Der letzte deutsche Landgraf
„Stände nur nicht überall ein Prinz von Hessen-Homburg!“ So soll Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig ausgerufen haben, als er wahrgenommen, daß fünf Söhne dieses Hauses, und zwar fünf Brüder, als höhere Truppenführer in den Heeren Oesterreichs und Preußens dort gegen ihn kämpften, nachdem ein sechster und der jüngste dieser Brüder im Frühling desselben Jahres, am zweiten Mai, bei Lützen den Heldentod gefunden hatte.
Diese Anerkennung aus dem Munde des größten Kriegsmeisters seiner Zeit kann wohl als ein Blatt zu dem Lorbeerkranze gelten, welchen die Kriegsgeschichte diesem alten fürstlichen Geschlecht zuerkannt hat. Von den Sturmzügen des dreißigjährigen Krieges an, die den ersten Homburger Landgrafen in den Kreis der deutschen Reichsstände treten sehen, bis zu den Befreiungskriegen, an deren Schluß der Wiener Congreß die hessische Landgrafschaft zu einem selbstständigen Staat des deutschen Bundes erhob, glänzen die Jünglinge und Männer aus dem stolzen Schlosse „Homburg auf der Höhe“ nicht bloß als tapfere Kriegsleute, sondern nicht wenige derselben als hervorragende Heerführer, deren Name sich an bedeutende Schicksalswendungen des europäischen Fürsten- und Staatslebens knüpft. Wir erinnern nur an den Helden von Fehrbellin, an den Tatarenbesieger unter Rußlands Fahnen und an jenen Erbprinzen Friedrich Joseph, welcher als österreichischer Feldmarschall bei Leipzig den Sieg mit entscheiden half. Man geht durch eine Heldenhalle, wenn man die Vergangenheit dieses Geschlechtes durchwandelt.
Nicht weniger, als die Betrachtung der thatkräftigen Persönlichkeiten, nimmt das Ende des Hauses unsere Theilnahme in Anspruch, das ein Stück zugleich wunderlicher, rührender und erhabener Romantik unserer Zeit darstellt.
Landgraf Friedrich der Fünfte war seinem Vater, Friedrich dem Vierten, im Jahre 1766 als achtzehnjähriger Jüngling gefolgt. Zehn Jahre später gründete er die ihrer Zeit vielbesprochene „Patriotische Gesellschaft für allgemeines Wohl, Verbesserung der Sitten und Hebung der Industrie“. Das thätigste Mitglied derselben war seine Gemahlin Caroline, die Hessen-Darmstädterin, welche den Wissenschaften und dem Aberglauben mit gleichem Eifer huldigte. Seitdem ihr im Homburger Schlosse die weiße Frau erschienen war, verwandelte sie in ihrer Lebensweise die Nacht zum Tage. Das hinderte sie jedoch nicht, ihren sechs Söhnen eine tüchtige Mutter zu sein.
Den jüngsten derselben, Prinz Leopold, ausgenommen, der, wie Eingangs bemerkt, sechsundzwanzig Jahre alt, bei Lützen fiel, sind diese Brüder sämmtlich als Landgrafen zur Regierung des Ländchens gekommen und einer nach dem andern starb ohne männliche Nachkommenschaft. Die innigste Geschwisterliebe soll eines der schönsten Erbstücke dieser Familie gewesen sein. Wunderbarer Weise war es wiederum die Liebe, aber die trauernde, verschmähte, welche des Hauses Ende herbeiführte.
Noch bei Lebzeiten ihres Vaters, der erst 1820 starb, widerfuhr den beiden jüngsten der Brüder, Gustav und Ferdinand, das Mißgeschick, daß beide sich in ihre wunderschöne Nichte Louise von Dessau, mit, wie die Folge zeigt, ungewöhnlicher Gluth verliebten.
Die Prinzessin schien keine leichte Wahl zu haben. Beide Brüder standen im besten Mannesalter und in hohem militärischem Rang. Der siebenunddreißigjährige Gustav war kaiserlicher General-Major, der zwei Jahre jüngere Ferdinand sogar Feldzeugmeister. Die schöne Louise hegte jedoch einen höheren Ehrgeiz: die Kinderlosigkeit der älteren Brüder eröffnete für Gustav die nächste Aussicht auf den souverainen Thron von Homburg, und dies mehr, als der Umstand, daß er schöner, als sein jüngerer Bruder gewesen, bestimmte ihre Wahl. Am 12. Februar 1818 reichte sie dem Bevorzugten am Altare die Hand.
