Des tragischen Affen Jogo Liebe und Hochzeit
tragischen Affen Jogo
Liebe und Hochzeit
von
Victor Hadwiger
Berlin W 15
Der Affe Philipp kauerte verfroren auf seinem Reck und folgte erschrocken den kleinen Geräuschen, die auf den Feldern erwachten. Hinter ihm das Zelt der Kameraden lag noch im Schlafe; nur selten scharrte ein träumendes Zugtier oder die Ratten kämpften tief unten im Dung. In der Ferne, hinter der Stadt und ihren Türmen wollte die Sonne aufgehen.
In den großen Spiegeln über der elektrischen Orgel sah Philipp sein vergrämtes Gesicht, und wenn er sich schüttelte, sprangen feine Wasserperlen von seinem Pelz hinüber auf das Glas. – Betrunkenes Pack! – Sie hatten wieder vergessen, seine Kette zu lösen. Nun war es schon das drittemal, daß er so eine Nacht an der Kette zugebracht hatte, Philipp, der klügste unter den Affen, klug fast wie ein Mensch und ein noch besserer Kletterer.
»Das ist nichts als Neid, elender, gemeiner Neid,« dachte Philipp und kroch in sich zusammen, »Neid, elender Neid derer, die nicht tanzen können und possierlich sein.« Wenn Jogo nicht gewesen wäre, der Oberste der Zirkusleute! Nur der verstand es, mit Affen umzugehen. Der kniff ihn nicht in den Schwanz wie die anderen und warf ihm nicht gemeine Redensarten zu, wenn Philipp nach Affenart einsam war und seine Augen schwammen. Auch hatte er Haare, viel Haare auf dem Handrücken, der Jogo, und sein Gesicht schien in seltsamer Weise gedrückt, dachte Philipp. Seine Augen irrten nach dem Spiegel, als müßte er dort seinen geliebten Jogo entdecken. Wenn er, Philipp, nur sprechen könnte, dann würde er immer »Herr Direktor« zu Jogo sagen. So aber mußte er schweigen. Nur den einen klagenden Ton, in dem seine ganze Liebe begraben lag, hatte er als Antwort auf Jogos gute Worte. Eigentlich war es doch seltsam, daß Jogo sprechen konnte. Und sogar viel sprechen konnte er. Manchmal allerdings, da schien es, als ob ihm diese Kunst ausgehen wollte, und dann stotterte er und röchelte und schnappte in die Luft wie die japanischen Fische, die gestern angekommen waren. Dann ragte sein Unterkiefer noch weiter vor und man konnte fast vergessen, daß Jogo zu den Menschen gehörte, zu diesen Räubern und Mördern mit ihren weißen nackten Händen, die über allen Dingen lagen.
So träumte Philipp in das Dämmerlicht hinaus und wärmte sich an seinem Groll gegen die Menschen. So weit gereist mußte man sein wie er, um diese räuberischen Tiere mit ihren nackten Fingern und den roten, gierigen Lippen zu kennen, in Asien, in der Türkei, im fernen Italien mußte man gewesen sein, um zu wissen, wie sie weh tun können, wie sie kneifen können mit ihren geschliffenen Krallen und den spitzen Redensarten.
Ja, weit gereist mußte man sein, um zu fühlen, wie eine Affennatur ein qualvolles Ringen ist, ein Sichrekeln, ein Nachobenwollen. Wohin nur mit sich? Ach, wenn doch Jogo käme, der Herr Direktor.
Aber da fühlte der kleine Philipp einen Stich hinter seinem Fell und blitzschnell fuhr seine schmale graue Hand nach der getroffenen Stelle. Gewiß wieder so ein Insekt, so ein Tier der niedersten Gattung, das sich verwegen mit dem Blute der Besseren beköstigt, so ein Balkanfloh, ein aus der Fremde mitgebrachtes Insekt. Und halb ärgerlich, halb geschäftig wirbelten die kleinen Fingerchen das Haar auf, um dann resigniert wieder an eine warme Stelle zurückzukehren.
»Ob die Menschen wohl auch Flöhe haben?« grübelte Philipp. Ach, hätten sie doch Flöhe. Er würde ihnen alles Ungeziefer der Welt gönnen. – Jogo, der hatte ja welche, fragte er sich doch immer, Jogo – aber der – der hatte ja auch Haare auf den Händen. Ach, Jogo war ein Einziger, ein aus der Art Geschlagener. Viele, die haben sogar Angst vor ihm, und die Lucie, die schüttelte sich immer, wenn er nach ihrem Arm faßte. »Ach, nicht anfassen, Jogo!« Und Jogo griff sich dann an die Stirne und stöhnte. Warum beißt er die Lucie nicht und schlägt in ihr Gesicht hinein mit seinen Krallen? – Warum hat Lucie keine Flöhe?! Gerade Lucie und ihre Gesellschaft, die Turner und Springer. – Ach, wenn doch nur schon die Sonne aufginge.
Die Nebelfetzen auf der großen Festwiese vor der Stadt zerteilten sich jetzt und ließen das Grün in breiten Streifen durchschimmern. Hinter den weißen Zelten der Gaukler zog sich in dunklen Linie eine Wagenburg und aus den kleinen schwarzen Kaminröhren krochen dünne Rauchschlangen in die feuchte Morgenluft. Überall klapperte es und man hörte die Pantinen schlürfen, verschlafene Worte begegneten sich. Auch im Stallzelte wurde es lebendiger und die Hengste rieben ihre Eisen an den Pfählen. Nur vor dem großen Hauptzelte mit der Orgel und den langen Spiegeln war es noch stiller als zuvor. In eine graue Kugel verwandelt, hockte der Affe Philipp auf seinem Reck und schlief. Auf dem hölzernen Podium mit seinem abgeschabten Teppich lag schon die Sonne und dehnte sich behaglich in ungestörter Laune. Manchmal sah sie hinauf zu Philipp, den ein schwerer Traum bewegte, und rührte neugierig an sein Fell. Dann ging sie zu den Papageien, glitt leise über ihre Federhauben und ließ die farbigen Schwungfedern an ihren Flügeln grell aufleuchten. Aber die Papageien erwachten nicht unter den tastenden Fingern der Sonne. Erst als kleine, schnelle Schritte aus dem Innern des Zeltes herüberkamen, reckte ein alter Kakadu seinen Hals und rief den andern seinen Morgengruß zu. – – – – – – – – – –
Dann wurde ein roter Samtvorhang zurückgeschoben und der Kopf eines jungen Weibes bewegte sich in der Öffnung. Er saß auf einem schmalen zierlichen Halse, bedeckt von den gelockerten Flechten des blonden Haares, das im Dunkel des Hintergrundes einen feuchten grünen Glanz erkennen ließ wie gelbe Rosen im Schatten. Erst die Sonne weckte seine eigentliche Farbe und gab ihm rötliche Lichter, die sich von dem blendenden
Weiß der geöffneten Morgenjacke scharf abhoben. Ein dürftiges Seidenröckchen ließ die schmalen Glieder durchscheinen und war kaum imstande, auch nur einen Reiz der zarten Gestalt zu verbergen. – Dann hob sich Lucie auf den Zehenspitzen, um den aus gedrehten Strohbündeln gefertigten Futterkorb, der auf dem Gesimse der Orgel stand, herunterzulangen. Es war das immer ihr erster Griff, und nur die Sonne und ein paar hungrige Vögel, ihre Pflegekinder, konnten sehen, wie sie dabei kokett mit ihrem Körper spielte, ihn beben und leuchten ließ. Ein alter Amazonas, wohl hundert Jahre alt, kreischte begehrlich auf, als Lucie mit der ihr so eigenen Bewegung den Korb herabnahm, und die beschopften Kakadugreise wiesen ihn zurecht ob seiner Gier.
