Der heimliche Gast
„Lassen Sie nur, Liese! Ich werde ohne Mühe schon allein fertig.“
So ganz ohne Mühe geschah es aber doch nicht; denn die schlanke Dame, welche lieber sich selbst helfen, als den Beistand der Dienerin annehmen wollte, mußte sich auf die äußersten Fußspitzen erheben und sich weit über den runden Eßtisch vorneigen, um die Majolikaschale in dessen Mitte zu setzen. Die Blumen und Gräser, von den schönen Händen geordnet, schmückten nun die festlich gedeckte Tafel; die zierliche Gestalt richtete sich wieder auf, und ein rascher Griff stellte ein zur Seite geschobenes Glas in die symmetrische Reihe zurück.
„Sie haben doch Susannen gesagt,“ fuhr die Herrin, während sie die durch die frühere Berührung zerknitterte Damastserviette von Neuem zum kunstvollen Aufbau formte, in ihren Unterweisungen fort, „daß der Braten nicht zu sehr ausschmoren darf? Mein Bruder liebt ihn, wenn er noch im Safte ist, und er soll zu Hause die Table d’hôtes nicht vermissen. Wir müssen ja auch vor der jungen Frau Ehre einlegen.“
„Ist geschehen, wie das gnädige Fräulein befohlen, aber —“
„Und dann soll Fritz immer bei meiner Schwägerin mit dem Serviren beginnen, nicht bei mir.“
Ein zufriedener Blick überflog noch einmal den Tisch, und so blieben die Zeichen und Mienen des Mädchens unbeachtet. Jetzt faßte sie sich ein Herz und sagte:
„Ja, gnädiges Fräulein, ich habe es ihm schon eingeschärft, aber der Herr Statthaltereirath stehen schon eine Weile hier.“ Liese deutete nach der Thür des kleinen Speisezimmers.
Das Fräulein, das derselben den Rücken zugekehrt hatte, wendete sich überrascht um, hatte aber nur ein flüchtiges Kopfnicken für den auf der Schwelle Stehenden, der jeder Bewegung der zarten Figur, die sich eben in ihrer ganzen Geschmeidigkeit und Grazie gezeigt, mit Blicken voll warmer Bewunderung gefolgt war. Unter den starken Brauen funkelte es wie jugendliches Feuer in den blauen Augen, die im Widerspruche zu dem Eindruck der ganzen Erscheinung standen; denn der Herr Statthaltereirath war bereits ein Mann in jenen Jahren, die man die „besten“ zu nennen liebt. Das kurzgehaltene, dunkelbraune Haar stand zwar noch dicht, zeigte aber in scharfer Beleuchtung schon den verrätherischen Stahlglanz der höheren Mannesjahre, und zwei Silbersträhnchen theilten glitzernd zu beiden Seiten des Kinns den schönen vollen Bart, in den sich der markig und ansprechend geformte untere Theil des Gesichtes verlor. Auch die gesetzte Haltung, die gelassenen Bewegungen der breitbrüstigen Gestalt standen in scheinbarem Gegensatze zu der Lebhaftigkeit des Auges, das zu den Worten, die um Verzeihung baten und das „unangemeldete“ Eintreten entschuldigten, einen fast schalkhaften Commentar bildete.
„Braucht es das? Guten Abend, lieber Meinhard!“ lautete die Entgegnung, aber unmittelbar nach dem familiären Gruß wendete sich die junge Dame wieder an das Mädchen, sodaß der flüchtige Uebergang eine gewisse Absichtlichkeit merken ließ. Die Aufträge waren jedoch bald erschöpft, und ein letztes: „Und was ich noch sagen wollte,“ machte dann den Schluß. „Sorgen Sie für ein kleines Feuer im Schlafzimmer, Liese! Wenn man von der Reise kommt, ist man immer ein wenig frostig.“
„Sie wissen das und lassen mir doch einen so kühlen Empfang zu Theil werden? Nicht einmal die Hand haben Sie mir gegeben,“ beklagte sich der Eintretende, rief damit bei dem Fräulein aber statt des Mitleids nur ein spottendes Lachen hervor.
„O, o! Sie wollen doch nicht zu den hohen Reisenden gezählt werden? Keine Einschleichereien!“ Dabei hatte sich die kleine Hand aber doch in die dargebotene gefunden, und ein ganz kurzes, aber herzliches Schütteln stellte das Einverständniß wieder her. Es klang nur noch ein vollkommen unschädliches Nachgrollen des schnell vorübergezogenen kleinen Ungewitters in der Erklärung: „Eigentlich sollte ich böse sein — wissen Sie, Meinhard? Mich so in der Noth zu lassen, ohne zu helfen!“
„Aber Sie wollen ja gar nicht, daß man Ihnen hilft. Ich habe es eben selbst gesehen und gehört. Nicht wahr, Liese, Fräulein Hilda will alles selber machen? Wir werden uns hüten, uns unberufen einzumischen.“
„Ich habe Sie aber berufen,“ sagte Fräulein Hilda vorwurfsvoll nickend und mit ein ganz klein wenig Verdruß um den selbst im Schmollen noch freundlichen Mund. „Allein Fritz wurde gar nicht vorgelassen. Seine Unnahbarkeit, der Herr Statthaltereirath, hatten Amtsstunde. Und diese währte, wie es scheint, nicht kürzer als vom Mittag bis zum Abend. Irgend eine Audienz der Herren Stadträthe oder sonst eine Wichtigkeit, über welche die alten Freunde getrost in Vergessenheit gerathen können!“
„In Vergessenheit gerathen?“ wiederholte er, „— das ist unmöglich, Sie wissen es wohl, Hilda.“ Der volle, tiefe Brustton der Ehrlichkeit, durch den diese Versicherung ungewöhnliche Bedeutsamkeit erhielt, ging jedoch sofort unmerklich wieder in Scherz über. „Uebrigens finde ich auch ohne mich alles gethan. Der ganze Garten ist für Guirlanden geplündert; ich sehe sogar Blumen auf den Tischen, Silberzeug auf dem Büffet, Lichter in den Fenstern [2] — also auch schon Vorbereitungen zur Illumination getroffen! Was wäre da mir noch übrig geblieben? Sollte ich unter jedem Arme einen Böller mitbringen, die Arkeley einüben oder den Chorgesang der Hirten und Feldbauern einstudiren?“
Die großen, grauen Augen vermochten da allerdings nichts weiter zu tadeln, und wenn auch die Hand noch ungnädig winkte, mußte das Köpfchen sich doch rasch zur Seite wenden, um das unbezwingliche Lächeln zu verbergen. Auch fand sich keine andere Antwort, als ein scheinbar unwilliges: „Ach, gehen Sie!“ Es konnte aber eigentlich ganz gut für ein „Kommen Sie!“ gelten; denn während sich das Fräulein der Thür zu bewegte, erfolgte an den sich Anschließenden bereits die Einladung in aller Form: „Wir wollen zu mir hinübergehen.“
Meinhard entschuldigte sich in ernsterer Weise, und während er eine Erklärung der Amtsangelegenheit gab, welche ihn Nachmittags über Land geführt, schritten Beide durch den Corridor, der von dem Haupttracte des Schlosses nach dem Seitenflügel führte, in welchem die Schwester des Gutsherrn ihre Wohnung hatte.
Es war ein ungemein traulicher Raum, den sie betraten; das milde Dämmerlicht, in dem die Zeichnung der dunkeln Tapeten und der Vorhänge, die Farben der Bilder und Möbelstoffe, die Formen des alten großen Ofens, des kleinen Sophas und der Fauteuils, sowie des breit aus der Ecke hervorstrebenden Claviers schon allmählich an Bestimmtheit verloren, erhöhte das Gefühl der Behaglichkeit, von der man hier umfangen wurde, noch mehr. Der rothe Schein am Abendhimmel hatte nicht mehr die Kraft, die leisen Schleier zu durchbrechen.
Hilda ging auf einen der Stühle in der Nähe der Fenster zu, und ihr Begleiter eilte dienstfertig voraus, die zwischen denselben befindliche Glasthür, von der einige Stufen in den Garten hinabführten, zu schließen.
„Nicht doch!“ wurde er gebeten, „lassen Sie offen!“
„Wir sind im September — es wird kühl.“
Der sorgliche Einwand fand aber seine Widerlegung.
„Es weht doch noch ein so frischer, wohlthuender Duft herein. Ich will das Jahr genießen, so lange als möglich, wie ich der Sonne nachsehen will, so lange noch ein Schimmer von ihr am Himmel ist. Gerade das ist es, was mir die Zimmer hier so lieb macht; sie gehen nach Westen, und das Schönste an Waltershofen ist, daß da drüben keine Berge liegen und die Sonne so spät untergeht. Ich möchte sie immer noch länger halten.“
„Das sind recht wehmüthige Gedanken.“
„Pfui! Wer wird denn sentimental werden, Freund! Nun kennen Sie mich schon so lange Jahre. Sie werden doch nicht glauben, daß ich mich in allegorischen Bildern ergehen will und um das Altwerden mich kümmere?“
„Das haben Sie wahrlich auch nicht nöthig,“ sagte er eifrig, und die Betheuerung, welche mit einem skeptischen Achselzucken aufgenommen wurde, kam dem Freunde vom Herzen.
Der matte Schein des sinkenden Gestirns, auf dessen purpurnen Mantelsaum sich ihre ernsten, weitgeöffneten Augen gedankenvoll richteten, zauberte hellen Goldglanz auf das braune Haar, das in üppigen Wellen die Stirn umfloß, und rief auf dem lieblichen Gesichtchen, wenn es auch nicht mehr die Fülle und den Sammethauch der ersten Jugend hatte, mit dem Spiele der zarten Farbe wunderbare Reize wach, die nichts mit der Melancholie des Abendroths gemein hatten.
Ein kurzes Schweigen trat ein, während so jedes von ihnen in seine eigenen Betrachtungen versunken blieb.
„Woher doch manchmal solch einfältige Stimmungen kommen!“ sagte Hilda, „aber diesmal sind Sie schuld daran. Warum unterlegen Sie meinen Worten eine ganz andere Deutung? Ist das alles, was Sie mir an Unterstützung bringen können, nachdem Sie mich den halben Tag in Unruhe allein gelassen?“
„Sie wissen, daß Sie in Allem auf mich zählen können, aber ich kann mir nicht denken, daß Sie meiner wirklich bedurften. Unruhe ist wohl ein zu gewichtiges Wort.“
„Keineswegs!“ fiel sie lebhaft ein und nahm von einem kleinen Tischchen, auf dem mehrere Photographien zerstreut lagen, ein Blatt Papier. „Da! Entziffern Sie selbst einmal das Telegramm, das wir heute Vormittag von Franz erhielten!“
Er las: „,Wir kommen heute Abend an. Es bleibt bei den Bestimmungen des Briefes. Zimmer bereit halten,‘“ und fast ehe er beendigt hatte, fiel sie schon wieder ein:
„Daraus soll man nun klug werden. Welches sind diese Bestimmungen? Was ist’s mit den Zimmern? Es versteht sich ja von selbst, daß wir die bereit halten, warum gerade das ausdrücklich betonen und uns telegraphisch auf die Seele binden? Stände dafür lieber etwas von den nicht selbstverständlichen ,Bestimmungen‘ da, die mein Herr Bruder zu treffen geruht! Wie sollen wir die errathen? Gott mag wissen, wo der Brief steckt, in welchem sie uns kund und zu wissen gegeben werden. Ich habe keine Zeile gesehen.“
„Warten Sie!“ überlegte Meinhard; „wenn der Brief gestern Vormittag geschrieben wurde, dann ist er wohl statt mit dem Nachtschnellzuge mit dem Postzuge gegangen, den jener überholt. Er ist also erst nach Amtschluß eingetroffen und wird erst morgen früh ausgegeben werden — ein Fall, der, so absurd er auf den ersten Blick erscheint, doch häufig eintritt. Die Letzten werden die Ersten werden.“
„Aber der Bibelspruch hätte wohl auch meinem Bruder vorschweben können! Sagen Sie mir, sind denn alle Ehemänner auf der Hochzeitsreise so — so gedankenlos?“
Er sah die Fragestellerin eigenthümlich an.
„Wie soll ich das wissen?“ entgegnete er, auf das „ich“ den Ton legend. „Es ist nicht meine Schuld, daß ich darüber keine Auskunft geben kann.“
„Seien Sie froh, daß Sie davor bewahrt blieben!“ lachte Hilda auf. „Statt alte, längstvergangene Geschichten aufzuwärmen, sollten Sie lieber Ihre Divinationsgabe anstrengen und mir sagen, was dieser fatale nachhinkende Brief enthält.“
„Tantchen, ich hab’s!“ rief da eine helle Stimme von der Thür her, welche in die weiteren Gemächer derselben Reihe führte.
Das Mädchen, welches, vollkommen zum Ausgehen gekleidet, mit halbem Hüpfen über den Teppich glitt, hatte zwar die Größe und Toilette einer Dame, aber Haltung, Figur, Organ und der Ausdruck des munteren Gesichtchens verriethen noch deutlich den Mangel voller Entwickelung.
„Was hat Fräulein Mimi?“ fragte Meinhard wohlwollend, wie etwa ein Vater sein Töchterchen neckt.
„Guten Abend, guten Abend, Onkel Meinhard!“ begrüßte ihn die Kleine fröhlich, ohne sich aber in der Mittheilung ihrer Entdeckung aufhalten zu lassen. „Ich hab’s, Tantchen! Weißt Du, was es ist? Papa bringt uns den Onkel mit.“
„Wilhelm?“ fragte Hilda leise, und mit seltsamem Tonfalle fügte sie hinzu: „Du vergißt, daß Amerika —“ Sie schwieg und seufzte.
„Ach nein, nicht den richtigen Onkel,“ erklärte Mimi, die letzten Knöpfe ihres rehfarbenen Paletots schließend.
„Doch nicht etwa mich?“ fragte Meinhard verwundert.
„Sie sind ja schon da,“ entgegnete Mimi, als ob sie eigentlich sagen wollte: „Wie einfältig!“ Dann schlug sie die Händchen zusammen und drückte dieselben, sich niederbeugend, zwischen die Kniee, wobei ihre Augen vor Vergnügen leuchteten. „Errathet Ihr’s denn nicht? Ich meine den neuen — den jungen Onkel. Wie spaßig das war, als ich ihn beim Gabelfrühstück nach der Trauung so ansprach! Da war es doch schon in der Ordnung — nicht wahr? Wie hätte ich denn auch sagen sollen? Und wie er sich’s so ernstlich verbat, da sagt’ ich es erst recht. Das klang so närrisch. ‚Onkel!‘ Hahaha! Bin ich hübsch so, Tantchen?“
Sie strich mit den Fingern die Falten ihrer Kleider glatt und machte dann einen tiefen Knix, wie bei Hofe.
„Es ist recht,“ sagte Hilda, „daß Du Dir Mühe giebst, Deiner neuen Mama gleich einen guten Eindruck zu machen.“
„Ach, der Stiefmutter!“ fiel die Kleine ein, aber der wegwerfende Ton verstummte sogleich unter dem verweisenden Blicke der Tante; sie wandte sich erröthend zur Seite, im nächsten Momente aber hing sie an Hilda’s Halse. „Ich frage nur nach Deinem Urtheile, liebes Tantchen, nur nach Deinem!“
Den Schmeichellauten war schwer zu widerstehen; was an Vorwürfen die Liebkosungen nicht erstickten, das schnitt die schlaue Mahnung ab, daß Tantchen ja noch immer nicht für die Ausfahrt fertig sei und der Wagen gleich vorfahren werde; man dürfe doch nicht zu spät auf dem Bahnhofe eintreffen.
„Das ist bald geschehen; ich brauche nur Hut und Mantel, und wir kommen noch lange zurecht,“ erwiderte Hilda, und band die weiße Wirthschaftsschürze ab, die sich von dem schwarzen Seidenkleide recht hausmütterlich abgehoben hatte. „Sage mir lieber, wie Du auf Deine sonderbare Vermuthung kommst!“
[3] „Du wirst sehen, daß ich Recht habe. Ich täusche mich gewiß nicht. Die Erinnerung betreffs der Zimmer bezieht sich darauf. Papa hat immer so charmante Ideen. O, ich freue mich so, ich freue mich so — auf Papa!“
Und wieder klatschte sie bei dem etwas nachträglich erst hinzugefügten Schlußworte in die Hände und drehte sich dabei wie ein Kreisel um sich selbst.
Hilda schüttelte den Kopf über die Bemerkung Meinhard’s, daß sich die Sache vielleicht wirklich so verhalte.
„Es ist wohl nur eine Ideenverbindung,“ meinte sie, „weil wir vorher über Edwin von Tonner sprachen, als wir die Photographien durchsahen, um die des jungen Herrn in das Zimmer seiner Schwester zu stellen. Wir haben aber keinen ganz passenden Rahmen gefunden und dann, dann — wer weiß? — Man hat mit den Brüdern nicht immer seine Freude.“
Sie nickte still vor sich hin und machte sich mechanisch daran, die zerstreuten Photographien zusammenzuschieben, um sie darnach in das Album einzuschließen. Ein eigenthümliches Geräusch ließ sie den Kopf wenden.
„Was hüpfest Du denn wie ein junger Ziegenbock, Mimi?“
„Aber Tantchen, welch ein Vergleich!“ rief die Kleine, bei aller Entrüstung lachend. Ihr hatte die Frage gegolten; denn vor einem der Pfeilerspiegel sprang sie mit gleichen Füßen, daß ihr fessellos über den Rücken wallendes Haar wie ein dunkler Schleier flatterte. „Das Band will nicht unter die Haare. Ich kann ja so die Cravatte nicht knüpfen.“
Und indem sie das Band nach rückwärts schwang, fuhr sie in der Anwendung ihres drolligen Mittels fort, das sich wie im Spiel ansah. So hüpfend und lachend, blieb an Stelle der verschwundenen Dame nur das harmlose, lebensfreudige Kind, für das die von Hilda neuerdings aufgeworfene Frage, was wohl der Brief enthalten möge, nur ein geringes Interesse bot.
„Wenn Ihnen soviel daran liegt,“ rieth Meinhard scherzend, „müssen wir wohl eine Somnambule fragen.“
„Woher eine nehmen?“
Der Seitenblick Meinhard’s nach der Kleinen entging Hilda ebenso, wie der bedeutsame Nachdruck, mit dem er seine Antwort gab:
„Ich glaube, wir haben sie schon; nur der Magnetiseur ist für den Augenblick noch nicht zur Stelle.“
„Darf ich vielleicht meine Erfahrungen und vielfach erprobten Kräfte zur Verfügung stellen? Ich würde es mir zur besonderen Ehre anrechnen, wenn mir die Herrschaften dazu Gelegenheit geben wollten. Mesmer, St. Germain, Doctor Balsamo. Un, deux, trois — sie schläft.“
Es war ein ganz sonderbarer Antrag und eine sonderbare Stimme, die ihn stellte, wie es schien aus der Tiefe eines Ziehbrunnens herauf. Sie kam aber offenbar nur aus der Brust eines kleinen dicken Mannes in abgetragenem schwarzem Röckchen, das zweifellos für eine weit schlankere Taille angefertigt worden war. Das graue, breite Gesicht mit seinen verschlemmten Zügen war in hohem Bogen von einer langen Strähne Haares überklebt, das sich an den Schläfen zu grotesken Locken einbog, während sich die fuchsigen Spitzen im Nacken mit dem echten Eigensinn einer alten Perrücke auswärts ringelten. Das Pathos, mit dem er gesprochen, die Haltung der erhobenen Hände, die ausgespreizten Finger gaben der Erscheinung des Mannes in dem abendlichen Zwielichte etwas unheimlich Groteskes. Er war so plötzlich aufgetaucht, und keiner der Drei hatte gesehen, woher er gekommen.
Die muntere Springerin stand starr, wie gebannt, und Hilda’s Fingern entfielen die kleinen Karten. Schneller ward Meinhard seiner Ueberraschung Herr.
„Darf ich Sie fragen, wie Sie hereingekommen sind?“ sprach er den Fremden scharf an, wiewohl ihm dessen Stellung nahe der offenen Gartenthür als Antwort genügen konnte.
„Der große Philadelphia fuhr gleichzeitig zu vier Stadtthoren hinaus. Man erscheint, und man ist da. Allez vite! Voilà!“
Das war von dem lebendigsten Geberdenspiel begleitet, gleich darauf aber hatte der kleine Mann seinen abgeschabten Claquehut unter dem Arme hervorgenommen, ließ ihn mit einem Knall springen, drückte ihn mit theatralischer Bewegung an die Brust und schnappte in einer tiefen Verbeugung zusammen.
„Hochansehnliche Anwesende,“ begann er dann mit dem demüthigsten Lispeln, „ich komme blos, meine ergebenste Einladung zu machen, da ich demnächst mir erlauben werde, eine große Vorstellung zu geben, und es mir zur größeren Ehre gereichen würde, wenn der hohe Adel der Umgebung mir seine unschätzbare Gönnerschaft zu Theil werden lassen wollte.“
Die Damen hatten noch immer ihre Stimme nicht gefunden. Meinhard ergriff für sie das Wort. Er fragte trocken:
„Sie sind wohl Schauspieler?“
Der Gefragte richtete sich achselzuckend auf.
„Der rasirten Maske nach zu schließen? Vorbei, vorbei!“ sagte er mit tragischer Declamation, die alsbald in Ruhmredigkeit umschlug. „Wer hadert mit des Schicksals Mächten? Einst kannte man meinen Namen; ich war gefeiert und gesucht, von der Memel bis zum Rhein und von der Adria bis zur Nordsee. Das Glück war mir günstig, und die Leitung eines ansehnlichen Kunstinstituts lag in meinen Händen. Aber wie ich mich hinaufgeschwungen auf die Sonnenhöhe, ging es jenseits wieder hinab. Meine Ziele waren zu ideal; das undankbare Publicum wollte sich nicht erziehen lassen. Ich war für meine Zeit zu früh geboren. Was nützt das Klagen? Ich zahlte meinen Zoll dem Menschenschicksal. Die mich unterstützen sollten, haben mich beraubt und verlassen; die Intrigue hat sich gegen mich gewandt — aber sie kriegt mich nicht unter — die Musen standen an meiner Wiege, und meine Gaben sind vielseitig. Ich bin Künstler — Künstler im Allgemeinen. Ich spiele Soloscenen — ich beherrsche mehrere Instrumente: die Holzharmonika, die Mundharmonika, die Maultrommel; ich entlocke der Tischplatte sogar musikalische Klänge; ich gebe einem Blatte Papier sechszig verschiedene Formen und ahme auf’s Täuschendste Thierstimmen nach; mein besonderes Fach aber ist die natürliche Magie. Ich habe Bosco, Döbler — mit dem war ich in Hamburg zusammen — Mohnhaupt — den kenne ich von Riga — und Kratky Baschik, dem ich ein Gastspiel in Constantinopel durch meine Connexionen vermittelte, ihre intimsten Geheimnisse abgelauscht. Damals war es noch meine Privatpassion — aber du lieber Himmel! Die Kunst geht nach Brod. Sie erlauben mir, daß ich eine Probe meiner Geschicklichkeit gebe?“
Und ohne die Erlaubniß erst abzuwarten, hatte er sich schon der Photographien auf dem Tischchen bemächtigt.
„Wir haben jetzt keine Zeit,“ wendete Hilda ein und bemühte sich die Ablehnung so wenig unfreundlich wie möglich erscheinen zu lassen. Mimi aber bat Tantchen, doch noch ein wenig zu warten:
„Ich sehe dergleichen für mein Leben gern.“
Ein Blick, eine Kopfneigung des Taschenspielers dankte der Fürsprecherin. Er mischte bereits die Blätter wie ein gewöhnliches Spiel Karten.
„Prestigiateur, gnädiges Fräulein, nichts als Prestigiateur, kein Hexenmeister,“ plauderte er dabei. „Schnelligkeit ist ja die Hauptsache beim Metier. Darf ich Sie bitten, sich eine der Karten zu merken? Aber den schönsten jungen Herrn, damit mir die Sache nicht zu schwer wird! — Und Sie, mein gnädiges Fräulein — ebenfalls eine — ja? Mein Herr — ich will Sie nicht zwingen. Eins, zwei, drei — wupp!“
Er schlug den Fächer zusammen, blies auf das Paket, schnippte darauf, legte es auf das Tischchen zurück, netzte die Finger an den Lippen und streckte, wie wenn er ein unangenehmes Gefühl auf dem Rücken beseitigen wolle, die Arme so weit aus, daß ein paar zerknitterte Manschetten zum Vorschein kamen.
„Un, deux, trois! Allez, changez, passez!“ rief er, mit den Händen durch die Luft fahrend. „Haben Sie sie fliegen gesehen? Nicht? Doch! Hier, in Ihren Rock sind sie hereingeflattert, mein Herr. Sie erlauben. Ah, sehen Sie, hier in der Westentasche! Mein schönes Fräulein, ist es diese Karte? Ah, ich sehe, es ist die rechte. — Aber, mein Herr, Sie müssen mir schon noch einmal erlauben. Richtig, hier! Gnädiges Fräulein – haben Sie diese im Gedächtniß?“
Es war eine ganz merkwürdige Betonung, mit der er diese letzte Frage stellte. Auch sein Antlitz hatte — ungesehen von Meinhard, der hinter ihm stand, und Mimi, die erröthend noch immer auf die in ihre Hände gelegte Photographie starrte — einen ganz veränderten Ausdruck angenommen. Blinzelnd hing sein von den niederhängenden Lidern verkleinertes Auge an Hilda’s Antlitz und zuckte triumphirend, als es die plötzliche Verwandlung in ihren Zügen wahrnahm.
Vorerst nur gleichgültig, hatte ihr Blick der Aufforderung Folge geleistet, fast widerwillig; jetzt hing er erschrocken an der ihr zugekehrten Seite des Kärtchens. Eine Bewegung ging durch ihren [4] Körper, doch ließ der schlaue und bei all seiner Schwerfälligkeit doch gewandte Mann ihre Ueberraschung nicht zu Worte kommen.
„Sie erkennen die Photographie nicht? Sollte es eine falsche Karte sein?“ fragte er wie verwundert und setzte dann rasch entschlossen hinzu: „Fort also! Allez, changez, passez! — Ach, ja natürlich, es war ein stärkerer Magnet da. Sie selbst haben sie angezogen. Es ist aber nicht schön, daß das gnädige Fräulein sie im Aermel verstecken, um mich in Verlegenheit zu bringen.“
Mit zwei Fingern holte er scheinbar das Blatt an ihrem Handgelenke hervor. Geschickt verbarg er ihre beim Anblick der Photographie sich steigernde Verwirrung vor Meinhard, dessen Aufmerksamkeit er abzulenken wußte.
„Mein Herr, Sie werden sich überzeugt haben, daß Ihre Uhr noch vorhanden ist.“
Er sagte es höflich, aber mit einer gewissen impertinenten Ironie.
Mimi drehte noch immer ihr Kärtchen zwischen den Fingern.
„Aber das ist doch wunderbar!“ äußerte sie.
„Ich leiste noch Wunderbareres, mein Fräulein,“ brüstete sich der Künstler. „Ich begnüge mich nicht mit dem Escamotiren; ich bin Magnetiseur; ich errathe Gedanken; ich citire Geister; ich bringe die Abwesenden zum Sprechen. Wenn mir eine kleine Probe gestattet ist — —“
„Wir werden das ja bei Ihrer Vorstellung sehen,“ wollte Meinhard vorbeugen, aber Mimi erhob bittend die kleinen Hände.
„Ach, nur ein klein wenig!“
“Es bedarf gar keiner Vorbereitungen — bitte! Ich habe zum Beispiel einen Bekannten in Amerika, wollen wir den anrufen? — Hollah, Bill! How do You do? Immer aufrecht? Wie geht es Deiner Frau?“ Er ließ die beiden letzten Sätze in die trichterförmig vor den Mund gelegten Hände fallen und neigte, wie um besser zu hören, den Kopf zur Seite, wodurch aber das Gesicht sich so weit abwendete, daß es sich jeder Beobachtung seines kleinen Publicums entzog. Aus großer Tiefe schien eine gänzlich veränderte Stimme zu antworten:
„Was weiß ich — ich, bin nicht mehr in Amerika.“
Bei dem ersten Tone schrak Hilda von Neuem zusammen; doch bekämpfte sie die heftige Unruhe. Das Zwiegespräch nahm mittlerweile seinen Fortgang.
„Ist’s möglich, Bill? Also nicht mehr jenseits des großen Teiches? Wo denn sonst?“
„Das hörst Du doch; hier.“
„Du meinst doch nicht hier im Hause?“
„Natürlich, im Keller.“
„So komm doch herauf!“
„Daß ich ein Narr wäre; man hält mich ja versteckt.“
„Aber Andere werden Dich finden, so gut wie ich Dich fand.“
„Du wirst schweigen und mich nicht verrathen.“
„Das hängt von Umständen ab.“
„Komm wieder, wenn ich ausgeschlafen habe! Ich bin müde. Gute Nacht!“
„Gute Nacht! — — Die Reise scheint ihn angestrengt zu haben. Aber ich darf nichts weiter mittheilen. Sie hörten, meine Herrschaften, er verlangt Discretion. Wir wollen ihn in Ruhe lassen, den armen Jungen — bis zu meiner Vorstellung.“
Auf den letzten Worten, mit denen er sich zurück an die Gesellschaft wandte, lag wieder ein eigenthümlicher Nachdruck, und Hilda’s fragender Blick begegnete einer noch durchdringenderen Frage in seinen Augen, die sich aber blitzschnell wieder abwendeten. Es war eine Art Abschiedsverbeugung, die er inscenirte, während ihm Mimi lebhaft Beifall klatschte.
„Wir kommen jedenfalls — nicht wahr, Tantchen?“ versprach sie dem sich langsam der Thür Nähernden, der murmelnd die Versicherung gab, er werde selbst die Ehre haben, das Programm zu überreichen, sobald der Tag erst festgestellt sei, und unter einer nochmaligen tiefen Verbeugung verschwand, als Hilda sich aufrichtete und ihm stockend und hastig die Weisung gab, im Flure zu verweilen, bis er von ihr Nachricht hätte.
„Soll ich Dir vielleicht Dein Geldtäschchen bringen?“ fragte Mimi, welche die Absicht der Tante zu errathen meinte.
Eine Handbewegung lehnte ab.
„Was ist Ihnen, Hilda?“ nahm Meinhard, schärfer beobachtend, das Wort.
„O nichts — nichts — wohl nur eine Sinnestäuschung.“
„Ein gewöhnliches Kunststück der Bauchrednerei.“
„Sie zerstören Einem, doch immer alle Illusionen, Onkel,“ schmollte Mimi. „Sagen Sie mir, wie mochte er nur wissen, daß ich mir gerade die Photographie Onkel Edwin’s gedacht hatte?“
Unterdeß hatte Hilda das Gemach verlassen. Sobald sie das anstoßende Schlafzimmer betreten und die Thür hinter sich geschlossen hatte, zog sie die Klingelschnur und sandte das Mädchen mit dem Auftrage weg, ihr den Taschenspieler hierher zu bescheiden.
Was hatte diese Mahnung, die von einem ihr völlig Unbekannten ausging, zu bedeuten? Sie hatte sich gewiß nicht getäuscht, als sie in dem ihr zuerst vorgehaltenen Bildnisse die Züge des im Hause wie todt Betrachteten erkannte. Unter jenen Photographien befand sich diejenige ihres zweiten Bruders nicht; sie konnte auch nicht darunter gerathen sein; denn alle seine Bilder waren ja vernichtet oder weggeschlossen worden; es durfte keines dem Bruder Franz unter die Augen kommen, seit dieser den Unwürdigen aus der Familie, sogar aus seinem Gedächtnisse ausgeschieden. Woher kam nur das Bild?
[21] Hatte bei dem unsicheren Dämmerlichte, beim raschen Wechsel der Blätter, das sonst so scharfsichtige Auge Hilda getrogen? Aber woher die Aehnlichkeit von Wilhelm’s Stimme mit jener so unheimlich aus den Brettern des Fußbodens herauftönenden? Hilda war von dem Laute betroffen worden, als antworte in der That ihr Bruder unter den Parketen herauf, auf denen sie stand. Wohl war ihr das Kunststück des Bauchredens nicht fremd, aber sollte es wirklich nur Zufall gewesen sein, daß diese forcirte Stimme jener anderen glich, die ihr noch so deutlich im Ohre klang, ohne daß der Täuschende sie je zuvor gehört? Und fanden sich denn ebenso leicht Erklärungen für den befremdlichen Sinn der Worte? „Bill“ hatte der Mann den Fernen angerufen, Amerika genannt, auf die Gefahr seiner Rückkehr nach Europa hingewiesen. Und das alles sollte wirklich nur ein harmloses Zusammentreffen von Umständen sein, nicht eine beabsichtigte Nachahmung der Stimme, eine bedeutungsvolle Mahnung, ein wohlvorbereitetes Spiel zu ganz bestimmtem Zwecke? Und welcher war dieser Zweck?
Darüber sollte der Mann selbst Auskunft geben. Es blieb ja immerhin möglich, daß hier der Hinweis auf eine alte Bekanntschaft als wirksame Unterstützung einer Bettelei benutzt wurde, aber vielleicht hatte dieser Mensch den Exilirten doch in neuerer Zeit erst gesehen und konnte Nachricht geben über ihn. Aber nein, vielleicht zerrann schließlich doch noch alles in Nebel – vielleicht war alles nur ein Traumbild, wie es, von einem Worte, einem Laute, irgend einem Anblick hervorgezaubert, in des Menschen Innern plötzlich auftaucht, in der Dichter-, in der Künstlerseele sogar greifbare Gestalt annimmt und doch vorüberzieht und verweht – ein Hauch, ein Nichts.
„Aber, Tantchen, wo bleibst Du denn so lange? Der Wagen ist schon vorgefahren, und Du verplauderst Dich in einem Kaffeestündchen mit Bußbuß.“
Mimi’s Stimme weckte die in tiefes Sinnen Versunkene. Ihre Stirn lehnte an der Fensterscheibe, und ihre Hand kraute in dem Pelze des schnurrenden Kätzchens, das sich zu ihr auf’s Fensterbrett geschmeichelt hatte.
Es mußte eine geraume Weile verstrichen sein, während sie auf den Mann mit den geheimnißvollen Andeutungen gewartet hatte; denn Dunkelheit hüllte bereits ringsum alles immer tiefer und tiefer ein. Aber wo war er geblieben, der unheimliche Eindringling?
Eben kam Liese fast athemlos herein.
„Ich weiß nicht, wo der Mensch hingekommen ist,“ berichtete sie. „Im Vorhause ist er nicht; in der Küche hat ihn Niemand gesehen und draußen auch nicht. Der Martin ist freilich erst vorgefahren, aber Fritz hätte doch besser aufpassen können. Er stand vor der Thür und machte noch schnell die Tannenbäumchen fest. Dort sei nichts vorbeigekommen, sagt er. Aber wie ein Geist kann doch Niemand bei lebendigem Leibe verschwinden.“
„Ausgenommen ein Zauberer,“ fiel ihr Mimi in’s Wort.
„O, auch die lassen eine Wegzehrung nicht im Stiche,“ parirte die praktisch denkende Liese den Schlag.
„Es giebt doch auch stolze Zauberer,“ widersprach Mimi lachend. „Wer weiß, ob er sich nicht durch die Zumuthung beleidigt fühlte, sich in der Küche wie ein Handwerksbursche ein Almosen zu holen. Ich lasse mir nun einmal meine gute Meinung nicht nehmen.“
Hilda that keinen Einspruch; sie ließ es auch geschehen, daß ihr das Mädchen Hut und Handschuhe reichte und Mimi ihr den weichen Herbstmantel um die Schultern legte. Die Frage, wie dieses Verschwinden zu deuten, beschäftigte sie noch, als ihr Meinhard, der sie am Kutschenschlage erwartet, in den Wagen half.
„Vielleicht hat Mimi Recht,“ dachte sie, erleichtert aufathmend. „Dann aber hatte es ja auch keinen Zweck, und es war doch alles nur eine Täuschung meiner Sinne.“
Die Nacht war schon hereingebrochen; ihre Schatten schienen das Schloß zu verschlingen, während der Wagen in das Dunkel hinaus rollte. Dunkel herrschte auch in seinem Innern; denn von den Laternen drang kein so ausgiebiger Strahl herein, um etwas genauer erkennen zu lassen. Wie der nachdenkliche Ausdruck in Hilda’s Zügen, entging auch ihr Schweigen der Aufmerksamkeit ihrer beiden Gefährten. Mimi führte das Wort für alle Drei. Zunächst war es noch der Taschenspieler und sein gespensterhaftes Auftreten, worüber sie sich vollends aussprechen mußte. Die Bemerkung Meinhard’s, daß es in der Weise solch verkommener und zuweilen halb verrückter Genies liege, ihrem Erscheinen etwas Geheimnißvolles zu geben und sich, vielleicht mehr noch ihrer Eitelkeit, als dem zu erhoffenden Nutzen zuliebe, womöglich immer mit einem Theatercoup in Scene zu setzen, gefiel ihr schließlich doch noch besser, als die ebenfalls aufgestellte Vermuthung, diese vagabondirenden Subjecte hätten oft allerlei Gründe, ein Haus auszuspioniren.
„Ach, Gruselmacher giebt’s nicht!“ meinte sie. „Diese Taschenspielerei ist nicht gefährlich. Und geschickt ist er gewiß sehr – sehr!
[22] Wie er es nur angefangen haben mag, daß ihn nicht einmal die Hunde meldeten? Hektor ist sonst gerade nicht liebenswürdig gegen Unbekannte.“
„Solche Leute haben allerlei Mittel; das gehört zum Métier, erhöht aber nicht gerade ihre Vertrauenswürdigkeit.“
„Du lieber Gott, sagen Sie nur Papa nichts!“ bat die Kleine mit plötzlichem Schrecken. „Er würde von Einschleichen sprechen, über die Unordnung und Aussichtslosigkeit schelten. Ein Donnerwetter ginge los über Fritz, über Tantchen und Alle. Wenn Papa heftig wird, schont er nichts, so gut er sonst ist.“
„Er wird jetzt gar nicht Zeit haben, zu schelten,“ tröstete Meinhard. „Und wenn er übler Laune sein sollte, wird es nur ein gutes Wort von Mama bedürfen.“
„Das wäre noch schlimmer,“ fiel die Kleine beinahe mit der von ihr selbst gefürchteten Heftigkeit ein. „Tantchen wird doch nicht einer Fürbitte bedürfen von einer – einer Fremden – die erst in ein Haus kommt, in welchem Tantchen geboren ist und, so lange sie lebt –“
Hier unterbrach Hilda den stockenden und dann wieder sprudelnden Redestrom.
„Mimi, Du vergißt, von wem Du sprichst,“ sagte sie tadelnd. „Solche Aeußerungen klingen wie die Anklage gegen mich, Dich schlecht erzogen zu haben; sie wären zudem noch ein Grund für Deinen Vater, zu bedauern, daß er im Schmerze um den Verlust Deiner Mutter die Pflicht vernachlässigte, Dir für sie einen Ersatz zu suchen, ehe Du der leitenden Hand entwachsen warst.“
„Aber warst denn Du nicht für mich die sorgsamste Mutter?“ erwiderte die Zurechtgewiesene. „Ich brauche keine andere, und ich verlange keine andere.“
Das kam aber mit solchem Ungestüm heraus, daß es kaum noch den Charakter der Zärtlichkeit trug und Hilda keineswegs ganz Unrecht hatte, wenn sie kopfschüttelnd sagte:
„Du verlangst keine – das ist möglich, aber brauchen – das ist eine andere Frage, die nicht Du zu beantworten hast. Es scheint doch bisher an der rechten Strenge gefehlt zu haben.“
Da dieser Selbstvorwurf von der beschämt, gekränkt und wohl auch ein wenig trotzig in ihre Ecke sich drückenden Kleinen keinen Widerspruch erfuhr, so nahm Meinhard die Lanze auf.
„Sie beurtheilen eine ganz natürliche Regung, wie ich glaube, zu hart, Fräulein Hilda,“ begann er und fuhr, ohne sich von dem leisen, aber nachdrücklichen „Nicht wahr!“ Mimi’s unterbrechen zu lassen, im warmen Tone der Ueberzeugung fort: „Fast seit ihrer Geburt war sie in Ihrer Obhut; Sie nahmen der kränklichen Mutter von allem Anfange an die Mühe ab und traten nach deren Tod ganz an ihre Stelle. Sie pflegten und erzogen das Kind; Sie haben sich ihm ganz hingegeben und es so möglich gemacht, daß es die Heimath gar nicht zu verlassen brauchte und in der Nähe des Vaters bleiben konnte, der diese Erheiterung in seinem Gemüthszustande gar schwer vermißt hätte. Sie haben sich eine edle und bewundernswerthe Aufgabe gestellt, sich dieselbe zum ausschließlichen Lebenszwecke gemacht und derselben Alles zum Opfer gebracht.“
„Ah bah!“ fiel ihm hier die Gepriesene in einem Tone, der leicht sein und keine Rührung aufkommen lassen sollte, in’s Wort. „Welche Tirade! Was habe ich denn für Opfer gebracht? Ich habe noch nie etwas davon gemerkt.“
Einen Moment blieb er stumm; dann sagte er gedämpfter:
„Das ist kein Grund, Alles als selbstverständlich von Ihnen hinzunehmen, und ich begreife recht wohl, daß soviel Liebe und Hingebung tiefe Dankbarkeit erweckt, welche sich zu einem exclusiven, jede Theilung ablehnenden Gefühle entwickeln kann.“
Das Schweigen, in welches Mimi versunken gewesen, hatte nun lange genug gewährt. Sie nahm sich aus der schon ungeduldig mit angehörten Beweisführung, was ihr eben taugte, um daran anzuknüpfen.
„Ja, und wenn ich noch wüßte, weshalb ich theilen soll? Hat denn die neue Mama mir irgend ein Opfer gebracht? Vielleicht, daß sie Papa geheirathet hat? O, das ist gar kein besonderes Verdienst; Papa ist noch ein ganz hübscher Mann; nicht mehr jung freilich, aber man merkt ihm die vierzig Jahre gar nicht an. Nicht ein graues Härchen hat er, und wie er reitet und Schlittschuhe läuft! Sie hat ihn auch nicht meinetwegen geheirathet, so wenig wie Papa sie aus diesem Grunde nahm. O, gewiß nicht! Soviel kann ich auch schon beurtheilen – dazu brauche ich nur meine gesunden Augen. Im Anfange, als wir nach Teplitz kamen, hatte es wirklich den Anschein, als ob Papa mich zur Gesellschafterin brauche, um sich nicht gar zu sehr zu langweilen. Da verkehrte auch Fräulein Albertine hin und wieder mit mir, während Papa schlief oder sich im Bade befand; in den letzten Wochen aber war es, als ob ich für die Beiden gar nicht mehr vorhanden wäre, und Papas Arm nahm nun wieder an Geschmeidigkeit zu. Er wurde aber auch recht fleißig geübt.“
„Was sprichst Du wieder für tolles Zeug!“
„Nur was ich gesehen habe,“ wehrte sie sich gegen den Verweis. „Ich konnte doch nicht jedesmal die Augen schließen, wenn ich auf den Spaziergängen im Walde hinter ihnen drein kam und sie mich ganz und gar vergessen hatten. O, ich schämte mich ohnedem genug vor Herrn Edwin und hätte dann lieber gewünscht, er würde mich nicht begleiten, obwohl ich mich ohne seine Gesellschaft recht verlassen gefühlt hätte. Ich mußte wirklich noch froh sein, daß er sich meiner annahm.“
Die Folgen einer sehr langsam heilenden Muskelzerrung, die er sich bei einem Sturze mit dem Pferde geholt, fortzubaden, war Herr von Reinach schon zeitig im Frühjahre nach Teplitz gegangen, um es nach sechs Wochen als Bräutigam zu verlassen. Frau Rohrwek, die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ in Schönau, wo er seine Wohnung genommen, war Wittwe und hatte zwei Kinder aus verschiedenen Ehen. Aus der oberflächlichen Bekanntschaft des Sohnes Edwin mit den neuen Miethsleuten entspann sich bald ein näherer Umgang zwischen den Familien; dem Vater schien der Verkehr der beiden Mädchen erwünscht, doch allmählich entzog er seinem Töchterchen die Gefährtin immer mehr. Der Zwang, den ihm die Gegenwart eines Dritten auferlegte, mochte ihn beengen, und er wußte es Albertinens Stiefbruder Dank, daß er an der Seite „des Kindes“ blieb und es anderwärts beschäftigte.
Den Abschluß dieser so leicht und arglos angesponnenen Beziehungen bildete dann Ende August jene Heirath, welche der langjährigen Wittwerschaft Franz von Reinach’s ein Ende machte, dem Gute Waltershofen wieder eine Herrin und dem sechszehnjährigen Kinde eine Stiefmutter gab. Die Nachricht von der bevorstehenden Aenderung der Dinge hatte Mimi nicht ganz ahnungslos getroffen; denn die vorwitzigen jungen Augen hatten schon zu scharf beobachtet. Von einem Ausbruche kindlicher Eifersucht, wie ihn Hilda befürchtet hatte, war keine Rede, und ein Ungestüm, zu dem die Kleine sonst sehr neigte und wie er eben jetzt zum Ausbruche gekommen, hatte sich damals nirgends gezeigt, aber das kam auch wohl daher, weil Mimi gar nicht daran dachte, daß ihr Verhältniß zu Hilda davon berührt werden könnte. War sie ja doch darin eingelebt von Kindheit auf. Es war so naturgemäß, so felsenfest, daß sie ein Rütteln daran gar nicht für möglich hielt und die bloße Andeutung, auch wenn sie von Hilda ausging, wie eine tiefe Kränkung empfand.
Daher der stürmische Protest, daher nach dessen Zurückweisung das schmollende Schweigen, unter dem aber das hieran nicht gewöhnte Zünglein am meisten litt. Jetzt revanchirte es sich; denn von jenem Aufenthalte in dem böhmischen Bade auf die Hochzeit selbst übergehend, reihte Mimi allerlei Bemerkungen über die neue Ehe ihres Vaters bunt an einander, wie sie dies in den letzten Wochen nicht müde geworden war zu thun, vielleicht eben deshalb, weil sie in ihren eigenen Gedanken eine gewisse Uebereinstimmung mit denen der Tante zu entdecken meinte.
Was hätte denn auch Tantchens Fernbleiben von der Trauung für eine andere Bedeutung gehabt? Der Katarrh war doch sicher nur ein Vorwand; das Haus wäre wegen der paar Tage Abwesenheit gewiß auch nicht zu Grunde gegangen, und das Einbringen des Grummets hätte schon der Oberknecht allein besorgen können. Mimi hatte mit dem Vater allein zur Hochzeit reisen und bei der Heimreise einer bekannten benachbarten Familie anvertraut werden müssen.
