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Der falsche Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt

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Textdaten
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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Der falsche Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt
Untertitel:
aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1, S. 136–142
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Der falsche Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt.

Etwa eine halbe Stunde von der Reichshauptstadt, auf einer Insel der Spree, erhebt sich – fern vom Geräusch der Weltstadt – die Stadt Köpenick. Wohl hat Köpenick eine selbständige Stadtverwaltung; allein die Fluktuation der Bevölkerung mit der Millionenstadt ist naturgemäß eine solch rege, daß Köpenick im eigentlichen Sinne des Wortes eine Vorstadt von Berlin genannt werden kann. In Köpenick ist viel Industrie. Ganz besonders ist aber Köpenick durch seine großartigen Dampfwäschereien berühmt. Im allgemeinen führten die Bewohner des Städtchens ein beschauliches Dasein. An der Peripherie des Reiches wird es vor dem 16. Oktober 1906 wohl nicht viel Leute gegeben haben, die von der Existenz der Stadt Köpenick Kenntnis hatten. Das änderte sich am 16. Oktober 1906 mit einem Schlage.

Köpenick ist kein Garnisonort. Am Nachmittag des 16. Oktober 1906 trafen plötzlich zehn Gardeinfanteristen mit aufgepflanztem, geladenem Gewehr unter Führung eines Hauptmanns vom ersten Garderegiment zu Fuß in Köpenick ein. Das Kommando, das mit der Eisenbahn von Berlin eingetroffen war, marschierte schnurstracks vom Bahnhof nach dem Rathause. Etwa zehn Schritt vor dem Rathause wurde „Halt“ kommandiert und der Befehl erteilt, die Schuppenketten herunterzulassen. Vor dem Rathause angelangt, kommandierte der Hauptmann: „Posten vor! Portale besetzen!“ Das Hauptportal wurde durch einen Doppelposten, die beiden anderen Eingänge durch je einen Einzelposten besetzt. Die anderen Soldaten folgten dem Hauptmann ins Rathaus. Im Erdgeschoß des Rathauses befand sich die Stadtkasse, im ersten Stock die Amtszimmer des Bürgermeisters Dr. Langerhans. Auf Befehl des Hauptmanns mußte ein Gefreiter und einer von der Mannschaft im unteren Flur bleiben. Der Gefreite hatte den Auftrag, dafür zu sorgen, daß die im Rathaus befindlichen Leute in ihren Zimmern bleiben. Jeder Verkehr unter den Rathausbeamten sollte verhindert werden. „Wenn jemand etwas Dringendes zu bestellen habe,“ so verfügte der Hauptmann, „müsse ihn ein Posten begleiten.“ Alsdann begab sich der Hauptmann in Begleitung von vier Soldaten nach dem ersten Stock. Hier erklärte er zunächst den Oberstadtsekretär Rosenkranz „im Namen Seiner Majestät“ für verhaftet. Zweien Soldaten befahl der Hauptmann, an der Tür des Amtszimmers des Oberstadtsekretärs stehen zu bleiben und jeden Verkehr nach außen hin zu verhindern. Alsdann begab sich der Hauptmann mit zwei Soldaten in das daneben liegende Zimmer. Er fragte den darin befindlichen Herrn, wer er sei. „Ich bin der Bürgermeister Dr. Langerhans,“ versetzte der Herr. „Im Namen Seiner Majestät, Sie sind verhaftet,“ rief der Hauptmann. Der Bürgermeister erwiderte: Ihr Auftreten ist vollständig ungesetzlich, Sie müssen mir vom Minister eine Legitimation vorzeigen. Jedenfalls werde ich mich sofort mit dem Landratsamt telephonisch in Verbindung setzen. Der Hauptmann legte dem Bürgermeister die Hand auf die Schulter und rief: Sie haben hier gar nicht zu telephonieren. Wenn Sie noch lange Widerstand leisten, lasse ich Sie in eine Arrestzelle sperren. Meine Legitimation sind meine Soldaten. „Eure Instruktion kennt ihr!“ herrschte der Hauptmann die zwei Soldaten, die ihn in das Amtszimmer des Bürgermeisters begleitet hatten, an. Die Soldaten hatten wohl von dem Hauptmann keine Instruktion empfangen, sie hatten jedoch die Auffassung, jeden Verkehr des Bürgermeisters mit der Außenwelt verhindern zu sollen. Dies taten sie auch getreulich. Als der Bürgermeister sich ein Taschentuch aus seinem in der Nähe der Tür hängenden Überzieher holen wollte, wurde er von den Soldaten daran gehindert. Einige Zeit darauf trat der Hauptmann wieder in das Amtszimmer des Bürgermeisters. Letzterer ersuchte den Hauptmann um die Erlaubnis, seine im Rathause wohnende Frau sprechen zu dürfen. Der Hauptmann gestattete das und ließ sogleich die Frau Bürgermeister durch einen Rathausdiener rufen. Frau Bürgermeister erschien sehr bald und erklärte dem Hauptmann: wenn ihr Mann abgeführt werden sollte, so werde sie ihn begleiten. Der Hauptmann wollte dies zunächst nicht zugeben. Da aber die Frau Bürgermeister wiederholt mit großer Entschiedenheit erklärte: sie werde von der Seite ihres Gatten nicht weichen, gab der Hauptmann schließlich sein Einverständnis.