Dann stand sie lachend vor ihnen und streckte ihnen schalkhaft den leeren Korb entgegen. Den rechten Fuß vorgeschoben, hielt sie den Korb mit beiden Armen vorgestreckt, das Köpfchen ein wenig geneigt und die Augen auf die Hüfte gerichtet, von wo aus eine Falte des Rockes zwischen den Schenkeln hinablief.
Lucie war kein Kind mehr, das wußten alle die Kakadugreise, und selbst Philipp in seinem Bügel, der geheime Asket, rieb sich die Augen und starrte zu ihr hinüber. Das war Onkel Jogos reifes Pflegekind, wußten sie alle, Jakob, James, Peter der Amazonas und die anderen, und ihre Schnäbel und Fänge öffneten sich bittend, wenn sie ihnen ihre Morgenmahlzeit kredenzte.
Sie lachte lange und kicherte in sich hinein, während die Hundertjährigen mit den Schnäbeln knirschten und in Ergebenheit das bescheidene Frühstück lobten. Nur dem armen Philipp wollten seine Früchte nicht recht bekommen. Ärgerlich ließ er die Reste über den Rand der Schale fallen und schielte immer hinüber zu der lachenden Lucie, maß die Falte an ihrer Hüfte, fror und sehnte sich. Wenn ich doch wenigstens so ein Hundertjähriger wäre, dachte Philipp – so schwatzhaft und gefräßig. Sie hätte mich in ihren Schoß genommen und sich Geschichten aus meinem Leben erzählen lassen. Aber wer nimmt einen Affen auf seinen Schoß? Sie kann sie nun einmal nicht leiden, derartige Tiere. Übelriechend sind sie und haben Flöhe.
Lucie war so streng bei ihren Wahlen und jedes Tier wußte, ob es in ihrem
kleinen Herzen Eingang gefunden habe. Aber auch den Menschen gegenüber war sie sparsam mit ihrer Gunst. Sieben schöne Brüder vom Trapez, mit Leibern wie gemeißelt, und ein Athlet mit einem wehmütigen Blick wie eine hungrige junge Dogge, ein Reiter auf dem Ungesattelten und ein Jongleur,die fühlten alle, daß Lucie sie nie erhören würde. Eher würde sie des Jogo, ihres Pflegevaters, Weib. Vielleicht konnte Lucie gar nicht lieben, vielleicht konnte sie nur gehorchen. Er hatte doch das Recht, sie zu zwingen, sein Weib zu werden. Oder würde sie lieber sterben, ehe ihm gehören? Wenn er mit seiner langen schmalen Affenhand ihren Arm faßte, wie sie da immer erschauerte vor Ekel und Angst, und wenn er seinen Mund ihrem kleinen Ohr näher brachte, wie eine geheime Qual da in ihrem Gesicht stand.
So wogten die Gedanken und Erinnerungen an Lucie durcheinander. Alle wollten ihre Seele ergründen und ihre Zukunft prophezeien. Die sieben Brüder haßten einander und wollten nicht mehr gemeinsam turnen. Jeder von ihnen wollte unter den sieben der Einsame sein und in die Welt gehen. Aber wenn Lucie so lachte, so für keinen lachte, dann verrauchte der brüderliche Haß und das Mitleid sicherte sich seinen Platz, das Mitleid, das den Charakter verdirbt. Dann waren die Brüder wieder eine versöhnte Familie und erneuerten stillschweigend den Kontrakt mit Jogo.
Der Reiter auf dem Ungesattelten und der Jongleur waren immer Freunde gewesen und überaus vernünftige Leute, wie man so sagt. Und sie verloren auch nicht den Kopf, als sie gegenseitig ihre Leidenschaft entdeckten. So wurden sie jetzt treue Zechgesellen, umarmten und küßten einander und warfen unreine Worte in die Manege. Auch über Lucie sprachen sie mit der Schamlosigkeit der Betrunkenen, um sich zu betäuben. Da glitt eines Tages der Reiter aus und brach ein Bein. Jetzt war der Jongleur ein stiller Trinker.
Nur der Athlet Uri wollte sich dem Schicksal nicht ergeben. Er verlor allmählich seinen Hundeblick, feilschte und wurde geizig. Wenn er mit Jogo zu tun hatte, sprach er nur von seiner Kraft, schob den Ärmel zurück und zeigte dem kleinen Direktor seine Muskeln. Er wage es, mit dem größten Menschenaffen zu ringen, versicherte er oft und markierte einige Kehlgriffe.
Jogo stand dann ernst neben ihm und sprach von Benefizien, von seinen Geschäften und vom Leben überhaupt, wie es eigentlich doch traurig und voll von Sorgen wäre.
Als sie aber während so eines Gespräches einmal an Lucies Wagen vorbeikamen, wurde seine Stimme matt und unsicher. Er knallte nervös mit seiner Reitpeitsche, und als Lucies Kopf im Fenster erschien, bestellte er ein Frühstück und lud den Riesen ein, mit in den Wagen zu kommen.
Sie aßen und Jogo sprach wieder vom Leben und seinen Rätseln. Er zeigte Uri alle Gegenstände der Einrichtung und lobte sein Pflegekind, die Lucie, und ihren ausgesprochenen Sinn für das Schöne und Angenehme. Er wies auch auf eine Türe, die zu Lucies Kammer führte, und glitt mit seinen langen Fingern über den Riegel. Sein Gesicht veränderte sich, während er solches tat. Die Lippen traten hervor und seine Augen flüchteten vor denen des Gastes.
Abends war dann das Benefiz des Athleten. Auch Lucie tanzte an diesem Tag. Sie hatte freiwillig eine Piece eingeschoben. Das Publikum schrie und warf Blumen.
Es war ein toller Abend gewesen. Alle Stirnen waren heiß geworden, und die Tiere dampften vor Erregung, als hätte ein großer bacchantischer Taumel alles erfaßt. Jogo selbst, der sonst nur mit der Peitsche knallte und an seinem ungeheuerlichen Stehkragen zupfte, schien warm zu werden bei diesen Erfolgen, und nachdem Lucie getanzt hatte, verbeugte er sich sogar mit einer steifen, aber korrekten Bewegung, die den Stehkragen mit in Rechnung zog. Auch die sieben versöhnlichen Brüder zeigten wieder ein Bild vollendeter Eintracht. In Form einer Pyramide hatten sie sich im Trapez aufgestellt und ließen ihre Muskeln spielen. Den jüngsten, den Benjamin, bewunderten die Frauen am meisten. Seine Hüften hatten eben jene Linie. Auch meisterte er den Salto, in den sich heute alles aufzulösen schien. Man fühlte, wie dieser Salto mortale das Amen alles Zirkuslebens ist, jeder muß sich so kopfüber werfen können, ehe er ein Spezialist wird. Selbst August der Vierundzwanzigste mit seinem lahmen linken Fuß vollendete seine Kunst mit solch einem Sprung. Er kam aber nicht so glücklich wieder am Boden an wie die andern. Nun war es allerdings der rechte Fuß, der ihn schmerzte und eine ganz absonderlich krumme Gestalt annahm. August behauptete, indem er in die sächsische Mundart verfiel, man müsse ihn nun zum König salben. Mit einer anderen Beschäftigung wäre es nichts mehr.
Am besten schnitten Lucie ab und der Athlet. Er war noch nie so stark gewesen. –
Über der weiten Festwiese lag eine sternenlose Nacht. Nur die weißen Papierhüllen verzehrter Mundvorräte träumten zwischen zertretenen Halmen oder ließen sich vom Winde langsam dahintreiben. Auch in der Wagenburg hinter den Zelten glänzte kein Licht mehr, kein Vogel schrie, und nur die lautlosen Raubtiere, die Katzen, durchschritten das schlafende Revier nach Beute.