Das war für der Kleinen Logik ausschlaggebend gewesen. Sie fühlte sich der Unterstützung einer ihr im Stillen Verbündeten sicher; die Stiefmutter erschien ihr, wenn auch gerade nicht als ein Eindringling, so doch als ein gewissermaßen Fremdes in der Hausgenossenschaft, an das man sich aber gewöhnen könne, wenn es sich nicht unbequem mache. Und nun mit einem Male mußte sie Worte hören, die viel zu ernst klangen, als daß sie sich [23] noch der Zuversicht, ihre Gesinnung werde getheilt, hingeben konnte. Sie war betroffen, dann bäumte sich aber doch etwas in ihr auf gegen ein stilles ergebungsvolles Hinnehmen der Lehre, die ihr wie eine Ungerechtigkeit vorkam. Sie wollte dagegen plänkeln, und plauderte, je länger sich jetzt Hilda stumm verhielt – was doch offenbar ein Zeichen fortwährender Mißbilligung war – immer lebhafter, um sich selbst glauben zu machen, daß die Ungnade nur leicht zu nehmen sei, bis endlich das Rasseln der Räder auf dem Pflaster der Stadt diesen Anstrengungen ein Ziel setzte.
Aber auch nachdem das Geräusch beim Einbiegen in die nach dem Bahnhof abzweigende Allee ein Ende genommen, fand sich ihre Beredsamkeit nicht wieder ein. Die Strecke war übrigens nur noch kurz, und als der Wagen hielt, hörte man schon das Gebimmel der elektrischen Klingel, welche die Abfahrt des Zuges von der letzten Station signalisirte. Der durch den Taschenspieler verursachte Aufenthalt hatte doch beinahe zu einer Verspätung geführt, und die Damen mußten sich beeilen, auf den Perron zu gelangen.
Der Stationschef grüßte sie mit besonderer Ehrerbietung und gab auf Meinhard’s Frage die Versicherung, daß immerhin noch fünf bis sechs Minuten bis zur Ankunft des Zuges vergehen würden. Fast unwillkürlich nahm Hilda Meinhard’s Arm, um sich von ihm durch die drängenden Menschen zu einem ruhigen Plätzchen führen zu lassen. Manchen Gruß hatte er dabei zu erwidern, der nicht nur der hervorragenden Stellung in der kleinen Stadt, sondern auch der persönlichen Beliebtheit des angesehenen Mannes galt; dennoch wurde seine Aufmerksamkeit nicht so ganz abgezogen, daß ihm der ungewöhnliche Ernst seiner Begleiterin und ihre Blässe entgangen wäre, die freilich einem weniger theilnehmenden Auge in dem Scheine der spärlichen Laternen kaum aufgefallen sein dürfte. Er benutzte das Alleinsein mit ihr; denn Mimi war ein wenig abseits damit beschäftigt, Fritz die beiden großen Bouquets abzunehmen, mit denen er den Damen gefolgt war.
„Was ist Ihnen?“ wiederholte Meinhard seine schon früher gestellte Frage. „Hat Sie Mimi’s Geplauder verstimmt, und ist Ihnen, indem Sie das Kind auf Theilung der Pflichten verwiesen, plötzlich auch der Gedanke an die Theilung Ihrer Rechte erschreckend nahe getreten?“
Hilda schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf.
„Mimi’s Herz wird mir ja immer bleiben,“ entgegnete sie überzeugt. Sie hatte vielleicht eine Zustimmung erwartet, statt derselben aber ging der Freund nach einer kurzen Pause in seinen Nachforschungen weiter.
„Dennoch ist etwas vorgefallen, was Ihr schönes Gleichgewicht stört,“ sagte er mit der Bestimmtheit eines Menschen, der aus der jahrelangen Beobachtung eines Anderen und aus dem liebevollen Eingehen in dessen Wesen beinahe jeden seiner Gedanken zu errathen gelernt hat. „Ist am Ende wieder ein Brief aus Amerika gekommen?“
„Was bringt Sie gerade darauf?“ fragte sie überrascht.
„Es sind eben schon wieder mehrere Monate verstrichen, seit jene Frau an Ihr gutes Herz appellirte. Die Perioden waren sonst nicht so lang gestreckt und pflegten sich sogar in einer gewissen Regelmäßigkeit zu verkürzen, genau der Willfährigkeit entsprechend, mit der Sie Ihre Sparbüchse, allen Abmahnungen entgegen, in dieses Danaidenfaß leeren. Es wäre auch zu verwunderlich, wenn die Ausdauer der Begehrenden eher ermüden sollte, als die Geduld der Spenderin.“
„Sagen Sie: das Mitleid.“
„Es dünkt mich sehr übel angebracht, dieses Mitleid, und es wird ohne Scham mißbraucht, um Sie gewissenlos auszusaugen.“
„Davor bin ich ja durch doppelte Vorsorge hinreichend geschützt; Franz und Sie behandeln mich ja ohnedem wie ein unmündiges Wesen, und ich glaube, ich müßte vor Gericht klagbar werden, um nur wieder das Dispositionsrecht über mein Eigenthum zu erlangen.“
„O, es würde dessen bei mir nicht bedürfen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen entzogen haben –“
„O, nicht diese Empfindlichkeit, Meinhard! Sind Sie denn nicht mein Freund?“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit leisem Drucke fassend, und sah dabei so voll Herzlichkeit zu ihm auf, daß auch ein weit tieferer Groll unter diesem Strahl hingeschmolzen wäre. „Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir, und Sie schneiden auch sonst meine Erörterungen nicht mit der Barschheit meines Bruders ab, doch eben darum sollten Sie auch ein wenig Nachsicht mit meinen Empfindungen haben. Mein Mitleid gilt ja nicht Wilhelm, obgleich er mein Bruder ist. Er hat sein Schicksal verdient; er hat Schande über uns gebracht, und nicht einmal die Folgen seines Verbrechens haben ihn zur Umkehr geführt. Unmännlich, thatlos und ohne Energie ist er geblieben. Für ihn habe ich keine Regung des Mitgefühls; ihm wäre es gleich, wenn sich Franz vollends für ihn zu Grunde gerichtet hätte und Waltershofen, das ohnehin so schwer zu erhalten gewesen, ganz für uns verloren gegangen wäre. Er hat nie eine Rücksicht gegen uns gezeigt – seine Liebenswürdigkeit war nur Schwäche. Aber Derjenigen kann ich meine Theilnahme nicht entziehen, die am Schwersten darunter leidet.“
„Und die Ihnen jene impertinenten Briefe schreibt, in denen aus einander gesetzt wird, daß eine Frau von Reinach das Recht nicht nur auf die Anerkennung, sondern auch auf die Unterstützung der Familie habe, die ihr beides rücksichtsloser Weise verweigere.“
„Sie kämpft für ihr Kind,“ sagte Hilda und sah mit ernstem Nachdenken zu Boden.
„In der kecken Weise der einstigen Soubrette vom Theater.“
„Was auch ihre Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist sie einmal Wilhelm’s Frau und die Mutter seines Kindes. Ich kann nicht ohne Mitleid an die Beiden denken, wenn ich mir vorstelle, wie dürftig, wie elend sie sind, vielleicht nahe am Verhungern, trotz des unablässigen Kampfes und der Arbeit, mit welcher diese Frau eine Existenz möglich zu machen sucht, die ihres Mannes Leichtsinn und Arbeitsscheu immer wieder in Frage stellt.“
„Ihr gutes Herz dichtet Zaubermärchen. Unsere Berichte –“
„Ich vertraue meinem Gefühle mehr als allen Berichten. Nehmen Sie mir den Glauben nicht!“
„Und das Seelenbedürfniß, sich immer für andere zu opfern.“
„Auch das kann Glück sein.“
Sie sagte das so innig und voll so tiefer Ueberzeugung, daß Meinhard bewegt auf sie niedersah.
„Das Glück der Märtyrer,“ sagte er leise, „und die werden heilig gesprochen.“
„Ach, darnach trage ich kein Verlangen,“ entgegnete sie lächelnd. Sie hob freundlich ihren Blick zu ihm auf; doch es lag nicht in ihrem Wesen sich rühren zu lassen, und auch jetzt wurde sie durch die feucht blickenden Augen ihres Freundes nicht gerührt. Wohl aber regte sich das Vertrauen in die alte treue Freundschaft, der Mittheilungsdrang, und entschlossen begann sie: „Wissen Sie denn –“
Wie zur Strafe für ihr früheres Zögern blieb es ihr aber jetzt versagt, zu vollenden. Die Fortsetzung wurde unbarmherzig von dem Gellen des „ersten Läutens“ verschlungen.
Unwillkürlich wandte Hilda den Kopf gegen den einfahrenden Zug und trat einen Schritt vor, wie alle Andern, die hier harrten. Den Augenblick benützte auch Mimi, um der Spannung ein Ende zu machen, die sich deutlich genug – wie sie meinte – in der Achtlosigkeit kundgegeben, mit der sie behandelt und von der Unterhaltung ausgeschlossen worden.
Sie schlang die Arme um Hilda.
„O Tantchen, bist Du noch böse?“ flüsterte sie mit gepreßter Stimme. „Bitte, bitte, sei wieder gut! Ich habe ja doch nur Dich lieb, aber ich will so freundlich wie nur möglich gegen die neue Mama sein. Gewiß!“
„Das setze ich voraus,“ tröstete die durch den Ueberfall Ueberraschte das dem Weinen nahe Kind. „Ich wußte es, und Deinen Papa wird es freuen.“
„Und Du bist nicht mehr böse? Ach, Du kannst ja gar nicht böse sein.“ Und in raschem Umschwunge, die zurückgedrängten Thränen noch im Auge, lächelte Mimi und küßte das Tantchen mit nochmaliger stürmischer Umarmung.
Sie sahen aus wie zwei im Alter wenig verschiedene Schwestern, die sich trennen sollten. Niemand außer Meinhard hatte den kleinen Zwischenfall beachtet; Abschiedsscenen spielten sich ja mehrere ab auf dem Perron.
Der Zug hielt; die Thüren öffneten sich, und in dem Gewirre der nach den Coupés Drängenden und der Aussteigenden war bei der schwachen Beleuchtung einen Moment lang kaum Jemand zu erkennen. Mimi hatte sich am ersten orientirt.
„Ah, da sind sie! da sind sie!“ rief sie. „Hab’ ich Dir’s nicht gesagt, daß er mitkommt? Nein, wie drollig! Er sucht uns [24] offenbar und sieht uns nicht. Da, da! Ach, und die Aurora ist auch dabei.“
„Aurora? Wer ist denn das?“
„Weißt Du denn das nicht? Die – – O Papa, Papa!“
Sie hatte sich nicht vergeblich auf die Fußspitzen erhoben und ihr schlankes Figürchen, das ohnedem Hilda um ein weniges überragte, so lang gestreckt als möglich. Jetzt lag sie ihrem Vater an der Brust und stieß ihm von rückwärts mit dem Strauß, der für die „neue Mama“ bestimmt war, den Hut über die Augen.
Darnach kam freilich auch diese an die Reihe, und der Strauß an seine Bestimmung. Was aber der Kleinen diesmal an Zärtlichkeit, trotz aller guten Vorsätze, doch gebrechen wollte, ersetzte die junge Frau durch ihr Entgegenkommen. Sie zog Mimi liebreich an ihr Herz, und es war sogar etwas wie Rührung in ihren schönen regelmäßigen Zügen, als sie einen langen Kuß auf die Stirn des Wesens drückte, dem sie Mutter zu sein versprochen.
„So ist es recht. Ihr müßt Freundinnen werden!“ meinte Mimi’s Vater, der wohlgefällig die Gruppe betrachtete, indem er sich den Jägerhut über dem gebräunten energischen Gesichte wieder zurecht schob.
„Das sind wir schon. Wir wollen aber mehr werden – Schwestern! Nicht wahr?“ sagte die junge Frau, sich abermals zu Mimi herab neigend, und hatte sich mit dem einzigen Worte in deren Herzen mehr Platz erobert, als das verwöhnte Kind für möglich gehalten. Nur von einer andern Mutter wollte es nichts wissen – eine Schwester aber –
„Gut, gut,“ meinte Herr von Reinach mit etwas rauhem Humor. „Der erste Trieb ist vorbei – jetzt aber vertagt Eure Herzensergießungen! Du kennst ja Hilda noch gar nicht, liebe Albertine. Erlaube! Ah, das ist brav, daß Du auch mitgekommen bist, Bruno! Das ist erst die rechte Heimath, wenn sie uns aus den alten Gesichtern grüßt. Bin doch froh, daß ich wieder daheim bin. Albertinchen, Statthaltereirath Meinhard, Respectsperson, Oberster des Amtsbezirks, Minister des Innern in spe und mein treuer Jugendfreund.“
„Ach welche Rücksichtslosigkeit! Kein Anstand, keine Achtung!“ unterbrach hier eine Stimme die Reihe der Vorstellungen. Die dicke Dame, welche sich so beklagte, schoß vernichtende Blicke um sich, während sie die kleine Gruppe, an welche sie herantrat, zur Rache aufzurufen willens schien.
Der junge schlanke Elegant, auf dessen Arm sie sich schwerfällig stützte, erklärte lachend:
„Mama beging die Unvorsichtigkeit sich einigen Kofferträgern in den Weg zu stellen, und wäre in der That beinahe über den Haufen gerannt worden.“
„Ueber den Haufen – über den Haufen,“ wiederholte sie mit tadelndem Gemurmel das anstößige Wort. Ihr durch den Eifer stark geröthetes Antlitz verklärte sich aber plötzlich und mit einem überraschenden Uebergang, wie durch den Verwandlungsapparat bei Nebelbildern, zu dem einschmeichelndsten Lächeln, als sie sich Hilda gegenübersah.
Eine Ahnung hatte dieser schon gesagt, wen sie vor sich habe, ehe ihr Bruder noch Zeit fand, seine Schwiegermutter mit ihr bekannt zu machen. Vielleicht hatte Mimi’s Ausruf und eine dadurch hervorgerufene Ideenverbindung diese Erkennung erleichtert.
Die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ neigte sich mütterlich wohlwollend zu den sie freundlich Begrüßenden.
„Ach, wie lieb!“ sagte sie mit Gefühl. „Also auch an mich haben Sie gedacht, Fräulein Hilda? Sie sind zu aufmerksam! Wirklich, zu freundlich! Das schöne Bouquet für mich! Wie soll ich Ihnen danken? Sieh doch nur, Edwin, wie liebenswürdig! Diese prachtvollen Blumen so spät im Herbst! Mein Sohn, Edwin von Tonner. Mein erster Mann war ein von Tonner, wie Sie vielleicht gehört haben. Edwin, Fräulein Hilda erlaubt Dir gewiß, ihr die Hand zu küssen. Wir sind ja nun eine Familie.“
Zu gutmüthig, um Jemand absichtlich eine Enttäuschung zu bereiten, überließ Hilda den eigentlich gleichfalls für die junge Schwägerin bestimmten Strauß deren Mutter, wie sie auch den verordneten Handkuß hinnahm, obwohl sie sich von dieser Begegnung im Grunde wenig angemuthet fühlte. Vielleicht hätte sie unter anderen Umständen mehr das Komische als das Befremdliche der Situation herausgefunden, im Momente aber fehlte ihr der Humor; denn noch wirkten die in der Unterredung mit dem Freunde angeregten Gedanken in ihr nach, und überdies quälte sie der plötzlich auftauchende Gedanke, daß für die Aufnahme dieser unerwarteten Gäste gar keine Vorbereitungen getroffen waren.
Sie kannte ihres Bruders Ungeduld in solchen Dingen, und diese machte sich auch wirklich schnell genug fühlbar. Einstweilen ertheilte Herr von Reinach seinem Bedienten, Fritz, einige Befehle. Dieser hatte sich beeilt, das Handgepäck aus dem Coupé zu räumen, und stand nun mit dem abgenommenen Hut in der einen und einem Handkörbchen in der anderen Hand da. Unter dem festgebundenen Deckel des Korbes zwängte sich der Kopf eines Hündchens hervor, das nahe daran war, sich bei seinen ungestümen Befreiungsversuchen selbst zu erwürgen.
„Nur einen Wagen, sagt mir Fritz? Wie konntest Du doch daran denken, Hilda, nur einen Wagen für uns alle herzuschicken?“ zog Herr von Reinach seine Schwester zur Verantwortung. „Was nutzt der Korbwagen? Die zweiten Pferde hätten vor die Halb-Chaise gespannt werden sollen; für die Bagage konnte ein Bauerngespann kommen.“
„Wenn wir nur früher gewußt hätten –“
Aber Entschuldungen waren dem an’s Befehlen gewöhnten Gutsherrn ein Gräuel.
„Früher, früher! Wann denn? Wir trafen uns unterwegs – das hatten wir verabredet, um einige Tage noch gemeinsam zu verleben, aber ich habe die großen Städte jetzt für eine Weile satt, und war froh, als sich die Schwiegermama entschloß mitzukommen. Das alles wurde gestern Morgen erst abgemacht, und ich schrieb auf der Stelle; den Brief hast Du doch erhalten? Die Depesche heut auch? Da es der Brief noch halb im Zweifel ließ – –“
„Das Telegramm wohl, aber nicht den Brief.“
Damit war jedoch Oel in’s Feuer gegossen. Der Unmuth Reinach’s wandte sich nun gegen die Postverwaltung, das Communicationswesen, die Verwaltung überhaupt und schließlich gegen alle Einrichtungen des gesammten Staatswesens; nicht einmal ein freundlicher Beschwichtigungsversuch der jungen Frau wollte recht einschlagen. Erst Meinhard gelang es zuletzt, den Unwirschen leidlich zur Ruhe zu bringen.
Er hatte, während sich der Freund seinem Unmuthe hingab, Rath geschafft, wenigstens für das nächste Bedürfniß in dem „arg zerrütteten Staatswesen“.
Von den Passagieren des mittlerweile wieder weitergefahrenen Zuges war nur ein einziger dem harrenden Hôtelomnibus der „Krone“ zugefallen. Durch eine höfliche Einladung hatte Meinhard dessen Uebersiedelung in jenen des „Goldenen Adlers“ bewirkt; der kam ja doch auch an der „Krone“ vorüber, und ein anderes Mittel als diese Fusionirung der beiden concurrirenden Großmächte stand eben nicht zu Gebot, da sich Miethwagen an der dem Städtchen so nahen Bahnstation nur auf Bestellung einzufinden pflegten. Das einspännige Fuhrwerk bot zwar keine übermäßige Bequemlichkeit, aber es war ein Auskunftsmittel, und Mimi gab sofort ihre Bereitwilligkeit zu erkennen, von demselben Gebrauch zu machen, natürlich unter dem Schutze Edwin’s, mit dem sie unterdessen die heiterste Begrüßung gewechselt.
„Ich habe schon eine Ahnung davon gehabt, daß Sie mitkommen,“ hatte sie ihm in aller Eile anvertraut.
„Wirklich? Sie erwarteten mich? Darf ich hoffen, mit Ungeduld?“
„Davon habe ich nichts gespürt.“
Aber das freundliche Lächeln, mit dem sie seinen feurigen Blick erwiderte, benahm selbst dem grausamen Beisatze: „Nur mit Hunger, weil wir heute so spät zum Abendessen kommen,“ seinen Stachel. Sie nahm es denn auch nicht sonderlich huldvoll auf, als Frau Rohrwek mit einem ziemlich bestimmt lautenden: „Nein, nein, das Töchterchen gehört zu uns,“ die Entscheidung in entgegengesetztem Sinne traf. „Man darf Vater und Kind die Freude des Wiedersehens nicht verkümmern,“ fügte sie hinzu.
So war es selbstverständlich Hilda, welche auf die Gesellschaft des jungen Mannes angewiesen blieb, der ihr auf einen Wink seiner Mutter zuvorkommend den Arm bot. Beide blieben allein; denn Meinhard war nicht mit eingestiegen; er hatte es vorgezogen, die so unvorhergesehen vergrößerte Familie an diesem Abende discret sich selbst zu überlassen, und Hilda war kaum dazu gekommen, ihm noch „gute Nacht!“ zu sagen und die Hand aus dem Wagen zu reichen.
Es beschäftigte sie auch so vielerlei, daß sie kaum die Hälfte [26] von dem hörte, was ihr Begleiter mit geläufiger Zunge erzählte; nur dort, wo eine Antwort unerläßlich war, gab sie dieselbe kurz und zerstreut. So viel Mühe er sich auch nahm, die Zeit der Fahrt angenehm auszufüllen – ihr war noch nie eine solche langweiliger erschienen als die gegenwärtige, und sie war froh, als endlich die einfachen Linien des zwar nicht großen, aber doch recht stattlichen Schloßbaues hellerleuchtet aus der Finsterniß auftauchten.
„Allerdings – recht praktisch – nichts fehlt – auch die weißgekleideten Ehrenjungfrauen nicht,“ stimmte sie den scherzhaften Bemerkungen ihres Begleiters zu, indem sie dieselben fast wörtlich wiederholte und dabei an ganz andere Dinge dachte:
„Die Gastzimmer und dann der Tisch – zwei Gedecke mehr, und ob auch die Susanne –“
Der Wagen hielt an. Eiligst huschte Hilda voran in’s Haus, während ihr Bruder mit Frau und Schwiegermutter noch unter der grünen Triumphpforte stand und beim bunten Scheine der in dem Fichtenreisig angebrachten Lämpchen die Glückwünsche von seinen Leuten entgegennahm.
Da krachte plötzlich ein Schuß durch die Nacht und darauf noch ein zweiter. Frau Rohrwek, welche mit großer Genugthuung und herablassendem Kopfnicken die Anreden mit angehört, stieß einen Schrei aus und klammerte sich an den Altknecht, der ihr zunächst stand.
„Ein Attentat, ein Attentat!“ kreischte sie auf.
Sie achtete nicht auf seine beschwichtigenden Worte, es sei ja nur das gnädige Fräulein gewesen; da brauche man nicht zu erschrecken. Aber zu gleicher Zeit fast ließ sich Mimi’s Stimme vernehmen mit einem schallenden:
„Hurrah!“
„Weißt Du, Papa,“ setzte sie dann erläuternd hinzu, „Tantchen wollte von Böllern nichts wissen – da mußt Du schon mit meiner kleinen Jagdflinte vorlieb nehmen. Eine Hochzeit muß doch angeschossen werden! Hurrah!“
„Teufelsmädel!“ meinte der Vater schmunzelnd und wehrte den Hunden, die winselnd vor Aufregung an ihm hinaufsprangen. Die junge Frau äußerte ihre Besorgniß über die Gefahr.
„Es ist keine Gefahr dabei, soll ich wieder laden?“ lachte Mimi.
„Ich sterbe,“ ächzte Frau Rohrwek. „Ein entsetzlicher kleiner Kobold.“
Der Kobold aber lachte über die gelungene Verherrlichung des Einzuges.
[41]
Mit der Heimkehr des jungen Ehepaares und den Gästen war reges Leben in Waltershofen eingezogen. Schon mehrere Tage waren seit ihrer Ankunft verflossen, und noch hatte Hilda nicht zur Ruhe kommen können. Zu ihren verschiedenen Obliegenheiten im Haushalte hatte sich nun noch die Obsorge für den so unangesagt gekommenen Besuch gesellt, dem gegenüber die Ehre des Hauses vertreten werden mußte, und Hilda, die nun schon so lange Jahre an der Seite ihres Bruders demselben vorstand, setzte ihren Stolz darein, auch das tadelsüchtigste Auge keinen Mangel gewahren und auch die verwöhntesten Wünsche nichts vermissen zu lassen.
Es war weniger die junge Frau, die für Alles ein freundliches und anerkennendes Wort hatte, welche dabei in Betracht kam, als vielmehr deren Mutter; die Art, wie sie sich um Alles bekümmerte, Erkundigungen über jegliche Angelegenheit einzog und über Dies und Jenes Bemerkungen fallen ließ, war eben nicht geeignet, ihr Hilda’s Zuneigung im Fluge zu erwerben, aber sie entschuldigte dieses „in die Töpfe gucken“ mit dem natürlichen Interesse, das eine Mutter für die künftige Heimath ihrer Tochter haben mag. Wer wollte es ihr da übel nehmen, wenn sie sich selbst von den Verhältnissen zu überzeugen suchte, mochte dies auch nicht immer gerade in der delicatesten Weise geschehen. Der Zärtlichkeit mußte man da gutschreiben, was an Zartgefühl dem Herzen gebrach, und Hilda besaß von diesem selbst zu viel, um nicht die Controlle der Schwiegermutter ihres Bruders geduldig zu ertragen.
Die alte Dame – obwohl erst im Beginne der Fünfziger, machte sie doch durch ihre Schwerfälligkeit diesen Eindruck – gab sich ungemein anspruchsvoll; vielleicht weniger, weil sie es wirklich von Haus aus war, als weil sie sich hier in der Fremde vor den Augen ihres Schwiegersohnes und seiner Familie dadurch einen besonders vornehmen Nimbus zu geben glaubte.
Es war Hilda recht wohl bekannt, daß jener frühere Gatte, mit dessen adeligem Namen Frau Rohrwek gleich bei der ersten Begegnung auf sie Eindruck zu machen gesucht, nur ein armer Hungerleider auf der letzten Stufe der Beamtenhierarchie gewesen, der das schöne Bürgerskind, das er geehelicht, nach seinem Tode in größter Noth zurückließ, sodaß der hülflosen Wittwe keine Wahl blieb, als ihr von einem älteren Manne Herz und Hand und der Mitgenuß eines ansehnlichen Vermögens angetragen wurde. War sie nun in dem ärmlichen Haushalte des kleinen Beamten nicht gerade verwöhnt worden, so mochten ihre späteren Verhältnisse, trotz aller Behäbigkeit, wohl auch kaum dazu angethan gewesen sein, ihr die Prätensionen anzuerziehen, mit denen sie hier die große Dame zu spielen versuchte.
Hilda ließ es sich nicht verdrießen, den Wünschen der Frau Rohrwek möglichst gerecht zu werden, und griff in ihrer energischen Art dort selbst mit ein, wo sich Liese und die andern, welche alle Frau Rohrwek noch neben der von ihrer Tochter mitgebrachten Jungfer zu beschäftigen und auf die Beine zu bringen verstand, keinen Rath mehr wußten.
So war es auch heute Morgen gegangen; Frau Rohrwek war nämlich auf den Einfall gerathen, einen Heizversuch in ihrem Zimmer anstellen zu lassen, und während sie sich ankleidete, war es dann der vollsaftigen Dame zu heiß geworden; Liese mußte die Fenster öffnen und Wasser auf das Feuer gießen. Als Hilda herbeikam, fand sie das Gemach voll Rauch und die Bewohnerin in einem Erstickungsanfalle. Sie hatte Mühe, dieselbe zunächst aus dem Zimmer zu schaffen, wo deren Hülferufe Allen die Köpfe verwirrte.
Es war bald wieder Ordnung geschafft, doch kam Hilda darob später zum Frühstückstisch hinab. Die Herren waren schon bei der Cigarre, und selbst die Unheilstifterin hatte über Kaffee und Kuchen den Schreck schon so ziemlich verwunden. Sie saß in ihrem bunten Cachemirschlafrocke mit aller Grandezza nur noch an der Tafel, um ihr Hündchen, das sie zärtlich auf dem Schooße hielt, mit den ausgewähltesten Bissen zu füttern.
„Was ist denn das mit dem Ofen?“ wurde die Eintretende von ihrem Bruder gefragt.
Sie war es so gewöhnt, ihm in allen Dingen Rechenschaft zu geben, daß sie zu anderer Zeit kaum Anstoß an diesem Ersatze für einen herzlichen „Guten Morgen“ genommen hätte. In Gegenwart der Fremden aber fühlte sie sich von dieser echt brüderlichen Nachlässigkeit ein wenig verletzt. Sie trug es still.
„Ein kleines Versehen,“ sagte sie ruhig. „Ich habe mich überzeugt, daß Alles in Ordnung ist; übrigens soll der Töpfer gerufen werden.“
Hilda ließ sich an ihrem Platze nieder, allein die Kannen standen nicht vor demselben wie gewöhnlich, sondern dort, wo ihre Schwägerin die letzten Tage gesessen hatte. Edwin reichte sie ihr, seine Zeitung im Stiche lassend, diensteifrig zu.
„Es thut mir leid, daß Albertine sich bemühen mußte,“ sagte sie leichthin.
„Es ist jedoch nur ihres Amtes und steht ihr ganz gut,“ meinte der Gutsherr und bewirkte dadurch ein überraschtes Aufblicken seiner Schwester.
[42] „Mein Gott,“ fiel hier Frau Rohrwek mit dem süßesten Lächeln, das ihr zu Gebote stand, ein. „Wir müssen uns ohnedem schwere Vorwürfe machen, daß wir Ihnen so viel zu schaffen geben. Ich kann wirklich nicht genug danken, liebe Hilda, Sie haben mich gerettet, ich wäre ohne Ihre Hülfe verloren gewesen.“
„Das ist wohl eine kleine Uebertreibung sowohl der Gefahr wie des Beistandes,“ versuchte Hilda zu scherzen, aber Frau Rohrwek ließ die Ablehnung nicht gelten.
„Glauben Sie ihr nicht, lieber Franz!“ wandte sie sich an ihren Schwiegersohn. „Nur die Bescheidenheit spricht so aus ihr. Ersticken hätte ich können, hätte ich müssen. Ich weiß wirklich nicht, wie es gehen wird. Der Ofen scheint mir einer gründlichen Untersuchung zu bedürfen. Denken Sie, wenn ein Feuer auskäme! Ich begreife überhaupt nicht, lieber Franz, wie Sie noch eine hölzerne Treppe in Ihrem Schlosse dulden können, und dazu noch eine so steile, daß ich mit meinem Asthma sie kaum ersteigen kann. Im Fall einer Feuersgefahr wäre ich ein Kind des Todes.“
„Beruhigen Sie sich, Mama!“ sagte Herr von Reinach, ein wenig ungeduldig auf dem Sessel rückend. „Es wird nicht dahin kommen. Zum Glücke brauchen Sie ja nicht zu heizen. Es sind noch ganz warme Tage; selbst die Nächte – heute Morgen hatten wir nicht einmal einen Reif. Ich begreife nicht, wie das Feuer –“
Er sprach nicht aus; dafür griff Edwin die abgebrochene Frage auf.
„Wahrscheinlich war der Spiritus ausgegangen,“ meinte er, „und Mama wollte ihre Lockeneisen heiß machen.“
Im Hinblick auf die große Haube der Frau Rohrwek, unter der sich nur ein paar gekräuselte Haarbüschelchen auf die Stirn hervorstahlen, klang die verrätherische Mittheilung so komisch, daß sich auch Hilda eines Lächelns, das sie freilich in die Tasse versteckte, nicht enthalten konnte.
Für Frau Rohrwek aber bot sich im Momente glücklicher Weise ein Mittel, über diese unangenehmen Enthüllungen hinwegzukommen.
„Um Gotteswillen, die Katze! Die Katze ist wieder da!“ rief sie und fuhr, als ob sie von derselben schon an der Kehle gepackt würde, entsetzt empor, um wieder, einer Sterbenden gleich, unter Zuckungen auf ihren Sitz zurückzusinken.
Der kleine weiße Pintscher, auf diese Weise unangenehm aus seinem trägen Wohlleben aufgestört, glitt zur Erde und gab seinen Unmuth in einem wüthenden Gekläffe kund, wobei er mit der possirlichsten Entrüstung, so schnell es ihm seine Wohlbeleibtheit erlaubte, auf die arme Bußbuß losfuhr, die pfauchend auf’s Büffet flüchtete und sich dann mit einem ungeheueren Buckel in ihrer unzugänglichen Stellung zur Gegenwehr rüstete. Während der Belagerer bellte und an seinem Zorngekeife zu ersticken drohte, lag seine Herrin mit zurückgeworfenem Kopfe und geschlossenen Augen in ihrem Fauteuil, focht mit den Händen und ächzte und stöhnte, wie in den heftigsten Krämpfen.
„Ruhig, Fipps!“ rief Edwin ein Mal über das andere. „Hierher, kleine Canaille! Wirst Du Frieden geben!“
Es war ein Spectakel, daß die Eile begreiflich war, mit der plötzlich die junge Frau und Mimi auf der Schwelle erschienen. Die offen gebliebene Thür wurde von der armen Mieze, die sich in ihrem eigenen Territorium nicht mehr sicher sah, sofort für den Rückzug in’s Auge gefaßt, und dieser konnte um so geordneter in’s Werk gesetzt werden, als es nun auch Edwin gelungen war, den athemlosen und nur noch quäkenden kleinen Köter im Genick zu fassen und vom Boden aufzuheben.
„Bußbuß muß mit mir hereingekommen sein,“ suchte Hilda in bedauerndem Tone zu entschuldigen. „Sie ist so gewöhnt daran, beim Frühstück zu sein, und unsere Hunde vertragen sich alle mit ihr.“
„Ach was, die sind auch nicht hier. Warum sperrst Du die Katze nicht ein, wenn Du schon weißt –“
Sie nahm ihres Bruders Vorwurf, der sich in ein ärgerliches Brummen verlief, ohne Entgegnung hin, aber das Schweigen war nicht das der Ergebung, sondern nur das der guten Sitte, welche Zurückhaltung gebietet. Sie beeilte sich übrigens nicht übermäßig, der aus ihrem nervösen Anfalle nun langsam zu sich Kommenden mit einem Glase Wasser oder, wie dieselbe für gewöhnlich vorzog, mit einem Tropfen Rum auf Zucker zu Hülfe zu springen. Hilda empfand wenig Mitleid für Frau Rohrwek. Ihrer starken, geistig und körperlich in gleicher Gesundheit blühenden Natur waren solche krankhafte Eigenheiten unfaßbar.
Weil der Einzelne zu schwach war, sich zu beherrschen, mußten darum alle Uebrigen leiden? Bußbuß einsperren! Als ob das so leicht ginge, und wozu hatte sie denn die Katze, wenn sie nicht vom Boden bis zum Keller das Haus durchstreifen durfte? War es nicht schon schmählich, daß des streitsüchtigen weißen Seidenballs wegen Hektor von seinem angestammten Erbsitze zu Füßen seines Herrn verbannt war?
Indessen hatte die junge Frau in aller Gelassenheit ihrer Mutter Beistand geleistet, und diese ergab sich in die Nothwendigkeit, die Augen endlich aufzuschlagen.
„Ach, wie mich das wieder alterirt hat!“ stöhnte sie mit eigenthümlichem, durch das rumgetränkte Zuckerstückchen verursachtem Wispern. „Mich greift alles so sehr an. Ich verstehe nicht, wie man diese abscheulichen Thiere in seiner Umgebung dulden kann; mir flößen sie das unüberwindlichste Grauen ein, und ich habe doch sonst wirklich keine Vorurtheile und Schwächen. Ich könnte, glaube ich, eine Spinne fortkehren oder das Abschlachten einer Henne mit ansehen. Aber Katzen! Huhu! Mich schüttelt’s, wenn ich nur den Namen aussprechen soll. Und so ein widerliches Geschöpf hätscheln? Solche Altjungfernliebhabereien sollte man, meine ich, denen überlassen, die schon wirklich auf dieses letzte Subject ihrer Zärtlichkeit beschränkt sind – auf die Katze.“
„Object, meinst Du Mama,“ corrigirte Edwin mit Humor.
„Ach geh, Du machst mich nur verwirrt. Ich werde doch wissen, was ein Subject ist. Oder soll ich Dich vielleicht ein loses Object nennen?“
Hilda hatte recht gut die mißbilligende Bewegung bemerkt, mit welcher Albertine der Mutter Aeußerung begleitete, und wandte sich nun lächelnd an die junge Frau.
„Ich bin ja aber eine alte Jungfer; da darf man mir die Liebhaberei wohl gönnen.“
„Du darfst das nicht auf Dich beziehen.“
„Warum denn nicht? Mit fünfunddreißig Jahren hat man wohl Anspruch auf diesen Ehrentitel.“
„Ist es möglich, daß Sie das auf sich bezogen?“ wandte sich Frau Rohrwek an Hilda. „Ach, wie empfindlich heutzutage die jungen Leute sind! Jedes Wort muß man auf die Wagschale legen, und ich bin so gewohnt, ohne alles Arge zu reden. Nein, meine liebe Hilda, nicht einmal im Scherze dürfen Sie mir eine solche Tactlosigkeit zutrauen. Ich sollte mich eigentlich ernstlich beleidigt fühlen. Gerade weil ich es unpassend finde, daß sich junge Mädchen selbst vorzeitig so alt machen, durfte ich mir erlauben – ich, die alte Frau, an das Kind – in aller Delicatesse eine Mahnung ergehen zu lassen. Ach ja, ein wahres Kind! Und es liegt ja auch ganz in Ihrer Hand, der Fatalität vorzubeugen, wenn Sie selbst auf die Jahre ein so großes Gewicht legen – obwohl ich immer sage, die Jahre sind es nicht, die alt machen, auf die kommt es nicht an. Sie brauchen ja nur zu heirathen. Glauben Sie mir, Liebste, das ist das beste Mittel. Ein altes Mädchen wird eine junge Frau. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht lange bedenken und rasch den Sprung thun. Es ist nichts schrecklicher als eine alte Jungfer zu werden.“
„Aber nichts bequemer und friedlicher, als es zu bleiben.“
„Zu bleiben! Nein, so hören Sie doch! Es ist schrecklich, diese Empfindlichkeit! Aber so sag’ Du ihr doch, Edwin, daß sie ein Kind ist! Dir, dem jungen Manne, wird sie schon glauben.“
„Unsinn!“ brummte der Gutsherr. Der Aufgerufene aber verbeugte sich mit dem artigsten Lächeln vor Hilda.
„Wenn ich mich auch Mama’s letztem übertreibendem Ausspruch nicht anzuschließen vermag,“ erklärte er, „da man darin vielleicht auch eine Beleidigung erblicken könnte, so muß ich mit Rücksicht auf meinen Zeugeneid doch nach bestem Wissen und Gewissen die Ueberzeugung aussprechen, daß hier offenbar eine böswillige Fälschung des Taufscheines durch die Besitzerin des wichtigen Documents selbst stattgefunden hat. Leugnen nützt nichts. Sie müssen mich schon als Sachverständigen in dem Wettkampfe gelten lassen, in dem Wettkampfe, aus dem Sie siegreich selbst gegen die jüngsten Ihrer schönen Schwestern hervorgehen müssen.“
„Bravo, wenn auch Rococo. Aber das wird ja wieder Mode!“ rief schlagend seine Schwester.
Aber er hatte in der That nicht so ganz Unrecht mit seiner letzten Behauptung, so sehr sie auch nach einer Schmeichelei klang.
Die feine Röthe, welche bei dem Anhören der von Frau Rohrwek vorgebrachten Widersprüche trotz der angenommenen Ruhe [43] in Hilda’s sonst nur matt gefärbtes Antlitz getreten war, dessen reinen Teint keine Sonne zu bräunen, kein Wetter, dem es sich tapfer aussetzte, rauh zu machen vermochte, zauberte eine Jugendfrische über diese reizvollen Züge, die ganz mit den anmuthigen Bewegungen der feinen elastischen Gestalt harmonirte. Hilda war Mimi’s ansprechender, aber noch nicht zur vollen Entwickelung gereifter Erscheinung weit überlegen und durfte für den Moment selbst den gefährlicheren Vergleich mit der üppigen strahlenden Schönheit der jungen Frau nicht scheuen. Nur ein Lächeln fehlte auf diesen jetzt eben herb geschlossenen Lippen, um unwiderstehlich hinzureißen, aber es fand sich nicht ein, auch über die Lobsprüche nicht, wenn ihr dieselben auch nicht ganz mißfielen.
Der Gutsherr hatte den Rest seiner Cigarre weggelegt und war aufgestanden.
„Na, es kann ja recht schön werden,“ sagte er, „wenn mit den Complimenten so fortgefahren wird. Am Ende trifft auch mich eins an den Kopf; da will ich mich lieber bei Zeiten aus dem Staube machen. Ich meinte, Du wollest mich begleiten, kleine Hexe,“ fuhr er dann mit einem Blick auf seine Tochter fort, „aber Du bist wohl auch abtrünnig geworden wie Edwin. In solchem Wichse geht man nicht auf die Pürsch in den Wald.“
„In der That, man sollte eher glauben, zu einer Visite bei Hof,“ stimmte Hilda mit etwas erkünsteltem Scherze zu. Sie war froh, von dem unbehaglichen Gesprächsthema abzukommen, und nahm somit lebhafter einen Umstand auf, den sie vielleicht sonst kaum der Beachtung werth gefunden hätte. „Mimi, Du hast ja große Toilette gemacht, wie ich sehe. Schon jetzt am frühen Morgen das neue Tuchkleid mit der Goldstickerei.“
Mimi zuckte die Achseln und erwiderte schnippisch:
„Wann soll ich es denn tragen? Mama hat es mir doch nicht gebracht, damit es im Kasten liege.“
„Da wirst Du freilich nicht mit dem Papa in den Wald gehen dürfen,“ sagte Hilda, „und auch mich wirst Du nicht begleiten können, wenn Dir auch ein Morgenspaziergang ganz wohl bekäme.“ Sie wollte vor den Anderen ihrem Tadel keine schärfere Form geben, milderte sie sogar noch durch die Erklärung, zu einem eigentlichen Spaziergange habe sie übrigens keine Zeit. Da kein Reif gefallen, sei das Gras trocken und so recht ein Tag zum Auflesen des Frühobstes. Sie habe schon Befehl gegeben, die Bäume zu schütteln.
„Und da wollen Sie sich selbst bemühen?“
„Bemühen?“ entgegnete sie lächelnd auf Edwin’s Frage. „Es muß doch Jemand die Leute beaufsichtigen.“
„Wie fleißig! Immer thätig! Siehst Du, Edwin!“
Der Anruf enthielt aber vielleicht noch eine andere geheime Mahnung von Seite der Mutter; denn Edwin bat Hilda sofort um die Erlaubniß, sie begleiten zu dürfen, sodaß seine Schwester den verwunderten Ausruf nicht zurückhalten konnte:
„Du warst ja selbst gegen jeden Ausgang.“
„Nur gegen die Jagd, nur speciell gegen die Jagd,“ befliß er sich zu erläutern. „Genau genommen ist sie doch ein sehr barbarisches Vergnügen.“
„Danke schön! Das war nicht immer Deine Meinung,“ warf die Gutsherrin ein.
„Ja siehst Du, Schwager, ich will Dir nicht zu nahe treten – ich kann doch nicht revociren. Man lebt so hin und thut und treibt, was man so bei Andern sieht – findet sogar Gefallen daran – ich will es nicht leugnen. Aber es kommt ein Tag – ein Tag, an dem man plötzlich stutzt und sich Rechenschaft zu geben anfängt.“
„Wenn das bei Dir nur der Fall wäre!“ ließ seine Schwester einfließen, aber er hatte kein Ohr für diesen Seufzer, fuhr vielmehr mit einer gewissen Beredsamkeit fort:
„Was ist es eigentlich, was uns an der Jagd Vergnügen macht? Das Schießen? Nein. Dazu braucht man nur Soldat oder Mitglied einer Armbrustgesellschaft zu werden. Das Treffen? Nein. Das kann man beim Scheibenschießen executiren. Der Todeskampf des erlegten Wildes? Gewiß nicht. Wer könnte es ungerührt mit ansehen, wenn sich der brechende Blick des armen Thieres mit fast menschlichem Ausdruck auf den Mörder richtet? Ein Schatz von Poesie liegt in diesem vorwurfsvollen brechenden Auge, den ich heben würde, wenn er – nicht schon so häufig gehoben und in gangbarstes lyrisches Kleingeld ausgemünzt wäre. Was also, frage ich Dich, Nimrod, was ist die Freude an der Jagd?“
„Die Jagd,“ antwortete Franz mit Nachdruck.
„Nein, der Braten,“ entgegnete Edwin mit Emphase. „Pfui, über die leidige Prosa! Als ob man den nicht beim Wildprethändler zu kaufen bekäme!“
„Wo er auch nicht lebendig hinkommt,“ warf Franz ein.
„Das ist mir alles in einem Momente klar geworden,“ fuhr der Andere fort. „Ich entsage der Jagd – für heute wenigstens; denn der Mensch kann nie für seine Regungen stehen. Er ist Sclave äußerer Einflüsse – Sclave!“
Mimi, zu welcher sein Blick bei der Wiederholung dieses tragischen Ausrufes seltsamer Weise hinüberirrte, bezwang ihr unverhohlenes Mißvergnügen, um ihm eine vorwurfsvolle Mahnung zuzuwerfen, welche beinahe wie eine Einladung klang.
„Wir rechneten so sicher auf Sie, zur Begleitung unseres Duetts.“
„Wenn Du vielleicht doch mitkommen wolltest, Mimi, da das Duett nun doch einmal gestört ist,“ schlug Hilda freundlich vor. „Ich fürchte, Herr von Tonner wird an mir eine unaufmerksame und anderweitig beschäftigte Begleiterin haben, und Dir dürfte die frische Luft gut thun.“
Das gute Wort fand aber keinen guten Ort. Schmollend nickte die Kleine.
„Ich danke. Wir können uns auch vierhändig durchhelfen.“
„Das heißt, wenn Du es erlaubst, liebe Schwägerin,“ sagte Albertine. „Bis mein Instrument ankommt, müssen wir schon das Deine benutzen.“
„Es freut sich der Ehre,“ ging auch Hilda in den scherzenden Ton ein. „Vielleicht ist es mir auch später gestattet, ein wenig dem Concerte beizuwohnen. Ein Viertelstündchen etwa, wenn ich nach neun Uhr in’s Haus komme, den Leuten das zweite Frühstück herauszugeben.“
„Warum willst Du Dir mit dem Frühstück so viele Mühe machen? Willst Du das nicht lieber mir überlassen? Ich brauche ja nur die Schlüssel.“
„Die Schlüssel?“
Hilda hob unwillkürlich den Kopf.
„Ja, das Schlaraffenleben muß wohl ein Ende nehmen,“ entgegnete die junge Frau mit ruhigem Lächeln und jener sanften Gelassenheit, aus der sich vielleicht in späteren Jahren eine Aehnlichkeit mit dem trägen Hindämmern ihrer Mutter entwickeln konnte, die aber zur Zeit noch dieser blonden weichen Frauenerscheinung einen besonderen Reiz verlieh, der seine Anziehungskraft nicht allein auf die Männerherzen übte, sondern ihr auch aus den Reihen ihres eigenen Geschlechtes Freundinnen erwarb.
