Zum Inhalt springen

Deutsche Gräber in der Fremde/3. Der Organist von Treuen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Fritz Rödiger
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Deutsche Gräber in der Fremde
3. Der Organist von Treuen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 29, 30
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[29]
Deutsche Gräber in der Fremde.


3. Der Organist von Treuen.


Es war Anno Dreißig nicht recht geheuer in den voigtländischen Bergen. „Es donnert ennet dem Rhistrom!“ singt Hebel. Es donnerte damals auch in der kleinen Stadt Treuen, hoch oben, wo der blaue Schiefer wächst, den man den Leuten „auf’s Dach giebt“, und wo damals der arme und ehrliche Weber am Webstuhl der Zeit saß und sich eine bessere Zukunft „zu Faden schlagen“ wollte.

Die jungen Leute von heute wissen nicht, mit wie wenig damals das Volk zufrieden gewesen wäre! Auch dieses Wenige, das von Anno Dreißig an allmählich kam, fast eitel Scheinbares, kostete harte Kämpfe! Da und dort ein Leben und viele Millionen Tage menschlicher Freiheit! – Der Hauptkampf, besonders an kleinen Orten, brach damals gegen die noch frohnberechtigten, meist adeligen Rittergutsbesitzer los, gegen die „Schlösser“ und die „gnädigen Herren“, die den Herrn Pfarrer creirten, den Herrn Gerichtsdirector commandirten und mit des Gerichtsdieners Stock exercirten; da war alles bei einander, weltliche und geistliche Polizei, sammt der blinden Frau Justitia. Dies war wohl auch der Feudalzettel, den die guten Bürger von Treuen abschneiden wollten und weshalb der Provinzialaufruhr durch die einzige Hauptstraße des Städtchens dahin tobte, Gerichtshaus und Gefängniß belagerte, Scheiben einwarf, daß es klirrte und „Kies und Funken stoben“ und jeder „gutgesinnte“ Bürger und „gnädige Herr“ mit sammt der „gnädigen Frau“ sich flüchtete. Nur die armen verwalterlichen und gerichtsdienerlichen oder sonst subalternen Häute hingen die kleinen Dynasten der „Volkswuth“ entgegen und dieselben wurden denn auch manchmal weidlich durchgegerbt. Die Leute rächten sich an der Ruthe, da ihnen die Hand, die sie damit geschlagen, entgangen.

So ging es denn besonders in Treuen kunderbunt her 1830. Gesetz und Ordnung waren aufgelöst, das Gefängniß, die Bastille, lag halb in Trümmern, sogar die fetten Schweine des Wachtmeisters wurden nicht geschont, wie die Volkschronik erzählt. Die Armee war fern, sie mußte die sächsischen Niederlande bewachen; es brandete und donnerte auch dort unten in den großen Städten; dazu waren die zwölftausend Mann des stehenden Heeres von dazumal ohnehin nur eine homöopathische Dosis gegen die Millionen politischer Fieberan- und -einfälle jener Zeit.

Da rückten zwei mächtige Donnerbüchsen in’s Feld, sie pflanzten sich hoch auf mitten im Steinhagel und sendeten ihre Redegeschosse gegen die wilden Bastillenstürmer; es waren zwei junge Männer: der von uns in Nr. 2 berührte Karl Todt, und der seit 1825 in Treuen angestellte Oberlehrer und Organist Karl Böhme.

Ruhestätte Karl Böhme’s in St. Manz.

Diese beiden jungen Männer machten mit der Gewalt ihrer Rede und durch das Vertrauen, das schon damals die Bürger ihnen schenkten, der „tollen Woche“ ein Ende; sie vermittelten – und ernteten, wie die Freisinnigen aller Zeiten, als die Gefahr vorüber war, schlechten Dank, sie kamen in’s schwarze Buch, das einzige Symbol deutschmetternich’scher Polizeieinigkeit, sie blieben darin ihr Lebenlang.