Der Verschmähte nahm im selben Augenblick Abschied vom höchsten Glück des Lebens: er blieb unvermählt.
Aber auch Louisens ehrgeiziger Traum ging in kaum andere als traurige Erfüllung. Zwar bescheerte ihr der Himmel einen Sohn, aber achtundzwanzig Jahre mußte sie auf die Erbschaft der souverainen Würde warten, denn erst 1846 segnete Landgraf Philipp, der letzte der drei vorangegangenen Brüder, das Zeitliche. Da endlich war’s erreicht. Zwischen Gatten und Sohn hielt die stolze Frau ihren Einzug in Schloß Homburg auf der Höhe und sah auf das schöne Land als regierende Landgräfin hinab. Dreiundfünfzig Jahre alt war sie geworden, ehe sie den Triumph errang, den die Schönheit ihrer Jugend ihr verheißen hatte. Und doch sollte das Glück, das so lange ersehnte, so kurz sein! Erst starb ihr Sohn, und schon am siebenten September des Sturmjahres 1848 vertauschte Landgraf Gustav seinen landgräflichen Thron mit der vorletzten Stelle in der Erbgruft seines Stammes.
So hielt denn, dreißig Jahre nach jenem verhängnißvollen Hochzeitstage, der einsame Ferdinand als der letzte Hessen-Homburger seinen Einzug in die Landgrafschaft.
Der einst Verschmähte war Herr des Schlosses und des Thrones, um deren willen er so Bitteres erlitten hatte. Er aber [648] verschmähte nun seinerseits nicht nur allen fürstlichen Glanz, sondern auch jeden Gedanken daran, der Trauernden, die nun in seinem Schlosse die Thränen der Verwaisung vergoß, nur im Geringsten wehe zu thun. Er überließ der Wittwe seines brüderlichen Vorgängers die prachtvollen Räume, die gesammte Dienerschaft und all’ jene Dinge, die einst mit ausschlaggebend bei ihrer Gattenwahl gewesen und ihr nun zur unentbehrlichen Gewohnheit geworden sein mochten. Vom ganzen Schloß behielt er nur ein Parterrezimmer zu etwaigen Audienzen sich zur Verfügung. Er selbst bezog die kleine Mansarde des Orangeriegebäudes, das im alterthümlichen Schloßgarten, nur wenige Schritte vom Schlosse entfernt, aber völlig von demselben abgeschnitten, hinter hohen Buchen- und Taxushecken, hinter Buchsbaumpyramiden, umschattet von breitästigen Platanen, in grüner, undurchdringlicher Verschanzung der Art daliegt, daß man selbst im Winter nur vom Mittelpunkt des Hauptweges vor dem Schlosse etliche Fenster dieses versteckten Häuschens entdeckt.
In dieser erwählten Abgeschiedenheit, in einer Umgebung, die an Schlichtheit ihres Gleichen sucht, lebte der regierende Landgraf Ferdinand von Hessen-Homburg. Einfacheres, als jene kleine mit Holz umkleidete Mansarde, ist in Wahrheit nicht leicht anzutreffen, und eine gleiche, so völlig schmucklose Zimmereinrichtung, wie sie dem letzten deutschen Landgrafen genügte, ist heut zu Tage schwerlich noch in einem deutschen Bürgerhause zu finden. Mir ist das kleine Asyl im Grünen, so oft ich’s auch gesehen, immer als wie in ein Märchen gehörig erschienen. Als ich aber bald nach Landgraf Ferdinand’s Tode in seiner einfachen Wohnung selbst war, wo Alles noch so stand und lag, wie er es verlassen hatte, da verwandelte sich der frühere Eindruck von Poesie, von absonderlichem Geschmack in eine unsagbar traurige Empfindung.