„Seit drei Tagen schon gehe ich hier umher und lasse mich bedienen, als ob ich ein Gast in diesem Hause wäre,“ fuhr sie fort. „Ich beginne mich wirklich zu schämen. Was mußt Du eigentlich von mir denken, daß ich so alles auf Dir ruhen lasse, Deine Zeit und Deine Mühe in Anspruch nehme, als ob ich ein Recht darauf hätte? Ich weiß, daß ich Vorwürfe verdiene, und muß Dir danken, daß Du mich nicht tadelst, aber ich will mir bei Euch eine bessere Meinung verdienen, bei Dir und – bei Franz. Er soll in mir nicht seine Hausfrau vermissen. Ich fand es sehr angenehm, von der Reise auszuruhen, aber es ist nun an der Zeit, auch an die Pflicht zu denken. Sollte ich mich nicht gleich zurecht finden in Allem, so wirst Du mir ja Deinen Rath nicht vorenthalten, oder ich werde mir eine Wirthschafterin zu Hülfe nehmen, aber Dir darf das Opfer nicht länger zugemuthet werden. Erlaube also, daß ich Dir die Schlüssel abnehme! Mit der Bürde kommt wohl auch ein wenig die Würde.“
„Die Schlüssel!“ wiederholte Hilda mit seltsam zitterndem Tone. Sie trat dabei einen Schritt zurück, und ihre ganze Haltung verrieth Bestürzung und Empörung. Sie stand da wie ein Krieger, dem man ein anvertrautes Heiligthum entreißen will. Alsbald aber senkte sich ihr kampfbereiter Blick; ihr Antlitz röthete sich und neigte sich langsam auf die Brust.
„Sie sind auf meinem Zimmer,“ sagte sie leise, aber fest.
Der Kampf war vorüber.
Vielleicht hatte auch der jungen Frau davor gebangt; denn sie athmete nun freier auf und sah lächelnd zu ihrem Gatten empor, welcher sie unter heiteren Lobsprüchen an sich zog.
„Gesprochen wie ein Salomo und gehandelt wie eine tüchtige brave kleine Frau. Ich hatte eigentlich schon seit unserer Ankunft auf diesen Act der Schlüsselübernahme gewartet. – So,“ sagte [44] er dann, „jetzt will aber auch ich gehen und mir Hektor mitnehmen – die Diana ist doch noch zu kindisch. Einen Begleiter finde ich, da mich alles im Stiche läßt, wohl im Jägerhause. Hoffentlich bringen wir für’s Nachtessen ein paar Hühner herein. Sag: ‚Waidmannsheil!‘, Albertinchen!“
„Und ich, Papa?“ verlangte Mimi eifersüchtig ebenfalls ihren Kuß auf die Stirn.
Frau Rohrwek nickte vergnügt vor sich hin, streichelte ihr Hündchen und folgte mit schlauem Blicke Hilda, die langsam das Gemach verließ.
„Wie schade um meinen Bruder!“ äußerte Albertine, welche sich ihr angeschlossen hatte. „Er ist so talentirt. Zu allem Möglichen hat er Anlage, Malerei, Musik, Poesie, auch mit den verschiedensten Wissenschaften hat er sich schon beschäftigt und in allen Fächern eine Weile debutirt, aber ihm fehlt die Ausdauer, und so bringt er es zu nichts. Das Schlimmste ist, daß er für jede Untreue an seinen Vorsätzen immer wieder die schlagendsten Gründe findet, wie eben jetzt. Ich weiß nicht, was noch aus ihm werden soll, und bei einem Manne, der nicht mehr weit von seinem dreißigsten Jahre ist, sollte sich das doch schon entschieden haben.“
Hilda hatte keine Erwiderung darauf, und selbst Mimi’s vorwitzige Zunge schwieg diesmal.
Mit einschmeichelnder Zudringlichkeit hatte das Mädchen den Arm in den der Stiefmutter geschlungen, wie um ihrer Unzertrennlichkeit auch eine äußere Form zu geben. Sie liebkoste sie, schäkerte mit ihr, nannte sie ihr liebes, scheues Mamachen, spielte mit ihrem Haar und stahl ihr plötzlich das Häubchen vom Kopfe, daß die goldenen Wellen in breitem Falle über den losen Pudermantel herniederrieselten.
„Ach wie prächtig!“ rief sie entzückt. „Warum trägst Du Dich nicht so?“
„Du Närrchen!“ schalt Albertine. „Das paßt nur für Kinder.“
Dann mag ich aber auch nicht mehr so gehen. Nicht wahr, Du zeigst mir eine Frisur? Ich möchte sie so haben, wie die Deine. Ach, könnte ich nur Dir gleichen, so groß sein wie Du, so hübsch und elegant! Dann –“
Was dann geschehen sollte, blieb unverrathen; die Kleine war ja auch zu emsig beschäftigt, die blonde Fluth aufstecken und unter dem Morgenhäubchen bergen zu helfen, was nicht ohne kleine Neckereien und einen Kuß zum Schlusse abging.
Diese Zärtlichkeiten der kleinen Ueberläuferin thaten Hilda fast noch weher, als der Gedanke, daß sie nun ihre Schlüssel, das Attribut ihrer Hausfrauenherrschaft, ausliefern solle. Aber tapfer wußte sie ihrer Bewegung Herr zu werden.
„Hier!“ sagte sie, indem sie die zierlich gearbeitete Schlüsselcassette öffnete. „Jeder hat seine Bezeichnung.“
Die Uebergabe war in aller Form erfolgt.
Die künftige Hausfrau nickte nur freundlich und hütete sich wohl, mit einem tactlosen Worte – und welches wäre es nicht gewesen? – die scheinbare Ruhe und Gleichgültigkeit zu stören, die dem großen Acte das Gewicht benehmen sollte, und kein Zug in Hilda’s ernstem Antlitz verrieth andererseits die Bedeutung, welche er für sie hatte.
Sie raffte ihr einfaches graues Kleid auf, so daß die festen und doch zierlich schmalen Stiefelchen frei wurden, setzte den schmucklosen schwarzen Strohhut auf, zog die rehledernen Handschuhe an, und, ein Henkelkörbchen ergreifend, verließ sie mit Mimi und Albertine das Zimmer; sie schritt über die Stufen, die in den Blumengarten führten, hinab.
„Man braucht mich nicht mehr!“ Das war der Gedanke, mit dem sie gesenkten Blickes durch den Garten schritt, der hier vor dem südwestlichen Flügel den Parkgrund ersetzte, welcher auf den anderen Seiten und gegen die Wirthschaftsgebäude hin das Haus umschloß. Diesmal hatte sie kein Auge für die Lieblinge, die sie unter ihre specielle Pflege genommen. Der Herbst hatte die Blumen schon gelichtet; sie schnitt die verwelkten nicht ab, wie sonst im Vorüberstreifen. Langsam trat sie durch das Gatterthürchen hinaus auf den Wiesplatz, wo die Aepfel und Birnen schon im Grase unter den Bäumen kollerten und Diana mit täppischem Spiele denselben nachsprang, um sie lüstern den auflesenden Mägden abzujagen.
Sie hatte keinen Zuruf für den Hund, der ihr übermüthig entgegen kam, kein aneiferndes Wort für die Dienstleute, kaum einen Gruß für sie. Beinahe hatte sie vergessen, daß sie hier Aufsicht üben wollte. Was sich begeben hatte, nahm all ihre Gedanken in Anspruch.
Freilich, hier hatte sie noch Theil; das schlug in die Bewirthschaftung des Gutes, und auf diesem stand ja, mit Ausnahme des kleinen, ihr später zugefallenen Capitals, welches auf des Bruders eigenen Wunsch unter andere Verwaltung gestellt worden, ihr ganzes Vermögen. Freiwillig hatte sie nach des Vaters Tode, als sie sah, mit welchen Schwierigkeiten ihr ältester Bruder zu kämpfen hatte, auf die Herausbezahlung desselben verzichtet. Das Gut gehörte nicht zu den großen; es hätte eine so schwere Belastung kaum ertragen; sie selbst aber forderte keine Verzinsung ihres Antheils. Das Gedeihen des Gutes war ihr Alles; von Kindheit auf hatte sie da gelebt, es nie verlassen; sie fühlte sich mit demselben verwachsen, und nichts hatte dieses Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zu sprengen vermocht, selbst nicht die Aussichten, die sich ihr von Zeit zu Zeit geboten, in ein eigenes Hauswesen einzuziehen und eine eigene Familie zu gründen. Sie hatte ja beides und trug kein Verlangen nach einem Wechsel. Mit Pflichten und Rechten war sie auch hier reichlich bedacht. Seit dem früh erfolgten Tode ihrer Schwägerin war sie an deren Stelle getreten, und wie sie dem kleinen zappelnden Dinge, das von seinem Verluste noch nichts wußte, Mutter wurde, so suchte sie auch die Schwere des Verlustes den Anderen zu mildern. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte sie die Leitung des Haushaltes übernommen, und da Franz das Gut als Haupterbe übernahm, war es so geblieben – geblieben, bis auf den heutigen Tag.
Hatte sie gemeint, es müsse ewig so bleiben?
[57] Wie war es eigentlich gekommen, daß Hilda nie an eine Aenderung der bestehenden Verhältnisse gedacht, selbst damals nicht, als sie den Ausschlag in den zögernden Entschlüssen ihres Bruders gab? Seit Jahren hatte sie immer wieder, Franz gegenüber, ihrem Mitleide mit der Einsamkeit Ausdruck gegeben, in welcher er durch’s Leben ging. Was für sie selbst nicht in Betracht kam, schien ihr in ihrer hingebenden schwesterlichen Liebe und Sorge eine Entbehrung für den frühverwittweten Bruder. Er war noch zu jung, um allein zu bleiben; sein Gemüth bedurfte der sonnigen Liebe an der Seite eines anmuthigen Weibes. Aber ihr fürsorgliches Zureden fand immer wieder einen ablehnenden Widerstand in seiner tiefen Trauer um die dahingegangene geliebte Gattin. Er hing an der Todten mit einer Liebe, die weit über das Grab hinaus ging – ein Gefühl, wie es sich bei so ernsten, abgeschlossen lebenden Männern häufiger findet, als bei den von dem leichten Wellenspiel des Gesellschaftsverkehrs stetig geschaukelten Kindern der Welt.
Diese Abneigung des Gutsherrn gegen einen zweiten Ehebund wollte lange Zeit hindurch selbst materiellen Nöthigungen nicht weichen. Der auf allen Gebieten, namentlich aber im Bereiche der Technik, rastlos fortschreitende, moderne Geist, der rast- und ruhelose Sturmschritt unserer Tage, läßt rücksichtslos diejenigen hinter sich zurück, welche mit ihm nicht Schritt halten, wohl aber am schwersten ringt der Besitzer von Grund und Boden um den Erfolg, wenn er aus mangelnder Einsicht in die Forderungen der Zeit sich selbst die Hände bindet. Schon anfänglich mußte Franz alle Kräfte anspannen, als er das Erbe seines jüngeren Bruders aus der Masse zu lösen hatte; als aber dann Ereignisse eintraten, welche die Geschwister moralisch zwangen, für eben diesen Bruder einzustehen und die Lücke zu decken, die sein unverantwortlicher Leichtsinn in das eigene Ehrenkleid wie in den fleckenlos bewahrten Ruf seiner Familie gerissen, da wollten alle Anstrengungen nicht mehr genügen. Das war nun schon mehrere Jahre her – endlich aber ließen sich die zwingenden praktischen Erwägungen, welche eine zweite Heirath für den Herrn des bedrängten Gutes Waltershofen nothwendig erscheinen ließen, nicht mehr zurückdrängen, und daß die Heirath schließlich doch nicht den Charakter einer finanziellen Speculation trug, erklärte sich nur aus dem Widerwillen des stolz denkenden Mannes gegen eine solche und aus dem glücklichen Zufalle, der ihm im rechten Momente ein Wesen wie Albertine begegnen ließ, an dem sein für Frauenreize längst unempfindlich scheinender Blick sich wieder entzünden konnte.
Niemand war nach jener ersten Rückkehr aus dem Bade ein eifrigerer Fürsprecher der zweiten Heirath Franzens gewesen, als Hilda, aber an eine Aenderung ihrer Verhältnisse hatte sie dabei gar nicht gedacht. Ihre Gewalt in Haus und Hof schien so fest begründet, daß ihr die Abtretung derselben gar nicht in den Sinn kam.
Und jetzt stand sie vor dem Factum, das sich so plötzlich und ganz sachte vollzogen hatte: diese Gewalt über Haus und Hof war ihr abgenommen worden. Einen Moment lang hatte sich Alles in ihr dagegen aufgebäumt, doch nur Secunden waren verstrichen von dem Schrecke der Ueberraschung bis zum Verständnisse ihrer Lage, bis zur Ergebung in dieselbe. Hilda dachte zu klar, um die logische Entwickelung der Dinge nicht sofort zu würdigen. Selbst der Verdruß trübte ihren Gerechtigkeitssinn nicht. Wie hätte die junge Frau denn auch anders handeln sollen? Aber diese gerechten Erwägungen milderten kaum die schmerzlichen Empfindungen, die keinem Menschenherzen, wenn es sich loslösen soll von der Gewohnheit eines halben Lebens, erspart bleiben, und in Hilda’s Seele sammelten sich diese schmerzlichen Empfindungen in dem Bewußtsein:
„Ich bin abgesetzt.“
Es war Hilda, als verlasse man sie. Am meisten aber schmerzte es sie, daß auch Mimi sich frohgemuth in die neue Ordnung der Dinge fand, ohne das geringste Zeichen von Mitgefühl für das, was in der Seele der Verletzten vorging. Das war eine harte Enttäuschung.
Wie ihr eigenstes Eigenthum, wie ihr Kind hatte Hilda sie betrachtet. So innig hatte sie sich mit ihr verbunden gefühlt, daß ihr in der Entwickelung der künftigen Familienbeziehungen nur eine einzige Schwierigkeit vorgeschwebt, nämlich die, welche ihr als Vermittlerin zwischen dem eifersüchtigen Mädchen, das alle Liebe allein für sich haben wollte, und den gerechten Anforderungen, die an dasselbe herantreten mußten, zufiel. Was für eine Scene war das noch jüngst, kurz vor der Ankunft der Stiefmutter, gewesen! Und jetzt – –?
Wie im Handumdrehen hatte sich die Wendung in Mimi’s Gemüth vollzogen – und nun war es da und ließ sich nicht mehr bannen, das sentimentale Empfinden für das sich Hilda in lebenskräftiger Zuversicht immer unzugänglich geglaubt hatte.
Alle hatten ihre eigenen Interessen; Alle fanden sich auch in denselben zusammen; sie nur blieb ausgeschlossen aus dem Kreise. Wie einem Kinde war ihr zumuthe, das abseits steht und keinen Platz mehr findet in dem Ringe, zu dem sich die Andern im Spiele die Hand gereicht, wie einem Kinde, das nun zusehen muß, wie sich die Andern heiter drehen. Ihr fehlte die Hand, die sie fassen konnte, das Auge, das ihren Blick verstand, die Seele, bei der sie Theilnahme zu finden sicher war. Sie fühlte sich allein. [58] Hatte Frau Rohrwek Recht gehabt mit ihrer Bemerkung? Wendet man sich in solcher Vereinsamung wirklich an eine unvernünftige Creatur, an ein Thier, dem man seine sonst nirgends verstandene Liebe schenkt? „Bußbuß, ist es wirklich so? Bist Du meine ‚Altjungfern-Liebhaberei‘?“
Ein Lächeln umspielte Hilda’s Lippen. Nein, so weit war es noch nicht gekommen; die Menschen standen ihr doch noch näher, als ein Thier, und würde sich die ganze Welt von ihr wenden – Einer thäte es gewiß nicht; der Eine würde ihr treu bleiben – dessen war sie sicher.
Aber wo blieb er denn, der alte Freund, der wohlmeinende Vertraute und Rathgeber, an dessen Gegenwart sie fast wie an die eines Familiengliedes gewöhnt war? Einmal hatte sie ihm wohl weh thun müssen, aber das war lange her und seitdem vergeben und vergessen worden. „Die Freundschaft,“ dachte sie, „ist doch das Beste und Dauerhafteste auf Erden.“ Aber wo blieb er denn? Es hieß doch allzu weit gehen in der Rücksicht auf den Hausbesuch, daß er sich in den letzten Tagen seltener gemacht. Fürchtete er das junge Ehepaar zu stören, so war doch noch sie da. Er hätte gerade in diesem Augenblicke ihr erwachendes Mittheilungsbedürfniß ahnen sollen.
Indem sie, das Landschaftsbild vor Augen, weiter schritt, wendete sie sehnsüchtig den Blick der Stadt zu. Von dem Punkte, wohin Hilda im achtlosen Aufwärtswandeln über die sanft geneigte Fläche gelangt war, konnte man zwischen dem Schlosse und der kleinen Dorfansiedelung hindurch in das breite Flußthal sehen, wo die Straßen der Stadt sich ausdehnten. Lange, gerade Dunstbänke zogen sich über die Niederung; nur ein paar Kirchthürme stiegen darüber sonnenbeglänzt auf in den fahlblauen Himmel. Zarte Dunststreifen, die sich abgelöst hatten und weitergeflattert waren, hingen wie Schleier an der niederen Berglehne. Dort stand der Wald; er prangte nur noch im dunklen Grün der Fichte. Die Buche röthete sich schon, und gelblich färbte sich das dünne Laub der Birke.
Da fiel ein welkes Blatt vor Hilda’s Füße, langsam und leise wie ein müdes, sanftes Abschiedswort. Ein Seufzer hob ihre Brust.
Es ist Herbst.
Sie mußte es ohne zu wissen halblaut vor sich hingesagt haben; denn das Wort weckte ein Echo.
„Ja, Herbst! Und die melancholischste Jahreszeit ist es bei Gott, wenn man sie in dieser matten, charakterlosen Weise vor sich hat. Dort der Flußnebel und hier der Obstmost, beide im ersten Stadium ihrer Entwickelung und beide ungesund! Aber für uns Maler hat sie ihren besonderen Werth. Man muß nur die richtige Perspective wählen. Wenden Sie sich gefälligst um! Der Wein und der Wald! Da ist Kraft und Farbe. Weil aber die Kraft sich zu ihrer Entwickelung noch etwas Zeit läßt, so wollen wir uns an die Farbe halten. Malen wir vorerst! Ein guter Schluck folgt nach. Ich lobe mir den Herbst.“
Es war Edwin, der sich in einer seiner Rhapsodien erging. Hilda gab sich Mühe, in seinen oberflächlichen Ton einzustimmen und heiter zu erscheinen; denn sie schämte sich ihrer schwermüthigen Anwandlung. Es brauchte ja auch Niemand zu wissen, daß die kleinen Besorgnisse für sie eigentlich große waren.
Plaudernd und scherzend kamen sie allmählich an die Grenze des Baumgartens. Edwin war auf seinen Plan, eine malerische Stelle im Walde zu suchen, zurückgekommen, und Hilda – noch unter der Nachwirkung der bitteren Stimmung – meinte auch einmal ihren Aufsichtsposten beim Obstpflücken verlassen zu dürfen. So hatten sich Beide der Hecke genähert, welche Wiese und Wald schied, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich durch ein wüthendes Gebell von ihrem Gespräche abgelenkt wurde.
Diana, die sich ihnen, als sie eine Excursion in den Wald witterte, ganz still angeschlossen, war plötzlich in mächtigen Sätzen gegen das Drehkreuz in der Heckenöffnung losgefahren und gab nun mit voller Stimme Laut. Aber im Nu und ehe Hilda den Hund nur zurückrufen konnte, hatte sich der lärmende Angriff in einen kläglichen Rückzug verwandelt: mit eingezogenem Schweif und allen Zeichen des Entsetzens kroch der Hund winselnd rückwärts, stand dann still und retirirte endlich wieder.
„Es muß ein Igel sein,“ meinte Edwin, „und Diana wird sich an ihm die Schnauze verletzt haben. Wir wollen doch einmal nachsehen.“
„Wünsch’ recht guten Morgen,“ ließ sich da eine tiefe, glucksende Stimme vernehmen.
„Teufel, ist das der Igel?“ rief Edwin erschrocken.
„Mein Gott, was thut der Mensch nicht alles für sein tägliches Brod! Ein Igel hat’s vielleicht gar nicht so schlecht und ist jedenfalls sicher, nicht von einem solchen Galgenvieh gefressen zu werden.“
Hilda stieß einen leisen Laut der Verwunderung aus; denn der Sprecher war kein Anderer als der geheimnißvolle Taschenspieler und Bauchredner, den sie in der Geschäftigkeit und unter den neuen Eindrücken der letzten Tage beinahe vergessen hatte.
Auch diesmal war es wieder eine ungewöhnliche Situation, in welcher er sich hier zeigte. Niedergebeugt und mit den Händen gestützt, knieete er auf der Erde, mehr einem vierfüßigen Thiere als einem Menschen ähnlich. Da Diana, während er sprach, wieder Muth gefaßt hatte und nun mit erneutem Bellen auf ihn zufuhr, ergriff der seltsame Mann rasch den zu Boden gefallenen Hut mit den Zähnen an der Krempe und bewegte ihn dann nach rechts und links, in einer Weise, daß dabei die innere Höhlung gegen den Hund gekehrt war. Dieser zog sich, wie gebannt vor den starr auf ihn gerichteten Augen, abermals winselnd zurück.
Hilda gedachte unwillkürlich der Worte Meinhard’s von den kleinen Mitteln dieser Gattung Leute, machte aber der peinlichen Scene schnell ein Ende, indem sie den Hund scharf abrief und zugleich in sein Halsband griff.
„Schade!“ meinte ihr Begleiter. „Sie sollten das amüsante Duett nicht unterbrechen. Diana scheint gute Gründe zu haben, auf solche Landstreicher nicht gut zu sprechen zu sein. Es schadet gar nichts, wenn der Hund ihnen dieses verdächtige Herumlungern abgewöhnt. – Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben?“ wendete er sich barsch an den sich langsam von den Knieen Erhebenden, dem solche Anstrengung seiner alten Glieder alles Blut in das ernste Gesicht getrieben hatte. Der Mann verbeugte sich indessen nichtsdestoweniger mit dem Aplomb eines Granden von Spanien vor Hilda.
„Ich darf mich wohl auf Sie berufen, mein schönes, gnädiges Fräulein?“ sagte er, den Fragesteller geringschätzig übersehend. „Ich genoß bei einem Morgenspaziergange auf diesem äußerst günstig gelegenen Punkte die herrliche Aussicht und mein sehr frugales Frühstück. Zweifelsohne hat dasselbe die Gier des Hundes erweckt. Du lieber Gott – es ist hart für einen Mann meiner Jahre, sein Leben gegen solchen Gegner vertheidigen zu müssen. Ein starkes Thier übrigens und von edler Rasse! Also Diana heißt Du? Komm’ her, Diana! Wir wollen Freundschaft schließen.“
Aber das Stückchen Speck und Brod, welches er dem Hunde hinhielt, versagte vollkommen seine Wirkung, und damit war auch am unzweideutigsten die Behauptung von der Verlockung, die es auf den noch zitternden und knurrenden Hund ausgeübt haben sollte, widerlegt.
„Mir scheint vielmehr, daß Sie sich hier in den Hinterhalt gelegt hatten, um etwas auszuspioniren,“ beharrte Edwin auf seiner ungünstigen Meinung. „Verlassen Sie gefälligst – –“
„Ich bin noch Ihre Schuldnerin von neulich,“ unterbrach ihn Hilda, indem sie sich an den unheimlichen Mann wandte. „Aber Sie machten sich so schnell unsichtbar –“
Sie holte mit einer gewissen ängstlichen Hast ihr Geldtäschchen hervor und entnahm demselben, ohne jedoch den Hund loszulassen, schnell und mit einer gewissen Befangenheit ein kleines Geschenk, das der Tausendkünstler unter den Gesten einer verschämten Weigerung mit einem geschickten Taschenspielergriff in seiner Weste verschwinden ließ.
„O, es ist nicht meine Absicht, gnädiges Fräulein –,“ sagte er in gut gespielter Verlegenheit und mit schlauer Miene, „in der That, ich bin es nicht gewohnt – es ist sehr drückend für einen Mann in meiner Lage.“ Er schwieg einen Augenblick; dann stammelte er, scheinbar gerührt: „Aber ich darf nicht stolz sein. Ich glaubte schon am Tage nach meinem unterthänigsten Besuche meine Einladung wiederholen zu können, aber der Termin meiner Vorstellung ist immer noch nicht fixirt. – Allerlei Schwierigkeiten bei der Ertheilung des magistratlichen Consenses verzögerten sie wider mein Erwarten. Ueberall Chicanen, gnädiges Fräulein! In dieser unfreiwilligen Muße sehe ich mich Verlegenheiten ausgesetzt – und da verwende ich die Zeit, so gut ich kann, zu Promenaden in dieser reizenden Gegend, aber ich habe mir nun einmal in den [59] Kopf gesetzt, die Stadt nicht zu verlassen, bevor ich meinen hohen Gönnern eine Probe meiner Kunst geliefert habe. Ich will zeigen, was ich kann.“
Grüßend schwenkte er den Hut.
„Sie werden jedenfalls noch von mir hören,“ sagte er mit einer Art von herausforderndem Nachdruck und schritt in den Wald.
„Oho! Das klang ja zuletzt fast wie eine Drohung,“ meinte Edwin, der schon begonnen hatte, sich an dem komisch pathetischen Wesen des sonderbaren Gesellen zu belustigen.
Hilda hatte für den Spaziergang alle Lust verloren; sie hieß den Knecht deshalb willkommen, der sich in einer wichtigen Angelegenheit von ihr Raths erholte, was ihr den Vorwand bot, ihren Begleiter zu verabschieden und sich nach dem Hofe zu begeben.
Herbst! Herbst! – Dem Herbste hatte Hilda’s Seufzer gegolten, und doch war dieser, als der Seufzer erklang, noch ein munterer alter Bursche gewesen, der in seiner bunten Narrentracht gar malerisch aussah und statt der lustig klingelnden Schellen reife Früchte schüttelte. Damals war er noch bei Laune – nun aber, nachdem rauhe Tage in’s Land gezogen, hatte er seinen grauen Mantel umgeworfen und fegte mit ihm über die Fluren, daß sich die Falten des Mantels im Winde blähten, und wo er zwischen die Bäume des Waldes gerieth, da troff aus dem zerfetzten schmutzigen Saume das Wasser.
So düster war heute der stürmische Mittag, daß er fast dem grauenden Morgen glich, und was ihm einen noch unfreundlicheren Charakter lieh, das war der dichte Sprühregen, welcher leise niederging und den Lehmgrund des schmalen Waldsträßchens schier aufweichte. Hilda, die des Weges daherkam, dachte diesmal nicht an den Herbst; sie hüllte sich fester in das über den Regenmantel geworfene Tuch und strebte tapfer vorwärts. Es galt ja ein gutes Werk, und der Streit mit der erregten Natur war das beste Mittel gegen jede melancholische Anwandlung; denn er gab ihr das stolze Vollgefühl siegreichen Wollens und ungeminderter jugendlicher Kraft.
„Hier ist’s gewesen,“ sagte der junge Waldhüter, der sich dicht hinter ihr hielt, als sie ungefähr in der Mitte des Hohlweges an eine Stelle gekommen waren, wo an der ausgewaschenen wohl drei Meter hohen Wand ein frischer Riß sichtbar war. „Er muß in der Dunkelheit da oben am Rande gegangen und sammt demselben abgerutscht sein.“
Oertlichkeit und Thatbestand schienen aber für Hilda weniger Wichtigkeit zu haben, als ihr Begleiter ihnen beizulegen bestrebt war. Sie nickte nur und schritt, möglichst von Stein zu Stein tretend, auf dem schlüpfrigen Wege weiter. Nicht die Art, wie Jemand ihrer Hülfe bedürftig geworden, war ihr die Hauptsache, sondern daß diese Hülfe ihm möglichst rasch zu Theil werde.
Vor einer Viertelstunde saß sie noch in ihrem behaglichen Zimmer, ihren Gedanken überlassen, wie ihr das in den letzten Tagen geradezu zum Bedürfniß geworden. Da hatte sich nach mehrmaligem schüchternem Klopfen die Thür aufgethan, und der Waldhüter war verlegen und ehrerbietig eingetreten. Es war noch nicht lange her, daß er auf die durch den Tod seines Vorgängers erledigte Stelle versetzt worden war, und so hatte er sich noch nicht auf dem Gute eingelebt. Was er vorzubringen hatte, kam daher einigermaßen unbeholfen von seinen Lippen.
Er habe – so berichtete er – gestern Nacht beim Nachhausegehen einen Menschen im Hohlwege liegen gefunden und anfänglich für todt oder schwer betrunken gehalten; dem sei aber, wie sich bald herausgestellt, nicht so gewesen. Der Mann müsse sich bei einem Falle weh gethan haben und ohnmächtig geworden sein. Er habe ihn darum, als er zu sich gekommen, mit in das nahe Jägerhaus genommen, und weil es doch schon spät gewesen sei und der blessirte Mensch seinen Weg unmöglich fortsetzen konnte, ihm allda auch ein Nachtlager gegeben. Wie ein echter Handwerksbursche habe er allerdings nicht ausgesehen, doch auch nicht wie ein Strolch; nach der Kleidung könne man ja heutzutage nicht mehr schließen, da die Arbeiter jetzt oft elegantere Anzüge trügen als die Herren. Um ein Wanderbuch habe er auch nicht fragen wollen; der arme Teufel habe doch gar zu müde und elend ausgesehen; einer Nacht wegen wär’s ja am Ende auch gleichgültig, wem man ein christliches Erbarmen angedeihen ließe.
Mit dem Weiterwandern am Morgen sei es aber, wie sich bald herausgestellt habe, nichts gewesen, und als er, der Waldhüter, von seinem vormittägigen Gange zurückgekehrt, da sei der Fremde noch immer im Jägerhause gelegen. Er hätte lange und wie ein Todter geschlafen; als er endlich erwacht wäre, da hätte er absolut nicht auftreten, ja nicht einmal in die Stiefel kommen können.
„Ja, sehen Sie, gnädiges Fräulein, der Fuß ist am Knöchel ganz verschwollen; er muß ihn sich verstaucht haben,“ schloß der Waldhüter seinen Bericht, „und da schickt mich die Trine her, ob das gnädige Fräulein nicht vielleicht noch etwas von der kräftigen Salbe hätten, die ihr im letzten Winter so gut gethan.“
Hilda war sogleich bereit, dem Wunsche zu entsprechen; es kam nicht selten vor, daß die Leute im Dorfe, um den weiten Weg in die Stadt und die Kosten bei Arzt und Apotheker zu sparen, an ihre Hülfe appellirten, und sie wäre ja keine echte Gutsherrin gewesen, hätten sich bei ihr nicht allerlei einfache Medicamente und erprobte Recepte gefunden. Es nahm sie nur Wunder, daß der Jägersmann sich mit dem ihm eingehändigten Büchschen nicht zufrieden gab. Er verweilte noch.
„Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“ fragte Hilda.
Endlich faßte er Muth.
„Ja,“ sagte er zaudernd, „ich weiß nicht, ob ich so etwas ausrichten darf: Die Trine meinte nämlich, es sei sonst wohl auch noch etwas an dem armen Kranken zu heilen, das würden aber das gnädige Fräulein besser verstehen – ein innerlicher Schaden, für den es vielleicht hier im Schloß ein Mittel gebe. Da wäre aber das Beste, das gnädige Fräulein kämen selber nachsehen, was sich schicke, meinte die Trine – ich weiß nicht, denkt sie an Tropfen oder an einen Trank? Bei dem schlechten Wetter hätte ich’s gar nicht gewagt, ein solches Ansinnen zu stellen, aber die Trine sagte, ich kenne das gnädige Fräulein noch nicht, und die mache sich gar nichts aus einem bischen Naßwerden, wenn es sich um ein armes Menschenleben handle, und das Reden könne mir nicht den Kopf kosten, wohl aber das Schweigen meine Stelle, meinte die Trine.“
„Nun, so arg wird es in keinem Falle sein,“ tröstete ihn Hilda freundlich.
„Das habe ich wohl gedacht,“ erwiderte er aufathmend, „aber am Ende hatte ich doch Angst. Du großer Gott, man weiß ja nie, wie’s die Alte meint. Gleich darauf hat sie mir wieder angedroht, es könne mir meine Stelle kosten, wenn ich nicht schweige. Keinem Menschen sollte ich nämlich etwas davon sagen, als nur dem gnädigen Fräulein selbst. Sie wird alle Tage wunderlicher, die Trine. Da hat sie dem fremden Menschen gestern sogar in ihrer eigenen Kammer gebettet und sich selbst auf die Streu gelegt. Das geht mich eigentlich nichts an, aber verkehrt ist’s doch, und wahrhaftig – ich weiß nicht – ich habe sie bisher behalten, weil ich allein steh’ und sie als eine Art Inventarstück mit dem Jägerhause übernommen – aber –“
Hilda sprach ihm Geduld zu. Die an sie ergangene Aufforderung kam ihr zwar auch etwas verwunderlich vor, aber so genau konnte man es bei der Alten mit der guten und feinen Lebensart nicht nehmen. Genau genommen hatte sie ja auch Recht. Die nächstbeste Medicin that es nicht; wenn der fremde Mensch krank war, mußte vielleicht der Arzt in Anspruch genommen werden, und darüber traf Hilda unbedingt am besten die Entscheidung, wenn sie sich selber überzeugte, wie es mit dem Kranken im Jägerhause stand; es kostete ja auch nur einen Gang durch ein bischen Regen und Wind, und dagegen war sie abgehärtet.
Sie hatte nicht lange überlegt, sondern sich rasch gerüstet, und nachdem sie ein paar Fläschchen zu sich gesteckt, war sie mit ihrem Begleiter direct durch den Blumen- und Baumgarten nach dem Jägerhause aufgebrochen. Jetzt war sie am Ziele.
„Da hat die Alte gar die Thür verschlossen – bei helllichtem Tage, als ob es bei uns etwas zu stehlen gäbe! Trine! Trine!“ rief der Waldhüter unmuthig anpochend. Dann wendete er sich wieder, den Hut langsam ziehend, an Hilda: „Brauchen mich das gnädige Fräulein noch – vielleicht für den Rückweg?“
„Nein, Halder, den finde ich schon allein.“
„Es ist nur, weil ich drüben in Großdorf zu thun hätte. Eine Holzversteigerung, gnädiges Fräulein!“
Hilda beruhigte den dienstfertigen Mann und hieß ihn, sich nicht aufhalten. Er pfiff dem Dachshunde, der lustig wedelnd über die Schwelle gehumpelt kam, und schlug, nochmals grüßend, [60] die dem Schlosse entgegengesetzte Richtung ein. Mittlerweile war das gelbe, verrunzelte Gesicht der Haushälterin in der Thürspalte zum Vorschein gekommen.
„Nun, Trine, wollen Sie mich nicht ein wenig unter Dach lassen? Das Wetter heute ist nicht sehr einladend für einen Aufenthalt im Freien.“
Die Alte antwortete mit einem lebhaften Nicken und Grinsen.
„Gelobt sei Jesus Christus! So hat er’s doch recht ausgerichtet – ist sonst ein braver Mann, aber wie’s die Jungen alle haben – will alles besser wissen,“ murmelte der zahnlose Mund der Alten.
„Und wie geht’s Ihnen, Trine? Immer noch frisch auf den Füßen.“
„Ja, du mein Gott, zu Kirchweih tanz’ ich freilich nimmer. Und die Augen sind auch schlecht, aber soweit sehen sie doch noch, ob Einer ein schlechtes Gewissen hat oder nicht, wenn auch die Anderen nichts von ihm wissen wollen. Hat Manchem schon das Elend das Herz abgefressen, der’s besser hätte haben können. Müßt’ Einer hart sein, wie ein Stein, der mit solchem Jammer kein Erbarmen hätt’, und ich sag’ Jedem die Wahrheit gerade in’s Gesicht, mag er auch noch so ein großer Herr sein. Ich fürchte mich nicht. Sollen mich nur fortjagen!“
„Es denkt ja Niemand daran,“ suchte Hilda die Eifernde zu trösten, deren verwirrte Reden sie nur mit Mühe zu verstehen vermochte; sie legte die Hand auf die Klinke zum Wohnzimmer, das auf der rechten Seite des schmalen Flurs, der Küche gegenüber, lag. Als jedoch die Alte sich nicht beschwichtigen ließ, sondern in ihrem vorwurfsvollen Gemurmel fortfuhr und dann sogar von einem Recht sprach, das Einer habe dort aufgenommen zu werden, wohin er nun einmal gehöre, da wurde Hilda doch aufmerksamer und fragte verwundert: „Wer?“
Ueber das kurze Wörtchen kam sie aber nicht hinaus; denn mittlerweile hatte die Thür dem Drucke nachgegeben, und Hilda’s Blick fiel auf ein Bild, das ihre Zunge, wie ihren Fuß lähmte.
In der Ecke hinter dem schwerbeinigen Tische saß eine bleiche abgezehrte Gestalt, ein rothgewürfeltes Kissen unter den an die Wand zurückgelegten Kopf geschoben, mit geschlossenen Augen wie ein Todter.
„Eine wunderbare Aehnlichkeit!“ dachte Hilda, und eine dunkle Ahnung, die ihr Herz schneller klopfen ließ, stieg in ihr auf. Das dünne verwirrte Haar auf der bleichen Stirn des Kranken, die halb geöffneten, farblosen Lippen zwischen dem vernachlässigten Bart und dazu die hagere abgezehrte Gestalt – dies alles gab in dem matten Lichte, das durch die kleinen Fenster in die Stube fiel, ein erschreckendes Bild, das diese unheimliche Aehnlichkeit nur noch vermehrte.
„Er ist wieder eingeschlafen,“ erläuterte Trine mit gedämpfter Stimme. „Wenn man so matt wie eine Fliege ist, sollte man im Bette bleiben. Eigensinnig wie alles Mannsvolk!“
Noch immer blickte Hilda, die selber so bleich wie eine Sterbende geworden war, auf den Regungslosen, aber ihr war nicht, als ob sie eine Leiche, nein, als ob sie ein Gespenst schaute. Langsam wendete sich ihr Blick der Alten zu, und als ob sie noch in Zweifel sein könnte, fragte sie tonlos.
„Er?“
„Ja, ja,“ nickte Trine, und es war etwas wie eine unverhohlene, selbstzufriedene Genugthuung in ihrem herben Lächeln. „So hat’s ihn zugerichtet. Aber zu kennen ist er schon noch; man muß nur recht hinsehen.“
Hilda mußte sich an den Thürpfosten lehnen, aber die Schwäche-Anwandlung, die sie überkam, dauerte nicht eine Secunde. Der Schlummernde war aufgewacht; er wendete den Kopf, öffnete die Lider und richtete die dunkeln tief eingesunkenen Augen auf Hilda. Noch eine ganz kurze Weile schwieg er; dann bewegten sich auch seine Lippen.
„So, so,“ sagte er müde und fast gleichgültig, „bist Du da?“
Er machte dazu keine Bewegung, um sich von der Bank zu erheben; nur seine Hand hob sich ein wenig und fiel dann kraftlos wieder auf die Tischplatte zurück.
„Und gegessen hat er fast gar nichts und brauchte es doch so sehr,“ klagte die Alte.
Jetzt hatte Hilda sich ermannt. Sie trat ein paar Schritte vor in das Zimmer, aber mit dem Schreck war auch das Mitleid aus ihrem Blicke gewichen; ihr Antlitz zeigte eher einen grollenden Ausdruck, und ihre Stimme klang gezwungen ruhig und kühl, als sie sagte:
„Wir haben Dich nicht zurückerwartet.“
Wie der Schein eines bitteren Lächelns glitt es um die schmalen Lippen des Kranken.
„Ja, ja, ich wußte schon, daß in Waltershofen kein Kalb geschlachtet wird zu Ehren meiner Heimkehr. Vielleicht lernt der verlorene Sohn sogar noch die Trebern schätzen, die ihm nicht mehr munden wollten.“
„Und doch bist Du wiedergekommen?“
„Was willst Du? Einfältige Sentimentalität! Ich weiß, Du bist ihr nicht zugänglich, aber der Schöpfer hat unsere Naturen ungeschickter Weise vertauscht. Ein fataler Irrthum – wie? Du solltest der Bruder und ich die Schwester sein – so wäre alles anders geworden, besser, viel besser.“
Sie antwortete nicht auf den Spott, sondern fragte statt dessen fast mit Härte:
„Und was willst Du nun hier?“
„Weiß ich’s? Vielleicht sterben,“ antwortete er tonlos.
„Da sei Gott vor! So weit ist’s noch nicht,“ murmelte Trine auf die Spitzen ihrer gefalteten Hände. Hilda schüttelte nur unwillig den Kopf.
„Laß das!“ sagte sie. „Mit Redensarten löst man keine ernste Frage; es hätte Dir sonst nicht fehlen können. Glücklicher Weise ist das Sterben Denen am fernsten, die am meisten davon reden.“
„Es wäre allerdings ein ungeschickt gewählter Moment,“ fuhr der Kranke fort. „Würde Euch Unbequemlichkeiten machen. Sehe das ein; es thut mir auch leid, aber siehst Du – ich bin so müde – todtmüde! – Hätt’ es freilich drüben abthun können – recht weit fort, daß man nicht wüßte, wo, wann, wie … Verschollen, vergessen – aber wozu habt Ihr mich denn hinübergeschickt?“
„Wahrlich nicht zum Verkommen und Sterben!“ entgegnete sie, aus ihrer dumpfen Zurückhaltung aufgerüttelt. „Frei solltest Du Dich regen können, Wilhelm, die Schmach vergessen und Dich über sie erheben; arbeiten solltest Du und ein neues, unbescholtenes Leben beginnen. Dazu wollten wir Dir helfen, und Du weißt es selbst recht gut. Du willst nur mit Verleumdung die eigene Schuld, die eigene Feigheit decken. Feigheit, ja wohl! Denn nur die gefällt sich darin, vom Sterben zu sprechen, wo ihr die Pflicht, zu leben, zu schwer dünkt. Wärst Du ein Mann, dann würdest Du nur daran denken, für diejenigen zu leben, die auf Dich angewiesen sind. Nimm Dir ein Beispiel an Deiner eigenen Frau!“
„Freilich! Meine Frau!“ erwiderte er noch immer in dem apathischen Tone wie früher. „Man hat drüben verschiedene Maßstäbe für Gentlemen und Ladies – ihr kann’s vielleicht gedeihen.“
„Drüben? Ist sie nicht mit Dir gekommen?“
„Ich bin allein. In Waltershofen ist das, mein’ ich, ein Umstand, der für mich sprechen und meine Aussichten auf eine günstige Aufnahme vermehren dürfte.“
„Und weshalb bist Du allein?“ fragte sie. Das Erstaunen war der Empörung gewichen. „Ist es möglich? Wilhelm, Du hast Weib und Kind verlassen, um solcher herzlosen, selbstsüchtigen Berechnung willen verlassen?“
„Verlassen? – Bah! Verlassen haben sie mich. – Liebe, kleine Any, arme Any! – sie hatte so schönes blondes Haar.“ – Die Worte kamen nur langsam aus seiner sich schwer hebenden Brust, und seine fieberhaften Augen glänzten so seltsam feucht, während sie in die Ferne, durch die Wand, weit, weit hinaus zu schauen schienen. „Arme, süße Kleine! – Aber vielleicht war es das Beste für sie. Sie hatte einen so klugen Verstand, so scharfe Auffassung in den großen, braunen Augen, viel zu scharf. – Es wird wohl das Beste gewesen sein. Was hätte sie auch im Leben für eine Zukunft gehabt? Was hätte aus ihr werden können? Es ist schrecklich zu denken, schrecklicher als der Tod, viel schrecklicher. Arme Kleine! Einen Vater haben, der zu schwach ist, sein Kind zu beschützen, es zu versorgen und vor allen bösen Einflüsterungen und Nachstellungen zu behüten, und auf der andern Seite das Vorbild – ach, ach! wahrlich, ein nachahmenswerthes Beispiel!“
Er war wieder in die alte Ironie verfallen, aber an seiner Wimper hing noch die Thräne, welche die Erinnerung an seine kleine Any ihm erpreßt hatte.
„Dein Kind ist todt, Wilhelm?“ fragte Hilda weicher, als es ihr eigentlich angemessen schien; sie trat näher an den Tisch heran, [62] auf den sich ihr Bruder stützte. Da streifte sie ein dankbarer Blick des armen Kranken; er nickte stumm. „Aber wie konntest Du Deine Frau allein lassen in ihrer schweren, nun doppelt kummervollen Lage? Wilhelm, das war nicht recht. Ist der Schmerz einer Mutter nicht schon tief genug?“
„Sie singt und tanzt.“
„Unmöglich! Oder –“ sie stockte vor Entsetzen – „ist sie wahnsinnig?“
„Nein, wenn es nicht vielleicht in ihrer Rolle steht,“ antwortete er bitter. „Aber so große künstlerische Aufgaben fallen ja zumeist nur den Tragödinnen zu. Im Café chantant goutirt man keine Wahnsinnsarien.“
„So hast Du, Unseliger, sie zu diesem Verzweiflungsschritte getrieben? O, es muß grausam sein, die Gefühle, die Einem das Herz zerfleischen, verbergen zu müssen, um eine rohe Menge zu unterhalten.“
„Ja, es muß grausam sein,“ wiederholte er wie ein Automat.
„Du sagst es, Wilhelm – und empfindest dabei nichts.“
„Und vielleicht doch mehr als sie.“
„Schäme Dich! Kannst Du denn immer nur verleumden? Hast Du nicht so viel Selbstachtung, um Dein Weib nicht vor Anderen herunterzusetzen? Wenn Du nun einmal um ihren Besitz die großen Opfer gebracht hast, so sei nicht so klein, der Frau, welche ihre Heimath für Dich verlassen, die mit[WS 1] Dir hinausgezogen ist über’s weite, weite Meer, die Anerkennung zu verweigern, welche sie verdient hat! War sie es nicht, die Dein Loos muthig mit auf ihre schwachen Frauenschultern genommen hat in einem Moment, wo ihr wahrlich kein Vorwurf daraus hätte erwachsen können, wenn sie sich von Dir losgesagt hätte? Sie hat Deine Opfer mit größeren zurückgezahlt. Und Du bezeichnest achselzuckend als Schmach, wozu offenbar nur Deine eigene Indolenz sie genöthigt? Ist es nicht vielmehr eine Schmach, Deine Schmach, Wilhelm, daß Du Dich von ihrer Hände Arbeit ernähren ließest?“
„Von ihrer Hände Arbeit?“
„Hat sie nicht Hüte gefertigt, hat sie nicht Kleider gemacht? Mußte sie sich nicht selbst die armselige Summe für eine Nähmaschine bei Andern erbitten, da Du nicht einmal ihre Ersparnisse geschont hattest, wo es Deine Vergnügungen galt? O, Du siehst, ich weiß alles, oder kannst Du mir widersprechen?“
[73] „Widersprechen? Wozu? Du glaubst mir ja doch nicht,“ antwortete ihr Wilhelm.
Der vergiftete Humor spielte nun wieder um die zusammengepreßten, müden Lippen des abgezehrten Mannes und furchte die grauen, scharf eingegrabenen Linien an den Mundwinkeln bis zur Nase hinauf noch tiefer aus. Es war ein seltsamer Widerstreit zwischen Verwilderung und Gram, der an diesen einst so schönen, nunmehr aber verlebten und krankhaft zugespitzten Zügen gearbeitet und seine unverwischbaren Spuren hinterlassen hatte. Jetzt, wo der Kopf des Kranken wieder wie der einer Leiche in die Kissen zurücksank, hatte sein Anblick etwas wirklich Schreckhaftes.