Die Bastillenstürmer aber wurden in ziemlicher Anzahl des Aufruhrs gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit selbstverständlich überwiesen und in’s Correctionshaus befördert. Karl Böhme wirkte von da an Jahre lang im Stillen, wie es das politische Veilchen jener Tage nothwendig hatte, wenn es unter bureaukratischer Pfefferminze, geistlichen Disteln, feudalen Brennnesseln und polizeilichem Bitterklee noch ein ganz klein wenig duften wollte; er wurde Vorsteher der Stadtverordneten und zog sich als Schulmeister manchen braven Jungen heran.

Inzwischen wurde es „Tager“; 1848 fuhr, wie Lenore um’s Morgenroth, empor aus alten Träumen. Es bildete sich aus der liberalen Partei heraus eine demokratische, und diese sendete ihre Mannen, v. Dieskau, den alten Kämpen, und v. Trützschler, den jungen, – der später in Mannheim auf dem Sandhügel den Tod des politischen Märtyrers starb – hinauf in’s Frankfurter Parlament, zwei Edelinge des Volkes. Die erste große Volksversammlung hielten die Unter- und Obervoigtländer zusammen bei Schöneck, und dort, wie im nahen stillromantischen Waldhaus (heute nur noch berühmt wegen seiner vorzüglichen Knackwürste) und an manch anderem heimlichen Orte, durch die Wälder, durch die Auen, zogen die damaligen Führer ihre Soldaten der Freiheit und Einheit zusammen, begeisterte Reden entflammten die Herzen. Die gesammte Reaction, Bureaukratie, Adel, Militär, Absolutismus, Muckerthum und wie die Nebelgestalten alle hießen, durch die der politische Volkserlkönig dahin brauste, im schwarzrothgoldnen Mantel das schon halbtodte Kind der Einheit und Freiheit, lagen scheinbar, aber wohlberechnend zu den Füßen der jubelnden Menge. Beschlüsse auf Beschlüsse, Volksversammlungen an allen Orten und Enden, Zeitschriften aus der Erde wachsend, fliegende Blätter in allen Lüften, Karl Böhme überall dabei. In Treuen erschien unter seiner Mitwirkung der demokratische „Voigtländer“, der sich noch ziemlich lange hielt; Böhme wurde Präsident des Vaterlandsvereins.

Da kamen die Maitage von 1849. Es wurde rekrutirt und marschirt, mit Jagdflinten, Pistolen und Sensen gedachte man die deutsche Reichsverfassung zu retten. Guter Wille, schwache Kraft, wenig Leute. Einige Tage provisorische Regierung, dann politischer [30] Pancratius und Servatius; Alles, Alles miteinander erfror, nur der Haß der Rückwärtsmänner nicht. Schreck, Entrüstung, Verrath; die Spreu flog haufenweise vom Weizen, am bedauerlichsten in Treuen. Der Kern blieb fest, mit ihm Böhme. Schon waren die meisten Gefängnisse unten im Lande angefüllt; fast alle Voigtländer waren noch frei oder auf Ehrenwort entlassen – Maikäfer am Schnürchen.

Da sammelten sich noch einmal die Männer jener rauhen, aber frischen Berge des Voigtlandes im Schützenhaussaale zu Plauen. Sie kamen herniedergestiegen in’s lieblich milde Elsterthal, sie wollten noch einmal das Wort erheben für die deutsche Reichsverfassung. Auf dem Präsidentenstuhle thronte der greise ehrwürdige Cantor Finke von Plauen (später zu fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt). Die Meisten, die ihn umgaben, hatten, um zu kommen, einer speciellen polizeilichen Erlaubniß zum Reisen bedurft, da sie fast Alle „eingegrenzt“ waren. Keiner war sicher, sofort abgeführt und eingesteckt zu werden „bis auf Weiteres“, wie damals der weise Spruch der trefflichen Specialuntersuchungsrichter lautete.