Schloß Homburg ist nicht nur bezaubernd durch seine Lage und wundervolle Umgebung, durch jenen Blick in eine weite blühende Landschaft, in unbegrenzte blaue Ferne oder durch seine Aussichtspunkte auf des nahen Gebirges dicht bewaldete Höhen; es war bis zu der Zeit, wo es vor zwei Jahren in preußische Hand kam, die innere Ausstattung aber als Erb- und Eigenthum theils an Hessen-Darmstadt, theils an die jüngste Tochter der letzten Landgräfin, die Fürstin von Reuß fiel, und diese Erben des Hauses weite Räume leerten, bis dahin war das Homburger Schloß durch seine schöne und alterthümliche Einrichtung sicherlich eins der interessantesten und reichhaltigsten Denkmale früherer Zeiten und dahingegangener Geschlechter; es war so zu sagen ein Schatzkästchen an alten Traditionen, Sagen und Geschichten. An den Wänden der Säle und Stuben Hunderte von Bildern: Familienportraits aus allen Generationen und den verschiedensten Epochen ihres Lebens, oft anreihend an außergewöhnliche Schicksale und Begebenheiten; auch Gemälde Derer, die ihnen verwandt und befreundet gewesen und unter welchen man die interessantesten Köpfe, die fesselndsten Physiognomien fand. Ebenso reich waren vertreten Familienreliquien, Erinnerungen an bedeutende Personen und Ereignisse. Die einstmaligen Wohngemächer der Hauptpersonen des regierenden Geschlechts waren noch vielfach so erhalten, wie sie gewesen, als die Besitzer daraus geschieden. Es trat in den Räumen überhaupt eine Pietät und Rücksicht an den Tag, wie man sie selten mehr findet und die auf jene bereits berührte, innige Liebe schließen ließ, welche die Glieder dieses Fürstenhauses immer eng verbunden hat, ob sie nun gemeinsam auf der heimathlichen Scholle lebten oder weit durch alle Welt zerstreut gewesen sind.
Und gegen diesen ihm so lieben, durch tausend Erinnerungen geweihten und geheiligten Ort tauschte Landgraf Ferdinand die kleine kahle Mansarde ein, gegen jene weite wundervolle Fernsicht von der Höhe das engumschlossene Gebiet im Grünen sammt seinem einzigen, so melancholischen Aussichtspunkte. Dieser weiteste, dem Auge einzig erreichbare Punkt ist das nahe Bassin, inmitten der Allee vor dem Schlosse, die zur Stadt führt. Umkränzt von den prachtvollsten Bäumen liegt’s zwar da, auf ziemlich weitem Platze, denn breite Wege münden nach allen Seiten. Dennoch macht’s, umhüllt von all den tiefen Baumesschatten, einen traurigen Eindruck, ganz unwillkürlich regt sich der Gedanke an ein verfehltes Menschenleben, dem alle Wege zum Glücke offen gestanden und das vermöge eines finstern Verhängnisses im trüben Dunkel einförmig abgegrenzten Kreises blieb. Und was, betrachtet man dies Bassin länger, einem geradezu den Athem benimmt und die Seele bedrückt, das ist jener von Minute zu Minute sich wiederholende, langsam und schwer auf die Wasserfläche niederfallende Strahl, mit seinem eintönigen Geräusch – das sind jene bis zum steinernen Rande sich dehnenden Kreise, die fort und fort den Eindruck machen, wie wenn sie hinaus wollten über diese starre Grenze und doch, wenn sie dieselbe erreicht haben, stille zurückweichen wie ein vom Hoffen entmuthigtes Herz aus den Gebieten unerfüllten Strebens und Verlangens.
So war die Aussicht, die Deutschlands letzter Landgraf durch volle achtzehn Jahre aus dem Wohnzimmer seines Hauses hatte. Er muß sie geliebt haben, denn der Stuhl an seinem Schreibtische stand stets so, daß, sah er empor, er immer nur dieses kleine Bild vor Augen hatte. Ein schlichterer Schreibtisch, als jener des Landgrafen Ferdinand inmitten der niedrigen Stube, ist kaum denkbar; gleich schmucklos sind alle übrigen Möbel, so einfach, daß man fast mit Staunen auf den blumenreichen Teppich blickt, der dort den Boden deckt, auf dem aber wiederum, fast wie um den einzigen Luxus abzuschwächen, ein hölzerner Fußschemel steht, dessen Ursprung auf „altes Rosinenkistchen vom Boden des Homburger Schlosses“ lautet.
An den Wänden des Wohnzimmers eine Ansicht von Wien und Landkarten, in der Schlafstube, die gleich einfach eingerichtet ist, aber ein Gemälde: das Bild der jüngsten Schwester des Landgrafen Ferdinand, seiner Lieblingsschwester, der verstorbenen Prinzeß Wilhelm von Preußen, Mutter der Königin-Wittwe Marie von Baiern, und des preußischen Seeadmirals, Prinzen Adalbert von Preußen.
