Der gleitende Purpur
„Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“
Schallt im Münsterchor der Psalm der Knaben.
Kaiser Otto lauscht der Mette,
Diener hinter sich mit Spend’ und Gaben.
Heute, da die Himmel niederschweben,
Wird dem Elend und der Blöße
Mäntel er und warme Röcke geben.
Hundert Bettler stehn erwartend –
Mit den wundgeriebnen Armen,
dran zerrissner Fesseln Enden hangen.
– „Schalk! Was zerrst du mir den Purpur?
Harr und beite! Kennst du mich als Kargen?“
Fest und jammert: „Kennst du mich, den Argen?
Du Gesalbter und Erlauchter!
Kennst du mich? … Du hast mit mir gelegen,
Mit dem Siechen, mit dem Wunden,
Schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
Aus demselben Psalmenbuche
Sang das frische Jugendantlitz Beider!
Hast zum Spiele du mich oft gerufen
Durch die Säle, durch die Gänge,
Auf und ab der Wendeltreppe Stufen …
Dann als einen falschen Bruder
Du ergrimmtest und Du warfest
In die Kerkertiefe mich gebunden …
In der Tiefe meines Kerkers
Hab’ ich ohne Mantel heut gefroren …
Heute wird der Welt das Heil geboren!“
„Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“
Hundert Bettler strecken jetzt die Hände:
„Gieb uns Mäntel! Gieb uns Röcke!
Eine Spange löst der Kaiser
Sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet
Ueber seinen sünd’gen Bruder
Und der erste Bettler steht bekleidet …
Jubelt Erd’ und Himmelreich mit Schallen.
Glorie! Glorie! Friede! Freude!
Und am Menschenkind ein Wohlgefallen!