Deutsche Musikzeitungen
Dieses Kapitel ist eines der betrüblichsten, aber auch aufschlussreichsten des deutschen Musiklebens von ehedem und von heute.
Zwei Gattungen von Musikblättern sind zu unterscheiden: die eigentliche Fach- und die Liebhaberpresse. Die im engeren Sinne als Fachpresse zu bezeichnende Kategorie diente vor der Gleichschaltung hauptsächlich den einzelnen Berufsverbänden als Organ. Sie war so vielgestaltig wie das musikalische Verbandsleben. Es gab Dirigenten-, Kritiker-, Musikwissenschafts-, Kirchenmusik-, Instrumentenbau-, Musikpädagogen-, Chorsänger-Zeitschriften. In Fällen, wo Konkurrenzverbände existierten, erschienen mehrere Blätter der gleichen Kategorie.
Zu den wichtigsten dieser Art gehörten die Zeitungen der Orchestermusiker, wichtig deshalb, weil sie die politischen Unter- und Oberströmungen am deutlichsten spiegelten. Der deutsche Orchestermusiker war vor dem Weltkriege offiziell parteilos mit angesprochener Tendenz zur Sozialdemokratie. Sie war damals die einzige Partei, die es wagen durfte, im Kampf gegen die Uniform der Militärkonkurrenz für den Zivilmusiker einzutreten. Während des Krieges erfolgte der offene Uebergang nach links und damit die gewerkschaftliche Organisation der Musiker. Hierbei zeigten sich indessen schon verhältnismässig früh Ansätze zur Bildung eines rechten Parteiflügels. Von ihm aus fasste, genau entsprechend der innenpolitischen Gruppierung, der Nationalsozialismus Boden. Der deutsche Orchestermusiker und der deutsche Schauspieler waren der musische Vortrab der braunen Garde. Die endgültige Umwälzung hat im Musikerverband wie in der Bühnen-Genossenschaft nur die bereits bestehenden Machtverhältnisse zur amtlichen Geltung gebracht.
Dieser Tatbestand erklärt sich zum erheblichen Teil daraus, dass gerade das deutsche Theater- und Musikwesen von den Spar- und Abbaumassnahmen der Brüning-Braun-Regierung besonders schwer betroffen wurden. Zudem hat die amtliche Gleichgültigkeit der Republik, wie die persönliche Verständnislosigkeit ihrer Führer gegenüber allen Fragen künstlerischer Natur verheerend gewirkt.
Die andere Gattung der musikalischen Presse hatte keine berufsständische Interessen zu vertreten. Ihre Aufgabe bestand ursprünglich in der fachmännischen Vermittlung zwischen Künstlertum und Laien. Damit verbunden war die wachsende Einbeziehung der sozialen, wirtschaftlichen und kunstpolitischen Geschehnisse, soweit sie die Oeffentlichkeit betrafen. Das bis zur Gegenwart existierende älteste Blatt dieser Art ist die „Neue Zeitschrift für Musik“, vor rund 100 Jahren von Robert Schumann begründet als Kampforgan gegen das von der damaligen „Musikalischen Zeitung“ vertretene Philistertum. Für sie schrieb Schumann, in romantischer Dreiteilung als Florestan, Eusebius und Meister Raro auftretend, einen geheimnisvollen Kreis der „Davidsbündler“ vorspiegelnd, seine unvergänglichen Aufsätze und Kritiken, absolute und höchste Muster schöpferischer Kunstbetrachtung. Hier veröffentlichte der junge Wagner, vorsichtig unter Pseudonym verborgen, einige seiner ersten Abhandlungen. Hier fand sich überhaupt alles zusammen, was im Deutschland des Vormärz und Nachmärz Jugend, Begabung, Willen und Kraft zur Tat hatte. Als Schumann nach zehnjähriger Tätigkeit die Redaktion niederlegte, übernahm sie Brendel, ein geschickter und kluger Musikjournalist. Er machte die Zeitung zum Parteiorgan der Neudeutschen und schaffte ihr neue Geltung als der Vorkämpferin für Wagner, Liszt, Berlioz und ihren Kreis.
In die gleiche Richtung, wenn auch sächsisch behutsamer, steuerten bald die von dem Verleger Barthold Senff geleiteten „Signale“. Sie brachten ebenfalls Originalbeiträge von Wagner und seinen Anhängern. Galt doch in jener Zeit die publizistische Betätigung als eine Art Pflichtarbeit für den schaffenden Musiker. Liszt, Cornelius, Bülow, Draeseke[1] und viele andere schriftstellerten ebenso wie sie komponierten. Pressefehden namentlich mit der Tageskritik waren üblich. Die Fachpresse focht für den „Fortschritt“, während die Tageskritik meist reaktionär war. Zu dieser Gruppe stiess noch die „Allgemeine Musik-Zeitung“, von dem gleichfalls wagnerisch eingestellten Otto Leßmann[2] geleitet. Sie hatte den Sitz in Berlin, während die älteren Blätter von Leipzig, dem früheren Musikzentrum aus, geführt wurden. Damit erhielt die „Allgemeine Musik-Zeitung“ bald ein natürliches Uebergewicht, das durch die lebhafte, aufgeschlossene Persönlichkeit Leßmanns[3] noch gesteigert wurde.