Jogo lag wach in seiner Kabine, und starrte zu der Holztäfelung der Decke hinauf, die ein mattes Lampenlicht erhellte. Er lag regungslos wie einer, der ein sehr scheues Wild belauscht, und nur selten zuckte es in ihm wie ein kurzer Krampf. Dem Zucken folgte dann eine rasche Handbewegung, die Gebärde eines Menschen, der sich erheben will, um bald von seinem Entschluß wieder abzukommen. Seine Augen traten aus dem häßlichen Kopfe hervor und der Unterkiefer bewegte sich wie bei einem kauenden Tier. Das ganze Gesicht litt unter der Anstrengung des Aufhorchens. Immer wieder glaubte er einen Atemzug Lucies entdeckt zu haben. Aber bald mußte er seine Entdeckung wieder preisgeben. Wie oft hatte er so dagelegen und die Pausen ihres Atems gezählt, als wären sie das Adagio einer großen Seligkeit. Und dann, wenn er wußte, daß sie ganz fest schlief, schlich er sich durch die Türe. Er hatte schon einen besonderen Griff, diese Türe lautlos zu öffnen. Ihre Fingerspitzen küßte er dann immer, die zarten durchsichtigen Fingerspitzen. –
Verschlossen! Es kam wie aus Abgründen und verhallte langsam und dumpf. – Ein kindlicher Ungehorsam gegen einen so zärtlichen Pflegevater wie er, zärtlich, ja – zärtlich. Zärtlich, wiederholte er noch einmal, als müßte er das Wort mit seinen scharfen Zähnen zerkleinern. Aber es schnitt ihn in die Lippen wie scharfe Kiesel. – Das Kind! Ob das Kind ahnte?! – Ob sie sich ängstigte – vor ihm – vor ihrem Vater, dem Bräutigam?! Verschlossen! – Aber die Atemzüge, warum fehlten die?! War die Bretterwand dichter geworden?! Lucie! Lucie! Er sprach es nicht aus. Die vorstehenden Lippen fingen den Ton wieder ein. – Noch einmal horchte er. – Und über der fahlgrauen Stirne sammelten sich kleine, salzige Tröpfchen, die Hände begannen zu zittern und der Atem warf die Brust wie im Fieber empor. Die Glieder lösten sich aus ihrer krampfhaften Starrheit – dann ein Satz – nein – nein – er taumelte ein wenig – nicht mit Gewalt, leise – wie ein besorgter Vater sein Kind weckt, weil die Nachtluft auf die entblößten kleinen Glieder sich legt, weil irgendwo ein Fenster sich geöffnet hat. Lucie! Lucie!
Ein ganz feiner Regen fiel auf die vom Feste müde Ebene und bekleidete alles mit einer dünnen grauen Schicht winziger Wasserperlen. Die lautlose Stille, die früher alle Gespenster aus der Tiefe gerufen hatte, wich jetzt dem eintönigen Anschlag der Tropfen. Aber es war doch alles ein einziges schweres Schweigen, nirgends knarrte ein Schritt, nirgends war ein Flüstern hörbar, kein Liebeswort, kein zitterndes Geständnis, wie es sonst aus dem Dunkel erwachte, wenn irgendwo Menschen sich niedergelassen haben.
Nur die Ratten feierten ihre lautlosen Orgien, die in den vielen Jahrhunderten ein starkes Geschlecht aus ihnen gemacht hatten. Nur sie schienen heute zu wissen, was Liebe ist, und huschten wie kleine schwarze Geister längs der Zeltwände, das Trockene suchend. Sie fühlten sich so stark zwischen den Rädern der Wagenburg, ein Volk waren sie hier, und kein geringer Feind hätte sich hier ihren Bissen ausgesetzt. Ein großes Tier hatte unter den Speichen nicht Raum genug zu einem Raubgang, auch wenn es geduckt einherschlich, und die Katzen waren klug genug, ein zarteres Wild zu wählen draußen auf dem Felde. –
Der Wind ging noch immer stark und Jogo hatte Mühe, das Licht seiner kleinen Laterne zu schützen. Vorsichtig suchte sein Fuß das Trittbrett des Wagens, und im nächsten Augenblick berührten seine Knie den feuchten Boden. Ein matter Lichtschein fiel von seiner Brust zwischen das erste Räderpaar und kroch langsam vor ihm her, während er so tief gebückt seinen Weg in das Revier der häßlichen Tiere antrat. Zwar scheuchte das wandernde Licht die Nager in das Dunkel der Zelte, und Jogo brauchte sich keines Angriffes zu erwehren, so lange sein Licht brannte. Aber der Weg bis unter den neunten Wagen in der Reihe war weit. Wenn man ein Licht vor seiner Brust zu bewahren hat und gewohnt ist, so aufrecht zwischen den Menschen einherzuschreiten, ist eine solche Reise ein mühseliges Stück. Vorsichtig tasteten seine langen Finger zwischen Unrat und Scherben, indes der Kopf den Schienen, Speichen und Haken sorgsam auswich. Hinter ihm rückte die Finsternis wieder in ihre Rechte ein und in ihrem Gefolge das Heer der Ratten. Er hörte, wie sie ihm fast auf den Fersen folgten und im nächsten Moment seine Beine berühren würden. Sein Puls jagte, und manchmal mußte er still halten, um wieder Kraft zu gewinnen. Wenn er ihre Zähne an seinem Fleisch fühlen würde, an seinen Wangen vielleicht, dort, wo manchmal, verstohlen ja nur, im Schlaf, Lucies Schläfen ihn berührt hatten. Die Ratten würden ihn liebkosen an Lucies Statt. –
Da vor ihm glitzerte etwas. Er fuhr zurück wie ein geblendetes Tier. Aber bald erinnerte er sich. – Jedes Ding hatte doch seinen Platz von ihm. Es geschah doch alles nach seinen Befehlen. Er war doch Herr hier in seinem Reich. Er war doch Jogo, auch wenn er auf Vieren kroch war er noch Jogo, der von allem wußte, alles wissen mußte. – Ein alter Spiegel aus dem Irrgarten hatte ihn erschreckt. Noch drei Armlängen und er war vor dem treuen Möbel angelangt, das früher so manchen harmlosen Jahrmarktgänger in Verwirrung hatte geraten lassen. Jetzt lag es da, um von seinen Scherzen auszuruhen, bestaubt und beschmutzt an der Wagenwand, seinem Herrn einen angeforderten Dienst zu tun. Begierig sog der Spiegel das Licht der Laterne auf und warf Jogo sein bleiches Gesicht entgegen. Jenes Gesicht mit dem vorgeschobenen Unterkiefer, den häßlichen Lippen und dem weit nach hinten stehenden Backenknochen, jetzt sah es noch unglücklicher aus über den vier gleichgestellten Gliedmaßen. Wie es doch jetzt so ein Stück vom Ganzen war, wie es jetzt so dazu gehörte.
Und sein eigenes Bild verfolgte ihn, als er weiter kroch zwischen Abfällen und niedrigem Getier, der Gewißheit nach, unaufhaltsam gejagt und wieder gehemmt von der Angst etwas verloren zu haben. Hundert Gedanken trafen sich in seinem Hirn und griffen wirr durcheinander. Bilder gespenstischer Szenen wirbelten vor ihm her und trieben ihm das Blut in die Schläfen, Bilder ekelhafter Liebe und tierischer Grausamkeit. Blutige Hände winkten überall und abgerissene Körperteile zuckten um ihn her.
