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Der sterbende Mensch (Kraus)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Karl Kraus
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Titel: Der sterbende Mensch
Untertitel:
aus: Ausgewählte Gedichte, S. 85-87
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Verlag der Schriften von Karl Kraus (Kurt Wolff)
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[85]

Der sterbende Mensch


Der Mensch

Nun ists genug. Es hat mich nicht gefreut,
Und Neues wird es auch wohl nicht mehr geben.

Das Gewissen

5
In einer Stunde endet sich dein Leben,

Und du hast nichts gesühnt und nichts bereut.

Der Mensch

Bereuen kann man nur, was man getan.
Ich habe nichts erfüllt und nichts versprochen.

10
Die Erinnerung

Ich war dein Zeitvertreib. So wurden Wochen
Aus Jahren. Denkst du noch? Sieh mich nur an!

Der Mensch

Ich sah stets hinter mich, und du warst da.

15
Warst du nicht da, so schloß ich gern die Augen.



[86]
Die Welt

Ich schien dir nicht in deine Welt zu taugen.
Du sahst nur alles Ferne immer nah.

Der Mensch

20
Und alles Nahe fern. Bleib mir vom Geist!

Stell dich nicht vor, ich stell’ dich besser vor.

Der Geist

Wenn sie dich plagt, was leihst du ihr dein Ohr?
Von mir hast du, von ihr nicht, was du weißt!

25
Der Mensch

Was weiß ich, was ich weiß! Ich weiß es nicht.
Ich glaube, zweifle, hoffe, fürchte, schwebe.

Der Zweifel

Du fällst nicht, Freund, wenn ich dich höher hebe.

30
Verlaß dich auf mein ehrliches Gesicht.


Der Mensch

Ich kenne dich. Du hast durch manche Nacht
Mir eingeheizt und manches Wort gespalten.

Der Glaube

35
Ich aber, glaub mir, hab’ es dir gehalten,

Mit meinem Atem dir die Glut entfacht.

Der Mensch

Zu viel, ich hab’ die Seele mir verbrannt.
Oft wars wie Hölle, oft wars wie der Blitz —

[87]
40
Der Witz

Da bin ich schon. Im Ernst, ich bin der Witz.
Ich bins im Ernst, und doch als Spaß verkannt.

Der Mensch

Wer wäre, was er ist, wo Trug und Wesen

45
Die Welt vertauscht in jämmerlicher Wahl!


Der Hund

Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen.

Der Bürger

Ich bin der Herr und wähle liberal.

50
Die Hure

Ich, weil ich Weib bin, von der Welt verachtet.

Der Bürger

Weil ich kein Mann bin, von der Welt geehrt.

Der Mensch

55
Nach ihrer Ehre hab’ ich nicht geschmachtet.

Und ihre Liebe hat mich nicht verzehrt.

Gott

Im Dunkel gehend, wußtest du ums Licht.
Nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.

60
Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten.

Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel.
Du, unverloren an das Lebensspiel,
Nun mußt, mein Mensch, du länger nicht mehr warten.