Hilda kämpfte eine tiefe Bewegung in sich nieder.
„Ich muß meine Frage wiederholen,“ sagte sie mit erzwungener Ruhe. „Was soll nun werden – –?“ Sie stockte.
„Sprich nur aus, Hilda,“ sagte er tonlos, „sprich aus, was Dir auf den Lippen schwebt! Sag’ nur gerade heraus: ‚Gesehen haben wir uns nun, Bruderherz – fahr weiter!‘ Bin just mit Zärtlichkeiten nicht verwöhnt. Ich sehe schon, das Beste ist, ich hebe mich hinweg. Es ist ja auch alles eins, wo es ausläuft. Ich meinte nur, es müsse gerade hier sein; man ist so sehr Gewohnheitsmensch, siehst Du. Wie ein Wink war’s mir: ,bis hierher hat dich dein Fuß getragen‘. Es ist Aberglaube: weiß wohl, man spottet darüber, aber man kann das Zeug doch nie ganz los werden – die dummen Ammenmärchen! Ja, Du mußt Dich freilich überzeugen, ob es nicht ebenfalls erlogen oder anempfunden ist, was ich Dir da von den Ammenmärchen sage – ja, freilich: ich könnte auch das simuliren; – ist mir alles zuzutrauen. Sonderbar ist’s aber doch, daß meine Kraft nicht früher versagte und mich bis hierher trug, als die Baarschaft für die Bahn nicht mehr weiter reichen wollte. Ja, hätt’ ich nur nicht die dumme falsche Scham gehabt, so wäre ich nicht bei Nacht und Nebel hier eingezogen, und bei Tage hätte ich den Fall nicht gethan. So hängt eins mit dem andern zusammen, Hilda.“
Während er so matt dahinplauderte, wie wenn er, von einem kurzen Ausflug zurückgekehrt, seine kleinen Abenteuer, und diese auch nur in Ermangelung von etwas Interessanterem, beiläufig mittheile, war Hilda stumm geblieben, aber, durch seine Worte an den Bericht des Jägers erinnert, daran gegangen, den auf der Bank ruhenden Fuß seiner Umhüllung zu entkleiden; sie erschrak über den Anblick, der sich ihr bot.
„Ich habe gleich heißen Camillenthee aufgelegt,“ erklärte die Alte hinzutretend und nicht ohne Selbstgefühl; sie hatte bei dem Zwiegespräch zwischen Bruder und Schwester immerfort den Kopf geschüttelt und dann und wann die Hände wie betend erhoben.
„Aber, Trine,“ sagte Hilda jetzt, „das ist ja keine Gichtgeschwulst. Es gehörten kalte Umschläge darauf, damit die Hitze der Entzündung ausgezogen werde. Schaffen Sie doch schnell frisches Wasser, wenigstens eine Schüssel voll!“
„Ich will auf der Stelle zum Brunnen gehen,“ antwortete Trine. „Gleich bin ich wieder da.“
„Ja ja, sorgt nur, daß ich rasch wieder hergestellt bin!“ nahm Wilhelm wieder das Wort. „Mit solchem Bein marschirt sich’s etwas unbequem.“
„In diesem Zustande kannst Du nicht fort, Wilhelm. Und wohin willst Du überhaupt? Was willst Du beginnen? Harrst Du denn bei etwas aus? Hast Du Willenskraft genug, um etwas anzufassen?“
Er schwieg. Nicht ein einziges Wort hatte er auf den gerechten, aber harten Vorwurf zu erwidern, der in dieser Frage lag, aber ein Strahl schmerzlicher Demüthigung in seinen sich langsam schließenden Augen begegnete Hilda’s verächtlichem Blicke.
Plötzlich fuhr Hilda betroffen aus ihren Gedanken auf. War das nicht ein Schatten, der da am Fenster vorüberstreifte? Eine fremde Stimme ließ sich neben ihr vernehmen.
„So! Klapp! Falle zu! Der Vogel ist gefangen.“
Ein Gesicht lachte höhnisch über Hilda’s Schulter herüber – dasselbe breite, verschlemmte Gesicht, das sich schon zweimal an die kleinen Fensterscheiben gelegt hatte, ohne daß die im Zimmer Befindlichen etwas davon geahnt. Der außen Lauernde mußte die Gelegenheit wahrgenommen haben und durch die von Trine, welche noch am Brunnen schöpfte, diesmal offen gelassene Thür hereingeschlüpft sein. Hilda hatte den Sinn der Worte gar nicht gefaßt und gab nur ihre Entrüstung kund über die Unverschämtheit des Mannes, sich auch hier einzudrängen.
„Was wollen Sie schon wieder?“ fragte sie. „Sie wählen Ihre Zeit schlecht.“
„Im Gegentheil, gnädiges Fräulein! Noch nie hat mich ein Stern günstiger geführt als eben jetzt. Ich komme ja gerade recht, um meinen theueren Bill auf Europas Boden willkommen zu heißen. Sei mir gegrüßt, Du Gatte meines Kindes!“
Und unvermittelt aus dem Pathos in einen natürlicheren Ton übergehend, fuhr der alte Bauchredner und Taschenspieler mit der Verbeugung eines Bühnenbonvivants fort:
„Ich habe Versäumtes nachzuholen, ein grobes Versehen gut [74] zu machen, mein Fräulein, indem ich mir die Ehre nehme, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt; ich heiße: Louis Schöpf. Dieser Name sagt alles: Louis Schöpf, Theaterdirector außer Dienst, durch die Tücke des Schicksals arg reducirt im Personale, in Garderobe und sonstigen Requisiten. Aber wie ist’s, Wilhelm“, wandte er sich an den schweigend aufhorchenden Kranken, „magst Du Deinem zärtlichen Schwiegerpapa nicht die Hand reichen? Du hast wohl nicht erwartet, mich so bald zu sehen?“
Schöpf lachte spöttisch, was ihm das Aussehen eines kollernden Truthahns gab.
„Und auch nicht gehofft,“ sagte Wilhelm in müdem Tone.
„Glaub’s wohl, glaub’s wohl, mein Junge,“ höhnte Herr Louis Schöpf, Theaterdirector außer Dienst, auf dieses nicht sehr schmeichelhaft klingende Bekenntniß unbekümmert weiter. „Aber man muß gute Lebensart zeigen und seinen Freunden in der Höflichkeit zuvorkommen. Du ahnst nicht, mein Sohn, wie sehr ich nach diesem Wiedersehen schmachtete.“
„Ich meinerseits hätte gern darauf verzichtet.“
„Nicht möglich! Du verkennst Dein eigenes besseres Selbst. ‚Ich kann’s, ich kann’s nicht glauben,‘“ parodirte er den „Wallenstein“, „‚daß mich der Max verläßt‘.“
Bisher hatte Hilda wortlos und mit wachsendem Erstaunen zugehört.
„Sie sehen, mein Herr,“ sagte sie jetzt mit selbstbewußtem Stolz, „daß man Ihre Anwesenheit hier nicht begehrt.“
„Das ist allerdings sehr kränkend für mich, keineswegs aber maßgebend,“ erklärte er. Sein Ton hatte wieder gewechselt; er war jetzt scharf und boshaft geworden. „Ich habe nicht umsonst mein ganzes Talent und den feinsten Spürsinn aufgeboten, um diese Zusammenkunft herbeizuführen, mein Fräulein. Seit ich Nachricht von der Abreise meines hochwohlgeborenen Herrn Schwiegersohnes erhalten, machte ich es mir zur Aufgabe, vor ihm hier einzutreffen; denn endlich, sagte ich mir, muß das Schiff hier einlaufen; es hat keinen andern Hafen. Wozu sollte ich auch auf’s Ungewisse auf den Landungsplätzen und Bahnhöfen liegen? Hier galt es zu sondiren, zu recognosciren und – zu warten. Geduld, weiter nichts, und sie hat sich gelohnt. Ich brauchte ja nur das gnädige Fräulein im Auge zu behalten. Empfangen Sie meinen Dank, schöne Dame! Sie waren es selbst, die mich hierher geführt. – Ich arbeite ganz ohne Apparat. Ein Bischen Geschicklichkeit, ein Bischen Verstand, ein Bischen Combination. Un, deux, trois! Allez, passez! Et me voilà!“
„Aber dennoch muß ich bitten –“
„Laß’ ihn!“ unterbrach Wilhelm die Weisung seiner Schwester.
Jetzt trat auch Trine wieder ein, und Hilda, die es in Gegenwart der Alten zu keiner Scene kommen lassen wollte, nahm ihr ohne ein weiteres Wort die große Schüssel ab und machte sich an ihren Dienst als Krankenpflegerin. Sie holte ihre Fläschchen hervor, goß aus dem einen gelbliche Tropfen in das Wasser und tauchte mit ihren zarten, sich rasch röthenden Fingern die gefalteten Drelltücher ein, welche die Alte in Eile aus der Kommode herbeischaffte, während sie fortwährend verwunderte und nichts weniger als freundliche Blicke auf den neuen Gast, den Taschenspieler, warf, der ohne ihr Wissen Eingang in ihre Wohnung gefunden und sich dort nun schon ganz wie eingebürgert benahm.
Er hatte sich an der äußersten Tischecke, dem Kranken gegenüber, niedergelassen, seinen Hut abgelegt und es sich bequem gemacht.
„Ein Glas Wein würde ich jetzt nicht verschmähen,“ bemerkte er mit unverblüffter Sicherheit. „Ist wohl keins vorräthig für den Moment. Na, wird schon anders werden. Werden uns wohl für ein paar Tage häuslich hier einrichten müssen, denk’ ich. Der Fuß sieht verflucht gepolstert aus. Hm, so ein Bischen Ausruhen in guter Gesellschaft schadet nichts. Man erzählt seine Erlebnisse – muß ein sehr interessantes Land sein, Amerika; man macht Pläne; dann wieder ein Spielchen; so vergeht die Zeit. – Rouge ou noir? Ehrlich ohne Kunstgriff, auf Parole! Was ist der Einsatz?“
Er hatte dabei ein schmutziges Spiel Karten aus der Tasche oder vielleicht auch aus dem Aermel gezogen, mit einem geschickten Aufblättern durch die Finger laufen lassen, abgehoben und mit einem Schlage auf den Tisch gelegt. Aber Niemand als die Alte, welche jetzt ganz zornig blickte, schien davon Notiz nehmen zu wollen.
„Gehen Sie, Trine,“ sagte jetzt Hilda, welcher die Gegenwart der Haushälterin inmitten dieser bedenklichen Situation höchst peinlich war, „gehen Sie in die Schloßküche und besorgen Sie uns zur Stärkung des Kranken etwas alten Wein! Ich werde unterdessen selbst das Wechseln der Tücher besorgen.“
Trine ging eilfertigen Fußes, aber nicht ohne dem unliebsamen Gaste dort am Tische noch einige Blicke des Mißfallens zuzuwerfen.
Hilda sah sich aber kaum mit den beiden Männern allein, als sie auch schon mit unverhohlenem Widerwillen an ihren Bruder die Frage stellte, ob sie nicht vielleicht selber das Zimmer hätte räumen sollen, damit der vertraute Verkehr zwischen ihm und dem Manne da sich ungestört entwickeln könne.
„Ich bin neugierig,“ sagte der Kranke, ohne auf ihre Frage einzugehen, „wohinaus die Spionage führen wird. Ohne Zweck nimmt man sich nicht die Mühe, irgend Jemand auszukundschaften. Das geschieht nur Leuten, an denen etwas gelegen ist. Ich habe also noch Werth? Das giebt mir wirklich ein Gefühl des Gehobenseins.“
„Du solltest daran doch nicht zweifeln,“ nahm Schöpf mit einem gewissen Pathos das Wort, indem er die Karten mischte, „daß es Herzen giebt, für welche Dein Verschwinden nicht ohne Wichtigkeit ist. Solche Zweifel sind tief kränkend.“
„Hm! Ich muß doch fortfahren, Dich zu kränken.“
„Und gedenkst Du nicht Deiner Frau, die Du allein und hülflos in fremdem Lande zurückgelassen, gleich einer Ariadne im Labyrinth des Lebens?“
„Ich habe in der That jetzt sehr viel Aehnlichkeit mit Bacchus.“
Aetzender Spott durchtränkte diese Worte, so müde sie Wilhelm auch vor sich hin sprach.
„Sie war es, die mir schrieb,“ fuhr der Taschenspieler fort, „sie forderte mich auf, Deiner Spur nachzugehen. Ihre Sehnsucht ließ den Brief gleich einer Taube ausflattern –“
„O, wirklich? Wo sie nur die Taube hergenommen hat? Ich vermuthe, sie stammt noch aus dem väterlichen Requisitenschatz. Also Alma? Ich hätte ihr wirklich nicht so viel Zärtlichkeit zugetraut, daß sie mich zurückhaben will. Es ist rührend. Wann soll ich abreisen?“
„Abreisen, mein Sohn? Ja, siehst Du, einer Wiedervereinigung setzen sich für’s Erste allerdings noch einige Hindernisse entgegen,“ sagte er einigermaßen verlegen. „Meine Tochter hätte sogar Anlaß zu einer Scheidungsklage –“
„Zugestanden.“
„Und in diesem Falle Ansprüche zu erheben –“
„Natürlich, natürlich; das ist mir ganz entgangen. Genau betrachtet, wog ich doch nicht gar zu leicht. Ab und zu konnte eine geschickte Scheere noch einen Coupon von mir abschneiden, der am Verfallstermin immer noch von einer gutmüthigen Seele eingelöst wurde, nämlich zur Anschaffung von Nähmaschinen und dergleichen nothwendigem Hausrath einer Coupletsängerin.“
„Wilhelm,“ sagte der Alte mit dem sentimentalen Bühnenpathos des „edlen Vaters“, „Du solltest mit mehr Achtung von meiner guten Tochter, von Deiner Dich innig liebenden Frau sprechen, von diesem edlen, aufopferungsvollen Wesen, das Dir in’s Exil folgte, und zwar mit bewundernswerther Hintansetzung ihrer tief verletzten besseren Gefühle, von ihr, die sogar der Mißdeutung einer vorurtheilsvollen Welt Trotz bot, um die Noth von den Häuptern ihrer Lieben abzuwenden. Wilhelm, willst Du es ihr zum Vorwurf machen, daß sie zur göttlichen Kunst zurückkehrte, als ihre ach! um Euretwillen wundgearbeiteten Hände das Brod für ihr darbendes Kind nicht mehr herbeizuschaffen vermochten?“
„Singst auch Du das Lied?“ erwiderte ihm Wilhelm, wie aus seinem Hindämmern plötzlich erwachend, mit Heftigkeit. „Wer von uns Beiden ist der Narr? Streut Eure Lügen auf alles, nur nicht auf dieses kleine Grab.“ Er richtete sich mit aller Anstrengung seiner erschöpften Kraft über dem Tische auf, und über die hageren Wangen flammte eine heißlodernde Röthe empor. „Wenn unser Kind nicht darben sollte, warum verschwendete die Mutter das Vermögen, das der kleinen Anny dereinst zugefallen wäre? Längst, längst wollte ich das arme Ding mit mir nehmen und fortgehen, weit, weit weg. Hätt’ ich es doch gethan! Aber schwach war ich all mein Lebelang, erbärmlich schwach. Es hing so sehr an der Mutter, und ich war zu feig, dem kleinen Herzen ein Weh anzuthun. Jenes Weib aber wußte das und hielt mich an dem Faden, hielt mich fest, bis – er riß.“ Er schwieg einen Augenblick und seufzte laut. „Was soll ich jetzt bei Alma?“ fragte [75] er dann. „Die Tasten schlagen zu den frivolen Liedern, die sie singt, wie mir dies zugemuthet worden? Der Mann muß seiner Frau zur Seite stehen und für sie sorgen, so heißt ja Euer Sprüchlein, aber wendet doch einmal das Blatt! Lehrt die Frau doch lieber, mit dem kärglichen Schreiberlohn des Mannes sich begnügen. Freilich, für Alma reichte ein ganzes Vermögen nicht aus; mit vollen Händen streute sie das Geld aus, unbekümmert, woher es kam; sie erschmeichelte, erlistete, erzwang es und fragte, wenn sie es verpraßte, nicht, welchen Preis es galt, war es auch das Leben ihres Kindes. Wie ein Licht ohne Oel verging die holde Kleine an meiner Seite, und ich sah zu und konnte nichts thun, den armen in Durst verdorrten Lippen nicht einmal einen Schluck Wasser reichen, denn ich lag selber gelähmt und einsam auf dem Stroh – kein Ohr da, das meine Stimme erreichen konnte – ach –“
Wie ein tiefes Schluchzen kam es aus seiner Brust.
„Entsetzlich!“ flüsterte Hilda, und ihre Finger schlangen sich bis zum schmerzhaften Drucke in einander.
„Es ist gewiß nicht Alma’s Schuld gewesen,“ meinte der alte Schauspieler. „Wir Künstler wissen, mit wie schwerem Herzen wir oft unserem Berufe folgen müssen.“
„Ja, ihrem Berufe!“ stieß Wilhelm mit unsäglicher Verachtung hervor.
„Und es war auch ein allzu schweres Loos,“ fuhr der Taschenspieler fort, „das ihr aufgebürdet worden. Wie konnte sie ahnen, als sie den Umwerbungen eines eleganten reichen Officiers nachgab, daß sie einst als das Weib eines Flüchtlings – eines Wechselfäl–“
„Schweig!“ unterbrach ihn Wilhelm. „Ich denke, Du weißt am besten, wie ich dazu kam, jene unseligen Papiere zu unterschreiben. Von jener Zeit an –“
Mühsam nur hatte der Kranke die letzten Worte gesprochen. Seine Zunge rang mit einem unsichtbaren Hemmniß – jetzt versagte sie ihm ganz. Leise aufstöhnend sank er zurück; er war furchtbar bleich geworden und preßte die Hand krampfhaft auf die Brust.
Bestürzt neigte sich Hilda über ihn.
„Was ist Dir? Wilhelm, was ist Dir? Er wird ohnmächtig – schnell das Wasser!“
Und ohne zu beachten, aus wessen Händen, nahm sie das von Schöpf dargereichte Glas, netzte Stirn und Schläfen ihres Bruders und suchte ihm einige Tropfen einzuflößen. Er nickte ihr leise zu.
„Es ist nichts, nichts,“ sagte er mit schwacher Stimme, „nur wieder ein bischen Herzklopfen!“
Er versuchte sogar zu lächeln.
Da sank Hilda in dem schmalen Raume zwischen Tisch und Bank auf die Kniee und legte ihre Stirn auf seine Hand, die sie mit ihren beiden Händen krampfhaft drückte.
„Mein Bruder, mein armer Bruder!“ weinte sie, und nach einer kleinen Weile erst fügte sie flehend hinzu:
„Vergieb mir!“
„Ich Dir?“ fragte er, dann aber wehrte er ihr leise:
„Ich soll mich nicht aufregen, weißt Du – das dumme Herzklopfen –“
„Soll ich den Arzt rufen?“
„Nein, nein – ich bin es schon gewohnt,“ beschwichtigte er ihre Angst. „Und es ist auch schon vorüber – nur eben keine Aufregung!“
Sie hatte sich erhoben und wendete sich streng zu Schöpf.
„Sie hören es. Gehen Sie!“
„Mit dem größten Vergnügen, sobald wir uns nur erst geeinigt haben. Als Vertreter meiner Tochter darf ich nicht früher weichen. Unsere Ansprüche sind bescheiden und –“
„Unverschämt!“ unterbrach ihn Hilda.
„Sie haben ja noch nicht gehört, wie hoch sie sich belaufen.“
„Machen Sie dieselben vor Gericht geltend, wenn Sie wollen, aber befreien Sie uns endlich von Ihrer Gegenwart! – O, daß doch Meinhard hier wäre!“
Ihr Seufzer rief bei Schöpf nur ein breites, widerliches Lachen über das ganze Gesicht hervor, daß eine häßliche Reihe geschwärzter und mangelhafter Zähne zum Vorschein kam.
„Soll ich ihn etwa herbeiholen?“ spottete er. „Damit wäre Ihnen wohl selbst der schlimmste Dienst erwiesen. Sie haben doch den Herrn Bezirkshauptmann gemeint? Scharmanter Mann, habe ja schon die Ehre seiner Bekanntschaft. Aber für steckbrieflich verfolgte – Auswanderer ist eine nähere Berührung mit der hohen Obrigkeit eben nicht sehr wünschenswerth, vermuthe ich.“
„Höre nicht auf ihn, die Strafverfolgung ist verjährt,“ sagte Wilhelm zu der ihn bestürzt anblickenden Schwester. „Ich habe mich genau darnach erkundigt. Nach dem österreichischen Gesetze genügen schon fünf Jahre dazu.“
„Sehr zutreffend, sehr präcis! Der Gewährsmann hat nur eine Kleinigkeit übersehen, eine winzige Klausel. Er ist wohl ein Rechtsgelehrter, der mit dem deutschen Gesetzbuche, in welchem sie nicht enthalten ist, vertrauter war, als mit dem österreichischen?“
„Was soll das für eine Klausel sein?“
„Die Bestimmung – es müssen recht umsichtige Leute gewesen sein, die sie aufgenommen – die Bestimmung – eine kleinliche Einschränkung, nicht zu leugnen, welche die ganze Rechtswohlthat eigentlich illusorisch macht – oder doch in der Regel bis zur Unbrauchbarkeit verkümmert – die Bestimmung,“ und nochmals hielt Schöpf mit einem grausamen Behagen an der Folter seiner Zuhörer inne, ehe er seine Rede vollendete, „die Bestimmung, daß die Verjährung nur Jenen zu Gute kommt, welche sich nicht aus den österreichischen Staaten geflüchtet haben. – Diese Rückkehr, mein Herr Schwiegersohn, war doch ein wenig unvorsichtig.“
„Ist das auch gewiß?“ fragte Hilda betroffen.
„Sie brauchen die Frage nur Herrn Statthaltereirath Meinhard vorzulegen und abzuwarten, ob die Verhaftung erfolgt.“
„O nimmermehr – er würde nicht – –!“ rief sie mit dem Ausdrucke voller Ueberzeugung.
Schöpf zuckte die Achseln.
„Aber die ihm untergebene Polizei! Es ist der Staat, in dessen Amt und Pflicht er steht. Meinen Sie nicht, daß es vielleicht doch besser wäre, den Ausgang dieses Conflictes nicht erst abzuwarten?“
„Hat er Recht, Wilhelm?“ fragte sie angstvoll, ihrem Bruder die Antwort von den geschlossenen Augen abzulesen bemüht, als aber keine andere erfolgte, als ein leises Erheben und Fallenlassen der Hand, eine stumme Bestätigung, es werde wohl so sein, da rang sich ein banger Klagelaut aus ihrer zitternd athmenden Brust … „Was thun?“
„Die gefährliche Position räumen,“ rieth Schöpf. „Ueber diese unangenehme Grenze wieder zurückgehen! Es muß ja nicht gerade nach Amerika sein. Mit einem kleinen Capital läßt sich irgendwo in der Schweiz, in einem Winkel Deutschlands oder Italiens eine neue Existenz gründen. Ich glaube nicht, daß noch sehr emsig nach einem gewissen Wilhelm von Reinach gesucht wird; die Polizei erfreut sich zu unausgesetzt neuer, interessanter Aufgaben für ihren Scharfsinn, als daß sie Lust verspüren sollte, ohne besondere Nöthigung sich mit der Ausräumung alter, vergessener Fälle, an denen Niemand mehr ein Interesse hat, zu befassen. Materiellen Schaden hat Niemand gelitten, und der moralische der Gesellschaft – bah! Man muß sich nur nicht geradezu in des Löwen Rachen setzen. Schon von Altersher gilt das Sprüchwort: Wer sich in die Gefahr begiebt –“
„So thun Sie denn, wozu Sie sich erbieten – bringen Sie ihn in Sicherheit!“ flehte ihn Hilda an.
„Mit Vergnügen – unter gewissen Bedingungen.“
„Nennen Sie Ihre Forderungen!“
„Ich hatte schon die Ehre, mein Fräulein, davon zu sprechen. Sobald die Abfindungssumme in meinen Händen ist – ich bin ein Freund klarer Geschäfte.“
„O!“ meinte Wilhelm, wieder in der müden, ironischen Gelassenheit, die seine Schwester zuerst so sehr gereizt hatte. „Das ist mir neu.“
Schöpf gab sich die Miene, als habe er die Bemerkung nicht gehört. Dem Sieger geziemt ja Großmuth.
„Sie werden finden, daß wir die Lage nicht mißbrauchen und wirklich bescheiden sind. Wir begnügen uns mit – zehntausend Gulden.“
„Zehntausend?“ wiederholte Hilda erschreckt. „Mein Gott, ich kann über soviel nicht verfügen.“
„Du sollst auch nicht,“ erklärte ihr Bruder matt, aber fest. „Keinen Heller mehr diesem Unersättlichen!“
Schöpf faßte seinen Hut und setzte ihn mit trotzig frecher Miene auf. Seine Augen schossen einen tückischen Blitz.
[76] „Ah, Herr von Reinach glaubt immer noch auf die Verjährung pochen zu können,“ sagte er. „Nun, es kommt ja nur auf die Probe an. Der Weg zum nächsten Gensd’armerieposten ist nicht so weit.“
„Keinen Schritt!“ rief Hilda außer sich vor Angst. Sie warf sich vor die Thür, gegen die er eine Bewegung gemacht, und die Energie in ihrer Geberde, der lodernde Blick gaben ihren Worten den Nachdruck einer zum Aeußersten bereiten Entschlossenheit. „Sie verlassen dieses Zimmer nicht, und müßte ich –“
„Nur über Ihre Leiche –“ sagte Schöpf, sich mit spöttischem Lächeln geschmeidig verbeugend, „ich verstehe. Ich verlange es ja gar nicht besser, als hier zu bleiben, selbstverständlich auf Grundlage eines festen Uebereinkommens. Es drängt mein eigenes Herz, mich der Pflege meines geliebten Sohnes – o, ich habe ihn immer als solchen betrachtet – mich seiner Zukunft zu widmen, die ja wieder eine hoffnungsvolle werden kann.“
„Laß ihn gehn – laß ihn!“ forderte Wilhelm mit allen Zeichen des Ekels. „Er weiß mich hier in sicherem Gewahrsam und denkt nicht daran, mich in einen noch sichereren zu liefern, wohin seine Ränke nicht mehr reichen.“
„Sehr wahr, sehr wahr, mein Lieber! Ich sehe, Du erfassest die Sachlage richtig. Nun, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen; alles will seine Bedenkzeit. Ich bin nicht unbillig, und mit Kranken muß man Nachsicht haben – ihren Launen sich fügen. Ich will nicht schuld sein an neuen Aufregungen, geliebter Sohn. Also rasche Besserung! Wir werden uns ja unterdessen nicht aus den Augen verlieren. Auf Wiedersehen, mein Herzensjunge! Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!“
Diesmal verwehrte ihm Hilda das Gehen nicht. Im natürlichen Rückschlage ihrer in so unvermittelter Folge auf’s Höchste gespannten Gefühle stand sie wie gelähmt, und Thränen flossen ihr die Wangen hinab.
„Hilda!“ rief da des Bruders Stimme, so weich, so matt und zitternd, daß sie erst ein heftiges Schluchzen niederringen mußte, ehe sie dem Rufe Folge leisten konnte; dann trat sie zu dem Kranken und ließ sich wieder langsam an seiner Seite auf die Kniee nieder.
„Sei ruhig!“ glaubte sie ihn trösten zu müssen. „In einigen Tagen ist Dir wohler, Wilhelm; dann helfen wir Dir fort! Du beginnst noch einmal von Neuem. Alles wird noch gut.“
„Du mißverstehst mich, Hilda“ sagte er. „Ihr dürft keine neuen Opfer mehr bringen.“
„Sie müssen gebracht werden. Dieser Mensch – –!“
„Ich erwarte geduldig meine Strafe – einmal will ich doch auch das Rechte thun.“
„Du überstehst sie nicht, diese Strafe.“
Er lächelte traurig.
„So oder so – es hat ein Ende.“
„O sprich nicht so!“ wollte sie ihn bitten, aber von neuem überkam sie das krampfhafte Weinen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen und legte ihre nasse Wange an die seine.
Aus dem gepreßten Schluchzen drang nur die Klage:
„Mein armer, armer Bruder! Was haben sie aus Dir gemacht!“
[89]
Es war wieder Sonntag, der Tag, an welchem in Waltershofen immer ein Gedeck mehr aufgelegt wurde, bestimmt für den regelmäßigen Gast, den alten Freund des Hauses. Zuweilen nahm Meinhard schon, wenn die Familie aus der Kirche zurückkehrte, seinen Platz in der Kutsche ein, zuweilen, wenn noch irgend eine dringende Arbeit ihn aufhielt, kam er auch später erst noch knapp vor der erst in den Nachmittag fallenden Tischstunde, wie es sich eben fügte. Selten aber blieb er ganz aus – dann mußte schon ein ernstes Hinderniß eingetreten sein. Das war seit Jahren eine feststehende Gewohnheit geworden, die eigentlich schon aus der Zeit datirte, wo der Sohn des Verwalters, der damals noch die ökonomische Leitung in Händen hatte, Spielgenosse der Kinder des Gutsherrn war. Man hatte es auch später so gehalten, wenn die heranwachsenden Jünglinge zu den Ferien nach Hause kamen, und es war eine selbstverständliche Einrichtung geblieben, als eines Tages der fleißige junge Mann in Amt und Stellung trat. Auch die Unterbrechung, welche dann durch seine Versetzung herbeigeführt wurde, brachte sie nicht in Vergessenheit.
Diesmal war die Trennung eine längere gewesen, aber nach Jahren kehrte er, sei’s in Folge einer günstigen Fügung, sei’s, wie manche wissen wollten, auf seine eigene Verwendung, als Leiter in das Amt zurück, bei welchem er seine bureaukratische Laufbahn begonnen, und seitdem hatte er diesen Platz behauptet; er war nicht avancirt; fast schien es, als sei er höchsten Orts vergessen worden, obgleich ihm manches Lob und manche Ehre, ja selbst ein höherer Titel im Verlauf der Zeit zu Theil geworden war.
Die bequeme Nachbarschaft hatte die alte Jugendfreundschaft immer warm erhalten, und es gehörte fast zu den undenkbaren Ereignissen, daß Meinhard’s Stelle am Sonntagstische leer geblieben wäre. Den ersten Sonntag nach der Ankunft des Ehepaares war dies doch der Fall gewesen, ohne daß eine zeitweilige Abwesenheit von dem Städtchen dieses Ausbleiben erklärt hätte. Franz hatte das in seiner barschen Weise für eine „beleidigende Delicatesse“ erklärt und dafür Sorge getragen, daß sich dieselbe nicht wiederhole. Er werde seinen Gast todt oder lebendig an die Tafel liefern, versicherte er, und so war denn diesmal die ohnehin schon ansehnlich vergrößerte Tafelrunde wieder voll.
Dennoch herrschte heute nicht der reine, behagliche Ton, der sonst diese Mahlzeit immer zu einem kleinen Familienfeste machte. Meinhard, der nicht seinen gewohnten Platz, sondern den zwischen der Hausfrau und ihrer Mutter angewiesen erhalten, wurde fast ganz von der letzteren in Anspruch genommen und warf nur zuweilen forschende Blicke zu Hilda hinüber. Zu andrer Zeit das belebende Element, schwieg sie heute, war zerstreut, ja manchmal völlig abwesend. Frau von Reinach gehörte gleich ihrem Gatten nicht zu der redseligen Menschensorte, und so wurde denn die Unterhaltung hauptsächlich von Edwin geführt, mit dem sich übrigens Mimi ganz gern in die Kosten derselben zu theilen schien.
Die beiden jungen Leute wußten sich auch, als man nach Tisch im Salon den Kaffee trank, zu isoliren. Eines jener kleinen Kinderbillards, auf dem Glaskugeln die Elfenbeinbälle ersetzen, bot die günstigste Gelegenheit dazu, und als nachher Meinhard von dem Hausherrn um seine Meinung über eine projectirte Vergrößerung des Stalles befragt wurde und sich die beiden Schwägerinnen den Herren anschlossen, um die Frage an Ort und Stelle zu erörtern, da dachte Mimi gar nicht daran, gleichfalls mitzugehen, obwohl neben dem Ponygespann auch für zwei neue Reitpferde Unterkunft geschaffen werden sollte, von denen eines von der Stiefmutter zum Geschenk für sie bestimmt war.
„Glauben Sie, daß ich schwer reiten lernen werde?“ hatte sie ihren Mitspieler gefragt. „Ich habe solche Passion dafür, aber auch ein wenig Furcht.“
„Wirkliche Lust und Neigung überwindet alle Hindernisse.“
„Sind Sie davon überzeugt?“ Sie sah ihn dabei ein wenig sinnend an, das schalkhafte Lächeln aber siegte. „Dann muß die Neigung wohl noch nicht recht im Spiele bei Ihnen gewesen sein; denn Ihre Mama meint, Sie schreckten so leicht vor jedem Hindernisse zurück.“
„Es kommt einzig und allein auf das Ziel an, das zu erreichen ist. Stellen Sie mir einmal eine Aufgabe!“
„O, ich!“ lachte sie leise und wandte sich, um seinem feurig sprechenden Blicke nicht begegnen zu müssen, zu einem Spieltischchen in der Fensternische. Flink begann sie die Karten zu mischen und schob Edwin, der seinen Queue gleichfalls fortgelegt, ein zweites Paket zu.
Sie hatten sich einander gegenüber gesetzt, und zwar Edwin mit dem Rücken gegen das Sopha, in welchem seine Mutter, ihr Hündchen auf dem Schoße, zwischen Schlafen und Wachen nickte. Die Karten flogen von beiden Seiten in einer gewissen Reihenfolge auf einander.
„Ich werde mit den meinen früher fertig sein,“ triumphirte die Kleine. Sie wußte selbst nicht, warum sie am liebsten in einem fort gelacht hätte. „Da sehen Sie, wie es sich mit der [90] Aufgabe verhält, Ihre Neigung macht Sie nicht einmal geschickter in dem Spiele, das Sie doch versprachen mir zu lehren.“
„Es ist ja eben meine Neigung, die mich ungeschickt macht.“
„Wie wäre das möglich? Rasch geben Sie doch zu!“
„Weil sie nicht den Karten gilt. Was kann ich dafür, wenn ich stets von diesen langweiligen Karten fort und anderswohin sehen muß?“
„Da haben Sie schon wieder vergeben. Wenn Sie nicht aufmerken –!“
„Ich merke viel lieber auf diese rosigen Händchen –“
„Ach, meine Hände sind so häßlich – das weiß ich recht gut. Es ist nicht recht, daß Sie spotten.“
Und ihre Karten fallen lassend, verbarg sie das verleumdete Paar rasch unter dem Tische.
„Nun, ich will nicht widersprechen,“ ergab er sich mit erkünsteltem Ernste, „aber Sie tragen selbst die Schuld – warum vernachlässigen Sie dieselben so? Immer sitzt ein Tintenfleck daran.“
„Das ist nicht wahr,“ rief sie feuerroth werdend und streckte ebenso rasch, wie sie sie verborgen, die kleinen Hände wieder vor.
„Zeigen Sie mir einen!“
„Da, da!“ Er beugte sich vor, wie um besser zu sehen und im Nu hatte er einen Kuß auf die Fingerspitzen gedrückt.
„Ah, das ist nicht erlaubt!“
„Um so besser! Ich übe mich im Besiegen von Hindernissen.“
„Ich dulde es aber nicht. Das ist ein tückischer Ueberfall.“
„Nicht so laut, sonst wecken Sie Mama und Fips!“
„Ich werde sie zu Hülfe rufen, wenn Sie meine Hände nicht loslassen. Pfui, ich bin böse.“
„Aber doch nicht ernstlich? Bitte, bitte! Versprechen Sie mir ein kleines Lösegeld für die Gefangenen?“
„Horch!“ Wie im Schreck war sie aufgefahren. Edwin horchte auf und hielt ihre Hände für einen Moment loser in den seinigen. Diese Gelegenheit klug benutzend befreite sich die schlaue Kleine vollends aus der Gewalt des Ueberlisteten. „Ich habe keine kleine Münze bei mir, aber zu Weihnachten sollen Sie einen Federwischer erhalten,“ rief sie triumphirend und huschte lachend davon.
„Ausbruch aus dem Gefängnisse! Das verschärft nur die Strafe,“ meinte Edwin.
Eifrig wollte er dem muthwilligen Kinde folgen, doch ehe er noch die Glasthür erreicht hatte, die auf den Rasengrund des kleinen Parkes hinausführte, rief die Stimme der Mutter:
„Edwin, Edwin!“
„Ich dächte, Du hättest geschlafen, Mutter,“ murrte er ein wenig übellaunig.
„Eine zärtliche Mutter wacht immer, wo es das Glück ihrer Kinder gilt, lieber Edwin.“
„Das muß eine recht aufreibende Beschäftigung sein. Wolltest Du die Sorge nicht mir überlassen, Mama?“
„Ich will Dir im Gegentheile jede Sorge fernhalten, weil ich erfahren habe, was Sorge ist. Du solltest mir im Herzen dankbar dafür sein.“
„Nun ja, wodurch muß ich meine Dankbarkeit beweisen? Befiehl! Dich auf meinen Schultern in Deine Wohnung hinauftragen? Fips durch den Reif springen lehren oder für ihn Zucker vom Kaffeetische unterschlagen und ihn damit zu Tode füttern?“
„Deine Tollheiten auf ein paar Minuten lassen und Dich auf ein vernünftiges Wort hier an meine Seite setzen.“
„Ich sitze. Mein Theil wäre gethan – das andere hängt nicht von mir ab.“
Frau Rohrwek ging über die Anzüglichkeit ihres Sohnes schweigend hinweg, war sie doch von ihrem Lieblinge durch besonders respektvolles Benehmen nicht verwöhnt. Ihr genügte der Anschein von Gehorsam, und sie hielt die Gelegenheit fest, ihre schwankende Autorität wieder zu befestigen.
„Denkst Du denn gar nicht ein Bischen nach?“ begann sie. „Was soll diese Neckerei und dieses ewige Herumspielen und Tollen mit dem kleinen Mädchen?“
„Ich unterhalte mich eben dabei.“
„Aber wohin soll das führen? frage ich.“
„Mama, da machst Du Dir wirklich recht unnöthige Mühe. Sieh, ich frage nicht und denke nicht daran.“
„Aber die Kleine denkt daran. Sie ist eine schlaue Kokette und giebt sich alle Mühe, Dich zu fangen. Glaube mir, ich weiß das zu unterscheiden. Du bist ein schöner Mann, ein Mann von Geist, von Adel – –“
„Aber, Mama, Du schmeichelst mir. Weißt Du, das dürfen Eltern ihren Kindern gegenüber nie thun; es ist eine fehlerhafte Erziehungsmethode. Nicht daß ich von meinem eigenen Werthe im Allgemeinen zu gering dächte –“ er sagte das mit einer Mischung von Humor und Selbstgefälligkeit, während er seinen zierlichen Schnurrbart zwischen den Fingerspitzen durchlaufen ließ. „Ich weiß meine persönlichen Eigenschaften wohl zu schätzen. Du solltest nicht beitragen, meine Eitelkeit zu erhöhen, da ich schon so ziemlich das Bewußtsein einer unerreichbaren Vollkommenheit in mir trage.“
„Und mit Recht,“ sagte die Mutter stolz und betrachtete ihn mit verzückten Blicken. „Aber eben deshalb darfst Du auch Ansprüche stellen; die Welt ist Dir eine Entschädigung schuldig –“
„Für das nicht vorhandene Erbe meines Vaters.“
„Du bist ein Herr von Tonner –“
„Zu meinem Bedauern – als Edwin Rohrwek würde ich das Vermögen meiner Schwester theilen – nicht daß ich es ihr nicht gönne –“
„Du darfst es ihr auch gönnen; es liegt ja ganz an Dir, Dich in dieselbe Lage zu versetzen. Du brauchst blos die Hand auszustrecken.“
Es schien fast, als beabsichtige er dem Rathe sofort zu folgen, wenigstens hob er die Hand und beugte sich horchend vor. Man vernahm aus der Ferne die Töne des Claviers.
„Siehst Du, und Hilda ist nicht etwa weiter nichts als ein wohlhabendes Mädchen, ein Mädchen, das außer ihrem Baarvermögen nichts besäße – sie hat auch Bildung und Talente. Und wie hübsch sie wieder spielt, viel hübscher als die Kleine!“
Edwin hütete sich wohl, die Mutter aus ihrem Irrthume zu reißen und ihr zu sagen, wer diese schottische Polka, die seine eigene Composition war, ihm abgelernt hatte.
Wie elektrisirt hob er sich nach dem Tacte und summte dazu in rascher Improvisation:
„Komm’ doch, komm’ doch, nimm mich gefangen!
Komm’ doch, komm doch, straf’ mich recht hart!“
„Und dann –“ fuhr Frau Rohrwek fort, „Ihr Männer habt zwar in Geschmackssachen Eure eignen Ansichten, aber ich glaube doch auch ein Bischen Urtheil darüber zu haben, was Frauenschönheit ist. Man hat mir in meiner Jugend zu oft aus einander gesetzt, was man an mir bewundert, und dann ist man ja auch nicht blind für seine eigenen Vorzüge – da ist der Spiegel – und man stellt so ein wenig seine Vergleiche an. Ich will nicht sagen, daß Hilda ganz meinem Ideale entspreche; dazu ist sie nicht groß und voll genug; sie erreicht Deine Schwester nicht, die ein Bild von mir ist, wie ich in meiner Jugend war, aber was wahr ist, muß man Hilda doch lassen: gut gewachsen ist sie, und ihr Teint – nun, so was wird nicht leicht zu finden sein – wie Alabaster; man könnte glauben, sie wäre erst heute achtzehn Jahre alt geworden und was nun gar ihre Augen betrifft – –!“
„Ja, Du hast Recht,“ erwärmte sich nun auch Edwin an dieser begeisterten Schilderung. „Ihre Augen könnten es einem wirklich anthun. Nixenaugen, hell und klar wie Wasser, meint man zuerst zu sehen, und dann ist’s, als ob man untertauche, immer tiefer und tiefer – wie in eine unergründliche, goldig schimmernde Dämmerung.“
„Nun also!“ rief die Matrone erfreut. „Du solltest ihr das doch in einem Deiner Gedichte sagen. Du dichtest so schön. Das ist unwiderstehlich! Probire es doch nur!“
„Das ist es ja eben,“ entgegnete er bedenklich. „Für ein Gedicht kann es keinen glücklicheren Vorwurf geben, aber man kann ja nicht in einemfort dichten, und so für’s Leben – – Sie ist mir doch eigentlich zu edel, zu ruhig, zu erhaben, zu – zu frauenhaft, möchte ich sagen. Ich bewundere diese hohe Weiblichkeit, aber ich amusire mich doch viel mehr mit einem lustig bewimpelten kleinen Kahn als mit einem stolz dahinsegelnden Linienschiffe. Ich liebe das Niedliche, das Pikante, siehst Du, das Prickelnde, den Champagner – das ist etwas ganz Anderes.“
„Ja, aber gerade der Champagner gehört nicht zu den Genüssen, die man an jedem ländlichen Röhrbrunnen haben kann.“
„Du sprichst wie ein Buch, Mama,“ seufzte er.
„Und um Dir ein Beispiel zu geben: wenn ich das nicht bedacht hätte, als die Frage an mich herantrat, so wäre ich – so [91] hättest Du,“ verbesserte sie sich schnell, „eine traurige Jugend gehabt und nicht die Erziehung genossen, die ich Dir verschaffen konnte, indem ich weniger auf die Stimme des Herzens als auf die des Verstandes hörte und mich entschloß, in eine niedere Region herabzusteigen. Ich will nicht sagen, daß mein zweiter Gatte nicht einer ganz guten alten Partricier –“
„‚Patricierfamilie‘ heißt es, Mama, aber, bitte, laß den seligen quiescirten Bäckermeister diesmal ruhig in seinem Grabe bis zur nächsten Citation – bei mir verfehlt sie ja doch den Eindruck.“
Frau Rohrwek räusperte sich und fuhr sich mit dem Tuche über die Augen – sie war ja gewohnt, ihre Gemüthsbewegung an dieser Stelle ihrer Lieblingserzählung derartig anzudeuten – dann bequemte sie sich aber doch den pietätlosen Unterbrechungen und hielt sich an eine mehr praktische Begründung ihres Vorschlags.
„Du weißt, daß Rohrwek alles seiner Tochter vermacht hat, und daß mir nur die Nutznießung des Hauses in Schönau auf Lebenszeit verbleibt. So lange ich da bin, kann ich Dir unter die Arme greifen; ich werde von nun an den größten Theil des Jahres in Waltershofen bleiben, um zu sparen, aber wenn ich sterbe –“
„Aber, Mama! Solche Rühreffecte werden nicht geduldet.“
„Meine Krämpfe – ich kann von heut’ auf morgen –“
„All die Leiden los werden, Mama, wenn Du nur den Willen dazu hast. Erkläre Dich selbst für gesund! Nein, nicht weinen, Mama! Ich verspreche Dir, mein Möglichstes zu thun. Schnell die Thränen weg, ehe die Andern sie sehen!“
Er sprang auf und trat mit einem heiteren Wort den Zurückkehrenden entgegen. Franz war noch in eifrigen Erläuterungen seiner Pläne begriffen, und Meinhard hörte ihm aufmerksam zu, die Damen aber hatten sich längst aus dem gar zu tief in’s Technische gerathenen Gespräche gezogen.
„Du hier, Mama?“ fragte die junge Frau erstaunt, „ich vermuthete Dich zu Deiner gewohnten Siesta auf Deinem Zimmer.“
„Ach, das Treppensteigen! Es strengt mich wirklich zu sehr an. Für eine alte Frau ist das eine zu harte Zumuthung.“
„Dann hättest Du mein Anerbieten annehmen sollen, als ich mich als Sänftenträger verdingen wollte,“ scherzte Edwin, doch Franz, der die Bemerkung seiner Schwiegermutter nicht überhört hatte, unterbrach seine an Meinhard gerichteten Auseinandersetzungen und trat mit einer Entschuldigung zu Frau Rohrwek.
So konnte sich Meinhard endlich Hilda nähern, welche damit beschäftigt war, um einige kaum erblühte Herbstrosen einen Seidenfaden zu schlingen. Edwin hatte sie eben gefragt, für welchen Glücklichen die Göttin Flora denn ihre heiteren Kinder bestimmt habe, und von Hilda’s sanft lächelnden Lippen die Antwort erhalten, sie habe von der Himmlischen darüber keine bestimmte Anweisung erhalten; darauf nannte er sie in einem nicht viel originelleren Complimente grausam, weil sie ihre eigenen Schwestern fessele, und rief schließlich Meinhard zum Zeugen der Richtigkeit des ebenso ruhig abgewiesenen Vergleiches auf.