Böhme und ich waren auch gekommen, wir wandelten in’s Freie; in einem Wirthshaus da kehrten wir ein und tranken, im Vorgefühle unserer Schicksale, ein Glas auf’s Wiedersehen. Wenige Zeit darauf saßen wir alle Beide

„Hinter düstern Wällen,
Hinter ehrnem Thor.“

Böhme wurde, nach langmonatlicher Untersuchungshaft, zu zehn Jahren Zuchthaus in Eisen verurtheilt, durch seine Tochter Selma aber mittels eines guten Dietrichs befreit. Selma hatte den Gefängnißschlüssel in Glaserkitt abgedrückt und Schlosser gab es damals genug, die solche Festungsschlüssel nachmachten. Es war dies im ersten Winter, wo Haft und Aufsicht noch eine ziemlich gemüthliche war, später ward’s „besser“! Angst und Gefahr schwand unter Aengsten und Gefahren dahin; die Reiseroute lautete: über Treuen in die Schweiz! Polizei und Soldaten trennte oftmals nur eine dünne Wand vom Gesuchten. Von Nürnberg reiste Böhme bis Augsburg, im traulichsten Gespräch mit vier bairischen Officieren, incognito. In Kempten, droben im Allgäu, bestand damals, wie an vielen anderen Orten, eine demokratische Auswanderungsgesellschaft, eine Art Schifferzunft, welche die flüchtigen Hochverräther per Achse nach dem Bodensee transportirte und hinter Lindau herum in Tell’s uraltem Befreiungsnachen über das schwäbische Meer spedirte mit dem Wahlspruch:

„Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen!“

Dort bei dem kühnen Zunftmeister jenes wohlorganisirten Demokraten-Casinos, im versteckten Stübel, bei einem guten Glas Bier, verlebte Böhme die letzten schönen Stunden auf Deutschlands Erde.

Es war

„im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,“

des Jahres 1852; auch ich war in Arkadien geboren! das heißt, auch ich hatte, nach langem Zögern, 1851 den Ausbruch aus einer der Frohnvesten Sachsens, Adorf, gewagt; auch mich hatten die damaligen Gesetzesausleger mit zwölf Jahren Zuchthaus erster Classe, Kette und Klotz, bedacht und einigen Monaten Knochenzugabe. Alles von wegen der verpönten Reichsverfassung, die man zwanzig Jahre später mit siebenhunderttausend Mann, den Kaiser an der Spitze, aus Frankreich heimholte, nach Milliarden Opfern an Blut und Leben und Vermögen! 1849 war noch ein Mißverständniß und die Beusts und Manteuffels waren keine Bismärcker.

Ich aber schaukelte, ein Gast der freien Schweizerberge, bei romantischem Mondenschein, wie sich solchen ein deutscher Jüngling nicht schöner denken kann, auf den krystall-, gold- und silberblitzenden Wellen des Bodensees, in einer Nußschale von einem Schiffchen, nahe dem uralten Hafenstädtchen Arbon. Der Thurgau lag mit seiner ganzen Obstwald-Blüthenpracht unmittelbar vor mir, nahe und doch in nebelgrauer Mondferne. Durch die Weingelände am Ufer flüsterte friedlich und freundlich die Seeluft; von einem alten grauen Thurme brummte die Glocke neun Uhr. Ganz wie die Einleitung zu einem idyllischen Romane. Der Fährmann war kein Hexenmeister in der Kunst zu rudern und zu landen. Er fand nicht einmal den rechten Hafen dieser uralten Seestadt und setzte mich, mir nichts, dir nichts, bei einem Fußweg an’s Land. Da stand ich in einem prächtigen Baum- und Blumengarten, wie in einem Zaubermärchen. Vom nahen Hügel, aus weinumrankter Hütte, tönte Lautenklang und Frauensang dem irrenden Ritter entgegen.

„Da half kein Zittern, da half kein Zagen!“

Links und rechts hemmende Hage, vor mir verführerischer Sirenensang; ich verstopfte die Ohren keineswegs, ging frisch drauf los, stellte mich den erstaunten Gesichtern einiger hübschen Mädchen als fremder Irrwisch vor, der soeben aus dem tiefen Meere emporgetaucht sei, und wurde von ihnen, wenn auch nicht gastfreundlich zu der Väter Burg geführt, so doch auf den rechten Weg in’s Städtli und zum Städtli hinaus, nach dem Bade Horn zu.