Einen Augenblick ruhte er wieder, um seiner ganz Herr zu sein.– Dann kam das letzte Räderpaar. Sechzehn hatte er bereits gezählt. Da war er nun, Uris, des Athleten, Wagen, ein weißes Ungetüm von gedrungenem Bau. –
Einen bleiernen Druck fühlte Jogo in seinem Nacken, wie gefesselt lag er da unter dem Riesenleib dieses Kolosses. Nichts war mehr in ihm von dem Königtum, das die Peitsche als Zepter schwang. Kein weißer verwegener Hemdkragen, keine flatternde Binde bezeichnete mehr den Besitzer mit Repräsentationspflicht; ein mittelgroßes Tier mit langen Armen und herabhängenden Schultern kauerte da wie umklammert und erdrückt durch ein viel mächtigeres. Schmutzige Tropfen, die sich längs der Speichen ins Trockene geschlichen hatten, fielen auf sein Gesicht und entstellten es bis zur Fratze. Die Zähne schlugen aneinander im Fieberfrost und die Feuchtigkeit kroch an seinen Gliedern entlang, die Haare auf seinen Handrücken klebten in schwarzen kleinen Büscheln aneinander.
»Lucie!«
Er stemmte die Arme mit Anstrengung gegen den Boden und preßte sein Ohr an die untere Wand des Wagens, als wollte er mit seinem Kopf in das Innere dringen. Lautlos war diese Bewegung und doch von gieriger angstvoller Hast erfüllt.
Nichts, noch nichts! – – – Nur ein leises Knarren, wie von ungefähr sich loslösend aus der Stille – die träumende Bewegung eines im Schlafe Versunkenen.
Vor Jogos heißen Augen begann sich das Dunkel in rote rotierende Kreise zu verdichten, seine Hände umklammerten krampfhaft die Achse des Wagens.
Eine Stimme!
Wieder blutrote wirbelnde rasende Kreise. Eine Stimme. – Eine feine zitternde Stimme und eine dunklere tiefere neben ihr. – Knarren und leises Ächzen, Aufatmen – ein Flüstern und daneben immer die tiefe dunklere Stimme. – – – – – – – – – – – – – – – – –
Jogos Zähne hatten sich im Gebälk des Fahrzeugs festgebissen. Sein Mund blutete, seine Stirne war zerschunden. Einigemal schlug sein Kopf gegen den Querbalken. Dann erschlafften die Sehnen der Arme, und es war, als schrumpfte der gestraffte Körper in sich zusammen. Jogo fiel mit dem Gesicht gegen den Erdboden, der schon ganz von kleinen schmalen Regenbetten durchzogen war. Im Fallen zerdrückte er das Glas des an seiner Brust befestigten Lämpchens, so daß die Flamme erlosch. Aber seine Augen bedurften des Lichtes nicht mehr; eine tiefe Ohnmacht hielt ihn umfangen. Wie leblos lag der verunstaltete Kopf seitwärts, und die niederfallenden Tropfen bedeckten Nacken und Stirne wie der Todesschweiß eines Gefallenen.
Eine alte tragende Ratte wagte sich zuerst an den stillen Mann und betrachtete ihn wie ein erlegtes Wild. Aber mißtrauisch wie sie, waren auch ihre Gefährtinnen
und umkreisten fragend den Körper, wühlten zaghaft in den Taschen und Falten der Kleidung und berochen das Gesicht und die Hände.
Da ging oben eine Tür. Langsam, kaum hörbar öffnete sie sich und ein mattes Licht suchte den Weg in die Ebene hinaus. Es verscheuchte die Vorposten des nagenden Ungeziefers und die Alte mit ihren Gefährtinnen verschwand unter der Leinwand des anstoßenden Zeltes.
Kleine Schritte folgten dann dem Lichtschein und huschten längs der Wagenreihe entlang bis an das andere Ende. Ein neuer Regenschauer prasselte nieder und verschlang alle kleinen Geräusche mit seinem einförmigen Takt.
Vorsichtig schloß sich die Türe wieder vor zwei ruhig wachenden Augen, die den kleinen Schritten gefolgt waren. – –
So endete Jogos dunkle Fahrt an diesem Tage.
Am nächsten Morgen fanden ihn die Wärter mit schmutzigen Wunden und verwahrlosten Kleidern vor dem großen Affenkäfig sitzend. Seine Blicke waren verwirrt, und zitternd gab er Auskunft an seine Untergebenen, noch ehe jemand eine Frage wagte. Er habe mit den Affen gekämpft. Er wollte einem kranken Affen Hilfe bringen, dem Philipp, seinem Liebling, wollte er Hilfe bringen, aber die anderen Eifersüchtigen litten es nicht.
Philipp mit seinem zerzausten Fell und den kranken sehnsüchtigen Augen saß scheu in der Ecke, als wollte er sich verkriechen vor den vielen Blicken, die ihn musterten. So hatte er seinen geliebten Herrn noch nie gesehen, so ohne Stolz und Stehkragen. Und er dachte wieder an die bösen Flöhe, die ihm sein Dasein bestritten, an Lucie und die Menschen, die keine Flöhe hatten, und an den Herrn Direktor, von dem er es nicht sicher wußte. Er sah, wie sie seinen Freund wegtrugen. – Alle hatten sie böse Gesichter und grinsten den Philipp an. Was wollten sie nur von ihm?! Und der letzte hatte ihm gar mit dem Finger gedroht. Aber Zweifel und Rätsel können hüpfen und flüchten wie Flöhe, man kann sie nicht ausrotten, nicht mit dem klügsten Affengesicht ist man ein Allerweltsflohfänger. So dachte Philipp.
August der Vierundzwanzigste schrie es laut in die Manege hinaus: »Hinrichtung des niederträchtigen, verwahrlosten Affen Philipp, der eine Verschwörung gegen seinen Herrn und König angezettelt und sich in schnöder Weise an den Gesetzen des großen Affenstaates vergangen hat. Derselbe ist ein Schandbube und niedriger Verbrecher. Laut Gesetzes über den Hochverrat wird besagter Affe hiermit vom Leben zum Tode gebracht.«
Taterra, Taterra, Taterratata, Taterra, Taterra, Taterrata–tata und in langer Reihe marschierten die vermummten Vierhänder, den gefesselten Philipp in der Mitte, vor einem mit schwarzem Tuch bekleideten Podium auf.
August selbst in rotem Frack, wie ein hoffähiger Kommerzienrat, stellte sich als Henker vor und jonglierte ein riesiges Beil, das den Delinquenten dreifach an Größe übertraf. Er versicherte, dieses Handwerk meisterhaft zu beherrschen. Seine Studien habe er an verschiedenen Höfen Europas gemacht, wo es überall treffliche Henker gäbe. Er hoffe, auch den Empörer Philipp alsbald in die ewige Glückseligkeit hinüber zu spedieren. Vorerst sollte nur noch der letzte Wunsch des Verbrechers erfüllt werden.
Philipp wurde losgebunden und aufgefordert, vor einem bereitgehaltenen Tischchen Platz zu nehmen. Seine kläglichen Blicke wanderten durch den weiten Raum. Er tat, wie ihm befohlen.
Dann kam der letzte Wunsch in Gestalt einer Salamiwurst und eines Kaviarbrötchens. Von ungefähr kamen Philipps irrende Augen auch an diesen Genüssen vorbei. Sein entsagendes Pflanzenfressergemüt empörte sich gegen diese Lästerung und er verzerrte sein Gesicht wie in Verachtung gegen seine Beleidiger. Seine kleinen Affenhände lagen wartend zu Seiten des Tellers, den Kopf gehoben wartete er der kommenden Dinge. Die Parkettreihen entlang bis in den fernen Olymp hinauf erscholl ein einziger Schrei des Vergnügens.
