Bäumen, nur die Wasser zu unserer Linken plätschern und murmeln, als wollten sie uns erzählen von dem, was sich da einstens im Laufe langer Jahrhunderte abgespielt hat. Wie ein breitschulteriger Recke, dem kein Feind hat beikommen und das blanke Rüstzeug zerschlagen können, präsentiert sich das feste Mühlenthor mit seinem schönen Ornament auf der Stirnseite dem Beschauer. Es ist unstreitig der schönste Thorturm Pommerns und bis ins kleinste gut erhalten. Ueberhaupt ist es eine besondere Eigentümlichkeit der Stargards Befestigung, daß die alten Thortürme, außer dem Mühlenthor – noch das sogenannte „Rothe Meer“, der Weißkopf, der Eisturm (s.S. 766) und das Wallthor, völlig erhalten sind.
Nach beendetem Umgang treten wir durch die Turmhalle des Pyritzer Thores in das Städtchen und sind gleich mitten in der Altstadt. Welch ein Abstand zwischen diesem Stadtteile und dem Bahnhofsviertel! Dort der lebhaft pulsierende Strom des modernen Lebens, hier das stille, beschauliche Treiben eines Landstädtchens vor hundert Jahren. Auch auf dem großen, rechtwinkeligen Marktplatze ist eine Stimmung, die an die Scene vor dem Gasthof „Zum Löwen“ in Goethes „Hermann und Dorothea“ erinnert.
Etwas hinter die Häuserflucht zurückweichend, aber darum um so wirksamer, erhebt hier der mächtige Langbau des Rathauses seine hohe Giebelseite. Ueber dem Hauptportale prangt das Wappen der Stadt, ein rechtsgelehnter Schild mit einem gewellten Querbalken, daneben der springende Greif, das Wappentier der pommer'schen Herzöge, als Erinnerung an die treueste Ergebenheit der Stadt gegen ihre Herren aus dem alten Grafengeschlechte.
Wie billig überragt das Rathaus (s. S. 766) alle Gebäude am Platze. Aber es ist nicht einzig die Größe des Hauses, welche unsern Blick auf sich lenkt, es ist vor allem die seine architektonische Gliederung und das reiche Maßwerkornament der hochgiebeligen Front, die unsere Bewunderung erregen. Stargards Rathaus giebt uns mitsamt seinen beiden stattlichen Nachbarhäusern, der Ratsapotheke und dem Protzenschen Hause (s. das nebenstehende Bild), eine hohe Meinung von der Blüte, welche die ausgehende Gotik auch im Profanbau in Pommern erlangt hatte.
Zu unserer Rechten, etwas abseits vom eigentlichen Marktplatze, ragt die gewaltige Marienkirche, wie ein Bau von Riesenhänden geschaffen, zum Himmel empor. St. Marien ist Stargards Perle, ein in jeder Beziehung grandioser Bau, eine der größten und schönsten Kirchen der ganzen norddeutschen Tiefebene. Ihre Erbauer, das sieht man auf den ersten Blick, haben durch die ungeheuren Maße, die sie ihrem Werke verliehen, imponieren wollen. Und der müßte keinen Blick für die Größe menschlicher Leistungen haben, der sich durch dieses Riesengebäude nicht mit Staunen erfüllt sähe. Unsere Bewunderung wächst, wenn wir die Einzelheiten des Baues näher ins Auge fassen. Wir gewahren überall im Inneren wie im Aeußeren eine klare, übersichtliche Anordnung der Verhältnisse, eine nicht verschwenderische, aber auch nicht im entferntesten kärgliche Dekoration.
Dieselbe trägt besonders an der Turmfassade und dem Chorhause jenes zierliche, elegante Gepräge, das der älteren Gotik eigentümlich ist und sie aufs vorteilhafteste von der verschnörkelten, zopfigen Manier ihrer Ausgangsperiode unterscheidet. Von der trockenen Spießbürgerlichkeit, die den meisten großen Backsteinbauten bürgerlicher Herkunft in
[766]Norddeutschland anhaftet, ist hier keine Spur, vielmehr hat der Formsteinbrenner dem Steinmetz erfolgreich Konkurenz gemacht und in den Rundstäben, Halbsäulchen, Spitzbogen und blattwerkgeschmückten Fialen so Treffliches geleistet, daß unter seiner Hand der gebrannte Stein als ein völliger Ersatz des in der Erde gewachsenen erscheint. Das pekuniäre Vermögen ist freilich hinter dem Wollen zurückgeblieben. Man hatte sich Größeres vorgenommen, als man hernach auszuführen imstande war. Die beiden Prachttürme sind wie bei so vielen anderen Monumentalkirchen unvollendet geblieben und spätere Jahrhunderte haben ihnen einen nur notdürftigen Abschluß verliehen. Trotz dieses Mangels, dessen Beseitigung heute schon ins Auge gefaßt ist, bleibt die Marienkirche dennoch eine architektonische Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
In mannigfachem Betracht der Marienkirche verwandt erscheint die an der äußeren Grenze der Altstadt auf einer kleinen Anhöhe gelegene, neuerdings äußerlich und innerlich trefflich restaurierte Johanniskirche (s. S. 765). Kann St. Johann mit St. Marien als Baudenkmal den Wettbewerb nicht aufnehmen, so bietet diese kleinere Kirche dafür mehr Interessantes in ihrem Inneren als die ihrer ehemaligen Einrichtung beraubte Marienkirche. Die St. Johanniskirche enthält Schnitzereien, welche zu den besten des Landes gehören, und die Statuen der Maria und des Johannes, wohl die Ueberbleibsel eines ehemalige Kalvarienberges, sind den besten Leistungen der Holzplastik, welche, wie bekannt, vorzüglich in Norddeutschland ihre Heimstätte hatte, beizuzählen. Vornehmlich die Madonna darf als ein Prachtstück gotischer Bildhauerkunst angesehen und kühnlich dem berühmten Altarschnitzwerk in der Thomaskirche zu Tribsees zur Seite gestellt werden.
Das wundersam schöne Antlitz der Gottesmutter im Herzen, verlassen wir den Raum. Draußen auf dem Kirchplatze leuchtet hell die Sonne, grünen die Linden und singen die Vögel wie ehedem, als die alten Meister die Kirche und ihre Bilder schufen. Die Natur ist sich gleich geblieben, nur die Menschen haben sich geändert in ihrem Denken und Fühlen. Kühl weht uns die Luft um die Stirn, da wir auf dem Wege zum Bahnhof die gewölbte Halle des Johannischores passieren, das ist der Odem der neuen Zeit, die kein Sinnen und Träumen kennt, die unerbittlich nur nüchternes Denken und nimmermüde Arbeit erfordert. Aber schön und lohnend ist es doch, so ungewohnt es auch den modernen Menschen erst ankommen mag, sinnend zu verweilen bei den Denkmalen längst vergangener Geschlechter, und Stargard hat Kunstmäler, die einer Stunde ernster Betrachtung wert sind.
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