Als eigentlich Letzte dieser Reihe – die von Wagner geschaffenen „Bayreuther Blätter“ sind immer nur an einen kleinen Kreis gelangt – erschien kurz nach der Jahrhundertwende die „Musik“. Sie war ein neuer, gewissermassen abschliessender Typ: im Gegensatz zu den vorwiegend parteikritisch geführten Kampfblättern eine dem Muster der Kunstzeitschriften nachgebildete, objektiv zusammenfassende Revue, typographisch sorgsam aufgemacht, mit reichem Bildermaterial ausgestattet, wie man es von Musikzeitungen nicht gewohnt war. Nach ihr kamen noch in Wien der „Anbruch“ und in Mainz das „Melos“, beide unverhüllt als Werbezeitschriften zeitgenössisch gerichteter Verlage, dazu in Prag der „Auftakt“, bemerkenswert als deutschsprachiges Organ der tschechoslowakischen Musikpädagogen.
Diese Uebersicht ist nicht vollständig, aber sie zeigt die Haupterscheinungen in ihrer Vielfältigkeit. Schon die Gründungsjahre und Gründernamen erweisen, wo die Schwerpunkte lagen: bei den Persönlichkeiten der Herausgeber und in der Art der Zielsetzung, also dem Kampf gegen eine Reaktion, der Werbung für neue Ideen. Will man sich einen Eindruck verschaffen von dem geistigen Rückgang während des letzten Jahrzehntes, so muss man den gegenwärtigen Zustand jener Musikblätter betrachten, die einstmals wirklich Bedeutung und Charakter, also wirkliche Herausgeber, Mitarbeiter und Ziele besassen.
Die heut verschwundenen „Signale“ kämpften schon seit Jahren den Todeskampf, indem sie dem Anzeigengeschäft zuliebe ein Publikum vortäuschten, das längst nicht mehr vorhanden war. Aehnlich erging es der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Dem in abgelebten Traditionen erstarrten Blatt fehlten die Leser. Sie starben sozusagen weg. Neue aber kamen nicht nach, sondern informierten sich mehr und mehr aus den Tageszeitungen. Die Rollen waren vertauscht: jetzt zeigte sich die Tagespresse zeitgenössisch eingestellt und beweglich, die Fachpresse dagegen reaktionär und stupid.
Man suchte sich zu helfen, indem man im Inseratenteil zur amerikanisierten Reklame, im redaktionellen Teil zum politisierten Sauherdenton überging und beide Teile unterirdisch miteinander verband. In der einst von Schumann geleiteten Zeitschrift verfocht nun Alfred Heuss deutschnationalen Antisemitismus und deutschvölkische Grundsätze. Dieser stramm deutsche Mann, dieser Ueberdeutsche war ein braver Schweizer. In der „Allgemeinen Musikzeitung“ blähte sich ein schriftstellerisch wie kritisch gleich platter Bierbankästhet, Paul Schwers, zum Despoten des Berliner Musikbetriebes auf. Die unfreiwillige Komik war das Beste an ihm – gleichwohl geschah das Wunder: je mehr er auf die Juden schimpfte, um so fleissiger inserierten sie bei ihm, je schamloser er Regierung und Behörden mit Schmutz bewarf, um so mehr Entgegenkommen und Beachtung erwiesen sie ihm. Das musikkritische Rowdietum triumphierte als „Fachpresse“. Anstatt es zur Tür hinauszuohrfeigen, glaubte man es durch Tee-Einladungen beschwichtigen zu sollen.
Heut haben alle diese Sänger ausgesungen. Den echten Nazis rochen sie – mit Recht – zu stark nach Hugenberg. So sitzen sie nun als gefoppte Helden im Schmollwinkel und warten auf den neuen Barbarossa. Nur die einst neutrale „Musik“ hat einen richtigen S. A.-Häuptling als Herausgeber bekommen, und im „Melos“ erforscht Hans Strobel, ehemals patentierter Vorkämpfer für neue Musik und Hindemith-Biograph, die kulturelle Bedeutung des Horst-Wessel-Liedes. Wer soll diese Blätter noch lesen? Es lohnt nicht einmal, darüber zu lächeln, selbst dafür sind sie zu dumm und zu schlecht gemacht.
Die reichsdeutsche Musikpresse ist tot, absolut und mausetot.
Setzen wir hinzu: sie hat es redlich verdient.