„Ich finde ihn vollkommen – unzutreffend,“ erklärte Meinhard mit einer ihm sonst fremden Schroffheit. „Diese Rosen sind frisch; Sie selbst nannten sie heitere Kinder Flora’s, Eigenschaften, die ich bei Fräulein Hilda heute vermisse.“
„Wie ungalant!“ entsetzte sich Edwin. Hilda dagegen schien diese Aufrichtigkeit durchaus nicht übel zu nehmen. Sie wehrte sich dagegen nicht, wie gegen die Schmeichelei Edwin’s, und hob ihren Blick ernst zu dem alten Freunde empor, der in ihren Augen aufmerksam zu lesen suchte.
„Sind Sie krank?“ fragte er.
„Ich will Ihnen sagen, Onkel Meinhard, was Tantchen hat,“ machte sich Mimi, die ihre Polka abgebrochen hatte, plötzlich lachend in die Unterhaltung. „Sie ist müde, weil sie nicht ausgeschlafen hat.“
„Mimi!“
„O, ich lasse mir den Mund nicht verbieten, Tantchen. Vertraut man mir etwas, schweige ich. Aber mache ich meine Entdeckungen, kann ich verrathen, so viel ich will. O, ich habe es heute früh ganz genau gehört, wie es in Deinem Schlafzimmer huschte und raschelte. Es war noch ganz dämmerig, ich denke nicht einmal halb Sechs, und im ersten Moment hatte ich solche Furcht, daß ich mit dem Kopfe schnell wieder unter die Decke fuhr. Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern – aber es war zu unheimlich; dann habe ich mich doch besonnen, und als ich zu Dir hinüberschlich, da fand ich Dein Bett leer und das Schränkchen, in welchem Du Deine Hausapotheke hast – offen. Siehst Du, Tantchen, so kommt man hinter Deine Geheimnisse!“ Sie umschlang Hilda und legte ihr das Kinn auf die Schulter. „Aber es ist kein Wunder: wenn man so früh aufsteht, ist man den ganzen Tag schläfrig. Ich – ich habe dann bis zum Frühstück noch prächtig geträumt. O, so prächtig!“
Es blieb unentschieden, ob der Kuß, den sie flüchtig auf Hilda’s Wange drückte, mit dieser abgebrochenen Schilderung in Zusammenhang stand oder nur eine Abbitte für die Indiscretion sein sollte, die eine tiefere Verlegenheit hervorgerufen hatte, als der kleine Schalk hätte voraus sagen können.
Hilda war wie vom Schreck gelähmt. Zum Glück war der Farbenwechsel auf ihren Wangen Allen entgangen, außer der jungen Frau, und diese deutete die Zeichen anders.
„Du schämst Dich doch nicht Deines Samariterganges?“ sagte sie freundlich. „Wir sind es, die Du beschämst. Du mußt mich in Zukunft an Deinen Krankenbesuchen theilnehmen lassen.“
„Ist die alte Kolbenhäuslerin wieder bettlägerig geworden?“ fragte der Hausherr, aber es war Hilda unmöglich, zu antworten. Nun entspann sich eine Erörterung der Frage des Laienbesuchs in Lazarethen oder in den Hütten der Armuth, welche den Fall in’s Allgemeine zog. Herr von Reinach bestritt den Nutzen solchen Eindrängens in eine fremde Sphäre, in die man nur Störung bringe. Dagegen trat Edwin als Vertheidiger Hilda’s auf, die sich selbst nicht an der Debatte betheiligte. Er führte alsbald das große Wort wie immer.
„Gern will ich zugeben,“ fuhr er fort zu reden, „daß da die Individualität nicht übersehen werden darf; oft ist es ein rein körperlicher Widerwille, der gerade manche feiner organisirte Natur für solche Annäherung an die Häßlichleit des menschlichen Gebrechens unfähig macht – denn häßlich ist es – sage selbst, Franz! – und auch die Damen werden es sicherlich zugeben.“
„Man könnte vielleicht –“ warf Meinhard ein, brach aber sofort kurz ab, da Edwin bereits wieder fortfuhr:
„Ein hohes Verdienst,“ sagte er, „gewiß! ein unschätzbares Verdienst – die Privatkrankenpflege! Es giebt noch viel des Elends in der Welt, und schön muß es sein, als ein Bote des Erbarmens und der Liebe an den verwahrlosten Stätten des Unglücks einzukehren. Sagen Sie selbst, Herr Statthaltereirath, ob das nicht eine beseligende Empfindung sein muß! Wer empfände den edlen Drang nicht in sich selbst! Glücklich, wer ihm ungehindert folgen darf! Aber Sie antworten ja gar nicht! Ich glaube, Sie wollten etwas einwenden.“
„Nicht doch!“ entgegnete Meinhard ruhig, aber verstimmt. „Ich möchte höchstens bemerken, daß man nur fragen soll, wenn man auch die Antwort zu hören geneigt ist.“
„Das ist auch meine Ansicht. Man soll die fremde Ueberzeugung anhören, um sich ihr zu beugen oder sie zu widerlegen.“
„O, man kann sie auch überschreien; das ist in unserer Zeit sogar ein sehr probates Mittel,“ versetzte Meinhard, diesmal in leichterem, mehr scherzhaft–ironischem Tone. Aber dies verwischte nicht ganz den Eindruck seiner früheren Worte. – –
„Sind Sie nicht ein Bischen ungerecht gewesen?“ fragte ihn später Hilda. Die scharfe Zurechtweisung Edwin’s hatte in dem kleinen Kreise ein momentanes Verstummen herbeigeführt, über das erst der Hausherr wieder hinweghalf.
Frühzeitiger, als der alte Sonntagsbrauch feststellte, kam es zur Verabschiedung. Meinhard schützte Arbeit vor, und da er zu Fuß zur Stadt zurückkehren wollte und der Abend schön war, erbot sich Franz ihn zu begleiten; auch die Andern schlossen sich auf seine Aufforderung an; nur seine Frau blieb diesmal bei ihrer Mutter zurück. Da er ihr aber noch etwas zu sagen hatte, zögerte er ein wenig mit Edwin und Mimi, die ihn am Thore erwarteten, während Hilda, in ihren Capuchon gehüllt, mit Meinhard vorausgegangen war.
Sie waren schon eine ganze Weile in dem stillen Abenddunkel dahingeschritten, die zarte Sichel des Mondes wie einen freundlichen Begleiter zur Seite, als Meinhard die auf seinem Arme ruhende kleine Hand faßte und, statt das zuvor entschlummerte Gespräch wieder aufzunehmen, sich näher zu Hilda herabneigte und fragte, was ihr sei.
[92] „Soll auch ich glauben, daß es nur ein Bischen Frühaufstehen ist, ein Bischen Schläfrigkeit und weiter nichts?“
Er fühlte wohl ein leises Zucken der Finger, die er festhielt, die Entgegnung aber klang ganz ruhig und fast ungeduldig: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Ich habe es Ihnen schon früher gesagt,“ erwiderte Meinhard, „ich vermisse an Ihnen die gewohnte Frische und Heiterkeit. Sie sind anders als sonst; das ist mir nicht erst heute aufgefallen, nur heute mehr als in den letzten Tagen. Sie sind matt und doch unruhig, wie in heimlicher Aufregung; Sie sind ernst und von einem Gedanken ganz hingenommen. Glauben Sie, daß mir, der ich der Vertraute Ihrer Seele bin und in ihr zu lesen meine, wie in der eigenen – glauben Sie, daß mir solche Zeichen entgehen? Es bedrückt Sie etwas, Hilda.“
„Es ist nichts,“ flüsterte sie, aber jedes Wort des Freundes ließ sie im Innersten erbeben. Es war ihr, als stünde ihr Geheimniß in großen Buchstaben auf ihrer Stirn geschrieben – und noch war nichts gethan, der drohenden Entdeckung zu begegnen. Der arme Kranke lag noch immer im Jägerhause; sein Fuß genas zwar, aber die Besorgniß erregende Schwäche und Mattigkeit wollte nicht schwinden, und Schöpf’s Ueberwachung – wenn auch, wie er cynisch erklärte, im gemeinsamen Interesse und zu gemeinsamer Sicherheit ebenso nach außen, als nach innen gerichtet – vermochte Hilda nicht zu beruhigen.
Immer wieder in dieser Bedrängniß war ihr Geist zu Meinhard zurückgekehrt. Es schien ihr unsäglich hart, gerade diesmal die bange Frage nach seiner Ansicht zurückzuhalten. Das hatte ihr alle Sicherheit, Meinhard gegenüber, geraubt. Instinctiv suchte sie seine Nähe, um ihm dann wieder erschrocken auszuweichen. Ihr war, als müsse sie sich an seiner Hand halten, und jetzt wurde sie ihr ja auch geboten voll Herzlichkeit und zarter Theilnahme – und doch durfte sie dieselbe nicht ergreifen; denn was konnte diese Hand ihr bieten? Statt Rettung nur Verderben! Sie sah in dem besorgt prüfenden, treuen Auge des Freundes nur den mißtrauischen Forscherblick des Staatsbeamten.
„Warum wollen Sie mich täuschen?“ fragte Meinhard warm. „Es sieht Ihrem tapferen Herzen ganz ähnlich, das, was Sie bedrückt, allein tragen zu wollen, aber werden Sie das auf die Dauer vermögen, Hilda?“
Sie schwieg. Ein sanfter Wind hatte sich erhoben und strich leise durch den Jungwald, der an der einen Seite des Weges hinlief. Das Flüstern des Windes klang wie ein stöhnendes: „Du verräthst mich, Du verräthst mich, Schwester!“
Und dort – dort – stand dort drüben an der linken Seite der Straße nicht eine derbe, untersetzte Gestalt, wie plötzlich aus dem sumpfigen Graben aufgetaucht, und winkte sie nicht mit drohend emporgestreckten Armen ihr zu? War das nicht Schöpf? Hatte man sie hier erwartet? Aber was wollte er nur? Ein paar Schritte weiter – und das breite, freche Gesicht, das sie zu sehen gewähnt, zerrann. Nichts blieb von der unheimlichen Erscheinung, als ein knorpeliger Weidenstamm; sie eilte scheu daran vorüber, und ihr Herz pochte so stark, daß es ihr war, als müßte ihr Begleiter es schlagen hören. Und doch zog sie die Hand nicht von seinem stützenden Arm; nein, ja eben erst hatte sie in unwillkürlicher Angst sich noch dichter an den schützenden Mann gelehnt.
„Sehen Sie,“ sägte Meinhard, der diese Bewegung falsch gedeutet hatte, „es ist also doch, wie ich es mir gedacht. Ihre Stellung im Hause hat sich verändert. Das mußte so kommen, aber es hat Sie nun doch unvorbereitet getroffen. Sie fühlen sich zur Seite geschoben, beinahe – überflüssig. Ist es das, Hilda?“
Sie blieb auch diesmal die Antwort schuldig.
„Sollten Sie wirklich darüber noch nicht nachgedacht haben?“ fuhr er fort. „Ich habe bemerkt, wie alles in Waltershofen auf einen anderen Fuß gestellt wird, der wohl den neuen Verhältnissen entsprechen mag, mit dem Sie sich aber in Ihren bescheidenen Gewohnheiten schwer abfinden werden. Was mir auffiel, kann Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie haben bisher ein so schönes einfaches und thätiges Familienleben geführt, daß ich mir nicht denken kann, Sie fühlten den Unterschied gar nicht. Es ist nur ein Zeichen von bewundernswerther Selbstbeherrschung, wenn Sie sich darüber bisher noch nicht geäußert haben. Darf auch ich nicht in Ihre Gedanken eingeweiht werden, Hilda? Habe ich je Ihr Vertrauen mißbraucht?“
Ein Druck ihrer Hand brachte ihn zu lebhafterem Sprechen.
„Haben Sie noch keinen Blick in die Zukunft gethan?“ fragte er mit dem Tone innerlichster Bewegung. „Werden Sie sich jemals daran gewöhnen können, in dem Hause, das Sie bisher geleitet, blos zuzusehen, nicht selbst einzugreifen, wo es Ihnen noth dünkt? Ihre thätige Natur muß sich regen. Sie werden daran denken müssen, sich einen Wirkungskreis zu schaffen, Hilda. Vielleicht wissen Sie es selbst nicht, daß Sie nur glücklich sein können, wo Sie glücklich machen. Unmöglich können Sie einzig und allein als barmherzige Schwester den ganzen Fonds von Liebe verbrauchen, aus dem Sie bisher für das Glück Anderer schöpften. Ich bin heute, als über die Krankenpflege disputirt wurde, nicht dazu gekommen, auszusprechen, was ich hierüber denke, aber ich möchte Sie fragen, ob die Krankenpflege das ganze Dasein einer geistig regen Frau auszufüllen vermag, den einen Fall ausgenommen, wo all die Opfer an Selbstverleugnung gar keine Opfer mehr sind, weil sie einem theuren Angehörigen, einem Gatten, einem Kinde, einem Bruder gebracht werden –“
Ihre Hand schlüpfte aus der seinen. So wußte er doch –?
[121] „Ich bedaure zu stören,“ wandte sich Hilda an den Eintretenden zerstreut und befangen.
„Nein, bedauern Sie nichts, wodurch Sie mir eine Freude bereiten, Hilda!“ unterbrach sie Meinhard. Er drückte ihre Hand und geleitete sie zum Sopha, und während er sich selbst in ihrer nächsten Nähe auf einen der Lehnstühle niederließ, versicherte er ihr, daß nichts Wichtiges zu erledigen sei; das Postpaket werde schon geschlossen. „Ein Brief an meinen Minister,“ setzte er dann, wie mit sich selbst redend, hinzu, „kann ja bis morgen liegen bleiben, obwohl ich nicht glaube, daß die Nacht andern Rath bringt, es müßte denn ein Wunder meinen Ehrgeiz wecken.“
„Handelt es sich wieder um einen Versuch, Sie uns zu entführen?“ fragte Hilda, ohne besondere Ueberraschung zu dem Lächelnden aufblickend.
„Unser neuer Minister kennt mich aus früherer Zeit, wo wir eine Weile gewissermaßen neben einander arbeiteten. Er ist so freundlich, sich dessen zu erinnern, und knüpft einen Vorschlag daran, der vielleicht – manches Verlockende hätte –“
„Und Sie widerstehen?“
Auch das klang nicht wie eine besorgte Frage, sondern eher wie eine im Voraus sichere Annahme. Meinhard zuckte die Achseln.
„Es ist mir nicht lange Ueberlegung gegönnt; die Entscheidung muß zwischen heute und morgen fallen, und da an ein Wunder, wie gesagt, nicht recht zu glauben ist – freilich, es ereignen sich zu Zeiten noch solche, wie eben Ihr Besuch beweist –“
„Ich hoffe,“ fiel Hilda mit einem Versuch zu scherzen lebhaft ein, „Sie zählen dieses Ereigniß wenigstens nicht zu den Wundern, welche Ihren Entschluß, unser getreuer Nachbar zu bleiben, ändern könnten.“
„Sie wissen recht gut, Hilda, was mich hier fesselt: mein Freundeskreis und in ihm vor allem – Sie.“
„Aber Sie lassen sich vielleicht Vortheile entgehen –“
„Die für mich keinen Werth haben. Für meine Bedürfnisse ist ausreichend vorgesehen; ein Mensch, der allein steht, ist bald versorgt. Nach Auszeichnung dürste ich nicht, und Einfluß – nun, man kann ja in jeder Stellung nützen und sich selbst genug thun. Das ist am Ende die Hauptsache, so wird es denn am entsprechendsten sein, wenn man mich auch fernerhin da vergißt, wo man mich nun schon so lange vergessen hat.“
„Die aber, bei denen Sie bleiben, werden es Ihnen nicht vergessen,“ sagte Hilda. Ihre beiden Hände hatten die seinigen erfaßt, und aus ihren Augen brach ein Strahl der Rührung, an dem sich sein Blick aber nicht entzündete. Er nickte nur leise, und ein ganz schwaches, wehmüthiges Lächeln spielte um seinen Mund.
„Sie verleiten mich zu Selbstsucht,“ lenkte er ab. „Ueber meine Angelegenheiten lassen wir die Ihrigen bei Seite.“
„In mir also sehen Sie die Egoistin und in meinem Besuche eine eigennützige Ursache?“
„Den sah ich allerdings voraus, schätze ihn darum aber doch, als ob er nur mir ein Glück zugedacht hätte.“
In dem Tone dieser Worte lag mehr als ein liebenswürdiger Scherz. Hilda war jedoch zu sehr mit ihrer Absicht beschäftigt, als daß sie die galante Wendung auf ihr Gewicht geprüft hätte.
„Ich habe in der That ein kleines Anliegen,“ entgegnete sie mit möglichst leichtem Berühren der Sache, von der er ja nicht ahnen sollte, wie sehr sie ihr am Herzen lag. „Aber ich könnte ja auch im Auftrag meines Bruders kommen. Warum nicht?“
„Weil es im Frauencharakter liegt,“ antwortete Meinhard in neckischem Tone, „an den Freund nur zu denken, wenn man ihn für sich selbst braucht.“
„Sie haben doch eine recht abfällige Meinung vom ‚Frauencharakter‘. Das könnte mich reizen, Ihnen zu beweisen, wie ungerechtfertigt diese Meinung ist.“
„Da muß ich Ihnen nur rasch den Umweg abschneiden und darf mich dabei wohl der gewöhnlichen Geschäftsformel bedienen. Womit kann ich Ihnen dienen, mein Fräulein?“
Hilda mußte trotz der innerlichen Unruhe lächeln. Dann faßte sie sich ein Herz und sprach kurz ihren Wunsch aus, die bei ihm deponirte Geldsumme an sich zu nehmen. Während sie sprach, wagte sie aber nicht, ihn anzusehen, aus Furcht, er könnte ihre Unruhe in ihren Augen lesen.
Vielleicht hatte er eine andere Mittheilung erwartet; denn er sah ein wenig überrascht aus, fand sich aber sofort in die Lage. Eine natürliche Ideenverbindung brachte ihn auf das ohne Resultat gebliebene Gespräch, zu dem er auf dem vorgestrigen abendlichen Heimwege von Waltershofen selbst die Anregung gegeben hatte. Er neigte verständnißvoll das Haupt.
„So stellt sich denn die Entwickelung, welche ich voraus gesehen, früher ein, als es vorgestern noch den Anschein hatte,“ sagte er. „Ist seither etwas vorgefallen, was die Entscheidung brachte? Doch nein, es bedarf ja auch keiner plötzlichen gewaltsamen Ereignisse, um die Ueberzeugung bei einem Menschen reifen zu lassen, daß er sich nicht mehr an seinem Platze fühlt. Die kleinen Daten [122] summiren sich. Ich habe sie mitempfunden und mich in Ihre Seele versetzt. Wie mir muß es auch Ihnen klar geworden sein, daß die Verhältnisse, von denen Sie immer mehr eingeschränkt werden, ein ernstes Erwägen der Zukunft und einen Beschluß über dieselbe erheischen. Eine Natur wie die Ihrige fühlt sich heimathlos, wo sie nicht einen bestimmten Beruf in der Familie ausüben kann. Sie sind zu jung, um auf den Altentheil gesetzt zu werden, zu jung, um das Leben als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, zu jung, um ohne Zweck und ohne Zwang hier in einem vergessenen Winkel fast ohne Berührung mit der Welt den langen Rest der Jahre hinzudämmern. Sie können nur glücklich sein, wo Sie Arbeit für Ihre Kräfte, ein Ziel für Ihre Arbeit haben, wo Sie nützen können und das Bewußtsein dieses Nutzens haben.“
„Man kann in jeder Stellung nützen,“ meinte sie, plötzlich in einen ganz andern Gedankengang gelenkt.
„Ja, auch wenn Sie blos die Blumen pflegen und lediglich durch Ihre freundliche Anwesenheit das Familienleben verschönern. Aber ein Anderes ist es, ob Sie damit in dem großen in einander greifenden Räderwerke den Platz ausfüllen, der Ihnen mit den Ihnen verliehenen Anlagen zugedacht ist, ob Sie sich selbst genügen in einem Kreise, wo Ihr Ausscheiden kaum eine Lücke hinterließe. Sie bedürfen eines Wirkungskreises und werden sich nur in demjenigen wohl und zufrieden fühlen, der Ihnen eine volle Entfaltung Ihres Wesens gestattet und Sie ganz in Anspruch nimmt; denn in Ihrer Natur liegt nicht die Beschaulichkeit.“
„Und so sprechen Sie, Meinhard, Sie, dem jedes dieser Argumente selbst gelten könnte und der doch im Begriffe steht, den an ihn ergangenen Ruf abzulehnen?“
Vor der ernsten Frage senkte nunmehr Meinhard den Blick. Sein Eifer war verstummt, und gedämpfter, fast befangen brachte er nach einer Weile eine Erklärung, die wie eine Enttäuschung klang, hervor.
„Es lebt der Drang in jedem Manne, sich zu bethätigen und das Feld seines Schaffens zu erweitern, aber es hat nicht jeder die Kraft und Selbstverleugnung, diesem Drange alles Andere unterzuordnen. Die Wahl ist schwer, welches Gefühl dem andern zum Opfer gebracht werden soll, und in der Regel siegt das – welches tiefer im Herzen entspringt.“
In diesen letzten Worten webte ein so wunderliches Schwingen der tiefen wohlklingenden Stimme, daß Hilda sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, Meinhard bemeistere nur mühsam eine mächtige Bewegung. Es war ihr selbst dabei ganz befremdlich zu Muthe; ihr Blick schweifte hinüber zu den welken Rosen, und eine zarte durchsichtige Röthe trat auf ihre Wangen. Aber mit einem schnellen energischen Rucke des Kopfes wies sie auch sich selbst energisch zurecht. Die letzte Zeit hatte schon Anwandlungen gebracht; heute galt es zu handeln, nicht zu träumen.
„Ich denke, wir lassen die Erörterungen bis auf ein andermal. Die Zeit vergeht, und wenn ich Sie bitten darf –“
„Sie wünschen Ihr Geld? Ja, das kann ich Ihnen sogleich –“
Dienstfertig erhob er sich, und während er an den Schreibtisch ging und dort eines der Schubfächer öffnete, fragte er: „Die ganze Summe oder nur einen Theil?“
„Bitte, die ganze!“ antwortete sie.
„Soll ich die Papiere für Sie verkaufen und den Erlös an eine bestimmte Adresse senden?“ fuhr er fort zu fragen.
„Das geht nicht wohl an,“ erwiderte sie.
„Ich dachte an einen Hauskauf,“ meinte er, „an eine Anzahlung – aber darf man denn von Ihrem Plane nichts erfahren? Vielleicht kann ich Ihnen mit meinem Rathe nützlich sein. Uebereilung thut ja nicht Noth. Man hat Ihnen doch Kost und Logis nicht schon gekündigt?“
Der Scherz fand keinen Anklang; er steigerte nur Hilda’s Verlegenheit.
„Darf ich nicht mein kleines Geheimniß haben?“ fragte sie scheinbar in seinen Ton eingehend. Nun aber war er es, der ihn wechselte.
„Ein kleines? Mich dünkt, Hilda, ein solcher Entschluß – wie immer er gestaltet sei – ist ein großer, ein sehr großer, und sonst ist es auch nicht Ihre Art, derlei wie etwa eine Geburtstagsüberraschung leicht zu nehmen und insgeheim zu betreiben. Was haben Sie vor?“
„Ich werde es Ihnen sagen, wenn es an der Zeit ist.“
„Ich war der Meinung, Ihr Vertrauen zu besitzen.“
„Ach, was Ihr Männer doch für umständliche Leute seid!“
Die Ungeduld hatte ihr diesen Ausruf erpreßt. Wie erschrak sie aber, als Meinhard das Paket, welches er zwischen andern aus der kleinen Hauscasse, die in der Lade gestanden, hervorgeholt hatte und das sie schon in der Tasche zu haben vermeinte, gedankenvoll in der Hand wog und dann wieder auf den Tisch zurücklegte.
„Ich weiß doch nicht,“ sagte er dabei, „ob ich recht daran thue, Ihnen dieses Geld so ohne Weiteres zu übergeben.“
„Welche Geschäftsbedenken!“ Es war ihr, als vernehme sie Edwin’s Stimme: ‚der Pedant!‘ „Ich unterschreibe Ihnen die Empfangsbestätigung, und Sie sind damit aller Verantwortung enthoben.“
„So ganz und gar denn doch nicht! Im Einvernehmen mit Franz wurde dieses Capital meiner Verwaltung anvertraut. ,Es soll dereinst meiner Nichte gehören,‘ erklärten Sie.“
„Allerdings! Mimi soll darum nicht verkürzt werden. Ich werde Ihr die Summe aus meinem Vermögensantheil ersetzen, sobald Franz ihn mir herausbezahlt.“
„So haben Sie also dieses Geld für einen Zweck bestimmt, bei dem es ihr – und wohl auch Ihnen verloren geht?“
„Ach, das ist ja ganz Nebensache.“
„Nicht doch!“
„Nun, dann nehmen Sie an, ich hätte die Summe zum Einkauf einer Lebensrente bestimmt!“
„Für sich oder für einen Andern? Darin liegt der Unterschied.“
„Für – meine Nichte.“
„Sie haben deren zwei. Es könnte für jene in Amerika sein.“
„O, daß ich das Leben des armen Kindes noch versichern könnte! Es ist leider todt.“
„Vielleicht zu seinem Glück.“
„Sie sind herzlos.“
„O nein, Hilda, bedenken Sie selbst, was dem armen Wesen bevorstand!“
Hilda senkte den Kopf.
„Es ist möglich, daß Sie Recht haben,“ gab sie zu; „denn es ist schrecklich zu denken, was aus dem Kinde hätte werden müssen unter der Leitung einer solchen lieblosen, lügnerischen und genußsüchtigen Mutter.“
„Ich erstaune, Hilda. Sie waren ja immer der entgegengesetzten Ansicht.“
„Weil ich von der Heuchelei dieses Weibes umstrickt war,“ erwiderte sie. „O, es empört mich, daß ich diesen niedrigen Verleumdungen Glauben schenken und mich verleiten lassen konnte, meinem Bruder so großes Unrecht zu thun, dem eigenen Bruder auf die Anklage einer Fremden hin, der ich von vornherein hätte mißtrauen sollen. Sie allein hat sein Unglück auf dem Gewissen, sie ganz allein.“
„Sind Sie auch gewiß, Hilda, daß Sie in keinen neuen Irrthum verfallen? Ein Mann lebt nicht Jahre lang an der Seite eines unwürdigen Weibes, ohne selbst entwürdigt zu werden.“
„Aber er kann sich wieder erheben,“ nahm Hilda mit warmem Eifer die Partei des Angegriffenen. „Er ist ein Anderer, ein Besserer, sobald er die entwürdigende Gemeinschaft löst, und es ist ja die einfachste Menschenpflicht, einen solchen Besserungsversuch zu unterstützen.“
„Also das ist die Bestimmung dieses Geldes?“
Meinhard’s ruhige, kalte Frage bewirkte bei Hilda eine plötzliche Ernüchterung. Sie sah mit Schrecken, daß sie sich zu weit hatte hinreißen lassen, daß sie sich verrathen hatte.
„Nun denn, ja,“ erklärte sie nach einer kleinen Weile, ihr ganz in Purpur getauchtes Antlitz trotzig erhebend.
„Ich hätte es voraussehen sollen, Hilda. Die Selbstsucht wird immer wieder Mittel finden, Ihr Mitleid zu mißbrauchen.“
„Nein, nein, diesmal ist es kein Mißbrauch, ich weiß es bestimmt –“
„Woher?“ fragte er gespannt.
Hilda bebte vor innerer Erregung.
„O, wozu diese Discussion?“ kam es im Tone strenger Zurückhaltung von ihren Lippen. „Hier kommt es nicht darauf an, Sie zu überzeugen, sondern mir das Verfügungsrecht über mein Vermögen zu wahren.“
„Aber warum haben Sie kein Zutrauen mehr zu mir, Hilda?“ [123] fragte er leise den Kopf schüttelnd. Aber der milde Vorwurf schürte nur das Feuer.
„Habe ich denn über alles Rechenschaft abzulegen?“ entgegnete sie trotzig. „Unterscheiden kann ich selbst auch; ich bin kein Kind mehr.“
„Ja, herzensgut und unerfahren sind Sie, wie ein Kind, das man vor einer Falle warnen und vor Schaden behüten muß.“
„Komm’ ich zu Schaden, so ist es meine Sache.“
„Nein, die Verantwortung träfe, wenn auch nur vor dem eigenen Richter, den man im Innern trägt, Denjenigen, der seine Pflicht als Ihr Beschützer so arg vernachlässigt hätte.“
„Mein Beschützer?“ Hilda trat mit einem stolzen Emporheben des Kopfes zurück. „Kein Mann hat das Recht, sich dazu aufzuwerfen, es wäre denn –“
„Nun?“ fragte er die Stockende, der abermals ein Blutstrahl in’s Angesicht geschossen war.
„Der Ehemann,“ sagte sie leise.
„Und der wahre Freund,“ fügte er hinzu.
„Ja, Meinhard, aber der ist kein wahrer Freund, der eine freiwillig ihm eingeräumte Stellung in ein Abhängigkeitsverhältniß verwandeln will. Genug des Wortwechsels! Machen wir der Sache ein Ende! Geben Sie –“
„Nein, Sie bekommen das Geld nicht.“
Und statt in die gebieterisch ausgestreckte Hand, legte er das Paket in die Lade zurück und schob sie zu. Miene und Haltung deuteten, als er sich Hilda wieder zuwendete, auf einen unabänderlichen Entschluß.
„Sie enthalten mir mein Eigenthum vor?“ rief sie heftig.
„Bis auf Weiteres, ja.“
„Wie dürfen Sie das? Es ist eine gesetzwidrige Handlung.“
„Allerdings, und es steht Ihnen frei, mich dafür zu belangen. Klagen Sie immerhin – ich entziehe mich den Folgen nicht. Aber bis das Gericht mich zur Auslieferung zwingt, wird doch einige Zeit vergehen, und es ist möglich, daß Sie unterdeß zu klarerer Einsicht kommen. Es ist besser, daß ich Sie zum Schein beraube, als daß Sie thatsächlich beraubt werden.“
„Sie begehen einen Vertrauensbruch, einen Rechtsbruch,“ rief Hilda, und ihr brennendes Auge, in dem eine Thräne zerfloß, richtete sich in Haß auf Meinhard.
„Das Vertrauen, das nicht existirt, kann nicht gebrochen werden,“ erwiderte er, tiefen Gram in den Zügen. „Es war nur ein Irrthum, daß ich an Ihr Vertrauen glaubte, Hilda. Was aber das Recht betrifft, so will ich es lieber verletzen, als meine Pflicht gegen die Freundschaft, der ich meinerseits treu bleibe.“
„Treu? Ich entbinde Sie derselben – für immer!“
„Hilda!“
„Sie selber, Meinhard, haben das Band mit Gewalt entzweigerissen. Das ist nimmermehr gut zu machen.“
„Sie sind im Zorn, meine Freundin – der wird verrauchen.“
„Mag sein!“ stieß sie, durch seinen Gleichmuth gereizt, hastig hervor. Sie kannte sich selbst nicht mehr. „Unter dem Vorwande, Mißbrauch zu verhüten, selbst einen begehen, ist eine unehrenhafte Handlung, und einer solchen gegenüber verwandelt sich die Empörung – in Verachtung.“
Es kam kein Wort über seine Lippen; kein Zug seines Gesichtes regte sich; er war wie zu Stein geworden. Aber vor diesem bleichen Antlitz, vor dem starren Blicke fühlte sich Hilda von einer jähen Furcht erfaßt. Die rücklaufende Welle des Bluts jedoch verdrängte wieder diese Empfindung. Nein, es gab da nichts zu widerrufen. Sie hatte nur ausgesprochen, was sie dachte. So war es.
Meinhard hatte eben das ihm anvertraute Geld wieder an seinen alten Platz gelegt und unter Verschluß gebracht, als die Thür sich öffnete und in dem Rahmen derselben der Hausdiener erschien – er kam Hilda wie eine Rettung aus banger Noth. Er entschuldigte die Unterbrechung, indem er gleichzeitig Fritz, den Reinach’schen Kutscher, einließ.
Die gnädige „Frau Schwiegermama“, berichtete Dieser, warte unten in der Equipage und habe ihn heraufgeschickt, es dem gnädigen Fräulein zu melden.
Verwirrt erklärte sich Hilda bereit, ihm sogleich zu folgen. Nur noch mit einem scheuen Blick streifte sie Meinhard, von dessen ruhiger Haltung keine Aenderung seiner Entschlüsse zu erwarten stand und der sie stumm bis zur Thür begleitete, wo er sich mit einer förmlichen Verbeugung kühl von ihr verabschiedete.
Erst als Hilda von Frau Rohrwek mit strenger Miene empfangen wurde, schoß ihr die Frage durch den Kopf, wie dieselbe denn dazu gekommen, sie hier zu vermuthen und abzuholen. Hilda war zwar heute früh mit ihr in die Stadt gefahren, hatte auch eine Rückfahrt um Mittag mit ihr halbwegs verabredet, aber wie konnte sie ahnen – – kurz der Gedanke, ihre Wege ausgekundschaftet zu wissen, übte auf das erregte Mädchen eine peinlich deprimirende Wirkung – aber nur für einen kurzen Moment; denn schnell tauchten in ihrem erhitzten Kopfe alle andern Gedanken in den einen an das eben Erlebte unter. Hilda hörte kaum darauf, als ihr nicht ohne eine gewisse Schadenfreude auseinandergesetzt wurde, wie man sie hier aufgefunden. Das war nämlich so gekommen: Fritz war die so lange Ausbleibende suchen gegangen und hatte im Kaufmannsladen, wo er vorfragte, den Amtsschreiber getroffen, der gerade zum Essen ging und die Vermißte auf der Treppe gesehen hatte. Frau Rohrwek schloß an diese Auseinandersetzung unverhohlene Vorwürfe über die verzögerte Heimfahrt an einem Tage, wo das Essen, des nach Tisch projectirten Ausflugs wegen, ausdrücklich auf eine frühere Stunde angesagt war; die alte Dame endete ihre Rede mit einem ernsteren Tadel, auf den es wohl von allem Anfange an abgesehen war und der in dem gravitätischen Urtheilsspruche gipfelte:
„Mein liebes Kind, eine solche Freundschaft ist unschicklich. Man kann nie vorsichtig genug sein. Die böse Welt macht so gern ihre Schlüsse.“
„Vor solchen Trugschlüssen bin ich wohl sicher,“ entgegnete sie verletzt.
„Gut, gut, mein Herzchen!“ sagte die alte Frau beschwichtigend und nickte schlau, „bin ja ganz überzeugt. Ist schon eine zu alte Bekanntschaft, und was so lange in der Entwickelung zurückbleibt, wächst sich nicht mehr aus. Aber, glauben Sie mir, das Beste ist doch, um den Leuten den Mund zu stopfen: Sie heirathen sobald als möglich.“
Immer wieder dieser unausstehliche, stets gleichbleibende Refrain! Hilda gab keine Antwort und lehnte ihr schmerzendes Haupt in die weichen Kissen des Wagens zurück.
Hilda hatte Kopfweh, und so war es keine bloße Ausrede gewesen, als sie gebeten, vom Mittagstische wegbleiben und sich der Ausfahrt entziehen zu dürfen. Diese Ausfahrt galt nämlich dem ersten der in den Wintermonaten reihumgehenden Wohlthätigkeitskränzchen, an dem Mimi Theil nehmen sollte. Statt von der wirklich kranken Hilda wurde das jubelnde Kind nun von Frau Rohrwek begleitet.
Hilda war wirklich krank. Ihr Puls ging rasch; ihre Stirn glühte, und als sie aus dem Schlummer erwachte, der sie inmitten des Gewühles hastig kreuzender Gedanken wie eine schwere Betäubung überfallen, da fühlte sie sich nicht gestärkt, nicht geklärt, nicht beruhigt, nein, nur muthloser als zuvor. Sie hatte eine Niederlage erlitten – wie und durch wessen Schuld, diese Erwägung folgte erst in zweiter Reihe; was sie am schmerzlichsten drückte, war: daß sie ihr Ziel verfehlt hatte.
Ihr Wille hatte sich als ohnmächtig erwiesen; ihr Drohen war sogar verhöhnt worden; denn offenbarer Hohn lag in dem Hinweis auf die ihr zustehenden gerichtlichen Schritte. Hätte man ihr so begegnen dürfen, wenn sie ein Mann gewesen wäre? Als solcher hätte sie noch über andere Waffen zu verfügen gehabt als über das Wort, und der Mann hätte sich auch nicht begnügen müssen, die thatsächliche, tiefempfundene Beleidigung mit einer anderen zu erwidern, die ja der Hochmuth des Mannes eben darum, weil sie aus dem Munde eines Weibes kam, wieder verächtlich abschütteln konnte, ohne daß sie ihn weiter berührte. Eine Frau, der ein Gatte zur Seite stand, konnte solche Ueberhebung strafen lassen, und deshalb schon war sie in gewissem Grade vor ihr sicher. Sie aber war ein Mädchen, hülflos und gänzlich der Willkür dessen preisgegeben, mit dem sie um ihr gutes Recht kämpfte. Der einzige natürliche Beschützer, den sie besaß, durfte nicht einmal aufgerufen werden, weil er sich selbst feindlich gegen ihre Absicht verhalten hatte. O, es war eine verzweifelte Lage, in der sie sich befand!
Ja, es gab doch ein Versäumniß in ihrem Leben, ohne das [124] sie jetzt nicht so wehrlos dastehen würde, so rathlos, so mit leeren Händen.
Doch wozu nützten solche Erwägungen? Darüber entschwand nur die Zeit, und diese leeren Hände durften sich doch nicht in selbstzufriedener Ergebenheit in den Schooß legen. Hilda hatte ebenso wenig Anlage zum stillhaltenden Fatalismus des Mohammedaners wie zur alles dem Walten der Vorsehung anheimstellenden Frömmigkeit der Nonne. Ihr gesundes, reges Naturell drängte zum Handeln, zur Selbsthülfe. Es mußte etwas geschehen – um des armen Kranken willen, den sie noch immer mit Bangen im Jägerhause wußte.
Und wenn es nicht anders ging, wollte sie sich an Franz wenden. Ja, es blieb kein anderes Mittel. Er hatte sich ja bereit erklärt, ihr das ganze auf Waltershofen eingesetzte Capital auszufolgen, und nur Geduld verlangt. Doch eben diese konnte sie nicht haben. Er mußte ihr wenigstens die Summe, die in Frage stand, schaffen. Und wenn er, wie Meinhard, nach dem Zwecke fragte? Nun, dann würde sie zu sprechen wissen. Kein fremder Zwang legte ihr hier Verschwiegenheit auf, und es war nur zartfühlende Scheu gewesen, die sie abgehalten, seiner ablehnenden Heftigkeit die Stirn zu bieten. Jetzt zeigte sich ihr kein glatterer Weg mehr. Mochte Franz sich ereifern, wie er wollte, er konnte es doch nicht geschehen lassen, daß sein Bruder – –
Aber zaudern durfte sie nicht mehr. Die Stunden verrannen; schon begann der Abend zu dunkeln, und der Wagen konnte die Fortgefahrenen jeden Augenblick zurückbringen; dann war die günstige Gelegenheit zu einer ungestörten Verhandlung unwiederbringlich verpaßt.
Rasch entschlossen erhob sich Hilda und begab sich aus dem im oberen Stockwerke gelegenen Gastzimmer, das sie am vergangenen Tage bezogen hatte, die Treppe hinab, nach dem Arbeitszimmer ihres Bruders. Sie nahm den Weg durch das kleine Gemach, in welchem seine Garderobe und seine Jagdrequisiten untergebracht waren. Da – in dem Augenblicke, als sie eben den Fuß über die Schwelle setzen wollte – klang etwas, wie ein Lachen, an ihr Ohr. Erschrocken hielt sie den Schritt an.
„Ha, was ist das?“
[137] Hilda hatte ihren Bruder allein in seinem Arbeitszimmer vermuthet; denn es war noch gestern davon die Rede gewesen, daß sich außer ihm und Edwin Alle an der Ausfahrt betheiligen wollten – und nun? Hinter der dunklen Portière, die den Eingang zum Arbeitszimmer des Gutsherrn nur halb schloß, saß in dem zarten Dämmerlichte, das ihrer Schönheit einen besondern Glanz lieh, die junge Frau an einem Nähtischchen, das sie sich in der Fensternische improvisirt hatte. Scherzend wehrte sie sich mit der Sticknadel gegen ihren Gatten, der hinter ihrem Stuhle stand und ihr die Augen zuhielt.
„Hände weg oder ich steche!“ drohte sie lachend.
„Ein Attentat? Oho! Verdient eine exemplarische Strafe.“
„Die fürcht’ ich nicht.“
„Auflehnung, Meuterei, Rebellion gegen die Autorität!“
„Die Ehrfurcht vor derselben ist nicht mehr groß; Du thust Dein Möglichstes, sie zu zerstören, mein Herr Gemahl.“
„Will doch sehen, ob ich keinen Gehorsam finde,“ erklärte er mit scherzhaft angenommener Würde. „Ich dulde nicht, daß Du Deine Augen an der Geburtstagsarbeit für die Frau Mama in dieser Finsterniß verdirbst; denn Deine Augen gehören mir – heute und alle Zeit. Ich kann sie, so oft es mir gefällt, amtlich unter Siegel legen, und sie müssen geschlossen bleiben, bis –“
„Bis ich sie wieder aufthue.“
„Nein, bis ich das Siegel mit einem Kusse löse.“
Er neigte sich zum Vollzuge der angekündigten Maßregel über sie, aber sie hatte den Moment, wo er seine Hände löste, benutzt, um vom Stuhle aufzuspringen.
„O, es bedarf keiner solch feierlichen Amtshandlung, mein gestrenger Herr. Ich sehe schon wieder,“ spottete sie. „Und nun laß mich die paar Stiche fertig machen – nur so weit der Wollfaden noch reicht!“
„Gut, wie Du mir, so ich Dir!“ sagte er und setzte sich, ohne scheinbar weiter auf seine Frau zu achten, auf das Fensterbrett; er zog ein Journal aus der Tasche, entfaltete es und begann zu lesen.
„Diese häßlichen Zeitungen!“ schmollte sie und schlug leicht auf das Blatt.
„Diese häßlichen Zeitungen?“ fragte er. „Ich muß doch eine Beschäftigung haben. Wie erfahre ich übrigens ohne die Zeitungen, was in der Welt vorgeht?“
„Bah, es steht doch kein wahres Wort darin. Nichts als Märchen; die kann ich am Ende auch erzählen.“
„Willst Du? Ach ja, Du bist meine Scheherazade. Erzähle!“
Schmeichelnd hatte er den Arm um sie gelegt, und so zog er sie, während er sich selbst auf den vorher von ihr eingenommenen Sessel niederließ, sanft auf sein Knie. Sie ließ ihn im Eifer, doch noch ein paar Stiche zu vollenden, gewähren und setzte ihm auch keinen Widerstand mehr entgegen, als er ihr die Stickerei nun aus den Händen nahm.
„Confiscirt!“ sagte er. „Zwei Herren kann man nicht dienen. Man arbeitet nicht, wenn man ein Märchen zu erzählen hat.“
„Ist das wirklich Dein Ernst?“
„Natürlich!“
„Ich weiß aber eigentlich nur eins.“
„Du hast Dich ja vermessen, so viele wie die Zeitungen zu kennen. Also mindestens für tausend und eine Nacht. Laß denn hören!“
Sie schlug die Augen, schelmisch lächelnd, zu ihm auf.
„Gut – es war einmal eine Prinzessin, die saß an einem Brunnen im grünen, grünen Walde. Da kam ein stolzer König; der trug an einem schweren Leide, und die Aerzte hatten ihn darum zu dem Brunnen geschickt, daß er sich Heilung hole. Und als er wieder ging, da war er wohl gesund, aber die Prinzessin, die arme Prinzessin, war krank geworden im Herzen und blickte nur immer und immer in den Brunnen, weil er ihr, wie im Spiegel, das Bild des stolzen Königs zeigte, so oft sie seinen Namen rief.“
„Und das war ein sehr wirksames Sympathiemittel,“ fiel er lachend ein. „Denn eines Tages kam er, holte sie heim und war glücklich mit ihr bis an’s Ende ihrer Tage. Und Franz hieß der stolze König, und die Prinzessin hieß Albertine. O, ich kenne, wie mir scheinen will, dieses Märchen – Du mein herziges, herziges Weib!“
Er küßte sie innig. Ihr Arm legte sich um seine Schultern, ihre Schläfe sich an die seine.
„Franz,“ sagte sie, „ich habe Dich so lieb, so lieb, so lieb!“
Die Lauscherin dort hinter der Portière hörte es nicht mehr. Die Hände auf das Herz gepreßt, als ließe sich so dessen lautes Pochen bezwingen, glitt Hilda von der Thür hinweg und aus dem Garderobezimmer. Die Scham brannte auf ihren Wangen, daß sie ihr Versteck nicht schon früher verlassen, aber es war nicht diese Gluth allein, die sie verwirrte. Zuerst hatte sie, unmuthig über die Störung, nur einen Moment zum Eintreten abwarten wollen, der ergab sich jedoch nicht, und so hatte sie fast wider [138] Willen auf dem Flecke ausgeharrt. Halb spöttisch, halb in seltsamer Bewegung hatte sie auf die heitere Gruppe geblickt, bis sie zuletzt, mächtig erfaßt von einer ihr bisher unbekannten Empfindung, wie träumend an dem Thürpfosten lehnte und das Antlitz in die Falten des schweren Vorhanges drückte.
Endlich war sie hinweggeschlichen, aber das Bild verwischte sich nicht vor ihren Augen, und in ihren Ohren klang es fort und fort:
„So lieb, so lieb, so lieb!“
Was war denn so Hohes, so Gedankenvolles gesprochen worden, daß es sie so sehr ergriff? Nichts, ein einfaches Geplauder, Koseworte dazwischen, und doch hatte noch keine Liebesscene in einem Buche, selbst nicht jenes wundersam bestrickende Zwiegespräch auf dem Balkon des alten Hauses der Capuletti in Verona, ihr Empfinden so bewegt, wie das eben Gehörte, Geschaute. Es war ihr, als sei ein elektrischer Funke auf sie übergesprungen – all ihr Blut war in Aufruhr.