Auf jenem Horn aber, ihm ein Cap der Hoffnung, hatte sich still und friedlich der weiland Organist von Treuen mit seiner Tochter Selma niedergelassen, und wenn ein Studentenscherz über vergangene Nothjahre eines Mannes erlaubt ist, so konnte man damals von ihm singen:

„Er büßt die Schuld im fernen Land
Als … Tabaksfabrikant.“

Böhme und seine Selma fabricirten Cigarren. –

Es ist seit jenem ersten Wiederfinden im Asyl manch langes Jahr vergangen. Böhme wurde später Agent verschiedener Handelshäuser und nahm in St. Gallen, als Tapetenhändler mit Frau Hajek associirt, eine allgemein geachtete Stellung ein. Wir haben als alte Voigtländer treu und fest zusammengehalten, uns oft besucht, viel Freud’ und Leid miteinander getheilt und lebten oft im Geiste wieder draußen in unseren dunkeln Schwarzwäldern, der Heimath, bei all den Braven, die der Sache treu geblieben, ohne daß es uns gelüstet hätte, wieder bleibend heimzukehren.

Ich hatt’ einen Cameraden,
Einen bessern find’st Du nit!

Da – es war wiederum „im wunderschönen Monat Mai“ –, 1864, vierunddreißig Jahre nach der Revolte zu Treuen, die Wellen kräuselten, die Lüfte säuselten, als zu mir, weit in’s Solothurner Land hinein, ein schwarz berändertes Brieflein geflogen kam: „Karl Böhme ist gestorben!“ Eine heftige Lungenentzündung hatte den alten Gardisten der deutschen Einheit und Freiheit, ungeahnt und plötzlich, zur großen Armee beordert.

Vergangenen Sommer besuchte ich den anspruchslosen, aber recht freundlichen Kirchhof zu St. Manz, fast mitten in der Stadt St. Gallen. Es war einundzwanzig Jahre nach Böhme’s Flucht. Deutschland war inzwischen einig geworden und hatte eine Reichsverfassung erhalten. Wenn auch nicht im Sinne von 1849, so hatte doch das Jahr 1870 das ganze deutsche Volk einmal einig gesehen, und die Entwickelung der Völker schreitet nur langsam voran. Es sind seit 1830, seit den Tagen des Aufruhrs von Treuen, allwo Böhme seine erste Volksrede gedonnert, immerhin politische Riesenschritte nach vorwärts gemacht worden von Deutschland wie von keinem andern Lande. Möge das deutsche Volk nun auch dieses „Helden der Schule“ nicht vergessen, der sich still gebettet in St. Manz unter einer Trauerweide, unter einem wärmenden, himmelblaugeblümten Teppich von Immergrün und einem dunklen Felsenblocke aus dem Rheinthal. Ja, aus dem Rheinthal! vom wunderlieben Rhein! rebenumkränzt, felsumstarrt, dort, wo er noch ein unbesonnener Jüngling ist und manchmal im jugendlichen Uebermuthe breite, sonnige Thäler überfluthet, wie böse Schicksale Völker und Länder, während er weiter unten mit männlicher Klarheit Völker verbindet, Lasten des Lebens trägt und Strudel und Untiefen überbrückt und ruhig die Pfade wandelt, die ihm die Gesetze vorschreiben, bis er am Ende seiner Tage als alter Kerl im Sande verrinnt, wie wir Alle! Vom Rheine, wo gegenüber der kleinste deutsche Staat Lichtenstein an den Alpen klebt wie ein heimliches Schwalbennest! Vom Rheine, dem gefeierten, stammt der Grabstein unseres „deutschen Böhme“. Und auf diesem Grabsteine steht geschrieben:

Hier ruhet
Karl Böhme.
Geb. am 9. Hornung 1809 zu Göhrlitz
im Königreich Sachsen
Gest. den 11. Mai 1864 zu St. Gallen.
Verbannt aus seinem Vaterlande, weil er für des
Volkes Rechte gestritten, fand er im Lande der
Freiheit ein Asyl und ein Grab.
Fritz Rödiger.