August meldete jetzt, daß der letzte Wunsch zu Ende sei und das eigentliche Vergnügen, die Hinrichtung folgen könne. Mit flinken Fingern erfaßte er das bestrichene Brötchen und verzehrte es zur Bestätigung, daß es sich hier auch um reelle Genüsse gehandelt habe.
Dann wurde Philipp aufgefordert, sich zu erheben und mit viel Umständen an einen Block geschnallt. – Sein Wimmern hörte man noch, als er bereits unter einem schwarzen Tuche lag, das ein dressierter Kamerad über den scheinbaren Leichnam geworfen hatte. Die atemlose Spannung löste sich nun in begeisterte Zurufe auf und August war der Held des Tages.
August wäre es auch noch manchen folgenden Tag geblieben, wenn nicht Lucies kleine Füße das Heer ihrer Bewunderer immer mobil gehalten hätten. Uri, der Athlet, warf seine Gewichte nicht die Hälfte mehr so hoch, denn er behauptete, sich so schonen zu müssen, wie es seinen Einkünften entsprechend sei; die schlanken Brüder grämten sich noch immer und flauten allmählich ab; die neuen Reiter waren zu durchschnittlich; unter den Affen war eine Seuche ausgebrochen.
Die Peitsche des Herrn Direktor knallte nicht mehr ihr selbstbewußtes Andante, wenn sich die Manege öffnete, und sein Stehkragen leuchtete nicht mehr zwischen den Livrierten. Er war verreist. Er hatte neue Einkäufe. Es konnte Tage dauern, bis er zurückkam. Lucie führte nun die Zügel der Regierung, weil sie ja doch zur Familie gehörte und weil sie zweitens sehr klug war und der Herr Direktor ihr unbedingt vertraute. Eine kleine Reitpeitsche in der Hand huschte sie durch die Ställe mit der wichtigsten Amtsmiene der Welt und liebkoste die Tiere, die ihr gefielen. Auch in das Affenhaus warf sie einen Blick, um ihrer Pflicht auch ganz zu genügen. Und sie lächelte zu allem und über alles, wenn sie fühlte, wie die Knechte hinter ihrem Rücken einander anstießen.
Es ist ein fröhliches Handwerk, so wichtig mit einer kleinen zierlichen Peitsche zu knallen und nichts zu sehen, was man nicht sehen wollte, niemand wehe zu tun und doch so gefährlich und ernst auszusehen.
Das Lächeln und die Sattheit hielten ihren Siegeszug in Jogos Reich, Wenn August der Vierundzwanzigste jetzt in die Manege trat, so war sein Gesicht der Abglanz des Schlaraffenlebens, das sich hinter allen den weißen Zeltwänden abspielte. Und dankbar gestand er es mit jeder Gebärde, wenn er den schamhaften Bourgois spielte und leise mit der Hand seinen runden Bauch hinunterstrich. Oder er fühlte sich als »Guter Mond« und bemalte dementsprechend sein Gesicht. Inmitten der weißen Ziegen, die die Rolle der Wolkenlämmer übernehmen mußten, sang er dann den ersten Vers des berühmten Liedes, und die Musik begleitete ihn wehmütig und getragen.
Wenn sich auch die Parkettreihen und die Logen lichteten, gab es doch noch immer Dankbare genug, und Lucie durfte noch lange mit ihrer kleinen Peitsche den Takt zu diesem Narrenorchester schlagen. Tagüber tat sie es denn auch reichlich und winkte mit dieser Gebärde die Sorgen ab, aber in den Nächten gingen Gespenster vor ihrer Türe. Ein altes Weib, das die Ziegen und Kamele zu füttern hatte und von der Gicht, wie man sagte, arg geplagt wurde, war plötzlich von seiner Krankheit erlöst worden und hatte die Nachtwache übernommen. Es war immer, als ob etwas vor Lucies Kammer niedergekauert läge, das erst mit dem späten Tau verscheucht wurde.
Sonst war die Alte freundlich, und für den Sonnenschein hatte sie viel übrig. Sie sprach oft mit Lucie, wie um von dem Rechte ihres Alters Gebrauch zu machen. Sie lobte Lucies fein geschnittenes Gesicht und war mit schmeichelhaften Vergleichen nicht sparsam. Dann sah sie der Gnädigen tief in die Augen und nickte, wie um die Wahrheit des Gesagten nochmals zu bekräftigen. Aber Lucies Lächeln hielt wacker aus, höchstens, daß sie einmal nervös ihr Haar zu ordnen begann, wenn die Alte zu viel schwatzte. –
Etwas lag vor der Türe, etwas Dunkles, Insichgekauertes. Und die Nächte hatten jetzt so viele Sterne. –
Vor der Wagenburg kräuselten sich weiße Staubwolken, und die Leinwand der großen Zelte bewegte sich auf und ab unter den schweren Atemzügen der heißen Luft.
Nachmittag – Einige Stunden mit Gold in den Händen werden erwartet. Die Hengste harren in ihren Prunkgeschirren, die Affen im Soldatenrock, jeder Knecht hat seine Ordre, Tänzerinnen und flitterbeladenes Weibsvolk vieler Berufe steht bunt gemengt in den Ankleideräumen. Und das Wiehern der Pferde mischt sich mit dem Keifen der Weiber und den geschäftigen Rufen der Männer zu einem verworrenen Lärmen, das dem Gekreische der Kinder draußen auf der Wiese begegnet. Schon sind die ersten Gäste angelangt und an den Kassen spielen sich Kampfszenen ab. – Man will das große Schauspiel sehen, das die Anschlagsäulen und die Journale versprochen haben. Über die weiten Plätze kommt es heran wie krabbelndes Getier, geschäftig seiner Laune genug zu tun.
Und Jogo vor seinem einsamen Wagenfenster fühlt, wie für all diese große Neugierde kein Aufgebot groß genug sein kann. Man muß den Sonntag überladen mit Abwechselung; wer einen Sonntag feiern will, muß stolpern über Vergnügungen. Darum hat Jogo alles aufgeboten.
Und hinter allem wird seine Peitsche her sein, die lange schlanke, mit der er seinen Ruf, sein ganzes Recht auf eine Machtstellung begründet hatte, die ihm nur einmal aus der Hand gefallen war – damals.
Er seufzte tief auf und sah zwischen den Kronen der weißen Narzissen, die aus einer kleinen Vase hoch über seine graue Stirne hinwegragten, hinaus auf das dampfende Feld. – Narzissen aus Lucies Hand. Wie man einem Kranken Blumen reicht, hatte sie ihm den weißen Strauß in die Hand gegeben. –
Wie sie ihn jetzt anders ansah. Ein Wissen stand zwischen ihnen. Es war wie ein Sieg, den sie stillschweigend erfochten hatte, diese Sünde einer Nacht.
Die feinen Tropfen bedeckten wieder seine Schläfen und irgend etwas faßte ihn vorn am Halse. – Nein, nein, es ist nichts, nur diese engen Kragen; man wird eine andere Fasson wählen müssen. Es kommen vielleicht auch neue Verhältnisse, neue Situationen, man wird sich leichter und bequemer kleiden müssen. Und er schob mit der charakteristischen Fingerbewegung die Kragenspitzen voneinander. Freilich, aus früherer Zeit wird man viel herübernehmen müssen, nicht nur Erinnerungen. Man wird zu den Menschen wieder sein wie zu den Pferden, nicht allzuviel auf ihre Klugheit bauen und mit ihren Instinkten rechnen. Immer den Grandseigneur, mein Junge!
Liebe Lucie, eine Blume von dir nehme ich mit. Und er griff nach einer der kühlen schlanken Schwestern in der Vase und steckte sie sich an. Ihre Krone stand weit ab; es war, als sträubte sich ihr Kopf dagegen, an seiner Brust zu liegen, als wehrte sich die Schlanke gegen Jogos Zärtlichkeit.