Beängstigt, schwer athmend schritt sie wie eine Nachtwandlerin langsam von Raum von Raum, und die langjährige Gewohnheit führte sie an die Thür ihres Zimmers. Daß sie es nicht mehr bewohnte, kam ihr nicht in den Sinn; zu sehr waren ihre Gedanken bei dem eben Erlebten; es war ja auch nichts da, das ihr sagen konnte: dieses Zimmer ist nicht mehr das deine. Ihre Möbel waren in dem kleinen Salon verblieben; bis auf einzelne unbedeutende Veränderungen stand alles an derselben Stelle wie immer, und selbst die Töne des Claviers, auf dem eben ein paar Accorde angeschlagen wurden, vermochten sie nicht auf ihren Irrthum aufmerksam zu machen. In der letzten Zeit war sie es ja gewohnt geworden, daß dieses Gemach als ein allgemeiner Versammlungsort oder eigentlich als ein Musikzimmer betrachtet wurde, in welchem Albertine wie ihr Bruder, so oft sie die Lust zu spielen anwandelte, ungehindert Zutritt hatten.
So winkte sie auch jetzt Edwin, der bei ihrem Eintritt vom Clavier aufgesprungen war, sich nicht stören zu lassen, ja sie bat ihn sogar in der mechanischen Weise, wie man oft Höflichkeitsformeln zu sagen pflegt, weiter zu spielen, es sei ihr ein Vergnügen, ihm zuzuhören.
Und sie hörte, in die Ecke des Sophas gedrückt und die Augen auf die im Zwielichte noch matt erhellten Fenster gerichtet, in der That dem Spielenden zu, nur nicht mit jener bewundernden Aufmerksamkeit, welche derselbe bei ihr voraussetzte, ja sogar ganz ohne jenes auch nur dem technischen Geschicke oder der Melodienfolge zugewendete Verständniß, welches mindestens die Ueberlieferung von eigener Zuthat, das Bekannte von der Improvisation unterscheidet. Die Töne umflutheten sie nur wie ein Aethermeer, durch das sie dahinschiffte und das sie bald auf sanften Wellen schaukelte, bald auf anschwellenden Wogen emportrug und jeden Nerv in ihr zu fühlbarem Mitschwingen brachte.
Eine Stimme in ihr sagte ihr, wie wohl es dem Herzen thun müsse, eine Seele ganz sein eigen nennen zu dürfen. Hatte sie denn nicht dieses Bedürfniß gerade in den letzten Tagen zitternd empfunden, wo sie in steter Angst und Selbstbewachung ihr Geheimniß bergen mußte? Sich rückhaltlos aussprechen zu dürfen, ohne zurückgewiesen, ohne verrathen, ohne verspottet zu werden, und liebevollen Verständnisses sicher zu sein – das mußte doch eine Sicherheit verleihen, in der gut ruhen war, wie in der Wiege des Kindes, das ja auch stammelt, was die Natur ihm eingiebt. War sie denn selbst schon so alt, daß sie diese Sprache verlernt hatte und deren Laute nicht mehr zu finden vermochte?
Die Jahre waren dahingegangen; sie hatten ihr Herz ruhig und regelrecht schlagen gelehrt und ihren Gedanken, sobald sie auf die Zunge traten, ein strenges und abgemessenes Gewand zugeschnitten, aber ein Verjüngungsquell war plötzlich über sie heiß hinweggesprudelt, und jetzt dehnte es sich da in der Brust und die einschnürenden Fesseln gaben nach – sie vermochten das aufblühende Leben des Herzens nicht mehr zurückzudämmen. Das eingekerkerte Gefühl verlangte nach seinem Recht; das Herz rief nach Freiheit und rebellirte gegen den Verstand, der es beschwichtigt, überredet, ja kalt weggeleugnet hatte. Hier bin ich, und ich rege mich! Lange genug war ich beiseite geschoben, wie ein unnützes, lästiges Ding, aber ich bin nicht eingeschrumpft, nicht ausgetrocknet. Von mir geht das Blut aus und zu mir kehrt es zurück, und ich mache es zum Boten meiner Wünsche und durchglühe es mit meiner Flamme und jage den siedenden Schwall durch alle Adern. Wir wollen doch sehen, ob ich zu unterdrücken bin. Warum nur Anderen die Freiheit? Warum nur Anderen das Glück? Auch ich – hört mich! – auch ich will meinen Theil daran haben! Auch ich!
„Hilda!“
Wer sprach den Namen? Wer rief sie? Wo war sie doch?
„Hilda!“ wiederholte Edwin’s Stimme, und jetzt erst erkannte sie dieselbe. Wie ein Schatten war der Sprechende an ihre Seite geglitten.
„Sie sind ganz stumm. Hat Sie mein Spiel so sehr ergriffen, daß Sie nicht das kleinste Wörtchen des Beifalls für mich haben? Und ich glaubte, ich hätte mein Bestes gegeben. Der bescheidenste Lobspruch hätte mich beglückt.“
„Ich war wie unter einem Bann,“ sagte sie langsam, über ihre heiße Stirn streichend.
„Den dürfen Sie auch nicht brechen,“ fiel er lebhaft ein. „Sie dürfen sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er ist mir weit mehr als die künstlerische Anerkennung; das Verständniß jener wortlosen Sprache der Seele zur Seele allein kann ihn hervorrufen.“
Die Musik und der süße Zauber der Dämmerung hatten auch ihn in eine Stimmung versetzt, welche die Wünsche seiner Mutter in seine eigenen zu verwandeln geeignet war. Und ihr Schweigen ließ nur die schmeichelhafteste Deutung zu. Fürwahr, Frau Rohrwek hatte Recht: es galt nur noch ein kurzes kriegerisches Spiel – und der Sieg war sein. Dieses vorausgenommene Triumphgefühl gab seiner Phantasie einen kühnen Schwung.
„Ja, Fräulein Hilda,“ sagte er, „dieses Verstummen ist mir ein Beweis, daß meine Hand die richtigen Accorde gegriffen, um dem Unaussprechbaren, das mich erfüllte, Töne zu verleihen; alles, was in mir lebte und nach Ausdruck rang, das schwebte auf dem strahlenden Lichtbogen, den die Musik zwischen uns ausspannte, zu Ihnen hinüber. Ein solches Eingehen auf die Empfindungen eines Anderen ist ein geistiges Einssein, die unverbrüchliche Bürgschaft innerlicher Zusammengehörigkeit. Ja, Hilda, dieser magische Rapport besteht zwischen uns; er wirkt sogar in die Ferne; er läßt mich Ihr Nahen ahnen, wie er die Botschaft meiner Wünsche zu Ihnen trägt; wir können uns nicht dagegen sträuben – er führt uns zusammen. Ist es nicht so? Sind Sie nicht einem unbewußten Drange gefolgt, als Sie hier eintraten? Lassen Sie mich daran glauben, daß der Bann, der Sie nach Ihrem eigenen Geständnisse umfing, schon vorher wirksam war und daß er Sie hierher zu kommen zwang, als ich Sie mit gewaltigen Tönen voll Sehnsucht herbeirief!“
Er hatte sich in ein Feuer hineingesprochen, das über die Leerheit seiner Worte hinwegtäuschte. Und als er nun von der mit so großem Pathos betonten „innerlichen Zusammengehörigkeit“ auch auf deren äußerliche und für das ganze Leben gültige Form zu sprechen kam und gleichsam symbolisch, wie um seiner Rede mehr Nachdruck zu geben, Hilda’s Hand erfaßte – da entzog sie ihm dieselbe nicht. Es war ein Gedränge von beängstigenden Empfindungen, unter deren Gewalt sie stand: zu dem einzigen Freunde, zu dem Gefährten ihrer Jugend, flogen ihre Gedanken – zu Meinhard. Bitterkeit erfüllte sie, wenn sie der letzten Begegnung mit ihm gedachte – Stolz und gekränktes Selbstbewußtsein bäumte sich in ihr auf; war er ihr nicht herrisch entgegengetreten? Hatte er sie nicht in ihrem tiefsten Empfinden verletzt? O, wie sie ihn haßte! Und dann trat das Bild des sterbenskranken Bruders da dranßen im Jägerhause vor ihre Seele; sie mußte ihm helfen, und sie konnte es nicht; denn sie war – allein.
Und jetzt bot sich ihr die Hand eines Mannes, der es gut mit ihr meinte – warum sollte sie dieselbe nicht ergreifen in der Stunde der Gefahr? Daß es auf die Voraussetzung ihrer Liebe hin geschah, bedachte sie nicht. Noch war es ihr fremd, dieses Gefühl, aber Edwin’s fröhliche Erscheinung hatte unstreitig etwas Anziehendes; sie meinte es jetzt schon wahrzunehmen, wie sich ihr sympathisches Wohlgefallen an ihm stärkte, und wenn sich erst sein unsteter Charakter gefestigt, dann lernte sie ihn vielleicht auch als ihren energischen Beschützer achten.
„Ich würde Sie auf den Händen durch’s Leben tragen,“ betheuerte er, „und an einem Seidenfädchen sollten Sie mich lenken. Ich glaube, daß ich ein wenig eitel bin, aber wie sollte ich es auch nicht sein, wenn ich selbst einen so hohen Preis zu gewinnen vermag – Sie! Sonst aber ist mit mir leicht zu leben; ich bin ein guter Camerad, und wir werden uns die Existenz so [139] behaglich wie möglich einrichten. Hilda, wollen Sie mir die Sorge dafür anvertrauen?“
Wie einschmeichelnd das klang! Nichts von jener häßlichen Herrschsucht, die das Weib wie ein unmündiges Kind behandelt, dessen ohnmächtigen Zorn man verlachen darf! Nichts von jener überlegenen Gewaltsamkeit, die sie erst soeben in Meinhard’s herrischer Freundschaft kennen gelernt hatte! Mit einem treuen Cameraden Hand in Hand dahinwandeln, mit ihm alles theilen, Freud und Leid – ja, einen solchen Cameraden hatte sie längst ersehnt – –
Als sich aber sein Arm nun um sie legte, rückte sie vor diesem Zeichen der Vertraulichkeit doch unwillkürlich ein wenig zur Seite; ihr Widerstreben war mehr instinctiv als bewußt; sie hatte sich nehmen lassen wie im Sturm, fast als wäre sie eigentlich dabei gar nicht betheiligt.
Ein Gedanke war es nur, der sie ganz erfüllte: daß ihre Hand von jetzt ab eine Waffe führte und aufhörte, schwach und machtlos zu sein, daß ein Mann an ihrer Seite war, der Meinhard demüthigen, ihn zwingen werde – – und in dieser Zuversicht schwelgte ihr Haß. Die Hoffnung, mit Edwin’s Beistand nunmehr Wilhelm’s Angelegenheit rascher und sicherer zu Ende führen zu können, stand erst in zweiter Linie.
So nahm sie denn kühl und gleichgültig Edwin’s Liebesergüsse hin und als er eben, kühner werdend, ihre Hand mit Küssen bedeckte, da that sich die Thür auf, und hinter dem voranleuchtenden Mädchen erschien Frau Rohrwek. Sie war nicht wenig überrascht, als ihr Sohn ihr seine – „Braut“ vorstellte.
Braut! – Seine Braut! Wie das so wunderlich klang und wie das so schnell gekommen war! Die glückliche Mutter, die nun alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen sah, überhäufte Hilda mit Zärtlichkeiten.
Das Paar mußte ihr auch sogleich in’s Eßzimmer folgen; denn Albertine sollte sofort die frohe Botschaft hören. Hier gab es eine kleine Scene: Mimi warf sich, als das Geschehene verkündet worden, mit einem leisen Schrei an die Brust ihrer neuen Mutter.
„Was ist Dir, mein liebes Kind ?“ fragte diese.
„Ich – ich,“ sagte die Kleine sich gewaltsam fassend, aber noch unter Thränen schluchzend. „Ich freue mich – ich freue mich so – haha! Ich bin – ein so dummes Ding – daß ich vor Freude weinen muß.“
„O, das ist so natürlich. Auch ich bin solchen nervösen Anfällen ausgesetzt,“ erklärte Frau Rohrwek, aber sie kam nicht dazu, sich über das Thema zu verbreiten.
„So, Du heirathest also, Hilda?“ fragte Franz, der in der Fensternische stand, ziemlich trocken.
„Nun ja, Ihr habt es ja Alle gewollt,“ entgegnete sie mit blitzenden Augen; sie konnte sich den kleinen Triumph nicht versagen. „Hast Du mir nicht am eifrigsten zugesprochen?“
„Hm, ja. So aber habe ich es allerdings nicht gemeint.“
Diese Meinungsäußerung des Gutsherrn verklang ungehört in dem fröhlichen Durcheinander der Stimmen.
Frau Rohrwek richtete schon den ganzen Zukunfthaushalt ein; Edwin improvisirte Gedichte à la Heine; Hilda selbst war in fieberhafter Erregung; ihr Sein, ihr Denken, ihr Empfinden – alles war wie aus den Angeln gehoben, und der Wein, mit dem man bald auf das Wohl des Brautpaares anstieß, färbte ihre Wangen hoch. All den Lärm aber überjubelte Mimi’s helle Stimme; nach einem wiederholten Weinanfall hatte die Kleine resolut ihre Thränen weggewischt, und nun wirbelte sie, wie ein toller Kreisel, um die lebhafte Tischgesellschaft, unablässig plaudernd und lachend. Es war ein bewegter Verlobungsabend.
Trüb und nebelig stieg der nächste Morgen empor.
Die größte Veränderung war während der Nacht mit dem geschwätzigen, nervös überreizten Kinde vorgegangen. Mimi war fast nicht wieder zu erkennen in der grauen, zusammengekauerten Gestalt, die den moosbewachsenen Felsblock am Rande des Jungwaldes erklettert hatte; mit hinaufgezogenen Knieen saß sie dort oben, die Ellbogen gestützt und das Gesicht so ganz in die Hände vergraben, daß kaum ein Fleckchen der Stirn dem einsamen Strahle der schon hochstehenden Sonne ausgesetzt blieb.
Die unförmliche, in sich geduckte Figur sah fast selbst wie ein Stück Stein aus, und erst als ein Wagen von der Stadt dahergerasselt kam, hob sie für einen Moment den Kopf, um ihn sogleich wieder sinken zu lassen.
Meinhard mußte das sich ihm bietende Bild genau fixiren, ehe er seinen Augen traute; dann ließ er den Wagen halten, stieg aus und ging, den Straßengraben überschreitend, auf den Felsblock zu.
„Ja, sind Sie es denn wirklich? Wie kommen Sie hierher? Sie sitzen ja wie ein Häuflein Unglück da oben, Mimi. Oder soll ich ebenfalls Emmy rufen?“
„Ich wollte, ich hätte gar keinen Namen, und kein Mensch riefe mich, und ich lebte nicht mehr,“ sagte sie in tiefer Niedergeschlagenheit.
„Ei, das ist ja ein gewaltiger Weltschmerz,“ versuchte Meinhard den gewohnten Humor, der jedoch auch nicht recht frei klang, hervorzukehren. „Was thun Sie denn eigentlich hier auf dem erhabenen Throne? Spielen Sie Norne?“
Jetzt erst sanken die kleinen Hände und enthüllten ein trauriges, grollendes Gesichtchen.
„Ich zeichne. Sie sehen es ja.“
„Das ist mir wirklich entgangen. Der Nebel wird wohl daran schuld sein. Haben Sie sich ihn zu Ihren Studien gewählt?“
„Nein, ich will nicht zeichnen,“ sagte sie und stieß das kleine Skizzenbuch von ihrem Schooße, daß es sammt dem Stifte über den Stein hinabfiel. „Ich habe es von ihr gelernt, und ich will gar nichts, was von ihr kommt, gar nichts! Ich werde auch nie mehr zeichnen oder Clavier spielen. Ich will’s vergessen, vergessen will ich’s, wie wenn ich nie etwas davon gewußt hätte.“
„Das sind aber wirklich heroische Entschlüsse; gegen wen richtet sich denn eigentlich Ihr Groll?“
„Ach, Sie verspotten mich nur,“ entgegnete sie, nahm die Fäuste von den Schläfen, an die sie dieselben gedrückt hatte, und wandte sich mit einem unmuthigen Rucke von Meinhard ab.
„Ich Sie verspotten? Das würde ich nie wagen.“
„Ja, Sie verspotten mich, wie alle Anderen mich verspotten würden, wenn sie wüßten, wie es in mir aussieht. Aber diese Freude werde ich ihnen nicht bereiten – nein, kein Mensch soll mich anders sehen als lachend. Es soll sich kein Mensch über mich lustig machen.“
„Das fällt ja aber gewiß auch Niemandem ein,“ versicherte er mit freundlichem theilnahmsvollem Ernst. „Was für ein Kummer drückt denn das kleine Herz? Aber zuerst kommen Sie da von Ihrem Wolkensitz auf die Welt herunter, Mimi!“
„Die Welt ist falsch, und ich würde am liebsten gar nichts mehr mit ihr zu thun haben. Ich wollte, der Nebel hüllte mich ein und trüge mich fort, hinauf, immer weiter, immer weiter – so weit, daß man von der Erde gar nichts mehr sieht.“
„Das ist aber heutzutage nicht mehr recht üblich, kleine Fee. Also entschließen Sie sich noch ein Weilchen unter uns zu wandeln – gilt’s? Also hopp!“
Trotz ihrer tiefen Seelenverstimmung zauderte Mimi doch nicht mehr, der Einladung zu folgen. Sie setzte ihren Fuß auf eine tiefere Kante, erfaßte die ihr entgegengestreckten Hände Meinhard’s und that frischweg den kühnen Sprung zur Erde.
„Ich habe jetzt wohl ausgesehen, wie eine Fledermaus, in dem flatternden grauen Mantel?“ fragte sie lächelnd, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Onkel Meinhard, Sie dürfen aber Niemandem ein Wort davon sagen, wo Sie mich gefunden haben.“
„Keine Silbe. Aber haben Sie denn da so Geheimnißvolles getrieben?“
„O, nicht doch, nein, gar nicht. Nur braucht es Niemand zu wissen. Ich habe blos auf den Wagen gewartet und wollte ihn zurückkehren sehen.“
„Auf den Wagen?“
Mimi kehrte sich ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und suchte mit besonderem, ihrer früheren Erklärung direct widersprechendem Eifer nach der Zeichenmappe, während sie antwortete: „Papa und Mama sind zu Saldorff’s gefahren; der Graf hat zwei Reitpferde zu verkaufen, die sehr gut unter dem Damensattel gehen. Seit Comtesse Lori gestorben, will er nichts mehr sehen, was ihn an sie erinnert. Papa glaubt, daß die Pferde billig zu bekommen wären.“
„Und darauf freuen Sie sich und wollen die Nachricht ganz brühwarm haben?“ Ihr geringschätziges Achselzucken entging ihm [140] nicht, und seine irrige Unterstellung berichtigend fuhr er fort: „Doch da hätten Sie ja noch stundenlang auf Ihrem Wachtposten sitzen müssen; es ist ein weiter Weg bis Artmannsberg. Das kommt mir übrigens sehr ungelegen. Ich rechnete darauf, den Papa zu treffen.“
„Sie treffen gar Niemand zu Hause. Es ist alles fort. Edwin ist mit seiner Mutter zur Stadt gefahren. Wenn Sie Jemand sprechen wollen, werden Sie die Heimkehr abwarten müssen.“
„Das kann ich nicht.“ Seine Miene zeigte deutlich, wie unangenehm ihm diese Störung war. Er blickte gedankenvoll vor sich hin in das feuchte Gras, dann hatte er aber doch einen Entschluß gefaßt. „Ist auch Tante Hilda mitgefahren?“ fragte er.
„Nein – die – die ist zu Hause.“
Er bemerkte nicht das eigenthümliche Widerstreben, mit dem die Kleine antwortete, und den Ausdruck von Feindseligkeit in ihrem Gesichtchen. Sein Auge schien mehr nach innen gekehrt.
„Nun, dann muß ich mich wohl an sie wenden – die Zeit drängt.“
Und da nun die Entscheidung getroffen war, gab er dem Lohnkutscher Anweisung, zum Schlosse vorauszufahren.
„Sie begleiten mich doch?“ wendete er sich wieder gegen Mimi. „Oder ziehen Sie es vor, Ihren Nornenstein wieder zu besteigen und nach dem zurückkehrenden Wagen auszulugen, der, nach solcher Ungeduld zu schließen, Ihnen ja überaus Wichtiges mitbringen muß? Im Anfang dacht’ ich an ein Reitpferd, aber mir will scheinen, das Interesse –“
„Necken Sie mich nicht – heute nicht! Ich kann es nicht ertragen, auch von Ihnen nicht, Onkel Meinhard. Sie machen mich zornig. Alles macht mich zornig,“ fiel sie ihm heftig in’s Wort. „Ich will auch gar nichts. Mir bringt man nichts mit, mir nicht – einer Andern. Bah, nicht mit der Spitze des Fingers möchte ich es berühren, und wenn es das kostbarste Geschmeide wäre von eitel Gold und Edelsteinen und echten Perlen.“
„Was sprechen Sie denn eigentlich? Was soll denn mitgebracht werden?“
„Ein Ring, ein Armband – weiß ich es? Irgend ein Schmuckstück für die Braut. Nur so weit habe ich gehört, als Frau Rohrwek den Wagen anspannen ließ. Sie will dem Bräutigam helfen, beim Juwelier etwas auszuwählen. Er soll ein Medaillon nehmen und seine Photographie hineinstecken. Er kann die aus meinem Album haben; ich lasse sie doch nicht mehr darin.“
„Noch einmal –: wovon sprechen Sie eigentlich, Mimi? Wer ist Braut? Wem soll das Geschenk gehören, das Sie so erbittert?“
„Ihr, ihr! Wem sonst! – Sie wissen nichts davon? Sie ahnen es nicht einmal[WS 2]? Ich glaub’ es wohl. Sie waren ja blind, wie alle Anderen. Ich aber habe es kommen sehen, o, ganz gut! wie es immer weiter ging und weiter – und gestern haben sie sich verlobt – und Champagner ist dazu getrunken worden, und das Brautpaar hat man hochleben lassen. Ja, ich habe auch mitgerufen; ich war so lustig – so lustig. Die ganze Welt ist falsch; sie braucht nicht zu wissen, was ich mir bei meiner Lustigkeit denke. Auch er soll nicht glauben, daß ich mir etwas daraus mache. O, so falsch, so falsch! Vorgestern noch zeichnete er mir zwei verschlungene E – wie hübsch sich unser Monogramm mache! – und jetzt ist er vielleicht gerade beim Goldarbeiter und bestellt ein Medaillon in Herzform mit einem E und H darauf. Ist das nicht falsch?“
„E und H?“
„Nun ja: Edwin und Hilda.“
„Es ist nicht möglich!“
„Nicht wahr? O, als ich heute aufwachte, da meinte auch ich, es sei nur ein Traum gewesen, aber unten stehen noch die leergetrunkenen Champagnerflaschen im Flur.“
„Es ist nicht möglich!“ wiederholte Meinhard tief bestürzt. „Sie treiben Scherz mit mir.“
„Scherz? Als ob mir zum Scherzen wäre! Wissen Sie, was ich dachte, als ich da droben saß? Unter die Räder des Wagens möchte ich mich werfen, wenn er zurückkommt – – dann wäre alles aus.“
Und mit wildem Aufschluchzen warf sie sich an Meinhard’s Brust. Sie faßte sich diesmal nicht so rasch, wie am Abend vorher; es that ihr offenbar wohl, sich auszuweinen, und Meinhard, der bleich geworden war, wie ein Marmorbild, sprach ihr auch gar keinen Trost zu; er ließ ihre Thränen fließen und streichelte nur sanft das Haar an ihrer Schläfe. Der Einblick in das kleine Herz und das Mitleid mit dessen Weh halfen ihm allmählich Herr werden über den eigenen Schmerz.
„Ist es nicht abscheulich?“ fragte Mimi noch leise schluchzend. „Sie dürfen mich aber nicht verrathen, Onkel Meinhard, daß ich geweint habe. Ihr Wort darauf! Er soll nicht etwa glauben, daß ich mich unglücklich fühle. Mir liegt gar nichts an ihm – gar nichts.“
Sie trocknete ihre Augen; dann nahm sie seinen Arm und schritt nun langsam an seiner Seite dem Schlosse zu.
„Und was sagt Ihr Papa zu alledem?“ fragte Meinhard.
„O, ich kenne Papa nicht mehr – er läßt Alles geschehen. Mir hätte er es gewiß verboten, wenn ich ihm mit einer solchen Ueberraschung gekommen wäre. Ich begreife nicht, daß er nicht rund heraus gesagt hat: ‚Es darf nichts daraus werden. Ich erlaube es nicht.‘ – Das hätte ich gethan.“
Trotz der tiefen Bewegung, die er empfand, entlockte Mimi’s energische Erklärung ihm doch ein flüchtiges Lächeln.
„Sie vergessen,“ sagte er beinahe bitter, „daß Fräulein Hilda selbstständig und Herrin ihrer Handlungen ist.“
„Auch wenn sie eine Thorheit begeht?“
„Wer soll sie hindern?“
„Sie, ja Sie, Onkel Meinhard. Sie müssen ihr in’s Gewissen reden. Sie haben immer den meisten Einfluß auf sie gehabt, und Sie können Papa nöthigen, daß er seine Meinung unzweideutig äußert. Von einer Billigung ist bei ihm ohnedem nicht die Rede; ich habe es ganz gut heraus gehört. Er gab Edwin auf’s deutlichste zu verstehen, daß ein Mann, der eine Frau heimführen wolle, erst ein Heim oder wenigstens eine Stellung haben müsse im Leben. Er hat ihm sogar seine Talente zum Vorwurf gemacht, und das war ungerecht; denn es ist so schön, zuzuhören, wenn Edwin ein Gedicht declamirt oder seine Compositionen vorträgt, und nun gar seine Bilder, ach, seine Bilder – nein, nein, seinen Wankelmuth, seine Schwäche gegen die Verlockungen, nicht seine Talente hätte Papa ihm vorhalten sollen. Ich weiß schon, wer die ganze Sache eingefädelt hat. Frau Rohrwek mit der Tante zusammen – die haben es zurecht gemacht, und statt daß Papa Edwin vorwirft, er sei zu jung zum Heirathen – was gar nicht wahr ist – hätte er lieber derjenigen, die ihn in ihren Netzen gefangen hat, sagen sollen, daß sie zu alt dazu.ist.“
„Aber Mimi!“
„Ist es denn nicht so? Sie war ja schon ganz erwachsen, als ich auf die Welt kam. Wenn ich einmal so alt bin wie die, dann mag ich gar nicht mehr leben, Onkel Meinhard.“
[153] „Sie haben eben noch ein gar kurzes Zeitmaß für Ihre Weltanschauung, liebe Mimi,“ erwiderte Meinhard, „Ihre Ansicht wird wohl nicht für alle Zeiten abgeschlossen sein. Aber nicht das ist’s, was mir Anstoß erregt, sondern die Unbilligkeit, ja die Gehässigkeit Ihres leidenschaftlichen Urtheils. Wie können Sie so von – von Ihrer Tante sprechen! Sie hätte Netze ausgeworfen? O nein, mein liebes Kind, es ist doch viel eher anzunehmen, daß sie selbst von einem solchen umgarnt wurde.“
„Sie braucht ihn ja aber auch gar nicht zu nehmen, Onkel Meinhard, wenn sie nicht will.“
Er vermochte der sehr richtigen Bemerkung nichts entgegenzustellen, als sein Gefühl.
„Da mögen mancherlei Beweggründe mitwirken, in die ich keinen klaren Einblick habe. Was aber über allen Zweifel erhaben ist, das ist die Abwesenheit jeder bewußten Koketterie zur Herbeiführung des nun erfolgten Abschlusses. Sie mag den jungen Mann gern gesehen, ihn liebgewonnen haben – es sind ja wohl so mancherlei Vorzüge an ihm, die einem Frauenauge werthvoll erscheinen mögen, die bestechen und vorhandene Mängel übersehen lassen. Ich werfe mich da nicht zum Richter auf, aber besonderer Künste bedarf es bei ihr gewiß nicht, um ein Männerherz anzuziehen, selbst nicht, um das Mißverhältniß der Jahre, das hier allerdings besteht, auszugleichen. Prüfen Sie doch nur, ohne sich von Ihrem Unmuthe verblenden zu lassen, und Sie werden gestehen müssen, daß, wenn Sie die Reihe der Ihnen bekannten jungen Damen im Geiste durchgehen, Wenige ihr gleichkommen dürften. Ob Sie nun ihr schönes, volles Haar, ihre schlanke Gestalt, den anmuthigen Ausdruck ihrer Züge, ihr bezauberndes Lächeln, die wunderbare Tiefe ihres Blickes, kurz die ganze Schönheit ihrer Erscheinung, oder ihre Bildung und die natürliche Grazie ihres Benehmens in Vergleichung ziehen wollen – nirgends, Mimi, wird Ihnen ein so durchaus vollkommenes Bild von echter Frauenschönheit entgegentreten – nirgends, wohin Sie auch blicken mögen.“
„Am allerwenigsten im Spiegel. Ich weiß es ja; ich bin nicht blind. Aber ich möchte schöner und anziehender sein als sie. Ich möchte es sein.“
„Dann seien Sie vor Allem gerechter, und gestehen Sie ein, daß es ein Glück sein muß, eine solche Frau zu gewinnen, deren häuslicher Sinn, deren Thatkraft, deren Wissen und Denken eine Heimath zu schaffen im Stande sind, in der es Jedem wohl werden muß. Hilda’s Herz ist von einer so unerschöpflichen Güte, von einem so edlen Pflichtgefühl und so rührender Treue erfüllt, daß, wer darinnen aufgenommen wird, sich wirklich vorkommen muß, als sei er im Himmel.“
Verwundert blickte Mimi zu Meinhard auf, der mit begeisterter Wärme gesprochen hatte, und voll schlauer Schalkhaftigkeit fragte sie dann:
„Ja, aber warum heirathen Sie sie denn selbst nicht, Onkel Meinhard?“
Die Frage trieb ihm eine starke Röthe auf die Stirn; ein Zug des Schmerzes trat in sein Antlitz, und das Feuer in seinen Augen erlosch.
„Es kommt bei den meisten Dingen auf Erden nicht blos auf unseren Willen an, das werden Sie auch noch erfahren,“ sagte er dumpf.
„O, das hab’ ich schon erfahren,“ fiel sie altklug ein und machte ein sehr betrübtes Gesicht. Dann hängte sie sich vertraulicher an seinen Arm und suchte mit ihm Schritt zu halten. „Ich habe schon lange gedacht, es müßte zwischen Hilda und Ihnen etwas sein. Sie sehen sie immer wie verklärt an – man kann es in Ihren Augen lesen, wie gern Sie in ihrer Gesellschaft sind. Aber ich habe bisher immer fest und sicher geglaubt, daß auch die Tante gar viel auf Sie halte, und nun – also auch Sie sind hintergangen worden, Onkel Meinhard?“
„O nein, niemals.“
„Aber Tante Hilda hat Sie doch angezogen – nicht wahr? Und dann ohne Weiteres fallen lassen. Ich begreife nur nicht, wie Sie da noch für sie schwärmen können – das begreife ich wirklich nicht. Wer falsch gegen mich war, den kann ich nur hassen – o, aus ganzer Seele und unversöhnlich hassen!“
„Aber es war auch Niemand falsch gegen mich. Die Anziehungskraft ist keine Willensthätigkeit, sondern gleicht nur der Eigenschaft des Magnets, und ebenso unbewußt übt ein schönes, edles Frauenbild seinen Zauber, dem man sich nicht entziehen kann.“
„Das ist’s ja eben, was mich grämt. Man kann gar nicht zur Geltung kommen neben ihr. Wenn es nur ein Mittel gäbe, die Männer vor dem Einfluß dieses bösen Zaubers zu bewahren, ein Mittel gegen ihre Verlockungskünste! O, diese Sirene! Wissen Sie was, Onkel Meinhard? Sie brauchten gar nicht auf Hilda zu hören, sie gar nicht anzusehen – dann fiele auch der Vergleich zwischen Tante Hilda und mir nicht so zu meinen Ungunsten aus, und Sie und Andere fänden mich vielleicht gar nicht so häßlich.“
[154] Meinhard mußte über diese hastig hervorgesprudelten Selbstanklagen lächeln, wie tief und düster sein Ernst auch war.
„Nun,“ meinte er, „so schlimm ist es denn doch nicht.“
„O ja, o ja – ich weiß es.“
„Sie verfallen jetzt in den umgekehrten Fehler und thun sich selbst Unrecht. Mir ist es wohl gestattet, Ihnen zu sagen, daß Sie ein liebes, hübsches, herziges Mädchen sind.“
„Wirklich?“ fragte sie gespannt zu ihm aufblickend. „Machen Sie mir aber auch keine Complimente, wie – wie Andere, die mir dasselbe sagen?“
„Gewiß nicht. Was Ihnen an Gleichmaß und Selbstbeherrschung noch mangelt, das werden die Jahre bringen. Sie sind ja noch so jung, aber auch die Jugend ist nur ein Reiz mehr.“
„Ich mißfalle Ihnen also nicht, Onkel Meinhard? Die Hand auf’s Herz! Volle Wahrheit!“
„So wenig, daß ich vielleicht sogar Gefahr liefe – wenn ich jünger wäre.“ In sein Lächeln mischte sich ein Zug von Bitterkeit.
„O, aus dem Alter mache ich mir gar nichts,“ versicherte sie treuherzig. „Wir zwei sind Zurückgesetzte, Uebersehene, Ausgestoßene; wir gehören als Leidensgenossen zusammen; wir müssen einen Bund schließen und uns an den Andern rächen. Wissen Sie was, Onkel Meinhard? – das Beste ist, wir machen’s wie die Andern.“
„Nun?“ fragte er gespannt.
„Wir heirathen einander,“ sagte sie ganz ernsthaft.
Dieser kindische Vorschlag des lebhaften kleinen Sprudelkopfes machte ihn abermals lächeln; zu anderer Zeit hätte ihn Meinhard wohl mit Scherz aufgenommen und eine lustige Neckerei daran geknüpft, jetzt aber bewegte er nur leise den Kopf.
„Wenn ich nicht glauben soll, daß Sie auch nur ein Schmeichler sind, der mir allerlei in den Kopf setzen wollte,“ meinte Mimi in ihrer eilfertigen Weise, „so dürfen Sie jetzt nicht zurücktreten. Es wird so hübsch sein, wenn wir gleichfalls unsere Verlobung anzeigen. Und ich werde ein großes Medaillon tragen mit einem verschlungenen B und E darauf und Ihrem Portrait darin, und das werde ich alle Augenblicke hervorziehen und küssen, wie es Lina Gertenau macht, damit Alle sehen, wie lieb ich Sie habe und wie glücklich ich bin. – Wann soll es denn sein?“
„Allerdings nicht so auf der Stelle, da ich noch heute abreise.“
„Sie reisen ab? Wie ungeschickt! O, wie verdrießlich! Aber Sie kommen zurück – nicht wahr, bald?“
„Kommen Sie mit hinein!“ forderte er seine Begleiterin, welche stehen geblieben war, als sie vor dem Schlosse anlangten, zum Eintritt auf.
„Nein, ich will nicht in’s Haus; ich will Niemandem begegnen,“ erklärte sie, der Thür den Rücken wendend, faßte aber dabei seine Hand und sah ihm ernst bittend in die Augen, indem sie von Neuem in ihn drang. „Also wenn Sie zurückkommen! Sie versprechen mir’s? Abgemacht? Topp! Ich halte Sie beim Worte. Vergessen Sie’s nicht! Sobald Sie zurückkommen, – bitte, bitte, lieber, guter Onkel Meinhard.“
„Was thu’ ich aber, wenn sich der kleine Kopf inzwischen eines Andern besonnen hat?“ scherzte er, um über die Pein der Situation schneller hinwegzukommen.
„O – ich brauche keine Bedenkzeit! Vergessen Sie das Medaillon nicht!“
Meinhard winkte ihr mit der Hand freundlich einen Abschiedsgruß zu, während sie die Stufen hinunterschritt. Er ging in’s Haus. Das wohlwollende Lächeln schwand dabei langsam aus seinen Zügen, über die ein tiefer, kummervoller Ernst seinen Schleier zog. Im Corridore blieb er stehen, ehe er Jemand suchte, der ihm Auskunft geben könnte, ob die Herrschaft zu Hause, ob Fräulein Hilda – – Er mußte sich erst fassen, sich in die neue Lage hineinfinden.
Er stand im Begriffe zu scheiden, wieder wie vor fünfzehn Jahren mit der Ueberzeugung, daß es für immer sei. Dieser Besuch war ein Abschiedsbesuch – von Hilda wollte er sich verabschieden. Damals – als er vor fünfzehn Jahren schied – hatte er den Tod im Herzen zu tragen vermeint, und doch war er am Leben geblieben, war wiedergekommen und hatte sogar eine lange Zeit hindurch sich wohl gefühlt. Es war nicht die volle Zufriedenheit und doch – eine Art von Glück gewesen.
Nun hatte auch das ein Ende gefunden. Diesmal war es nicht ein wildes Auflodern der Verzweiflung, das ihn von dannen trieb; er war älter, ruhiger geworden, aber was er empfand, wog doch nicht um ein Quentchen leichter als dazumal, nur daß er nicht mehr die Vollkraft der Jugend hatte, es zu tragen, und daß sein gereifter Verstand ihm klar die Zukunft zeigte, die seiner harrte, eine öde Zukunft ohne Liebe, ohne Glück. Nach der ersten Flucht hatte ihn sein Lebensweg gleichsam in einem Bogen zur Ausgangsstelle zurückgeführt, aber aus der Selbstverbannung, in welche er jetzt zu gehen im Begriffe stand, gab es keine Wiederkehr. Die Jugend ist nie hoffnungslos; denn das Leben liegt ja noch freundlich winkend vor ihr, aber was der Mensch in späteren Jahren verliert, ach, dafür giebt es keinen Ersatz mehr.
Ungeliebt neben Derjenigen hergehen zu müssen, deren Bild er, soweit er zurückdenken konnte, stets in gleicher Verehrung und Treue im Herzen getragen, das war ihm einst als eine Unmöglichkeit erschienen, bis er dann erkannte, daß es ihm noch weit schwerer fiel, das theure Mädchen zu meiden. So hatte er denn wieder ihre Nähe gesucht, und resignirt nahm er mit dem bescheidenen Loose vorlieb, das ihm das Schicksal vorbehalten hatte. Er sah sie; er trank den Sonnenstrahl aus ihren Augen; er durfte seine Gedanken mit ihr austauschen, einen regen Verkehr mit ihrem Hause unterhalten und das milde Behagen einer herzlichen Freundschaft genießen; er hatte seinen stürmischen Willen beherrschen gelernt und ihn zur Genügsamkeit erzogen, um nicht auch noch dieses bescheidene Maß von Seelenfrieden einzubüßen. Und manchmal war sogar ein Freudenstrahl in dieses stille Leben gefallen. Ein Ton ihrer Stimme, ein Druck ihrer Hand, ein klarer, beseligender Blick ihres Auges weckten dann die längst begrabenen Hoffnungen aus dem Scheintode auf, und er konnte für Momente, für Stunden sogar sich dem lieblichen Traume hingeben, daß in der Tiefe dieses keuschen, ruhigen Mädchenherzens doch eine Stimme lauter für ihn, als für jeden Anderen spreche; er konnte sich in dem beglückenden süßen Gedanken sonnen, daß er Hilda mehr sei, als blos der Jugendfreund, der Vertraute, der Rathgeber.
Kein Freier war ihm vorgezogen worden, und es hatte den Anschein, daß die Hingebung für die Familie Hilda’s Leben ganz und gar ausfüllen sollte, vielleicht kam aber einmal doch eine Aenderung in diese kleine Welt; ein Frühlingshauch zog durch die eingerissene Wand und dann – stand er nahe genug, um die Blüthen auf deren Erschließen er so lange in Geduld und Treue geharrt, in seinem Busen aufzufangen.
So war er geblieben, auf alle Begünstigungen verzichtend, die sich für seine materielle Existenz boten, ein pflichteifriger Diener des Staats in beschränkter Stellung und ein stiller Gast im stillen Hause.
Er war nicht ehrgeizig, aber er hätte es sein können um einen Preis, um sie, um die Geliebte. Für sie hätte er sich emporschwingen mögen zu hervorragender Stellung; er hätte den Ehrgeiz für sie gehabt, doch hier, wo derselbe ihn nur aus ihrer Nähe entfernen mußte, unterdrückte er ihn – nur für sie.
Dann war eine Zeit gekommen, wo der alte Liebestraum in ihm erwacht war, und vorsichtig, um ihn nicht wieder zu zerstören, hatte er gewartet und langsam mit zaghaft gewordener Hand hinwegzuräumen gesucht, was noch zwischen ihm und Hilda lag. Der Zufall schien ihm die Hand zu bieten und hatte seine Absichten gefördert. Da, in dem Momente, wo er endlich das Glück zu fassen vermeinte, war er von neuem zurückgeschleudert in’s Hoffnungslose, wie damals, nur weit bitterer noch; seine Hingebung, seine Treue hatten Zorn und Verachtung geerntet. Die Liebe hatte er gesucht, und die Mißdeutung war ihm begegnet.
So hatte der Traum abermals ein jähes Ende gefunden, und nicht genug an der Enttäuschung – ein Anderer, Glücklicherer war ihm zuvorgekommen und hatte spielend die aufgebrochene Blüthe gepflückt mit der kecken Hand der Jugend, die gewinnt, weil sie wagt.
Nun war es für immer vorbei.
Hier gab es keine zweite Rückkehr mehr. Was er heute erfahren, bestätigte ihm nur, daß er richtig gehandelt, als er gestern nach der so schroff abgeschlossenen Zusammenkunft mit Hilda seinen Entschluß gefaßt und die Brücke hinter sich abgebrochen. Die neue Erfahrung war tief schmerzlich, aber nicht Zorn und Scham rief sie diesmal in ihm hervor, nein, nur Trauer und Mitleid für Hilda; tief beklagte er ihre Wahl, in der er kein [155] Glück für sie voraussehen konnte, für sie, deren seelische Bedürfnisse und Gemüthsregungen er jahrelang zu seinem eingehendsten Studium gemacht, so daß er es genau zu kennen glaubte.
Er erwog, nachdem seine Betrachtungen sich einmal dieser Seite zugewendet, still bei sich, ob er nicht warnend seine Stimme erheben müsse, aber man hatte ihm ja mit der Freundschaft das Recht dazu gekündigt.
Das Erscheinen des Kammermädchens setzte seinen Betrachtungen ein Ziel. Mit ruhiger Freundlichkeit nahm er die Mittheilung entgegen, daß er Niemand zu Hause finde außer dem Fräulein Hilda, welche sich im Salon befinde. Bevor er jedoch dort eintrat, zögerte er noch einen Augenblick an der Thür. Dann aber hatte der feste Wille des Mannes den Ausdruck der Bekümmerniß aus seinen Zügen hinweggewischt, und seine Stimme – das fühlte er – hatte wieder Festigkeit gewonnen. Die tiefe Leidenschaft, die er sein ganzes Leben hindurch im Zaume zu halten gewußt, sollte er sie in diesem letzten Momente des Kampfes, jetzt, wo er im Begriffe stand, für immer von Hilda zu scheiden – sollte er sie jetzt nicht zu bezwingen vermögen? Er war ein Mann – und er war seiner sicher. Ruhig setzte er den Fuß auf die Schwelle des Salons.
In der nächsten Secunde stand er Hilda gegenüber.
Sie war nicht mehr in der unnatürlichen Erregung des vergangenen Tages. In Folge der nervösen Ueberreizung und vielleicht auch ein wenig des Champagnergenusses, dem sie über ihre Gewohnheit zugesprochen, war sie am Abend in einen tiefen schweren Schlaf verfallen, der sich bis spät in den Morgen hinein verlängert hatte. Bei ihrem Erwachen zeigte sich ihr alles in einem nüchternen Lichte, das unbarmherzig alle Täuschungen zerstörte.
Was hatte sie gestern gethan? Ach, um ihr Leben hatte sie wie ein Spieler gewürfelt, ihr Wort verpfändet, und nun war sie die Braut eines Mannes, den sie nicht liebte, der um soviel jünger war als sie, der ihr nicht einmal jene Achtung abrang, die man dem ernsten Wollen, dem festen Charakter auch eines Jüngeren zollt, ja für den sie beinahe etwas wie die Nachsicht eines mütterlichen Wohlwollens empfand. Wie war es denn nur gekommen, daß sie sich so rasch hatte entschließen können, ihm – gerade ihm ihre Hand zu versprechen?
Wilhelm! – der Gedanke an ihren Bruder blitzte in ihr auf, und damit gewann alles wieder Schluß und inneren Zusammenhang. Einer helfenden Hand für den kranken Bruder im Jägerhause hatte sie bedurft, und die hatte sie gefunden. Das erklärte alles; das erklärte ihr Opfer. Wilhelm! Schnell zu ihm! Schon am frühen Morgen hätte sie im Jägerhause sein sollen, und nun war der Vormittag schon so weit vorgerückt. Sie mußte mit Edwin alles ordnen; er konnte ihr seine Hülfe nicht versagen; denn sie war – sie erschrak bei dem Gedanken – sie war seine Braut.
Da vernahm sie Schritte, Männerschritte, an ihrer Thür. Das konnte nur Edwin sein. Sie trat zur Thür und – sah Meinhard in’s bleiche, ernste Gesicht.
Betroffen wich sie zurück. Sie hatte das Gefühl eines Kindes, das auf unrechten Wegen ertappt wurde, und in Scham und Verlegenheit schlug sie den Blick nieder vor Meinhard’s strengen Augen, in denen sie nur zu deutlich die bange, schmerzliche Frage las: „Was hast du gethan?“ – dieselbe Frage, die heute unerbittlich all ihre Gedanken kreuzte. Aber dann durchzuckte sie wieder der Gedanke: Er – ganz allein er trägt die Verantwortung für Alles, was geschehen.
„Lassen Sie mich mit einem Friedensworte beginnen!“ sagte Meinhard ruhig, indem er näher trat und seinen Hut ablegte, „lassen Sie mich Ihnen meinen – Glückwunsch darbringen! Nicht in dem gewöhnlichen Sinne geschieht es, sondern es ist wirklich mein inniger Wunsch, daß Sie Ihr Glück in der soeben geschlossenen Verbindung finden mögen, weil es mich betrüben würde, Sie nicht glücklich zu wissen.“
„Die Nachricht muß ja Flügel gehabt haben, daß sie schon zu Ihnen gedrungen und Sie zu so ungewöhnlich früher Zeit hier erscheinen,“ entgegnete Hilda, welcher der tiefere Sinn seiner Worte nicht entgangen war; sie zwang sich, eine spöttische Mißbilligung ihrer Wahl aus seinen Worten herauszuhören, um sich gegen ihre eigene Beklommenheit mit allem Stolze wappnen zu können. Wollte er ihre letzte Begegnung im Amtshause vergessen – gut, sie ging darüber nicht hinweg. „Uebrigens kann ich für Ihre Theilnahme kaum danken,“ sagte sie. „Glück oder Unglück, was mich auch treffen wird, ich beanspruche es ja ganz allein für mich. Was die Andern angeht, so wird nur in Betracht kommen, daß von jetzt ab mein Wille eine unbedingte Berücksichtigung finden wird, weil mir die Mittel zu Gebote stehen, ihm Nachdruck zu verleihen.“
„War das der einzige Beweggrund zu Ihrem Entschlusse?“ fragte er gespannt.