Dem Schlafzimmer gegenüber stößt an die andere Seite des Wohngemaches ein Stübchen, zur Hälfte angefüllt mit Büchern. Eine ganz stattliche Bibliothek für einen ehemaligen Obrist eines Kürassierregiments und späteren Feldzeugmeister, die dem denkenden Geiste manche Andeutung liefert. Sie ist nicht weniger interessant durch jene Bücher, welche den Geschmack des einstmaligen Bewohners der Mansarde verrathen und weit hinausgehen über die landüblichen Ansprüche des gewöhnlichen Kriegsmanns. Das Interessanteste in dem Raume ist eine Kleinigkeit. Er ist dunkel durch die geschlossenen Jalousien, und entsinnen wir uns, die Fenster stets nur also verwahrt gesehen zu haben, so erscheint dieser Umstand doppelt seltsam in einer Bibliothek. Und warum wurden sie nie geöffnet? Vögelchen hatten sich auf den Fensterrahmen ihre Nestchen gebaut, und Landgraf Ferdinand, der Held der Freiheitskriege, der Sprosse des Heldenstammes Hessen-Homburg, dieser Fürst, der unvermählt geblieben, schützte Jahr um Jahr die kleine Heimathstätte zweier Schwalben.
Dreizehn Jahre lebten noch die beiden Getrennten, die Landgräfin-Wittwe und der regierende Landgraf, sie in den alten Prachträumen, völlig abgeschlossen von Welt und Menschen, er, mit einem einzigen, alten, treuen Diener, als Einsiedler in seiner Mansarde, nebeneinander. Dann, im Jahre 1861, stieg Louise in die Gruft. Das Schloß stand nun ganz vereinsamt, denn Ferdinand blieb seiner Mansarde treu.
War der Landgraf auch, als Fürst, stets bereit, Jeden zu sprechen, der Etwas von ihm wünschte oder verlangte, und half er, wo er konnte, stets in aufopferndster Weise, so konnten dagegen Homburgs Bewohner sich nie rühmen, ihren Landesfürsten je am glänzenden Curplatz gesehen zu haben oder in dem neueren Theile der Stadt, wo die verschiedensten Nationen sich zusammenfanden und Luxus und Mode ebenso stark vertreten sind, wie die schlimmsten Leidenschaften. Ebensowenig betrat der Landgraf die Straßen seiner Residenz; nur in tiefster Bergeseinsamkeit oder auch in den entlegensten Partien des wundervollen, aber völlig unbesuchten Schloßparks konnte man ihm begegnen. Er liebte die Jagd und weite Spaziergänge. Wer ihn da auf einsamen Pfaden fand, durch Zufall sprach, vielleicht ohne zu ahnen, daß er dem Einsiedler aus der Mansarde gegenüberstehe, dem fiel gewiß sein ernstes charaktervolles Antlitz auf, und wer’s erfuhr, mit wem er gesprochen, sah durch dies Begegnen, durch sein mildes, ruhiges und freundliches Wesen sicher auf’s Glänzendste die Urtheile über ihn widerlegt, die seinem abgegrenzten Leben entsprossen waren und auf „Menschenhaß und Weltverachtung“ lauteten. Denn wie sturmvoll auch einst das Leben des Landgrafen Ferdinand gewesen sein möge, als der Traum seiner Jugend keine Erfüllung gefunden, in seinem Alter bot seine Erscheinung einzig den Eindruck des Friedens, sie paßte in den kleinen Rahmen seiner abgegrenzten Einsiedelei, in jene stille Welt, die ihm genügte.
[649] Landgraf Ferdinand erreichte das hohe Alter von dreiundachtzig Jahren in vollkommener Gesundheit; er starb sanft und schmerzlos nach nur wenigen Krankheitstagen am 24. März 1866. Im Frühling desselben Jahres, wo Landgraf Ferdinand starb und beigesetzt wurde, durchtönte schon Kriegslärm die Welt: jene beiden Reiche, unter deren Fahnen die letzten sechs Prinzen des Hauses Homburg vereint für deutsches Recht und deutsche Freiheit gefochten, rüsteten sich als Feinde gegeneinander. Zum letzten Male fiel, vor dem Ausbruch des Krieges, in jener Nacht der Beisetzung im alten Homburger Schlosse der Flammenschein der Fackeln auf die in brüderlicher Handlung sich einenden Oesterreicher und Preußen; dort die weißen Reitermäntel der Oesterreicher mit Purpur überfluthend, hier auf die dunkeln Uniformen der Preußen seine hellen Lichtreflexe werfend.
Und als unter dem Läuten der Glocken, dem Donner der Geschütze dieser Letzte seines Hauses zu seinen Ahnen gebettet wurde, wie seltsam berührte es da Jeden, daß sein Sarg den letzten Raum in der Fürstengruft einnahm: man kann fortan nur noch durch die Thür in die Gruft hineinschauen, Niemand mehr hineingehen! Das Geschlecht ist zu Ende – die Gruft ist gefüllt. Und das Jahr 1866 hat sie für immer versiegelt!