Diese da ist für Lucies Haar, und er faßte noch einmal nach dem Glase. Er fühlte, wie seine Hände unsicher wurden, weil er in Gedanken Lucies Haar berührte und seine Finger längs des Halses abwärts glitten. Lucie dürfte nicht tanzen müssen vor dem Gesindel. Man sollte ihr ein weißes, edles Haus bauen lassen und die fünf weißen Araberhengste sollten ihr gehören. Man sollte sie wie die Braut eines Königs hüten. Dann strich er über das seitwärts gescheitelte Haar, eine kleine rote Narbe zu verdecken, so mit der flachen Hand rückte er die unteren Strähnen etwas tiefer. Er wich dem Spiegel aus. Er haßte das lange Toilettemachen vor einem wichtigen Tag. – – –
Es war an der Zeit.
August der Vierundzwanzigste sprang als erster in die Manege und erklärte, daß ihm wieder und bereits eine Nebenbeschäftigung in die Hände gefallen sei; er sei jetzt Bräutigam in seinen freien Stunden. Als Mond, immerzu als guter Mond so einfach dahinzuleben, das wäre doch nicht das Rechte, und darum wolle er eines seiner Wolkenlämmer als Gattin heimfuhren. Ein riesiger Hemdenkragen, der die untere Hälfte des Kopfes verdeckte, und ein Frack mit ellenlangen Schößen wären bedeutsam genug gewesen, aber August wollte noch mehr des Guten tun. Er schob den Unterkiefer nach vorn und ließ ein wenig gebückt die Arme herunterbaumeln. Er wollte eben in dieser Pose seinen Rundgang um die Manege antreten, aber man ließ ihm keine Zeit zu seiner Brautfahrt. Ein Rudel von Pferden stürmte durch den Eingang und August mußte flüchten. An seine Stelle rückte Jogo als Dresseur mit seiner langen Peitsche, und die Zuschauer sahen erst jetzt ein, wie glänzend August es verstand, Toilette zu machen. –
Während sich draußen auf einer Wiese der Staub in dichten Schwaden niederließ, wirbelten hier im Innern der großen Arena die Bilder und Erscheinungen durcheinander. Mensch und Tier, von einer riesigen Peitsche gejagt, hasteten an den Augen derer vorüber, die für einen Obolus Vergnügen haben mußten und noch mehr bekommen sollten, als ihnen zukam, weil doch heute ein ganz besonderer Tag war. Es war ein Toben und Drängen auf allen Galerien.
Nur als Lucie tanzte, in weiße faltige Seide gehüllt, hörte die Peitsche auf mit ihrem unbarmherzigen Lied, und eine Melodie, wie das Gewand Lucies, zart, duftig, sich in weichen Wellen wiegend, ging neben ihren Bewegungen her, wie von ihr geführt.
Die Blume hatte sich aus ihrem Haar gelöst und fiel auf das rote Podium. Sofort war August zur Stelle, demütig lächelnd steckte er sie an seine Brust und verließ, bräutlich geschmückt, den Schauplatz.
Jogo fühlte, wie Lucies Tänze jetzt wollüstiger geworden waren, wie sie ihren Körper manchmal beobachtete, wie sie nicht mehr mit der angeborenen Grazie allein rechnete und mit jeder Hüftenbewegung, mit jeder kleinen Geste ein Wollen ausdrückte.
Sie war jetzt nicht mehr so abweisend gegen ihn. Auch das Kindliche, das wie ein scheidender Frühling noch immer in ihren Augen lebte, begann sie zu einer kleinen Koketterie auszugestalten und benutzte es im Verkehr mit ihrem Pflegevater.
Und Jogo wußte, daß der Sommer eingezogen war, der Erfüller aller Sehnsucht. War nicht sein ganzes Leben eine einzige Sehnsucht gewesen, diese eine unendlich qualvolle Sehnsucht, die seine Lippen zittern ließ, die ihm die Maske vom Gesicht riß, seine selbstherrliche Maske und ihn zum Bettler und Sklaven machte?
Eine schwüle, brünstige Luft lag wieder über allem. Sommerluft und Spätfrühling. Die Ausdünstung der Ställe brachte den Geruch von Fruchtbarkeit über alle Dinge und das Wiehern der Stuten klang begehrlich und lockend.
Jogo ging zwischen den Zelten auf und ab. Er sah niemand und erwiderte den Gruß der Knechte nicht, die in der Sonne vor den blitzenden Geschirren standen und wuschen. Sein Gesicht zuckte zu den Worten, die gefesselt in seinem Innern lagen, lauter bittende, werbende Worte, Schwüre und Geständnisse.
Es war, als ob dieser Jogo ein ganzes Leben lang an allen so vorübergegangen wäre, ohne zu grüßen und zu antworten, als ein Besiegter des Frühlings. Armer Jogo!
Es wird Sommer, Jogo, es wird Sommer. Die Vögel haben längst Hochzeit gehalten. Es wird die Johannisnacht hereinbrechen. Horch, wie die Papageien schreien, die Kakadus und der Amazonas, der hundertjährige Jüngling, der so viel geliebt wird.
Jogos Augen irrten wirr im Sande umher und er ging schneller, gefolgt von nackten Gespenstern, die sich umarmten; Kaskaden lebender Frauenleiber schienen sich aus den heißen Wolken losmachen zu wollen, um auf ihn niederzustürzen, ihn zu bedecken mit ihrer Glut.
Und die hundert Stimmen der Tiere rings um ihn herum betäubten ihn, erschreckten ihn manchmal, wenn sie so plötzlich neben ihm hinter einer Zeltwand aus hungrigen und begehrenden Kehlen sich losrangen.
Nur aus dem Affenkäfig kam kein Laut des Sichauslebenwollens. In seiner Nische saß Philipp mit einem Stück alten Backwerks, das er mit seinen spitzen Zähnchen langsam zerbröckelte. Um ihn die andern grauen Kameraden, von denen ein gütiges Geschick das Übel wieder hinweggenommen hatte. Aber so schmuck und zierlich wie in Waffenröcken mit der Flinte und dem wackeren Schlachtschwert sahen sie hier mitten unter Abfällen und Auswurf nicht aus. Nur der Appetit gab ihnen Freiheit und Bewegung. Philipp, der seit seiner Hinrichtung das Leben nicht mehr ernst nahm, ließ die schmackhafte Krume fallen, streckte seine kleine Hand zwischen den Gitterstäben dem Ankömmling entgegen und bewegte die Kiefer, als ob er sprechen wollte. – Was wohl so eine kleine Affenseele beschäftigt, wenn sie hinter Gittern kauert und, abgeschlossen von Freude und Frühling, die langen Minuten von der Krume ihres Daseins abknabbert?
Man kann so alt werden in diesem Warten – Philipp bewegte noch immer seinen vorgeschobenen Unterkiefer. Wenn nur das Gitter nicht gewesen wäre zwischen ihm und seinem Herrn, dann wären sie schon einig geworden über das, was ein Affenherz bewegt und sein Schicksal ist.
Ein dumpfes, banges Gefühl beherrschte Jogo, als er Philipp betrachtete, und wieder kam ihm diese Nacht in Erinnerung, in der er zerschunden und gedemütigt von seinem Dämon vor dem Affenkäfig gelandet war, wie er damals die Affen verdächtigt und verleumdet hatte. Und er schämte sich vor diesen geduldigen Tieren, in deren Augen etwas ganz Seltsames, eine Art Zutrauen zu ihm aufzuleben begann. Er streckte die Hand zwischen die Gitterstäbe und streichelte den kleinen Philipp, der wie ein Kind mit den Blicken für die Liebkosung dankte. Wenn diese Affen einen Staat begründeten und sich Gesetze machten, ob sie wohl der Schwachen und Enterbten dabei gedenken würden oder ob da auch alles ein Recht des Stärkeren wäre?