Sie senkte trotzig die Lider vor dem Blick, der sie bis auf den Grund der Seele durchforschen zu wollen schien. Wie dreist war es von Meinhard, eine solche Frage an sie zu richten! Sie verdiente keine Antwort.
„Ich bedaure,“ sagte sie dann, „daß augenblicklich mein Bräutigam nicht hier ist, um sich mit Ihnen über das Recht aus einander zu setzen, welches Sie in so ausgedehntem Maße auf mein Vertrauen beanspruchen. Er ist in der Stadt. Uebrigens dürfen Sie ihn heute noch zur Regelung meiner finanziellen Angelegenheiten erwarten.“
Meinhard richtete sich kalt auf.
„Dazu bedarf es keines Mittelsmannes, Fräulein Hilda,“ er nahm mit großer Ruhe aus der Brusttasche dasselbe Paket, das er ihr gestern vorenthalten.
„Hier!“ sagte er. „Ihnen dies zu überreichen ist der Zweck meines Kommens.“
„Sie bringen mir das Geld?“ rief Hilda erstaunt und nahm das Paket aus seiner Hand; sie zwang sich zu einem kalten Ton, indem sie fortfuhr: „Sie kommen wohl aus Furcht vor den Folgen Ihrer Weigerung?“
„Möglich. Aber nicht vor denen, die mich treffen könnten.“
Er betonte das so sonderbar. Bestürzt sah sie zu ihm auf. Was wollte er damit sagen? Wußte er – –? Langsam, um ihre Unruhe zu verbergen, ging sie auf das kleine Sopha zwischen den Fenstern zu und ließ sich darauf nieder. Noch immer drückte sie das Paket fest und leidenschaftlich an sich, als könnte es ihr wieder entrissen werden.
„Haben Sie Dank, daß Sie kamen!“ sagte sie, „Sie thaten gut daran, meinem Bevollmächtigten zuvorzukommen.“
„Ihrem Bevollmächtigten zuvorzukommen? Das war gar nicht meine Absicht, namentlich wenn Sie unter Ihrem Bevollmächtigten Herrn von Tonner verstehen. Die Nachricht von Ihrer Verlobung erhielt ich soeben erst hier. Hätte ich darum früher gewußt und um Herrn von Tonner’s Anwesenheit in der Stadt, so wäre mir der Weg hierheraus erspart worden und –“ erst nach einer kleinen Pause setzte er leise, aber mit einem Anklange von Bitterkeit hinzu – „diese Begegnung. Ich hatte keinen Anlaß, dieselbe zu suchen, obwohl es mir leid gethan, daß Sie gestern in Unwillen von mir schieden. Ich hätte meinen heutigen Besuch sogar vermieden, weil ich der Meinung war, daß er Ihnen nicht erwünscht kommen dürfte. Darum wollte ich nur Franz aufsuchen und in seine Hände das mir anvertraute Gut zurücklegen, dessen Verwaltung ich so wie so nicht mehr zu führen in der Lage bin, selbst wenn die räumliche Entfernung unserer künftigen Wohnsitze nicht allzu viele Unzukömmlichkeiten mit sich brächte.“
Abermals trat eine kurze peinliche Pause ein. „Unsere künftigen Wohnsitze“ hatte er gesagt. Das Wort fiel, wie weckend, in Hilda’s Ohr. So wollte er fort von hier? Sie fühlte, wie die Kälte ihrer Empfindung plötzlich wich; bei dem Gedanken, daß er scheiden wollte, überfiel sie ein unnennbares Bangen; es war etwas in ihr, das sie einer Schuld zieh, einer Schuld des Herzens am Herzen, etwas, das sie fragte: Hast du ihm doch vielleicht Unrecht gethan?
Schweigend stand er ihr gegenüber; sie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er griff nach seinem Hute; er wollte gehen – aber sein Herz war mächtiger als sein Stolz; so that er denn einige Schritte auf Hilda zu und bot ihr freundlich und ernst die Hand:
„Sie hatten gestern Recht, Hilda; ich durfte Ihnen die freie Verfügung über Ihr Eigenthum nicht schmälern, aber es giebt im Leben Lagen, wo man einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß, wo jede andere Entscheidung ein unsühnbares Unrecht gegen dasselbe ist. Ich hätte Ihnen vertrauen sollen, aber man irrt oft bei den besten Absichten. Ich hoffe, diese Erklärung genügt, um uns friedlich scheiden zu lassen. Hilda, möge Ihnen alles, alles zum Glück ausgehen, und grüßen Sie mir recht herzlich Ihren Bruder! Gern hätte ich ihn noch einmal gesehen, aber meine Abreise drängt, und er kommt wohl bald einmal nach Wien.“
[156] „Sie gehen fort?“ rief sie verwirrt und erhob sich plötzlich mit einer so heftigen Bewegung, daß das Paket von ihrem Schooße zur Erde fiel.
War sie schon weicher geworden bei den ersten Worten seiner Abbitte, so hatte sie jetzt über den einen Gedanken: er verläßt uns! alles vergessen, was zwischen ihr und ihm lag. Er, der alte treue Freund, der Gespiele ihrer Jugend, er war da, um Abschied von ihr zu nehmen. So unvorbereitet, so plötzlich! War es denn möglich? Und es stürmte in ihr – sie kannte sich selbst nicht mehr.
„Heute noch,“ beantwortete er ihre Frage, indem er das Paket aufhob und auf den Tisch legte. „Ich habe mich nach reiflicher Ueberlegung denn doch für den Antrag des Ministers entschlossen. Er drängt, und so habe ich die telegraphisch geführten Verhandlungen mit der Zusage abgeschlossen, noch diesen Abend zu reisen. Meine Geschäfte sind bereits übergeben, und mein kleines Hauswesen kann später leicht aufgelöst werden. Die Raschheit erleichtert mir den Abschied.“
„Wann haben Sie denn diesen Entschluß gefaßt, so schnell, so ganz unvermuthet?“
„Gestern. Und es war, wie ich sagen muß, ein guter Genius, der mir ihn eingab.“
„Ein guter Genius?“ fragte sie. Sie verstand, daß sie es war, welche ihn forttrieb, und eine schwere Last fiel ihr auf’s Herz. „Aber Sie sagten doch, nur ein Wunder könne –“
Doch da stockte sie schon wieder.
„Ein Wunder!“ wiederholte er mit eigenthümlicher Betonung. „Ja, ein Wunder,“ und wehmüthig lächelnd sah er vor sich hin. Er nickte und seufzte in sich hinein.
„Nur unter gewissen Verhältnissen konnte mir mein Verbleiben wünschenswerth erscheinen – aber man ändert oft schnell seine Entschlüsse. Nehmen Sie an, ich sei plötzlich ehrgeizig geworden – das ist ja die letzte Leidenschaft, welche sich bei dem alternden Manne einstellt.“
„Sie können uns verlassen?“ fragte sie vorwurfsvoll.
„Gehen Sie denn nicht auch?“ fragte er zurück.
Hülflos sah sie ihn an.
Das Schmerzliche der Situation trat lebhaft vor ihre Seele. Jetzt wußte sie wieder, was geschehen war, und wie es sich Ring an Ring gefügt. Der Schreck krampfte ihr die Brust zusammen; sie glaubte vergehen oder bei Meinhard Zuflucht suchen zu müssen.
Zitternd faltete sie die Hände und preßte sie gegen die Brust.
„O, was hab’ ich Ihnen gethan!“ stammelte sie. „Und Sie sind so gut – so gut, und lassen es mich nicht mit einem einzigen Worte empfinden. Sie hätten ein Recht, mich zu verachten, mich bis in den Staub zu demüthigen, daß ich Sie wie eine Wahnsinnige beleidigte. Ich weiß, daß Sie mir niemals verzeihen können –“
„Hilda, machen Sie mir den Abschied nicht schwer!“ unterbrach er sie. „Hätte ich einen Groll gegen Sie gehegt, so würde ich hier nicht eingetreten sein und nicht so gesprochen haben, wie ich es that. Noch einmal alles Gute Ihnen – –“
Er hielt inne.
Er vermochte nicht länger in die thränenerfüllten, flehend auf ihn gerichteten Augen zu blicken, vor denen er seine ganze gewaltsame Fassung schwinden fühlte.
„Sagen Sie mir ein kurzes herzliches Lebewohl!“ bat er, und als sie schwieg, da ergriff er ihre immer noch gefalteten Hände – sein Gefühl übermannte ihn; er schlang den Arm um sie, zog sie an sich und küßte ihre Stirn.
„So viel wird ja dem Freunde nicht verwehrt sein,“ flüsterte er mit bebender Stimme. „Lebe wohl, Hilda!“
[169] Meinhard wandte sich zum Gehen, aber noch ruhte seine Hand in der ihren – eine unwiderstehliche Macht hielt ihn zurück.
„Hilda!“
Wieder neigte er sich zu ihr herab; sie hob den Kopf leise empor, und diesmal berührte sein Mund nicht Hilda’s Stirn, sondern die ihm dargereichten Lippen. Es war ein inniger, ein unsäglich schmerzlicher Kuß. Dann riß er sich los; er empfand etwas, als sollte sein Herz stille stehen; er fühlte, daß er nicht länger verweilen dürfe, wenn er Herr seiner inneren Bewegung bleiben wollte – die Augen voll Thränen eilte er hinweg.
Hilda war einer Ohnmacht nahe. Sie wollte Meinhard’s Namen rufen, aber die Kraft versagte ihr. Es war als habe ein feuriger Strahl den Schleier vernichtet, der ihren Blick bisher umhüllt hatte. Selig und doch zugleich entsetzt erwachte sie wie in einer andern Welt.
Da stand alles in einer schattenlosen, blendenden Klarheit vor ihrer Seele; all ihr Denken und Empfinden, der Inhalt ihres ganzen Lebens drängte sich in einen einzigen Augenblick zusammen. Ihr eigenes Innere lag wie von einem Zauberlichte erhellt da. Ein Bild nur stand vor ihr – ein einziges. Sie wußte jetzt, daß sie Niemand auf Erden hatte, der ihr theurer war; sie wußte, daß sie mit ganzer Seele ihm gehörte, daß alle ihre Gedanken nur auf ihn gerichtet waren, daß jeder Schlag ihres Herzens zitternd nach ihm rief – – und in dem Momente, wo in ihr diese Erkenntniß aufflammte, ging er, mit dem ihr ganzes Leben seit der Kindheit unaufhörlich verflochten war; er ging, unwiderruflich von ihr getrennt durch ihre eigene Schuld.
Noch sah sie sein mildes, liebevolles Auge; noch fühlte sie seine brennenden Lippen, den Arm, der sie so leidenschaftlich umschlang. – –
„Bruno!“
Sie war allein! – allein! – –
Eine Weile war vergangen.
Hilda, von der schmerzlichen Schwere des eben Erlebten überwältigt, war in halber Bewußtlosigkeit auf’s Sopha gesunken. Ihre Gedanken hatten dämmernd zwischen Wachen und Träumen geschwebt. Da war durch den Spalt der offengebliebenen Thür Bußbuß hereingeschlichen; der verscheuchte Liebling strich zuerst leise schnurrend an der Herrin hin; dann erst, als er sich auf dem in letzter Zeit so gefährlich gewordenen Gebiete von keinerlei Angriff bedroht sah, war er zu der Ruhenden hinaufgesprungen und hatte es sich wohl gefallen lassen, daß sich ihr müder Kopf in sein zusammengerolltes weiches Fell drückte.
Heimliche Stille webte in dem traulichen Gemache.
Nun aber klopfte es plötzlich leise an’s Fenster. Es klang als flattere ein verirrter Vogel gegen die Scheiben, als suche er, halb erstarrt in der Sturmnacht, bei seinen Feinden, den Menschen, Schutz gegen das Wüthen der Elemente. Wem konnte Hilda ein Obdach gewähren? War sie nicht selbst heimathlos, ohne Freund und Hülfe?
Es klopfte noch einmal an’s Fenster – leise, ganz leise; dann ward es wieder still. Aber nein, Schritte wurden vernehmbar, und ein altes runzliges Gesicht drückte sich zaghaft an die Glasthür. Hilda erkannte Trine. Diese hielt vorsichtig Umschau in dem Raume, ehe sie eintrat, und auch dann zögerte sie noch und winkte ihrer Herrin nur verstohlen hinaus.
„Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte sie leise.
Erschrocken fuhr Hilda auf.
Die von den Eindrücken der jüngsten Stunden in den Hintergrund gedrängte Erinnerung erwachte wieder. Sie hatte eine Zusage einzulösen, und da stand auch schon der Bote, der sie daran mahnte – die Alte aus dem Jägerhause.
„Wilhelm!“ dachte sie bei sich.
Sie griff nach dem Paket und steckte es rasch zu sich.
„Er läßt sagen, er wolle nicht mehr warten,“ richtete Trine ihren Auftrag aus, und dann fügte sie noch die Bemerkung hinzu: „Der muß es auch eilig haben. Wird wohl Zeit sein, daß er fortkommt, aber auch der junge Herr ist ganz ungeduldig; er will mit und thut recht verwunderlich. Es wird wohl gut sein, wenn das gnädige Fräulein hinauskommen.“
„Ich bin im Augenblick bereit.“
Nur noch Hut und Plaid holte Hilda vom Ständer im Vorhause, während Trine draußen im Garten wartete, und dann machten sich Beide auf den Weg, den sie in der gewohnten Weise über die Baumhalde hin abkürzten.
Der Nebel lag noch über Feld und Wald, aber er war dünner geworden, und das gab der Natur einen eigenartigen, melancholischen Reiz – Hilda achtete nicht darauf. Eiligen Fußes schritt sie über das feuchte Gras, das ihre Schuhe streifte, und über das Wassergeriesel hinweg, welches im Walde den Pfad stellenweise fast ungangbar machte. Ihre Gedanken waren wieder bei Meinhard; mit selbstquälerischer Schärfe suchten sie jeden Zug [170] in dem Wesen des Mannes hervor, der ihr sein Angedenken nur noch theurer, seinen Verlust nur noch schmerzlicher fühlbar machen mußte.
Jetzt erst erkannte sie, was er ihr war, was sie an ihm verloren hatte; sie sollte ihn nicht mehr sehen, ihm ihre großen und kleinen Sorgen nicht mehr anvertrauen, ihre Gedanken nicht mehr mit ihm austauschen dürfen? Unentbehrlich war er ihr geworden, und nun, wo diese Erkenntniß so klar vor ihren Augen stand, nun mußte sie ihn entbehren lernen! –
„Hilda, nun doch, endlich, endlich!“ tönte es ihr entgegen. „Ich habe Dich sehnlich erwartet, wie einen Engel vom Himmel.“
Ueberrascht sah sie auf. Das Ziel, an das sie gar nicht mehr gedacht, war erreicht. Sie stand mit der alten Trine vor dem Jägerhause.
Sie traute ihren Augen kaum, als sie sah, welch günstige Veränderung mit dem kranken Bruder über Nacht vor sich gegangen war. So hatte doch der Besuch des Arztes wohlthätig gewirkt. Gestern hatte sie Wilhelm apathisch und in bedenklicher Schwäche gefunden, und heute stand er mit der Miene eines Lebensmuthigen, die Wangen frisch geröthet, vollkommen angekleidet unter der Thür des Hauses, wo er seine Cigarre rauchte und nach der Erwarteten Ausschau hielt. Dem Anschein nach war er ganz wohlauf, ja sogar heiter. Er streckte der Schwester die Hände entgegen und zog sie eilfertig in’s Haus.
„Gut, daß Du da bist!“ sagte er, die Stubenthür aufstoßend. „Hoffentlich ist alles in Ordnung.“
„Ja, ich bringe das Geld.“
„Siehst Du, ich wußte es ja – gerade ihr Ausbleiben war ein gutes Zeichen.“
Diese Worte galten Schöpf, der mit dem Jäger Halder bei Cigarren, Wein und Karten am Tische saß. Der Jäger, den der alte Schlaukopf im Laufe der letzten Tage ganz für sich gewonnen, lachte noch vor Ergötzen über das Kunststück, das sich der Meister soeben hatte absehen lassen. Hilda’s Eintritt machte der lauten Unterhaltung der Beiden ein Ende; sie erhoben sich ehrerbietig, und Schöpf ließ mit einer graziösen Taschenspielerbewegung, während er grüßte, die Karten verschwinden.
„Ah, das laß ich mir gefallen,“ sagte er mit widerlich freundlichem Grinsen. „Sehen Sie, mein Fräulein, es geht alles. Man muß nur die Daumschrauben richtig ansetzen. Die alte peinliche Gerichtsordnung war klug genug, indem sie nicht alles dem Ehrgefühl der Herren Inculpaten oder dem untrüglichen Scharfsinn der hohen Geschwornenbank anheimstellte, wie heutzutage. Unter den Daumschrauben macht man nicht so leicht einen Hokuspokus. Ich bin für die Daumschrauben.“
„Auch ich – wenigstens für die, welche man Dir anlegen würde,“ fügte Wilhelm hinzu.
„Die würden merkwürdiger Weise Dich, mein Söhnchen, am meisten drücken,“ entgegnete Schöpf und sich zu Hilda wendend, sagte er: „Wir lieben heute unsere kleinen Scherze, mein gnädiges Fräulein! Bill ist wieder bei Laune und recht gesprächig. Er hatte offenbar Witterung – ein gutes Zeichen, daß sich der alte Instinct nun wieder regt.“
„Du fühlst Dich besser?“ fragte Hilda ihren Bruder theilnehmend.
„Besser? Ganz gut! Ein Bischen Müdigkeit noch, aber das ist alles, und ich wäre, weiß Gott, schon davongegangen, säße mein Kerkermeister hier“ – er deutete auf den Taschenspieler – „mir nicht jeden Augenblick auf den Fersen. Hoffentlich werden wir nicht zeitlebens wie Galeerensclaven an einander gekettet sein. Man sagt, Niemand hasse sich tiefer als die Beiden, die solch ein zusammengeschmiedetes Paar bilden, und ich glaube daran. Ich fühle etwas davon.“
„O, sehr schmeichelhaft!“ ließ Schöpf, sich verbeugend, einfließen.
„Kein Compliment, nur die reine Wahrheit! Daß ich doch schon fort wäre! Du glaubst nicht, Hilda, wie sehr ich mich sehne, irgendwo vom A anzufangen. Ich habe mir schon etwas ausgedacht. Ich gehe zuerst – Aber nein,“ unterbrach er sich und warf seinem Schwiegervater einen mißtrauischen Blick zu, „es braucht nicht Jedermann zu wissen, wo ich gelegentlich bequem zu finden wäre. Ich werde Dir schreiben, Schwester – alles ausführlich. Ja, ich fühle neue Lebenskraft in mir, und mein Fuß ist auch wieder heil und kräftig; ich bin gesund, wie ein Fisch im Wasser, als ob unser alter Doctor Schöller an mir ein Wunder gewirkt hätte mit der Mixtur, die er hier ließ. Ich habe sie übrigens gar nicht genommen und bin doch gesund geworden. Hätte ich das Zeug getrunken, schriebe man es natürlich der ärztlichen Weisheit zu. Der gute alte Mann wird staunen. Was er für ein bedenkliches Gesicht schnitt, wie erschrocken er war! Nur von Vorsicht und großer Schonung sprach er. Ich glaube, er hätte mich trotz des Herbstes noch in ein Modebad geschickt, wenn das ein Recept für mich wäre. Aber es war eigentlich recht überflüssig und ein Bischen voreilig, Hilda, daß wir ihn in’s Vertrauen zogen.“
„Das meine ich auch,“ äußerte Schöpf mürrisch. „Man weiß nie, bei welchem Kamin es hereinraucht.“
„Nein,“ meinte Wilhelm, „Verrath droht uns von dieser Seite gewiß nicht. Höchstens daß es ihm selbst ein kaltes Fieber zuzieht. Der arme Doctor!“
„Der Henker hole ihn! Schleicht ohnehin so allerlei spürnasiges Gesindel hier umher – Horch, was ist das?“ rief Schöpf, sich plötzlich unterbrechend, mit gedämpfter Stimme und Halder ängstlich am Arme fassend. „Ist das nicht Ihr Köter, der da draußen bellt?“
„Meiner Treu!“ erwiderte der Jäger. „Ich dachte, Sie machten es selber zum Spaß.“
„Teufel auch! Gehen Sie doch hinaus und passen Sie ein wenig auf!“
Der Jäger gehorchte der Aufforderung und trat vor’s Haus. Mit den Zeichen heftigster Angst folgte ihm Schöpf bis in den Flur und horchte dort zwischen den beiden offenen Thüren.
„Wer da?“ rief Halder barsch in den Wald hinaus, da aber keine Antwort erfolgte, pfiff er seinem Dachse, der denn auch bald wieder zurückgaloppirt kam.
„Sind’s Gensd’armen?“ fragte Schöpf leise.
„Die würden wohl anders auftreten. Man sieht nichts in dem Nebel.“
Trine meinte nun auch, daß es ihr auf dem ganzen Wege schon gewesen sei, als folge ihnen Jemand.
„Ach, was wird’s gewesen sein,“ meinte Halder achselzuckend. „Ein paar Kinder, oder ein altes Weib – Holzdiebe. Jetzt geht’s auf den Winter zu. Oder Leute, die sich einen Sack voll Laub holen. War ein leichter Schritt von einem Kinderfuß, hätt’ es sonst knicken hören. Komm’, Dächsel!“
Halder wollte wieder in’s Haus zurückkehren, das war aber keineswegs nach Schöpf’s Sinn. Seine Furcht war einmal rege. Der Jäger hatte ihm selbst berichtet, daß in der Großdorfer Schänke nach ihm so eigenthümlich gefragt worden sei. Für alle Fälle konnte ein Wachtposten nicht schaden, brauchte ja doch auch kein Zeuge dabei zu sein, wenn er das Geld in Empfang nahm. Er beredete Halder also, sich’s für eine Weile draußen bequem zu machen, und auch Trine hatte von Hilda einen Wink erhalten, für’s Erste in der Küche zu bleiben.
Der kleine Zwischenfall hatte Wilhelm weniger aufgeregt als seine Schwester; denn während sie sich zitternd am Tische hielt, konnte er scherzen.
„Es scheint, daß Du ein recht ruhiges Gewissen zum Schlummerkissen hast,“ verspottete er Schöpf.
„Mir ist doch nur um Dich bange.“
„Wirklich? Sag’ dann doch wenigstens: um das Geld, das ich Dir werth bin. Auch in dieser Variation behält die zarte Besorgniß noch hinreichend Rührendes.“
„Ich denke, es wäre genug geschwätzt,“ fiel Schöpf, der sich aus den Sarkasmen Wilhelm’s ungefähr so viel wie aus dem Summen einer Fliege machte, dem Spötter in’s Wort. „Wenn es gefällig ist, mein Fräulein, so erledigen wir unsere Geschäfte. Je rascher, desto besser!“
Hilda zog das Paket hervor, das noch in demselben Zustande war, wie sie es erhalten, und legte es, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch. Wie ein Geier wollte Schöpf darüber herfallen, doch Wilhelm’s Hand kam ihm zuvor und legte sich schützend auf das Päckchen.
„Halt!“ sagte er kaustisch. „Un, deux, trois! Allez, passez! Taschenspielerfinger eignen sich nicht besonders zum Controlliren.“
Er nahm das Messer, das in dem neben der Weinflasche liegenden Brodlaib stak, und durchschnitt den Bindfaden. Das oberste Blatt, nachdem der Umschlag aus einander gefallen, war [171] eine summarische Abrechnung mit Meinhard’s Unterschrift. Auf diese traf zuerst sein Blick, und erbleichend trat er zurück.
„Hilda! Du hast doch nicht –“ stieß er bestürzt hervor. „Du hast doch Meinhard nicht gesagt –?“
„Wie kannst Du denken!“ beruhigte ihn die Schwester. „Ich verrieth das Geheimniß mit keinem Worte. Uebrigens hättest Du, auch wenn das geschehen wäre, nichts von ihm zu befürchten, er hat die Stelle hier übergeben und reist noch heute ab; Du kannst ganz ruhig sein.“
Traurig und mit einem unterdrückten Seufzer hatte sie das gesprochen.
„Wilhelm – –“ fuhr sie fort, aber plötzlich unterbrach er sie:
„O, wie müde ich auf einmal werde! Hilda, reich mir ein Glas Wein!“ bat er, „kein Wasser! Der Wein stärkt mich mehr – ich fühle es, und heute habe ich ihm auch wieder Geschmack abgewonnen. Gieb nur!“
„Das sind ja blos sechstausend!“ ließ sich im gleichen Augenblick Schöpf vernehmen. Er hatte nicht gewartet und trotz Wilhelm’s Protest die Zeit zum Durchzählen verwendet.
„Ich habe nicht mehr herbeischaffen können,“ entschuldigte sich Hilda.
„Und obendrein in Papieren, die auf den Namen geschrieben sind. Hollah! Das ist wider die Abrede, mein Fräulein!“
Auf den Namen geschrieben! Daran hatte Hilda freilich nicht gedacht. Sie war zu wenig in financielle Geschäfte eingeweiht, um eine Ahnung davon zu haben, welche Formalität zur Uebertragung solcher Obligationen nothwendig sei.
„Daß Sie mir eine Falle legen wollten,“ meinte Schöpf, „erscheint mir selber nicht recht glaublich, aber das ändert die Sache nicht. Und daß mehr Geld nicht aufzutreiben wäre, das lasse ich mir so leicht nicht weißmachen. Wo sechstausend liegen, mein gnädiges Fräulein, da finden sich wohl auch noch weitere vier.“
„Ich habe aber gewiß nicht mehr zur augenblicklichen Verfügung!“
„Bah, suchen Sie nur!“
„Ich meine, Sie könnten sich auch mit dieser Summe begnügen. Sie ist groß genug, und ich weiß nicht, wie ich noch eine weitere beschaffen soll, ohne die Aufmerksamkeit zu erregen und auf – uns zu lenken.“
„Du hörst es ja, Vampyr! Gieb Dich zufrieden!“ mahnte auch Wilhelm.
„Nein,“ entgegnete Schöpf mit seiner ganzen brutalen Schroffheit. „Alles oder nichts! Ich bleibe auf diesem Flecke bis heute Abend sieben Uhr. Ist um jene Stunde nicht die volle Summe in meinen Händen, so sind die Unterhandlungen abgebrochen, und ich thue meine Schritte.“
„Dann mußt Du aber die Mausefalle aufthun und dürftest bei Deiner Zurückkunft mit Gefolge dieselbe wahrscheinlich leer finden.“
Ein tückischer Blick aus Schöpf’s kleinen Augen traf Wilhelm.
„Die Grenze ist nicht so rasch erreicht, mein Lieber, und sind die Hunde auf die Fährte des Hasen gesetzt, dann fangen sie ihn auch sicher ein. Man hat dafür ganz praktische elektrische Einrichtungen mit Drahtschlingen, haha! Uebrigens werde ich mich hüten, meinen werthen Freund und Schwiegersohn allzu sehr aus den Augen zu lassen. Es geht manch Bäuerlein hier vorüber, das eine kleine Botschaft für den Anzeigelohn gern übernimmt. Dem Manne kann geholfen werden, mein Junge.“
„Aber wie dann, wenn wir den Spieß umkehrten?“ erwiderte Wilhelm, scharf und höhnisch. „Die Mausefalle schlüge zu und hielte den fest, der Andere damit zu fangen meinte. Ich denke, Halder würde mir recht wohl den Gefallen thun und hier so lange Wache stehen, bis die bissige Ratte nicht mehr schaden kann. Was meinst Du dazu.“
Mit einem Satze war Schöpf an der Thür, und sein vor Wuth funkelnder Blick hing lauernd an Wilhelm, welcher aber kein Glied rührte.
„Ich protestire!“ sagte er. „Das ist Einschränkung der persönlichen Freiheit. Ein neues Verbrechen! Versuchen Sie es doch und meine Hülferufe werden die Entdeckung beschleunigen.“
„Es giebt Knebel auf der Welt, und man kann Ratten auch ersäufen,“ entgegnete Wilhelm, der an seines Quälgeistes Schreck und Angst Gefallen fand.
„Scherze nicht so furchtbar, Wilhelm!“ mengte sich nun Hilda ein. „Und Sie, Herr Schöpf, werden einsehen, daß wir an solche Gewaltmaßregeln gar nicht denken.“
„Ich weiß doch nicht –“
„Habe ich Ihnen denn nicht schon bewiesen, daß es mir Ernst damit ist, Ihre Forderungen zu erfüllen? Wollen Sie die Papiere? Hier sind sie. Geben Sie mir eine Art an, wie der Rest in Ihre Hände gelangen kann, und Sie werden ihn erhalten, aber nehmen Sie selbst Ihre Drohungen zurück, und geben Sie meinen Bruder frei!“
„Nichts da! Ich wäre ein Narr. Alles oder nichts! Bis heute Abend sieben Uhr!“
„Das System der Daumschrauben,“ spottete Wilhelm.
„Ja, allerdings die Daumschrauben! Ich bin nun einmal dafür. Ist das Sicherste, mein Lieber.“
Hilda drückte die Hände an die Stirn; sie sann und sann – vergeblich!
„Es ist unmöglich in so kurzer Zeit,“ erklärte sie dann. „Es ist Niemand zu Hause, und selbst wenn Franz heimkehrt und einwilligt, was doch noch zweifelhaft ist, so kann er nicht im Handumwenden das Geld schaffen; solche Summen hat man nicht baar im Hause. Er muß also erst zur Stadt. Wenn Sie wenigstens bis morgen Frist gäben – –“
„Ich kann nicht warten. Habe dringende Geschäfte,“ versetzte Schöpf, dessen Mißtrauen sich noch nicht ganz gelegt hatte und sich in seiner wie zum Sprunge geduckten Raubthierhaltung verrieth, barsch und abweisend. „In der Nacht ist es auch schwer, die Augen offen zu halten, jetzt, wo unser Patient wieder auf den Füßen steht. Ich will sagen – heute Abend neun Uhr. Aber keine Minute länger. Bis dahin werde ich schon auf der Hut sein.“
Seufzend ging Hilda auf den ihr gestellten äußersten Termin ein und schenkte dann der Anleitung, die der Taschenspieler ihr zu Theil werden ließ, die vollste Aufmerksamkeit.
„O, er ist ein gewandter Schulmeister in dergleichen Dingen, Du kannst Dich auf seine Geschäftskenntniß verlassen,“ äußerte Wilhelm, der sich mittlerweile wieder erhoben hatte, und in fieberhafter Unruhe im Zimmer auf- und abging. „Es thut mir leid, daß ich Euch so theuer zu stehen komme. Aber ich will es abbezahlen, bei meinem – nein, mein Ehrenwort ist ja Plunder geworden. Diese Münze ist falsch, aber ich versichere Dir heilig und theuer, Schwester, daß es mir ernst ist mit meinem Versprechen, sehr ernst. Weißt Du, Hilda, wenn ich sterben sollte –“
„Denke doch nicht an etwas so Trübes, Wilhelm!“ suchte sie den plötzlich muthlos Gewordenen aufzurichten. „Morgen bist Du außer aller Gefahr, und dann beginnst Du mit frischen Kräften ein neues Leben.“
„Wir machen uns noch heute Nacht aus dem Staube,“ erklärte nun auch Schöpf. „Halder kann unterdeß nach Großdorf hinüber gehen und uns ein Bauernwägelchen bestellen. Die Stadt ist nicht geheuer, und wir thun klüger, nach der nächsten Bahnstation zu fahren.“
„Daß wir doch schon fort wären!“ seufzte Wilhelm. „Mir ist’s, als hätte ich Feuer unter den Sohlen. Ich werde die Minuten bis zu Deiner Rückkehr zählen, Schwester. O, wie will ich arbeiten! Mit den Händen, wie ein Tagelöhner, wenn es sein muß. Aber ich habe das Vorgefühl, daß es gelingt – ich habe es. Du wirst sehen, daß es geht, wenn Du erst meinen Plan erfährst. Und Franz sage – nein, sag’ ihm nichts! Er wird toben und doch alles nur für Geflunker halten – der Ehrenmann, wie er im Buche steht. Er würde mir doch seine Hand nicht geben – das könnte einen Fleck hinterlassen. Einer von denen, die beten: ‚Führe uns nicht in Versuchung‘, und dabei hochmüthig denken: ‚Ein Mann wie ich würde ihr doch widerstehen‘. Ja, so meinen sie, weil sie eben noch nicht erfahren haben, was die Versuchung ist. Aber sei’s darum! Vielleicht denkt er besser von mir, wenn er sieht, wie ich mich zum Leben stelle. Will mal sehen, ob ich es nicht noch mal zum Lächeln zwinge. – Arme Kleine! Arme, kleine, süße Any! Daß sie es nicht auch noch lächeln sehen kann. Das wäre mein höchstes Glück gewesen. Das süße Kind! – Doch jetzt geh, geh, Du Gute, und bringe uns die Befreiung, die Erlösung! Engel haben ja Flügel. Adieu, Hilda! Komm’ bald wieder!“
„Ja, ich gehe gleich!“ sagte Hilda, der es bei diesem hastigen, sprunghaften Gehaben ihres Bruders fast bange wurde. „Aber [172] sprich heute Abend nicht mehr dem Weine zu! Ich bitte Dich darum.“
„Er hat keine drei Gläser getrunken,“ warf Schöpf ein. „Es ist nichts als die pure Freude. Also längstens um Neun!“
„Um Neun!“ sagte sie, lehnte Halder’s Begleitung ab und eilte durch den Wald zurück.
Wohl war ihr alles klar, was geschehen mußte, aber eine Frage blieb doch, ob sich auch alles Andere günstig zu fügen schien. Dem Sturm bei Franz sah sie jetzt ruhigen Auges entgegen; es war ja viel Schwereres über sie hinweggezogen. Dem Unmuth des erzürnten Bruders Stand zu halten, schien dagegen ein Leichtes – aber wenn nun Franz heute nicht heimkam? Es war ja leicht möglich, daß er, wie es schon zuweilen vorgekommen, die Gastfreundschaft bei Saaldorf’s in Anspruch nahm und über Nacht dort blieb. Was dann – dann?
Da plötzlich tauchte wie eine erleuchtende Antwort auf ihre Frage Edwin vor ihr auf, und es war nicht nur sein Bild, sondern er selbst in voller Körperlichkeit, der ihr vom Ende des Hohlwegs entgegenkam.
Er winkte schon von Weitem und schwenkte seinen Hut.
Erstaunt aber hielt sie den Schritt an, als er sie mit einem Vorwurf begrüßte.
„Um des Himmels willen, wo stecken Sie denn? Wo waren Sie so lange? Wir sitzen schon längst bei Tische, und Sie entziehen sich uns und streifen im Walde umher, während wir Sie vergeblich zum Essen erwarten?“
„Mein Gott, ist es schon so spät? Verzeihen Sie!“ sagte sie und bot ihm mit freundlichem Lächeln die Hand. „Mir verging die Zeit so rasch.“
„Ja, in interessanter Gesellschaft zählt man die Stunden nicht. Während ich voll Sehnsucht der Zeit Flügel verleihen möchte und in steten Gedanken an Sie nach einem Symbol suche, würdig genug, meinen Gefühlen als äußerliches Zeichen zu dienen, während ich meine Seufzer als geflügelte Boten zu Ihnen sende, vergessen Sie meiner im Verkehr – im Verkehr mit anderen Männern, Hilda.“
„Es war kein heiteres Geplauder, das mich zurückhielt, Edwin – o, das können Sie mir glauben,“ erwiderte sie tief verletzt und seinen Worten den für sie einzig denkbaren Sinn unterlegend. „Meinhard war bei uns; er kam, um Abschied zu nehmen. Sie wissen doch: er ist versetzt worden.“
„Sie empfangen aber nicht blos Besuche, sondern statten auch solche ab.“
Woher wußte er –? Betroffen blickte sie zu ihm auf.
„Ich statte Besuche ab? Was bringt Sie auf diese Vermuthung?“
„Glauben Sie denn nicht an die Divinationsgabe der Liebe? Sie sieht in die Ferne. Sie hört das Lachen, mit dem sie verhöhnt wird in heimlichen Zusammenkünften.“
„Dann hört sie in diesem Falle falsch,“ fiel Hilda erschrocken ein. Dieses Pathos ging für eine Neckerei denn doch zu weit. „Aber wenn Sie es denn durchaus wissen wollen,“ sagte sie mit dem stolzen Selbstbewußtsein eines reinen Herzens, „so hören Sie: ja, ich hatte allerdings eine Zusammenkunft.“
[185] „Also Du hattest doch eine Zusammenkunft, Hilda!“ sagte Edwin.
„Ja, allerdings – und ich bin Ihnen volle Offenheit schuldig, Edwin.“
„Sie haben seltsam damit begonnen.“
„Hören Sie also! Schon gestern beabsichtigte ich Ihnen alles mitzutheilen, aber –“
„Aber,“ fiel er ihr in’s Wort, „ich verschmähte es, Bekenntnisse aus der Vergangenheit zu hören. Allerdings scheine ich mich in der natürlichen Voraussetzung, daß sich die Vergangenheit nicht in die Gegenwart hineinspinne, getäuscht zu haben.“
Hilda sah ihn groß und verwundert an.
„Lassen Sie mich einen Fehler, den ich absichtslos beging, gut machen! Ich setze voraus, daß Sie unsere Familienverhältnisse kennen. Franz wird sie Ihnen, denke ich, nicht verhehlt haben; er ist zu wahrheitsliebend, als daß er seine Braut und die Ihren auch nur einen Augenblick darüber im Unklaren gelassen hätte. So hörten Sie denn gewiß auch schon, daß ich außer Franz noch einen Bruder habe, einen armen unglücklichen Bruder. – Er ist es, von dem ich komme. Und nun wissen Sie, Edwin, wie vorschnell, wie ungerecht Ihre Vermuthung war.“
„Wie? er ist hier?“
Die Frage klang verlegen, mißtrauisch.
„Schon seit einer Reihe von Tagen. Krank und elend kam er hier an, in dem Irrthum, daß seine Rückkehr straffrei sei. Ich glaubte ihn vor Allen verbergen zu müssen, selbst vor Franz. Vielleicht habe ich Unrecht damit gethan.“
„Also das ist es!“ rief Edwin in einem Tone, der aus einem erleichterten Herzen kommen sollte, aber doch mehr gezwungen als fröhlich klang. „O, so war ich denn ohne Grund eifersüchtig, meine Theure!“
„Sie scheinen das beinahe zu bedauern.“
„Gewiß, weil ich mich dadurch an Dir verging, Du Engelsreine,“ beeiferte er sich, den eigentlichen Sinn ihrer Worte scheinbar überhörend, seine Reue kundzugeben. „Aber Du kannst mir deshalb nicht zürnen. Vergeben ist so schön und das Vorrecht des Frauenherzens. Aber, meine süße Braut,“ fuhr er fort, und die Hast, in der er sprach, deutete an, daß er schnell über das peinliche Thema hinwegzuschlüpfen wünschte, „Du hast mir heute noch nicht gesagt, daß Du mich liebst, daß Du mein bist. Sag’ es mir mit einem Kuß! Nur die Vögel im Gezweige belauschen uns hier. Zürnst Du mir denn noch, Grausame? Laß uns die erste Versöhnung feiern und erlaube, daß ich Dir dieses Armband umlege, als Sinnbild – –“
„O, jetzt nicht!“ wehrte sie seine Zärtlichkeit ab. „Hören Sie mich erst zu Ende! Mein armer Bruder, der auf Verjährung baute, befand sich in einem verhängnißvollen Wahn. Er ist in Gefahr, entdeckt zu werden.“
„Ja, das ist freilich seine Schuld. Er hätte bleiben sollen, wo er war.“
Die Kälte dieser Worte that Hilda weh.
„Nun ist er aber hier, und wenn er entdeckt wird, ist er verloren.“
„Das hätte er seiner Familie auch ersparen können,“ sagte Edwin mit unverhohlenem Unmuthe. „Es ist wahrlich keine besondere Ehre, der Verwandte eines verfolgten Verbrechers zu sein. Weißt Du – man muß trachten, ihn sobald wie möglich wieder fortzuschaffen.“
„Das ist auch mein Wunsch,“ sagte sie, und das Blut stieg ihr heiß in die Wangen, „ich war schon bemüht, es in’s Werk zu setzen, aber – aber ich muß Sie nun bitten, Edwin, mir dabei behülflich zu sein. Wollen Sie?“
„Ich? Wie komm’ ich zu –?“
„Das eben will ich Ihnen mittheilen. Doch reichen Sie mir indeß den Arm, und gehen wir weiter, damit keine Zeit verloren wird!“
Zu der Bereitwilligkeit, mit der er dieser Aufforderung entsprach, stand die Art und Weise, wie er Hilda’s Eröffnung über das Schicksal Wilhelm’s aufnahm, einigermaßen in Widerspruch. Anfangs zwar zeigte er scheinbar Theilnahme bei der Schilderung der Leiden, welche der arme Flüchtling erduldet, bald aber nahmen seine Ausrufe, mit denen er hie und da ihre Erzählung unterbrach, einen weniger freundlichen Charakter an, obgleich sie sich zuerst nur auf Schöpf und sein Auftreten bezogen. Nach und nach galten sie aber nicht mehr dem „Frechen“, dem „Elenden“, dem „gemeinen Schurken“ allein, sondern die Entrüstung übertrug sich auch auf den durch das Schicksal von dem „Blutsauger“ abhängigen „Schwächling, der nun alle in solche Fatalitäten brachte“. Die Gefahr, welche ihm drohe, habe er sich nur selber zuzuschreiben, aber es wäre rücksichtslos von ihm gehandelt, auch Andere in dieselbe mit hineinzuziehen, und dafür verdiene er reichlich jede Strafe – das war Edwin’s zuletzt deutlich ausgesprochene Meinung, durch die er offenbarte, wie wenig er Hilda’s Sorge theilte.
„Man muß dieser Revolverbande klar machen,“ sagte er, „daß sie sich täuscht. Führt der Spitzbube seine Drohung wirklich aus, [185] so fällt er selbst in die Grube. Man belangt ihn einfach wegen Erpressung.“
„Nein, wir dürfen es nie dazu kommen lassen,“ wandte Hilda ein.
„Ich sehe nicht ein, was man anderes thun könnte. Der Gauner wird sich übrigens wohl hüten, irgend welche entscheidende Schritte zu thun, da er weiß, daß hier jeder Pfeil auf den Schützen zurückprallen muß.“
„Indem er Rache nimmt, kann er sich ganz leicht selbst der Verantwortung entziehen. Er braucht nur abzureisen.“
„Ei, so mag der Schuft zum Henker gehen! Eine widerwärtige Geschichte – aber sie läßt sich nicht ändern.“
„Sie vergessen, Edwin, daß ich Verpflichtungen übernommen habe, die mich –“
„Die Dich doch solchen Leuten gegenüber nicht binden können.“
„Gewiß binden sie mich. Ein Versprechen ist mir heilig, wem ich es auch gegeben.“
„Mein Gott, wie unbesonnen! Das ist so echte Frauenart, sich von einer sentimentalen Regung zu den wahnwitzigsten Opfern verleiten zu lassen. Zum Leben gehört vor allem Eines: Klugheit!“
„Klugheit!“ wiederholte sie mit eigenthümlicher Betonung. Ihr tönte plötzlich ein anderer Ausspruch Edwin’s in den Ohren, jener Ausspruch über die „verknöcherte Selbstsucht“, gegen welche er vor Kurzem erst in ritterlichem Anlaufe eine Lanze gebrochen, wofür sie ihm dann, wie zur Zeit der Turniere und Minnelieder, einen Rosendank gespendet. Ach, wem hatte sie die Rosen vorenthalten, die Edwin empfangen? Nun war es ihr wieder, als hörte sie Meinhard’s Worte: „Es giebt Lagen, wo der Mensch einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß.“ Aber jetzt, wo sie wirklich in solcher Lage war, in der nur das Herz sprechen darf, wie stand ihr jetzt Meinhard’s Gegner, der Mann, der die „verknöcherte Selbstsucht“ mit so beredten Worten bekämpfte, – wie stand ihr Edwin, derselbe, den sie sich zur Stütze und zum Lebensgefährten gewählt – wie stand er ihr jetzt gegenüber?
„Ich war der Meinung,“ fuhr sie nach einer kleinen Weile in gedämpftem Tone fort, „daß Sie denjenigen glücklich preisen, der ohne Berechnung seinem Drange folgen und als Engel des Erbarmens und der Liebe Hülfe bringen darf. Denken Sie heute anders darüber?“
„Ich ändere meine Ansichten nie,“ erwiderte er, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen oder in Verlegenheit zu gerathen. „Glücklich nannte ich denjenigen, der so handeln darf und kann. Das hängt eben von den Verhältnissen ab.“
„Gottlob, daß es mir die meinen gestatten!“
„Das ist ja eben nicht der Fall. Zehntausend Gulden – die giebt man nicht so weg! Bedenken Sie doch, Hilda, ein ganzes Capital!“
„Für die Rettung meines Bruders!“
„Ach was! Ein solcher Bruder ist zu kostspielig.“
„Für die Ehre der Familie!“
„Was einmal geschehen ist, wird ja doch nicht ungeschehen gemacht.“
„Wir fühlen und denken verschieden,“ sagte Hilda kalt, fast verächtlich. „Meine Ansichten über die Unerläßlichkeit gewisser Dinge sind unerschütterlich, und da Sie mir nicht zu rathen, zu helfen wissen, so gestatten Sie mir wohl, auf dem nun einmal beschrittenen Wege zu verbleiben – nicht wahr?“
„O, wie Sie meinen,“ erwiderte er beleidigt.
„Ich muß aber doch noch einmal auf Ihre Unterstützung zurückkommen, es ist nur eine kleine Gefälligkeit Ihrerseits, Edwin, auf die ich zähle, und Sie werden davon nicht allzusehr in Anspruch genommen werden.“ Sie nahm die Obligationen hervor. „Hier sind Papiere im Werthe von sechstausend Gulden,“ fuhr sie fort. „Die wünsche ich nicht wegzugeben, sondern nur belehnen zu lassen, weil ich sie zu einer kleinen Mitgift für Mimi bestimmt habe. Sie sollen ihr bleiben und können ausgelöst werden, sobald mir Franz meinen Vermögensantheil herausbezahlt. Der Rest muß gegen Wechsel aufgenommen werden und noch Eintausend mehr, die ich für Wilhelm brauche. Sie begreifen, daß er nicht mittellos in die Welt hinaus gehen kann.“
Mit steigender Unruhe hatte Edwin ihr zugehört. Nun vermochte er sich nicht länger zu halten.