Er kam weit in die Wiesen hinein, die so erwartend vor ihm dalagen wie eine Unendlichkeit, in die man alle Gedanken und Träume hinausträgt, damit sie sich in ihr verlieren, wenn sie nicht erfüllt werden sollen in diesem Leben.
Kaum sah Jogo noch die Spitzen seiner Zelte und die Flaggen über ihnen. Die Sonne war schon tief im Sinken und sein Schatten ging lang vor ihm her.
Aber ein Mensch kann sich nicht von sich selbst erlösen, auch wenn es ihm gelänge, aus einer Unendlichkeit zurückzukehren. Auch Jogo kehrte zurück aus dem Bereich der stillen Wiesen mit den gleichen Gefühlen, mit denen er seine Wanderungen angetreten hatte. Seine Zähne lagen wie verkittet aneinander, und die Lippen lagen darüber gepreßt, als dürfte nichts von dem, was jetzt seine Seele sprach, in diese Welt hinein.
Schon begrüßten ihn die Lampen und warfen ihren Schein weit in die Ebene, und das Orchester spielte einen übermütigen Marsch, den Königsmarsch August des Vierundzwanzigsten.
Dann die Pause und das Lachen – und endlich das Lied, jenes Lied.
Jeder Mensch hat eine Melodie, die vor ihm einherzieht, die ihn sozusagen in die Schlachten geleitet, die er dem Schicksal zu liefern hat. Manchen hat die Gasse pfeifen gelehrt, einige leben einen Choral, viele haben ein Liebeslied gefunden, das in ihnen vibriert und sie mutig macht. Einmal irgendwo hat es geklungen und sie bezaubert. Jetzt hat sich sein Thema in ein Menschenleben umgestaltet.
Jogo schob den Vorhang, der das Vorbereitungszelt von dem Zuschauerraum trennte, vorsichtig zurück. Sein Gesicht hatte noch immer den Ausdruck qualvollen Insichbeharrens, jener Entschlossenheit, die keine Grenze anerkennt zwischen Licht und Dunkel.
Er mußte sie noch tanzen sehen, und sollte er sich auch wie ein Dieb in sein eigenes Reich stehlen. Lucie! Lucie! Du! Du! Das bebte irgendwo, ganz tief innen, irgendwo in einer zuckenden Seele. Oh, wie hätte er es gerne vor sich hingeschleudert dem gaffenden Gesindel vor die Füße. Von meinen Gnaden tanzt sie hier, Gesindel, und ich, ich habe sie lieb, ich kann sie dir nehmen, wenn ich will. Aber die Zähne, die ließen nichts in die Welt, wie eine Mauer standen sie vor dieser wogenden Glut seiner Seele, kein Spalt, keine Ritze war da, die ein Flämmchen verraten hätte.
Ein purpurnes sattes Licht überströmte jetzt den ganzen Raum. Das rote Podium, auf dem Lucie tanzte, leuchtete wie glühendes Erz, und aus seiner Mitte erhob sich wie eine schmale zitternde Flamme ihr weißer Körper.
Es kam dann die letzte Pose, in der sie sich ein wenig rückwärts bog und mit hochgehobenen Armen, die Hände an die Schläfen gepreßt, in ein rasendes Crescendo überging, während die Musik ein Bacchanal begleitete. Lucies Füße waren ein einziger Rausch der Bewegung. Immer leiser und langsamer wurde das Orchester und fiel in breiten Kadenzen in jene Melodie des Anfangs, während der Tanz Lucies allmählich verebbte in ein graziöses Sichhinundherwiegen.
Jogos Augen glühten, als er den Vorhang wieder losließ. Ein Gefühl, als ströme warmes Blut über seinen Kopf, fesselte ihn einen Augenblick an seinen verschwiegenen Standort. Er strich mit den Händen hastig über Gesicht und Schläfen, wie einer, der eine Maske abnehmen will. Noch hörte er, wie sein Stellvertreter, ein Jockei, das Zepter der Direktion, die lange feierliche Peitsche Jogos handhabte. Dann in seinem Rücken elf tieftönende Schläge einer Uhr, das Glockenzeichen und Anschlagen des Taktstockes, das dem Orchester ein Finale gebot.
Schnell durchschritt er den noch leeren Raum, um unbemerkt in den Ponystall zu gelangen, wo er jetzt niemand vermutete. Er durfte in dieser Verfassung keinem begegnen. Wie ein begangenes Verbrechen drückte der Entschluß auf ihn. –
Und er suchte nach Bildern, die ihn trösteten, oft gesehenen Bildern, Vorausgeahntem, Vorgehofftem, Wünschen aus Zeiten, in denen es noch ein Verbrechen war, zu wünschen. Jetzt mußte der Tag kommen, der ihn, den Beladenen, Enterbten, dort hinauf hob, wo jeder ein Recht an die Seligkeit hat.
Seine Arme um sanft runde Schultern legen zu dürfen, eine weiche Frauenbrust an die seine pressen und auf den zitternden Mund sein Geständnis immer und immer wieder niederzulegen mit noch heißeren Lippen!
Und jedes Glied wird herrlich sein und berauschend duften wird die Haut. Und die Hände werden sich ineinander wühlen.
»Ich will deine Füße küssen, Lucie. Vergiß jetzt alles, vergiß, was hinter dir liegt und daß du herangewachsen bist unter meinem Schutze, daß meine Hand auf deinem Kopf gelegen ist.
»Laß mich deine Füße küssen, hab’ keine Angst, wirf ihn weg, den kleinen Schuh. Und sieh nur, die Türe steht offen und dein langes Nachtkleid ist ganz von Seide. Laß es mich anrühren. Ich liebe dich, Lucie …
Ja, so wird Jogo sprechen, wenn die Sterne in das Brautgemach scheinen.«
Und er ging hinüber. Dort, wo die Wagen lange Schatten warfen, blieb er stehen und wartete.
Das keusch gedämpfte Licht fiel aus einer bronzenen Ampel auf Lucies entblößten Leib. Sie schlief noch nicht, aber ihre Lider waren geschlossen, und die weichen Wimpern bewegten sich wie unter einem ganz zarten Lufthauch. Mit feinen blassen Schatten grenzten die Flächen ihres Körpers an das matt erleuchtete Weiß der Kissen, und alles war ein leises Beben niedergekämpften Begehrens; die straff gerundeten Muskeln und die verwirrten Falten der Pfühle zeichneten Qual und erwürgte Sinnlichkeit.
Ihre Arme lagen seitwärts gestreckt, der linke, halb von lichtblonden Strähnen bedeckt, ruhte auf dem Kopfkissen, der rechte hing gesenkt über den Bettrand.
Manchmal sehnten sich die Lippen aus ihrer furchtsamen Ruhe heraus und wollten sich öffnen, so wie damals vielleicht, nur ein ganz klein wenig – bittend – sich ergebend.
So zart, so zerbrechlich fein ist Lucies Körper, wie von einem einsamen Künstler geformt aus einem seltenen, märchenhaft sprödem Stoff. Sie wird jetzt schlafen, denn die Lampe ist schon halb erloschen. Wenn nur kein Traum kommt und sie hart anrührt. Dann würde sie morgen nicht mehr tanzen und alles ginge unter, ein Sturm würfe die Zelte um und fegte das Gerät wie Spreu über die Wiesen. –
Die Lampe erlosch. Aber Lucies weiße Blöße leuchtete weiter im tiefen Dunkel. Ihr Busen hob sich jetzt voller und freier, weil nichts mehr da war, das nach ihren Augenlidern tastete, kein Licht, das sich in Geheimnisse drängte. Der Mund öffnete sich wieder, wie die Blumen, die des Nachts erblühen und so wehmütig sind. – – – – – – – – – – –
Jogo erwartete die Mitternacht. Immer wieder unternahm er den Rundgang um die Zelte, und die Wachthunde erhoben sich mit leisem Knurren, wenn er vorüber kam. Mancher vorzeitige Kläffer mußte zur Ruhe gemahnt werden.
Im Schein einer vergessenen Arbeitslampe besah er seine Taschenuhr und folgte klopfenden Herzens dem Sekundenzeiger. Noch zu früh, noch zu früh! Immer legte er sich noch eine Viertelstunde bangen Wartens auf, wie einer, der nicht vor der angesehen Zeit zur Tafel kommen will, nach der er sich sehnt. Und sie wird doch so festlich sein, wie noch nichts in seinem Leben war.
Jetzt schlug es. – Aus dem zarten Werk in seiner Tasche kamen zwölf silberne Töne. Er konnte jeden einzelnen deutlich wahrnehmen; wie an tönende Platten geschlagen, schwangen zwölf silberne Takte.
Schon berührten seine Sohlen lautlos das Trittbrett. Er ließ sich auf die Knie nieder und tastete sich so weiter durch seine Kajüte –- bis an die Türe. Jeder Schritt ein Schmerz. – Und doch der Entschluß – alles zu gewinnen, alles zu verlieren – der mußte gehegt werden, der mußte dort sitzen bleiben hinter den Zähnen oder sonst irgendwo ganz unten, wie ein Soldat auf seinem Posten. – Wenn er jetzt sein Ohr an die Türe legen würde und nichts würde sich regen?! Was dann?! Er hatte ja den Schlüssel Er brauchte nur den kleinen Riegel anzurühren – und – und – wenn dort niemand läge, dann – dort auf dem weißen Bett, auf dem – dem Brautbett?! – –
Er horchte auf, wie ein Dieb, der auf ein geheimes Zeichen wartet. – Endlich! Ein leises Stöhnen! Ein Atemzug! – – –
Du! Du! Du!
Etwas durchdrang seinen Körper und rieselte in unzähligen, winzigen Tropfen in sein Inneres hinab. Dann sprang mit einem Ruck die Türe auf. –
Lange graue Finger klammerten sich um Lucies Schultern und die Nägel dieser Finger drangen tief in das zarte Fleisch des Nackens.
Ihre Augen standen weit aufgerissen in Todesangst.
Das Tier! Das Tier! – –
Er biß nach ihren Lippen und hielt sie mit den Zähnen geschlossen, bis er alles ausgekostet hatte, was er Süßes auf ihnen finden konnte. Es war nicht genug für die Liebe eines Lebens.
Du! Du! Lucie!
Noch waren ihre Hände frei, unter seinem linken Auge hatten sie einen Fetzen gelben Haut gelöst; ein Blutstrom ergoß sich über ihr Gesicht und rann die Wangen entlang hinab in das Haar auf den Kissen. Den letzten heiseren durchdringenden Schrei Lucies konnten seine Hände nicht mehr ersticken, als er ihre Kehle erfaßte.
Und es zuckten zwei Körper, im Liebeswahnsinn der eine, im Tode der andere.
So war Lucies und ihres Vaters Hochzeit.
Schreien in den Zelten! Licht um Licht kommt aus dem Dunkel der Nacht. Knechte mit bleichen Gesichtern. Weiber und fahrendes Volk aller Künste!
Ein Tier! Ein Tier ist los!
Wachsame Augen hatten es über die Wiesen rennen gesehen. –
Es hat sie erwürgt! Es hat sie erwürgt! – –
Und dann schreiten schwere Schritte durch das Gewimmel. Eine kleine Leiche wird vorübergetragen. Niemand denkt jetzt mehr an das Tier, alle sehen nur die Wunden und ein gequältes, totes Gesicht. Lucie!
Und Jogo wußte nun, daß sein Tag nicht mehr aufgehen würde, der Tag, der den Menschen das Recht zur Sünde gibt. Sterne waren um ihn her, viele fragende Sterne, und ihr Licht tropfte unhörbar durch den weiten Raum der Nacht auf die Ebene nieder. Ja, er hatte wieder seinen Weg gefunden; zwischen den Rädern der Karren, zwischen den Hütten und Zelten war er denen entschlüpft, die ihn jetzt richten durften. Das Tier! Das Tier! Der Ruf folgte ihm wie eine Geißel. – Aber er hatte es gelernt, wie man schleicht und sich verbirgt, wie man an der Erde klebt und sich duckt oder nein, es war vielleicht längst in ihm, und nur Nacht brauchte es zu sein, um ihm die Gestalt zu geben, die sein Los war. Zwischen den spärlichen Halmen kroch er unaufhaltsam weiter – weiter in das Dunkel hinein. Ein graues Gewirr von Stimmen schwirrte durch die Schatten; gleich einem Schwarm bösartiger Fliegen surrte es um seinen Kopf, Worte, Flüche, Verwünschungen, wie sie die Jagdlust entfesselt. Das Tier! Das Tier! – Aber dann war es plötzlich still, und nur das dumpfe Stöhnen aus seiner Brust und das Keuchen seines eigenen Atems begleiteten ihn. – Und allmählich kehrte etwas in seine Seele zurück, das ihm fremd geworden war seit jener entscheidenden Stunde. Langsam richtete er sich auf und wischte Schaum und Schweiß aus dem Gesicht. Mit den zitternden Fingern löste er die weiße Binde und den verknitterten Kragen. Einen Augenblick hielt er an und preßte die Handflächen an die Schläfen, als könnte er die Fieberwellen zurückdrängen, die ihm Stirne und Verstand überfluteten. Er konnte wieder aufrecht gehen. Langsam ging er – zu seinen Zelten zurück. – Ja, er konnte doch, natürlich konnte Jogo noch aufrecht gehen Zum Teufel das bißchen Blut an den Händen, das man gar nicht einmal sehen konnte in der Nacht.
Alles war wieder still zwischen den weißen Leinwandwänden, alles schlief wieder. Nur dort und da hatte ein Fenster noch Licht, und der weiße Wagen des Athleten war ganz erleuchtet. Auch die Hunde verrieten ihn nicht, genau wie immer zogen sie die Schwänze ein, wie er jetzt so daherkam. Der Nero beschnupperte gar die feuchten roten Stellen und ging gehorsam hinter ihm her.
Jogo machte seinen letzten Rundgang. Gerne hätte er die vielen Fesseln gelöst und allen die Freiheit gegeben, die er liebte – dem Getier jeglicher Art. Er kannte ihre Ängste und Qualen, wenn irgendwo eine Flamme aufloderte, wie sie dann so verzweifelt in die Zügel bissen, seine schönen Hengste. Und die Vögel würden aufflattern und in der Glut umkommen mit kläglichen Rufen, die seltenen Papageien und Sittiche. – Und – seine Affen … ja, die mußte er wenigstens retten – den Philipp …
Sorgsam ich er den Wächtern aus und kam unbemerkt an den Käfig. Er löste den Riegel und weckte den schlafenden Philipp, der in einer Ecke kauerte und erschrocken zur Seite sprang. Aber es war bald wie in alten Tagen, als sie sich erkannten.
Über dem Zeltlager tanzen die Flammen. Sterbende Rosse schreien in die Nacht hinaus, halbnackte Menschen rennen hin und her. In Asche zerfällt eine Herrlichkeit. Ein roter Schein füllt den weiten Raum der Nacht und löscht alle Sterne aus.