„Haben Sie denn summirt?“ fragte er, und sein Gesicht röthete sich vor Aufregung und peinlicher Verlegenheit. „Sechs und sechs macht zwölf, und fünf – macht siebenzehntausend Gulden, Provision und Interessen noch ungerechnet.“
„Es wird so sein,“ entgegnete sie mit ruhiger Gelassenheit, die einen starken Gegensatz zu seiner Erregtheit bildete.
„Sie wollen sich also Ihres Besitzes möglichst entäußern?“ versuchte er zu scherzen. „Wissen Sie, daß man Sie eigentlich als Verschwenderin unter Curatel setzen sollte? Nein, nein, denken Sie nicht an dieses Darlehn, liebste Hilda! Dazu kann ich übrigens als Ihr künftiger, natürlicher Vertreter auch nie meine Einwilligung geben.“
„Noch bedarf ich derselben nicht,“ antwortete sie kurz, aber schon im nächsten Augenblicke that ihr die schroffe Antwort leid, und in freundlicherem Tone sagte sie. „Sie sollten es mir nicht so schwer machen, Edwin, eine Gewissenspflicht zu erfüllen. Daß ich mich an Sie wende, ist ein Zeichen des Vertrauens, und es ist nicht gut, nicht edel von Ihnen, wenn Sie mich hierin einschüchtern. Stehen Sie mir treulich bei und verdienen Sie sich meinen Dank! Wollen Sie, Edwin? Ich bitte Sie darum.“
Der weiche, freundliche Ton blieb ohne Eindruck auf ihn, und die bittend ausgestreckte Hand fand die seine nicht.
„Ich kann nicht,“ sagte er, noch immer in starker Erregung. „Sie haben nicht bedacht, was Sie zu thun im Begriffe stehen. Es ist meines Wissens die Hälfte Ihres Vermögens, welches Sie zu Gunsten Ihres Bruders abtreten wollen – und was für eines Bruders!“
„Ja, die Hälfte meines Vermögens, und müßte es mein ganzes sein – ich dürfte nicht zaudern.“
„Fürwahr, ein Heroismus der Familienliebe, der – an den Wahnsinn streift, wie jeder Heroismus!“ lachte er scharf auf. „Ich werde dazu nie und nimmer die Hand leihen. Ich kann es nicht, Hilda – ich darf es nicht.“
„So muß ich es denn allein vollbringen.“
Er hatte ihren Arm losgelassen und war stehen geblieben. Ohnedem konnten sie nur einzeln durch das Drehkreuz in der Hecke des Obstgartens gehen, das sie jetzt erreicht hatten.
„Ich kann es nicht,“ wiederholte Edwin. „Das hieße – unsere Zukunft in Frage stellen und darum beschwöre ich Sie, Hilda, überlegen Sie noch einmal Ihr Vorhaben! Sie setzen mit demselben mehr auf’s Spiel, als Ihnen bisher klar geworden. Sie dürfen mich nicht mißverstehen; ich bin weit davon entfernt, einen Druck auf Sie üben zu wollen aber die Offenherzigkeit muß wohl zwischen uns Beiden eine gegenseitige sein. So poetisch die Liebe auch ist, und so sehr gerade ich geneigt bin, mich von ihrem Zauber umspinnen zu lassen, kann ich doch nicht umhin, auch die praktische Seite der Sache in’s Auge zu fassen. Es ist dies des Mannes Pflicht, wenn er eine Familie gründen will, und mehr als sich selbst noch ist er es der Geliebten schuldig. Da Sie so lange einem Haushalte vorgestanden, werden Sie selbst wissen, wie viel zu seiner Führung erforderlich ist. O, daß man diese prosaischen Dinge berühren muß! Aber es giebt eine Grenze selbst im Staatsbudget, jenseits welcher bekanntermaßen das Deficit beginnt. Man erhöht dann Zölle, Steuern, macht Schulden und dergleichen. Das wäre denn also auch unsere künftige Finanzpolitik; denn – Sie wissen es wohl? – ich, ja ich besitze nichts.“
Sie sah ihn so mitleidig an, daß es ihm das Blut in die Schläfe trieb.
„Ein Mann, der Kopf und Arme hat, sollte nie sagen, daß er nichts besitze – aber es fehlt Ihnen eine Haupttugend des Mannes – der Muth.“
„Wenigstens der Muth, eine Frau der Armuth und Entbehrung auszusetzen. Das scheue ich mich nicht zu gestehen, und fehlt mir der Muth, Hilda, so fehlt Ihnen – die Ueberlegung.“
„Nein, nicht diese fehlt mir, Edwin, nur die Selbstsucht. Ich habe übrigens keine Wahl – –“
„Das will sagen: Sie geben mich auf für den Bruder?“
„Sie wären es, der mich aufgäbe.“
„Sie zwingen mich dazu.“
„Und der Würfel ist ja bereits gefallen,“ erwiderte sie, ohne ihre Geringschätzung sonderlich zu verbergen. „Für die halbe Mitgift ein halbes Herz!“
„Wahrhaftig!“ brauste er auf, und diesmal war es kein künstliches Feuer. „Ihnen steht am wenigsten das Recht zu, mich mit solchem Vorhalte zu strafen. Wo war Ihr Herz, als Sie mich an den Besitz desselben glauben ließen? Sie haben in mir [187] nicht den Geliebten, den künftigen Gatten vor Augen gehabt, sondern – wie es scheint – nur den Makler für Ihre geschäftlichen Affairen.“
Hilda senkte den Kopf. Der Vorwurf war gerecht und trieb ihr flammende Schamröthe in die Wangen; sie mußte sich selbst schuldig bekennen; denn wie unverhüllt sich sein Egoismus, seine kalte Herzlosigkeit auch dargestellt, ihr eigenes Verhalten gegen ihn war kaum minder selbstsüchtig gewesen. Sie hatte das auch längst – nur nicht so klar – empfunden, und aus dieser Quelle war auch die stumme Ergebung in das selbstgeschaffene Schicksal entsprungen, durch die sie das an Edwin begangene Unrecht zu sühnen vermeinte. Jetzt gewann sie mit der Selbsterkenntniß auch die verlorene Energie zurück.
Langsam sah sie zu ihm auf, und ihre Stimme klang nicht unfreundlich, wenn auch bestimmt, als sie sagte:
„Edwin, wir haben wohl Beide geirrt, und das Schicksal hat uns nicht für einander bestimmt. Sie finden nicht in mir, was Sie gesucht. Ich will hinwieder nicht leugnen, daß ich Ihnen – in meiner Hülflosigkeit wirklich zwei Rollen zugedacht hatte, die des Gatten und die des – Helfers in der Noth; ja – aber Sie haben die Probe in keiner bestanden. Von dem Manne, der mich zu lieben vorgab, mußte ich Theilnahme und Verständniß erwarten; der durfte mich auch nicht schon am Tage nach der Verlobung für fähig halten, ihn zu verrathen. In meinen Jahren darf man nicht mehr durch äußerliche Vorzüge Leidenschaften hervorzurufen glauben. Was uns Zuneigung verschafft und erhält, kann einzig und allein Wesen und Gesinnung sein. Mein Herz, mein Charakter ist Ihnen fremd geblieben. Es war eine Täuschung, in der wir uns befanden. Wir haben diese Täuschung nun hinter uns und wollen einander darob nicht grollen.“
Zuletzt hatte sie ihm selbst die Hand gereicht, er aber legte die seine nur zögernd hinein.
„Ich glaube, ich lerne Sie verstehen,“ sagte er nicht mehr mit dem Tone kalter Berechnung, sondern fast bewegt, „und ich könnte Sie auch anders lieben, Hilda – wenn Sie nur –“
„Das kommt jetzt wohl zu spät,“ unterbrach sie ihn lächelnd. „Doch Eines noch! Ich darf von Ihrer Ehrenhaftigkeit wohl voraussetzen, daß Sie das Ihnen anvertrauete Geheimniß ängstlich hüten. Geben Sie mir Ihr Wort darauf, daß Sie es nicht verletzen!“
„Wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte er, nachdem er mit einer kühlen Verbeugung den Händedruck erwidert.
„Zur Stadt!“
„Sie sind unverbesserlich!“ stieß er unwillig hervor und wandte sich ab. Dann aber sah er ihr kopfschüttelnd nach. „Da hat’s Mama!“ sagte er, als sie ihm aus den Augen entschwunden war. „Das nächste Mal folg’ ich aber entschieden nur meinem eigenen Kopfe – was auch daraus wird.“ Er schlenderte, seine neue Polka pfeifend, als ob nichts geschehen wäre, dem Hause zu. –
Hilda hatte unterdeß den Pfad längs des Zaunes verfolgt, der in einem Bogen zur Dorfstraße hinausführte. Sie griff wie ein sorgloses Kind nach den rothen Hagebutten, die feucht von den Rosenzweigen herabhingen. Es war ihr zu Muthe wie einem Gefangenen, dem man plötzlich die Kerkerthür aufgeschlossen. Harte Kämpfe hatte sie durchgerungen, während sie nach Meinhard’s Abschied scheinbar in dumpfem Hinbrüten die Wunderwelt ihres erschlossenen Herzens staunend durchforschte, doch war ihr der Gedanke nicht gekommen, ihr Wort zu brechen. Ehrlich und loyal wollte sie ihr Versprechen halten, das ihr, wie sie selbst gesagt, heilig war, wem immer sie es auch gegeben. Mochte sie sich innerlich verbluten, stolz und ruhig wollte sie ihr Loos tragen. Da aber riß er, dem sie ihre Hand geschenkt, selbst die Kluft auf, und plötzlich wurde ihr die Nutzlosigkeit des großen Opfers klar, das sie zu bringen im Begriffe stand. Er liebte sie ja gar nicht; er verlor nichts an ihr. Eine Sünde wäre es gewesen gegen die heiligste Wahrheit, eine Sünde gegen Gott und Menschheit, wenn sie das Bündniß am Altar mit ihrem „Ja!“ besiegelt hätte. Ihr Herz schlug hoch auf in wiedergewonnener Freiheit. Einsam zwar sollte es bleiben, dieses befreite Herz, aber es war doch frei.
Und in dieser Empfindung schien ihr die ganze Welt wie in lichtes Sonnengold getaucht. Eine frische, muthige Zuversicht war über sie gekommen. Wie leicht erschien ihr nun die übernommene Aufgabe! So beschloß sie denn, nunmehr alles selbst zu erledigen, und, um nicht aufgehalten zu werden, schlug sie, ohne erst nach Hause zurückzukehren, den Weg nach der Stadt ein.
Sie schritt rüstig dahin und war nach einer guten halben Stunde am Ziel. Nur einmal zauderte ihr Fuß – als sie an dem alten Amtshause vorüberkam. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie dem Thore zu; jetzt hätte sie ja auch keine Entdeckung ihres Geheimnisses mehr zu fürchten gehabt, da Meinhard die Leitung der Geschäfte bereits abgegeben und somit durch ihre Mittheilungen in keine Collision der Pflichten gebracht wurde. Aber ihre Sehnsucht, sich im Vertrauen ihm noch einmal – nur einmal noch zu nahen, verstummte vor einem Gefühl der Furcht; würde er ihren Schritt nicht falsch auslegen? Der Mann, der ihren Abschiedskuß hingenommen und dann ohne ein weiteres Wort gegangen war – was war sie ihm noch? was konnte sie ihm noch sein? Vorüber! Das war vorüber. Ihm ihr Gefühl verrathen? Sie hätte vor Scham sterben müssen. Gestern noch war ihr der Besuch bei ihm wie etwas Natürlich-Harmloses erschienen – heute – –? Tief erglühend wendete sie das Gesicht ab und eilte wie auf der Flucht an dem Hause vorbei.
Es mußte ja auch allein zu Ende zu führen sein. Sie durfte ihrer Kraft vertrauen.
Nach wenigen Minuten stand sie vor dem Geldwechsler, der schon seit Jahren mit ihrem Bruder Verbindung unterhielt. Allerdings vergingen Stunden, die sie, in unruhige Gedanken versunken, mit Warten verbringen mußte, bis es dem Manne, der keinen Anstand nahm, ihrem Begehren zu entsprechen, gelang, die für seine beschränkten Verhältnisse sehr große Summe, welche durch das Depot und ihre Accepte gedeckt war, herbeizuschaffen, aber endlich durfte sie doch erleichtert aufathmen. Welche Vermuthungen durch die Erhebung eines so hohen Betrages hervorgerufen wurden, kümmerte sie nicht – morgen durfte ja alle Welt die Wahrheit erfahren.
So hatte sie denn das Geld in Händen! Mit innerem Frohlocken betrachtete sie es und machte sich eilends auf den Rückweg. Keine Minute wollte sie versäumen – der Abend begann doch schon hereinzubrechen. Mit um so größerer Freude begrüßte sie Doctor Schöller, der sie, ehe noch die letzten Häuser der Stadt hinter ihr lagen, von seinem kleinen Wagen aus anrief; sie stieg rasch zu ihm ein. War auch der Arzt zum Glück überflüssig geworden, so konnte doch die Erlösung dem unruhig harrenden Gemüthe des unglücklichen Bruders gewiß nicht zu früh kommen. Etwas wie eine bange Ahnung trieb sie.
„Thorheit!“ sagte Hilda beruhigend zu sich selbst. „Das ist nur die Nachwirkung all der Aufregung.“
Gottlob, nun nahm sie ja ein Ende, diese quälende Aufregung. Alles war in Ordnung. Was hätte denn noch drohen können?
Es dämmerte schon stark, als endlich auch Franz mit seiner jungen Frau nach Waltershofen heimkehrte. Bereits beim Vorfahren des Landauers an der Treppe kam Mimi den Eltern entgegengesprungen. Es war ihr bei allem Seelenschmerz doch nicht so gleichgültig, ob die langgenährte Sehnsucht nach einem eigenen Pferde gestillt werden sollte oder nicht; denn das ist klar: als Amazone kann man stolzer über alles Erdenleid hinwegsetzen, als wenn man nur so als graue Fledermaus über den nebelfeuchten Grasboden hinflattert.
„Abgeschlossen, abgeschlossen, Kleine!“ lautete Papas beruhigende Antwort. „Morgen treffen sie ein; dann noch ein paar Rasttage und Montag heißt’s: in den Sattel; da beginnen wir mit den Reitstunden. Etwas zu zierliche Beine hat das für Dich bestimmte braune Ding freilich; ich wollte mir’s eigentlich überlegen, aber bedanke Dich bei Mama! Die meinte, eine Mücke, wie Dich, werde das Thierchen schon tragen, und im Grunde war’s ein guter Handel. Saldorf wollte das Pferd nun einmal aus dem Stalle haben, und das entschied zu unseren Gunsten. Aber das sag’ ich Dir, mein Töchterlein, wenn Du Furcht hast –“
„Eine Beleidigung, Papa! Du wirst sehen, daß ich keine Furcht habe.“
„Na, glaub’s auch!“ sagte er schmunzelnd, während er seiner Frau aus dem Wagen half. „Wer zur Jagd Muth hat, wird auch eine beherzte Reiterin. Wollen sehen, wer von Euch Beiden raschere Fortschritte macht, die Mama oder Du, mein Kind. Wirst Dich zusammennehmen müssen, Albertine,“ wandte er sich zu seiner [188] Frau, „ich traue dem Wildfang da zu, daß er Dich aussticht. Und jetzt gehen wir gleich zum Schnepfenfang. Kommst Du mit, liebes Weib?“
„Nein, Franz,“ seufzte müde die junge Frau. „Ein anderes Mal will ich gern mit Dir gehen, aber heute bin ich zu erschöpft;“ sie reichte ihm freundlich die Hand. „Willst Du Dir nicht auch Ruhe gönnen?“
„Man sollte meinen, es handle sich um einen Feldzug,“ spottete er, den Arm in Arm in’s Haus tretenden Damen folgend. „Der kleine Spaziergang bis zu den Laufdohnen im Jungholz ist doch wahrlich nur ein Katzensprung.“
„Ich begleite Dich,“ erbot sich Mimi in ihrer freudig dankbaren Erregung.
„Brav! Und wie steht’s mit Dir, Schwager Edwin? Kommst Du auch mit? Saldorf sagt mir, daß schon gestern der erste Schnepfenzug bei ihm eingefallen. Da will ich doch nachsehen, ob Halder die Dohnen auch frisch gerichtet hat. Na, es giebt ja kein Blutvergießen dabei, und die Schnepfe wird Dich mit ihren brechenden Augen auch kaum vorwurfsvoll ansehen, daß Du Deinem Princip, dem Sport nicht zu fröhnen, untreu geworden bist. Ich denke, Du wagst es. Will nur mein Festgewand abthun, bin gleich wieder da.“
Er schüttelte Edwin, der auf den Corridor herausgetreten war, die Heimkommenden zu begrüßen, kräftig die Hand und eilte auf sein Zimmer. Ehe noch Albertine dazu gekommen, von den mancherlei Erlebnissen des Tages zu berichten, war Franz auch schon wieder zurück.
Er fand die beiden Begleiter seiner wartend, rief die Hunde an, die beim Anblick des Gewehres, das er nur so aus Gewohnheit über die Schulter geworfen hatte, ihrer Jagdlust deutlich Ausdruck gaben, und wendete dann seine Schritte dem Walde zu.
Unterwegs erzählte er von seinem Besuche und von den Pferden; es fiel ihm dabei nicht auf, daß Mimi und Edwin sich stets nur mit ihm, aber gar nicht mit einander unterhielten. Als er jedoch einmal zurückbleiben mußte, um die auf eigene Faust jagende Diana abzustrafen und an den Riemen zu nehmen, da fand er bei seiner Rückkehr zu den Beiden das Paar in offener Feindseligkeit.
„Und sie hat doch einen heimlichen Gast,“ hörte er seine Tochter in großer Erregung sagen.
„Wer hat einen heimlichen Gast?“ fragte er in guter Laune, ohne es gerade auffällig zu finden, daß er nicht sofort eine Antwort erhielt.
Der Krieg war auch hier, wie so häufig, dem Annäherungsversuche der einen Partei entsprungen. Edwin’s Herz war nicht gebrochen. „Es taugt entschieden nichts, wenn eine Frau älter ist als der Mann – da will sie immer dominiren,“ hatte er sich gesagt und sich wieder der „gefügigeren, anschmiegbareren Jugend“ zugewendet.
„Ich weiß, was ich weiß,“ fuhr Mimi fort, „sie mag Ihnen am Heckenkreuz gesagt haben, was sie will.“
„Sie sahen uns?“
„O blos zufällig,“ beeilte sich Mimi, die Bedeutung der ihr unbedacht entschlüpften Bemerkung möglichst abzuschwächen. „Es ist mir wahrlich ganz gleichgültig, wo, wann und worüber die Herrschaften sprechen.“
„Mir aber nicht,“ fiel ihr Vater scherzhaft ein. „Ich verstehe wirklich kein Wort. Worüber streitet Ihr denn eigentlich, Kinder?“
„Nicht der Rede werth – blos ein Irrthum,“ wollte Edwin ablenken, rief dadurch jedoch bei Mimi nur verstärkten Widerspruch hervor.
„So war also auch jene Flasche Madeira nur ein Irrthum,“ fragte die aufgeregte Kleine hastig weiter, „welche Trine von der Köchin holte, als die Tante damals früh fortging, und der Thee, der so wunderbarer Weise aus der Büchse verschwand, war der auch nur ein Irrthum?“
„Du hast ja gehört, liebe Mimi, daß Hilda wieder einen ihrer Kranken hat.“
„Gut, Papa, das bestreite ich gar nicht. Aber Trine ist gesund, und Halder ist es auch. So muß es, wie Du zugeben wirst, ein Dritter sein, dem ihre Besuche im Jägerhause gelten. Und etwas Anderes, als die Anwesenheit dieses fremden Mannes, dem dort Aufnahme gewährt worden ist, habe ich auch gar nicht behauptet.“
[201] „Seltsam,“ meinte der Gutsherr, „da fällt mir ein, daß mir der Ortsvorsteher gestern von einem verdächtigen Subjecte sprach, das sich in der letzten Zeit hier in der Gegend umhergetrieben und allerlei Betrügereien und Spitzbübereien ausgeführt haben soll. Eine Art Taschenspieler, Bauchredner, was weiß ich, der unter anderem auch dem geizigen Hollerbauer drüben in Großdorf einen Schatz zu heben versprach, für den er ihm eine hübsche Summe ablockte. Der Aberglaube geht eben immer wieder auf dieselben Leimruthen, mit denen schon seit Jahrhunderten schlaue Vogelsteller ihre Gimpel fangen. Seit ein paar Tagen ist der Mann verschwunden und doch meint man, er könne noch nicht weit fort sein. Wäre er am Ende erkrankt und wäre er es –“
„O nein, o nein, Papa! Den kenne ich gut; der sieht ganz anders aus als der heimliche Gast – alt, dick und häßlich – nein, dem fällt man nicht so ohne Weiteres in die Arme – in die Arme, sage ich; denn ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen, Papa.“
„Wie meinst Du das?“
„Heute kam Trine abermals durch den Garten an’s Fenster und pochte, Papa. Nach einer Weile trat die Tante mit ihr wieder heraus, und dann gingen sie dem Walde zu – und ich – ja es war eben nur Neugierde – ich wollte doch sehen – ich habe dann freilich nur durch den Nebel und ganz flüchtig gesehen, was vorging – und wenn auch nicht die Züge, so sah ich doch die Gestalt, die schon an der Thür wartete; ich hörte ganz deutlich, wie er sie ‚einen Engel‘ nannte und – nun ja, dann umarmten sie sich, Papa. Es ist doch nun einmal die Wahrheit – und warum sollte ich die nicht sagen?“
„Du spionirtest also?“ fragte ihr Vater, der ihr mit Befremden zugehört hatte, sehr ernst.
Sie schlug vor seinem Blicke die Augen nieder; sie sah auch nicht zu Edwin hinüber, dessen verlegene Winke den Strom so wenig einzudämmen vermocht hatten. Beschämt und doch trotzig, dem Weinen nahe, brach sie endlich in die entrüstete Anklage aus:
„Weil es abscheulich ist von der Tante, es mit zweien zugleich zu halten. Abscheulich! – Und weil ich nicht begreife, wie man selbst absichtlich die Augen schließen kann, um sich täuschen und verrathen zu lassen. Ich habe es Edwin schon heute Mittag gesagt, und jetzt ist sie ganz gewiß wieder dort – ganz gewiß! Wo wäre sie denn anders als bei ihrem heimlichen Gaste? O, das ist grundhäßlich von der Tante! Es empört sich alles in mir über solche Schlechtigkeit.“
„Geht nur zu den Dohnen und seht nach, ob sich etwas gefangen hat!“ sagte Franz finsteren Blickes und in einem Tone, der jeden Einwurf abschnitt. „Ich habe noch etwas in’s Reine zu bringen. Geht also! Geht!“
Damit schwenkte er ab und ließ die Beiden allein mit einander [202] – im dunkelnden Walde. Vergeblich hatte sich Edwin angeboten, den Gutsherrn zu begleiten; jetzt stand er Mimi gegenüber, welche ganz verbittert und trotzig auf die Erde starrte, in die sie mit der abgebrochenen Haselruthe zornig tiefe Löcher bohrte.
Zärtlich blickte er sie an, und seine Stimme hatte nicht ganz den rechten Ernst des Vorwurfs, wie er ja auch die Hälfte der Verantwortung großmüthig auf sich nahm, indem er kopfnickend sagte:
„Fräulein Mimi, jetzt haben wir aber etwas Schönes angerichtet.“ – –
Inzwischen war der Gutsherr damit beschäftigt, sich Aufklärung zu suchen. Er hatte nur wenige hundert Schritte quer durch den Wald aufwärts bis zum Jägerhause. Vor demselben stand des Doctors alterthümlicher kleiner Wagen, in welchem er über Land zu fahren pflegte. Der Kutscher war jedoch nicht bei dem Pferde, sondern saß, wie Franz beim Eintritt in die Stube bemerkte, mit noch einem Manne am Tische und zwar im eifrigsten, wenn auch gedämpften Gespräche mit Trine, welche die Flasche Wein, aus der sie Beiden eingeschenkt, über dem Interesse ihrer eigenen Mittheilungen wieder hinzusetzen vergessen hatte.
„Jesus, der gnädige Herr!“ rief sie, erst durch die auf den Tisch schnüffelnden Hunde aufmerksam gemacht.
Staunend erkannte Franz in dem Manne, der früher im Dunkeln gesessen hatte und der sich jetzt erhob, einen Gensd’armen. Was konnte der hier zu suchen haben? Sollte die Vermuthung doch zutreffen? Aber zuweilen kam es ja vor, daß ein solcher auf seinen Streifzügen in dem einsamen Hause einsprach und Erkundigungen einzog.
„Ist ein Kranker hier?“ fragte der Gutsherr nur kurz, „ein Kranker, bei dem der Doctor zu thun hat?“
„Wir sind just zuvor erst gekommen,“ erklärte der Kutscher, dem dies als das Wichtigste erscheinen mochte.
„Gerade wie gerufen, gnädiger Herr,“ übernahm nun Trine in ihrer unwirschen Weise die Antwort. „Aber doch schon zu spät. Es ist nur gut, daß der Halder zum Herrn Pfarrer gegangen ist. Wenn der nur schnell käme. Du lieber Gott, ich hab’s gleich gewußt, daß es so kommen wird. Ja, die jungen Leut’, gnädiger Herr! Das Elend und der Jammer, das ist’s, was einen Menschen herunterbringt, und wenn Einer so schwach ist, da reißt es ihn gleich zusammen, man weiß nicht wie. Es ist kein Wunder. Muß da noch der schlechte Mensch kommen! Ich hab’ ihm von allem Anfang nichts Gutes zugetraut, aber der Jäger, der wäre noch gut Freund mit ihm geworden. Ja, die jungen Leut’, wenn bei denen einer nur recht unterhaltlich ist und was zu erzählen weiß – und so ein Lump muß auch noch den Angeber spielen, weil er selber nicht mehr aus noch ein kann. Der verdient den Galgen, wenn noch eine Gerechtigkeit auf der Welt ist.“
„So viel wird ihm wohl nicht geschehen,“ meinte der Gensd’arm, an den sie sich mit den letzten Worten, wie wenn sie ihn persönlich verantwortlich mache, gewendet hatte.
„Was ist denn eigentlich hier vorgefallen?“ fragte ihn nunmehr auch Franz, der aus dem Gerede der Alten nicht klug zu werden vermochte.
„Eigentlich nur ein paar leichte Prellereien,“ lautete der Rapport, „aber die Bauern haben Anzeige gemacht, und er war signalisirt. Heute Nachmittag hat der Jäger Halder einen Wagen in Großdorf drüben bestellt und dann im Wirthshause so ein paar Kunststücke mit Karten, Messern und Gläsern zum Besten gegeben. Der Hollerbauer hat ihm in’s Gesicht gesagt, die könne er nur von dem Taschenspieler gelernt haben, und ist geradeswegs zum Ortsvorsteher gegangen, wo wir gerade auf Patrouille waren. Es hat sich so eins aus dem andern ergeben, gnädiger Herr, und zuletzt haben wir den Patron auch richtig hier aufgegriffen. Mein Camerad hat seine Escortirung übernommen. Er genügt auch allein, und ich muß nur hier bleiben, bis er zurückkommt und weiteren Befehl bringt. Es wäre doch am Ende möglich, daß es mit der Denunciation seine Richtigkeit hat. Das gnädige Fräulein hat eigentlich auch nicht widersprochen, und so weiß ich nicht –“
„Als ob ein Mensch noch reden könnte bei all dem Jammer und Elend,“ brummte die Alte. „Das Fräulein wird zuletzt auch noch krank davon werden.“
„Sprechen Sie von meiner Schwester?“ wandte sich Franz, dem das Gerede sonderbar ungereimt erschien, wieder an sie. „Wo ist sie?“
In diesem Augenblicke legte sich eine Hand, aus der alles Blut gewichen war, kalt, wie die des Todes, auf die seine. Er wandte sich mit einer raschen Bewegung zur Seite und sah in Hilda’s bleiches Angesicht, dessen tief ernster, schmerzlicher Ausdruck ihn seltsam ergriff.
„Du hier? Also doch hier?“ rief er. „Was ist das mit dem Kranken? Wer ist er?“
Ohne ein Wort zu erwidern, führte sie ihn an der Hand zu der hinter ihr offen gebliebenen Thür. Dort in der anstoßenden kleinen Schlafkammer stand Doctor Schöller neben dem Bette und zählte die Pulsschläge seines Patienten, den man während eines tiefen Ohnmachtanfalls schleunig auf all die hochaufgebauschten Kissen gelegt hatte.
Als Franz in das leichenhafte Gesicht sah, dessen Augen geschlossen waren und an dem keine Regung mehr Leben verrieth, da zuckte er in mächtiger Erschütterung; sein Fuß hielt an und weigerte sich, die Schwelle vollends zu überschreiten. Dann schweifte sein Blick von dem Arzte, der ihm mit leisem bedeutungsvollem Kopfschütteln begegnete, zur Schwester, und es sprach sich ein harter Vorwurf darin aus, während er die Hand mit einer heftigen Bewegung aus der ihrigen zog.
„O, sei nicht unversöhnlich in seiner letzten Stunde!“ bat sie ihn mit sanfter Mahnung.
So leise sie gesprochen, rief doch der Ton ihrer milden Stimme den Sterbenden noch einmal aus den Schatten des Todeskampfes zurück. Seine Augen öffneten sich und hingen eine Weile an des Bruders Zügen. – Ein Lächeln flog um die bleichen Lippen und ging wie ein scheidender Sonnenstrahl über das schon vom Kuß des Todes berührte Antlitz.
„Hast Du ihn gebracht, Hilda?“ fragte Wilhelm sanft und mit dem Aufwand seiner letzten Kraft. „Es ist lieb von Dir, Franz, daß Du gekommen bist. Es ist doch noch gut, Abschied zu nehmen, ehe man verreist. Und es geht diesmal weit weg – noch weiter als das erste Mal – vielleicht sehe ich da drüben die arme liebe Any wieder. Arme Kleine, es war doch zu einsam für sie allein in der andern Welt. Ja, die andere Welt, Franz – die andere Welt – – Ob die Recht haben, die da sagen – –? Aber es ist mir wirklich eine Freude, Dich noch einmal zu sehen. Fürchte Dich nicht, ich mache Dir keine Schande mehr – – ich ziehe weiter, weiter – – Der dumme Schlaukopf hat sich selbst in die Daumschrauben gebracht, und ich – ziehe dennoch weiter.“
Noch einmal flog es wie das matte Aufleuchten eines schadenfrohen Lächelns um die blutleeren Lippen, dann aber fuhr er noch viel weicher und fast unhörbar fort:
„Es hat mir immer leid gethan, daß ich Deinen Zorn erweckt hatte. Wir waren doch so gute Cameraden immer – einst – als kleine Jungen – weißt Du noch, Franz?“
„Gerade weil ich Dich –“ preßte Franz hervor – „weil ich Dich so sehr geliebt, Wilhelm,“ aber es war ihm unmöglich, weiter zu sprechen.
„Gott lohn’ es Dir – möcht’ ich sagen, aber meine Wechsel sind schlecht,“ seufzte der Sterbende mit bitterem Humor.
Er versuchte die Hand auszustrecken aber er vermochte sie kaum zu heben. Doch Franz hielt sie im nächsten Momente schon mit festem, krampfhaftem Drucke in den seinen.
„Mein lieber, armer Willi!“ sprach er zitternd, indem er sich hinabbeugte, und eine schwere Thräne rollte ihm über die braune Wange in den Bart.
Der große Versöhner, der allen Hader schlichtet und jedem Groll ein Ende macht, senkte sich langsam hernieder auf den armen Müden da in der kleinen Schlafkammer des Jägerhauses. Vor seinem Winke thun sich die verriegelten Herzen auf, und seine Berührung bringt ihnen Frieden.
Auf dem erleuchteten Perron des Bahnhofes schritt Meinhard händeschüttelnd die Reihe der Bekannten auf und ab, die sich hier vereinigt hatten, um ihm das Geleite zu geben. Er hatte sich viele Freunde erworben in den langen Jahren, und so waren denn außer seinen bisherigen Untergebenen und den Angestellten der anderen Aemter auch Honoratioren und Bürger der Stadt zahlreich erschienen, um sich hier, wie das die freundliche Sitte verlangte, von dem Abreisenden noch einmal zu verabschieden.
[203] Sehr ernst und sichtlich gerührt ging er von Einem zum Andern, hatte für Jeden ein herzliches Wort oder ein freundlich aufmerksames Gehör, wo man sich noch in der letzten Minute die Protection des in eine so einflußreiche Stellung Gelangenden sichern wollte, aber dabei schweifte doch sein Blick manchmal plötzlich zur Seite, als ob er die Anwesenden mustere oder noch Jemand erwarte.
Da mit einem Male erhellte sich sein Auge, und dem Commandanten der Garnison, mit welchem er eben gesprochen, nur eine hastige Entschuldigung zuwerfend, wendete er sich der Eingangsthür zu, aus der eben Franz heraus getreten war.
„Du meinst also, daß Du von Waltershofen so holländisch davon gehen könntest?“ redete ihn dieser an. Was aber ein Versuch zum Scherze sein sollte, klang recht schwer und trüb.
Während sich die beiden Freunde die Hände drückten, zuckte Meinhard plötzlich und machte von Neuem eine rasche Wendung; denn hinter Franz tauchten nun Arm in Arm zwei zarte Frauengestalten auf.
„Wir fürchteten schon zu spät zu kommen, aber die Pferde haben doch noch tüchtig ausgegriffen,“ rief Mimi lebhaft.
Hilda sagte kein Wort; sie war sehr bleich und bewegt, und wäre der Schleier nicht bis zur Hälfte über das Gesicht herabgezogen gewesen, so hätte man an ihren Wimpern noch den Rest hinweggewischter Thränen flimmern sehen.
Meinhard begrüßte sie stumm.
„Ich konnte ja nicht erwarten,“ wandte er sich abermals zu Franz, indem er nur durch eine Gewaltanstrengung seine unsichere Stimme beherrschte, „ich konnte nicht erwarten, daß nach den heutigen Vorgängen – nach den Vorgängen in den letzten Stunden,“ verbesserte er sich, „Jemand von Euch noch Zeit und Stimmung finden würde –“
„Du weißt also schon?“ unterbrach ihn Franz.
„Soeben hat mir Doctor Schöller mitgetheilt – –. So traurig es ist, genau betrachtet, lieber Freund, muß man doch vielleicht sagen – es ist dem armen abgehetzten Manne die Ruhe zu gönnen.“
Franz nickte zu dem gutgemeinten Troste. Man sah ihm an, daß er innerlich bewegt war.
„Ja ja, ich weiß wohl,“ sagte er traurig. „Es ist alles gut, was ist, weil es ist, wie die Philosophen sagen. Aber daß es so kommen mußte – man hätte doch vielleicht –“
„Quäle Dich nicht mit Selbstvorwürfen, Franz! Was auch geschehen wäre, es hätte nichts mehr geändert. Schon gestern sagte mir Schöller, er besorge, daß Wilhelm nicht lange mehr leben werde. Sein Herzleiden sei zu weit vorgeschritten, es könne allenfalls noch Monate dauern, aber bei der geringsten Aufregung auch ein plötzliches Ende nehmen. Und wie war er in seiner Lage – vor Aufregungen zu behüten?“
„Gestern? – Sie wußten gestern –?“ fragte Hilda überrascht.
„Sobald Doctor Schöller vom Jägerhause zurückkam,“ antwortete Meinhard. „Der alte Herr hielt sich selbst schon für einen Mitschuldigen an der Verheimlichung und wußte sich vor Besorgniß nicht zu fassen. So nahm er denn in seiner Angst seine Zuflucht zu mir –“
„Und lieferte den Flüchtling damit aus,“ meinte Hilda.
„Nein,“ protestirte Meinhard mit Nachdruck. „Ich war zur Stunde nicht mehr an der Spitze des Amtes. Sonst hätte ich gegen meinen ehemaligen Jugendfreund einschreiten müssen. Doctor Schöller wußte das freilich nicht. Für mich aber gewann das Harte, das mich vor noch Härterem bewahrte, ganz andere Bedeutung. Es ist doch wohl alles gut, was ist.“
Hilda erbebte bis in’s Herz hinein. Alles, was gestern vorgefallen, trat ihr wieder vor Augen. O, sie verstand, was er meinte. Und nun war ihr auch der Sinn jener Worte klar, mit denen er ihr das Geld am Morgen eingehändigt. Er hatte genau gewußt, zu welchem Zweck sie es verwenden wollte, und diesen, wie die Dinge lagen, gebilligt, ohne sich unzart in das ihm einmal entzogene Vertrauen gewaltsam wieder eindrängen zu wollen. Und ihn hatte sie für gemüthlos halten können – ihn, ihn!
„O Meinhard!“ mehr brachte sie in tiefer Bewegung nicht hervor, aber auch dieser Laut wurde von dem Gerassel des anfahrenden Zuges verschlungen. Es war ihr, als gingen die schweren Eisenräder über ihr Herz hinweg, und ängstlich umklammerten ihre Finger seine Hand. Scheiden! Schon so bald, so schnell sollte es sein – –!
„Soll ich denn nicht noch einmal wenigstens in Ihr liebes Gesicht schauen dürfen, Hilda?“ bat er.
Und als jetzt die freie Hand den Schleier zurückgeschlagen hatte, da sah er in ein bleiches schmerzentstelltes Antlitz, in zwei schmerzerfüllte verweinte Augen, in die er seine ganze Seele versenkte. Einen Moment lang war’s ihm, als müsse noch ein Wort zwischen ihnen gesprochen werden – aber sie schwieg, und ihm versagte die Sprache jeden Laut. Und was sollte er auch noch sagen? Die Trauer galt ja doch nicht ihm – nur dem Todten waren die Thränen geflossen, und die Hand, die jetzt wie erstarrt in der seinen lag, wiederholte nicht den Druck, der ihm soeben das Scheiden nur noch erschwert hatte.
Er ließ sie los. Es mußte ja so sein.
Noch einmal Franz in die Arme. – „Du schreibst,“ sagte er. „Im Februar komm ich nach Wien.“ Dann hastig noch diese und jene Hand gedrückt, nach hier und dorthin einen Gruß und dann rasch in den Wagen, wo der Diener schon Ueberrock und Reisedecke bereitlegte. Hinauf! – „Glückliche Reise! Glückliche Reise!“
Aus Hilda’s Augen rannen plötzlich Ströme von Thränen. Schwankend klammerte sie sich an ihres Bruders Arm.
„Führ’ mich hinweg, Franz!“ stöhnte sie. „Mir ist zum Sterben.“
Während der Scheidende von seinem Sitze aus nach allen Seiten winkte und nickte, glitt sein Auge noch einmal zu Hilda hinüber. Aber kein wehendes Tuch, kein letzter Gruß – sie war verschwunden. Warum war sie gegangen? Man blickt doch dem scheidenden Freunde gern noch so lange nach, wie der entschwindende Zug noch sichtbar ist. Und sie hatte auch nicht die winzige Minute mehr auszuharren vermocht! Fürchtete sie dieselbe dem Glücklichen zu entziehen, der sie daheim erwartete – Edwin? Was hätte der Beneidenswerthe an der einen Minute verloren – er, dessen wonniges Eigenthum die ganze Zukunft blieb? – So fahr’ denn wohl, Traum eines Lebens!
Da huschte flink, wie eine Eidechse, noch eine schlanke Gestalt durch die dem Waggon zugewendete Gruppe der Herren, hüpfte über das nächste Geleise und war mit einem kleinen Sprunge auf dem Laufbrette. Gleich darauf tauchte Mimi’s frisches Gesichtchen an dem Fenster auf und sah mit wichtigen Augen zu dem überraschten Meinhard empor.
Das Kind also hing noch am treuesten an ihm! Das war ein Tropfen Rührung in die aufwallende Bitterkeit.
„Onkel Meinhard,“ begann die Kleine mit fliegender Hast, in dem Geräusche der Stimmen und zuschlagenden Thüren kaum verständlich, „Onkel Meinhard, Sie müssen nicht böse sein, aber mit unserer Heirath wird es nun wohl doch nichts. Ich kann nicht; denn ich habe schon Edwin mein Wort gegeben. Es thut mir leid, aber es geht wirklich nicht; das wollt’ ich nur noch sagen, damit Sie nicht am Ende wiederkämen, und darum bin ich auch eigens mit hierhergefahren. Aber nicht wahr, Sie tragen mir’s nicht nach, Onkel?“
„Edwin, Kind? Edwin? – Was ist es aber dann mit Hilda’s Brautschaft?“
„Zu Ende, zu Ende, lieber Onkel! Ist Alles nur ein Irrthum gewesen, ein Irrthum!“
„Was sagst Du? Wie ist das? – Du selbst irrst Dich gewiß, mein Kind!“
Die Kleine konnte nicht zur Antwort kommen, da der Schaffner sie eben gebeten hatte, zurückzutreten; sie sprang vom Laufbrett herab. Meinhard war kaum seiner selbst noch Herr. Edwin und Mimi ein Paar? Hilda frei? Und er sollte reisen – reisen in diesem Moment? Alles kochte in ihm; er öffnete nochmals die Thür und sprang rasch gleichfalls zur Erde.
„Ist es auch volle Wahrheit, Mimi? Nicht vielleicht ein kleiner Scherz?“ wiederholte er dringender seine Frage.
„Ich werde doch nicht so kindisch sein! Mit solchen ernsten Dingen treibt man keinen Scherz.“ Sie faßte seine Hand, indem sie mit ihm ein paar Schritte bei Seite trat. „Ach, Onkel Meinhard, lieber Onkel Meinhard, ich freue mich so unendlich. Es ist zwar recht traurig – das mit dem Todesfalle im Jägerhause – aber ich kann doch nicht immer weinen, und ich bin so glücklich – o so glücklich!“
„Aber ich verstehe noch immer nicht, was ist denn eigentlich geschehen? Es ist ja gar nicht möglich!“
„Doch, doch! Papa selbst hat nichts eingewendet. Er war [204] nach der aufregenden Scene im Jägerhause so weich und bewegt, daß er zu Allem nur nickte. Mama hat mir eine schöne Aussteuer versprochen, und Edwin will Alles thun, was Papa von ihm fordert. Er will ein Buch schreiben und Artikel für die Blätter, und sobald er die ersten tausend Gulden Honorar vorzeigen kann, dürfen wir heirathen – ja heirathen, Onkel Meinhard.“
Der Stationschef war an die beiden so vollkommen in ihr Gespräch Vertieften herangetreten, sie waren schon Zielpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden.
„Herr Sectionsrath!“ mahnte er höflich. „Es ist die höchste Zeit. Ich darf den Zug nicht länger aufhalten.“
„Lassen Sie ihn abgehen, lassen Sie ihn abgehen!“ erwiderte Meinhard in großer Erregung. „Ob ich nun zwölf Stunden früher oder später ankomme, davon hängt das Wohl des Staates nicht ab.“
Ein Wink! Es läutete – ein Pfiff, und vorwärts pustete der Zug, der sich ächzend und klirrend von der Stelle losriß, wo er kurze Zeit gerastet.
Mitten in dem Getöse die feine Stimme erhebend, erzählte Mimi auf Meinhard’s erneuerte Frage, wie Alles gekommen.
„Im Walde hat er mir’s gesagt,“ schloß ihr kurzer Bericht. „Er hat ja doch eigentlich mich lieb. Und ich glaub’s ihm – er wäre ja zu falsch, wenn es anders wäre.“
„Und – Hilda?“
„Tantchen wollte eben nur Jemand haben, der ihre Geschäfte besorgt, dazu aber braucht man doch nicht nothwendiger Weise zu heirathen – nicht wahr?“
„Mein Gott, wäre es denn aber wirklich möglich –! Wo ist sie, Mimi?“
„Da drinnen und weint sich die Augen aus.“
„Daß ihre Verlobung mit Edwin auseinander ging?“
„Gott bewahre, sie war es ja, die ihn fortgeschickt hat. Ich habe sie dafür so lieb.“
„Warum weint sie denn?“ drang er in steigender Aufregung in sie. „Um den Todten?“
„Danach können Sie sie ja aber doch selber fragen, Onkel Meinhard,“ versetzte Mimi achselzuckend, indem sie ihn schlau von der Seite ansah. „Warum sprechen Sie denn nicht zu ihr, wie Sie zu mir gesprochen haben? Ich habe ihr schon ein Bischen davon gesagt, nur ein klein Bischen – – Himmel! Jetzt sind Sie wirklich sitzen geblieben,“ rief sie lachend und klatschte hinter dem letzten Wagen des davonrollenden Zuges fröhlich in die kleinen Hände. „Wird das eine Ueberraschung geben!“
Meinhard war plötzlich von ihrer Seite verschwunden, und seine während des fliegenden Gespräches discret ferngebliebenen Bekannten sahen ihn nun mit ungemessenem Erstaunen zurückbleiben und dann mit beflügelten Schritten, leidenschaftlich wie einen Jüngling, in den Wartesaal eilen.
Ihm war zu Muthe, als hätte ein Sturmwind ihn plötzlich erfaßt, der ihn aus düsterer Schlucht zum hellen Sonnentage emporwirbelte.
Dort, im Wartezimmer, saß sie auf dem Bänkchen in der Ecke und lehnte schluchzend an ihres Bruders Schulter.
„Meinhard!“ rief dieser erstaunt dem in’s Zimmer Tretenden entgegen. In seinen Augen blitzte ein frohes Licht auf, als er den Freund erscheinen sah.
„Ich bin zu spät gekommen,“ versuchte Meinhard schüchtern eine Entschuldigung.
„Ich glaube eher – gerade zurecht. Gut, daß Du da bist; sie ist mir fast umgesunken.“
„Hilda, ist es möglich – ist es möglich, daß Du um mich weinst?“ fragte er mit bewegter Stimme. Hastig ergriff er ihre Hände und zog sie mit zärtlicher Gewalt von dem thränenfeuchten Antlitze hinweg.
„Hilda!“
„Nimm mich mit, Bruno,“ klagte sie sanft. „Ich kann nicht sein ohne Dich !“ –
„So war’s gemeint!“ sprach Franz nach einer Weile, während welcher er mit Rührung den Freund und die Schwester betrachtet, die sich wortlos umfangen hielten. „Na, was lange braucht, wird gut.“
„Das wollen wir hoffen!“ sagte Meinhard leuchtenden Blickes. „Endlich, endlich ist der säumige Gast doch noch eingekehrt in dieses widerspenstige Herz.“
„O nein,“ entgegnete sie, und mit schmerzlichem und doch glücklichem Lächeln, dessen Spiegelung sie in des Geliebten Augen suchte, schmiegte sie sich innig in seinen Arm. „Er ist immer dagewesen, von jeher – ich habe es nur nicht gewußt.“
„Da ist er also doch, der heimliche Gast,“ frohlockte Mimi. „Hatt’ ich nicht Recht mit meiner Warnung vor dem gefährlichen Nebenbuhler? O, ich hab’ es gefühlt. – Was wohl Edwin dazu sagen wird?“
Leise nickte Franz vor sich hin.
„Dort ist der Tod – hier das Leben. Das bleibt im Rechte.“