Der Hauptmann begab sich darauf mit zwei Soldaten in das im Erdgeschoß belegene Kassenzimmer. Hier erklärte er dem Rendanten v. Wiltberg: er habe die Verwaltung der Stadt übernommen und im Auftrage Seiner Majestät den Bürgermeister und den Oberstadtsekretär verhaftet. v. Wiltberg solle sofort Kassenabschluß machen und ihm das Geld übergeben. v. Wiltberg weigerte sich zunächst mit dem Bemerken: ohne Erlaubnis des Bürgermeisters könne er unter keinen Umständen etwas aus der Kasse geben. Der Hauptmann erwiderte: „Der Bürgermeister ist verhaftet, mit diesem haben Sie nichts mehr zu reden. Sollten Sie sich weigern, dann werde ich Sie ebenfalls verhaften. Jetzt bin ich Ihr Vorgesetzter und trage jede Verantwortung.“ Darauf nahm v. Wiltberg den Kassenabschluß vor und händigte dem Hauptmann 4000 Mark und 70 Pfg. aus, worüber letzterer mit der Unterschrift: „v. Malzahn“ eine Quittung ausstellte.

Inzwischen hatte die Frau Bürgermeister ihrem Mann Kaffee ins Arbeitszimmer geschickt. Die Soldaten erklärten jedoch: ohne Erlaubnis des Hauptmanns dürften sie weder das Trinken des Kaffees noch das Telephonieren gestatten. Als der Hauptmann im Zimmer des Bürgermeisters wieder erschien, gestattete er letzterem, den Kaffee zu trinken und auch zu telephonieren. Der Bürgermeister erhielt aber keinen Anschluß. Als der Bürgermeister den Hauptmann nochmals nach dem Haftbefehl fragte, fuchtelte der Hauptmann ihm mit einem großen Schriftstück vor den Augen und sagte: Meine Soldaten sind meine Legitimation. Alles weitere werden Sie auf der Neuen Wache in Berlin erfahren. Ich habe den Befehl, Sie dorthin schaffen zu lassen. Machen Sie keine Schwierigkeiten, ich werde Sie in einem Wagen nach Berlin fahren lassen.

In Köpenick hatte sich inzwischen wie ein Lauffeuer die Nachricht verbreitet: der Bürgermeister und der Oberstadtsekretär seien verhaftet, das Rathaus militärisch besetzt. Sehr bald hatte sich eine vieltausendköpfige Menschenmenge vor dem Rathause angesammelt. Ein Gendarmeriewachtmeister, ein Gendarm und drei Polizeisergeanten waren herbeigeeilt. Zunächst waren diese Beamten bemüht, das Publikum zu zerstreuen, die Straße zu säubern. Danach wollten sie ins Rathaus gehen. Sie hatten jedoch die Rechnung ohne die Soldaten gemacht. Diese hatten den Befehl, ohne Erlaubnis des Hauptmanns niemanden weder in das Rathaus hinein-, noch hinauszulassen. Polizeiinspektor Jäckel, der sich im Rathause aufhielt, wollte den Bürgermeister und Polizeichef um Urlaub bitten, um ein Wannenbad nehmen zu können. Als der Polizeiinspektor hörte, daß der Bürgermeister verhaftet sei und ein Hauptmann der Garde die Verwaltung der Stadt übernommen habe, ersuchte er diesen um Urlaub. Mit einer Handbewegung wurde der Urlaub erteilt.

Der Hauptmann ließ schließlich zwei Wagen holen. Auf Befehl des Hauptmanns wurden Bürgermeister Dr. Langerhans und Frau, der Oberstadtsekretär Rosenkranz und Rendant v. Wiltberg, letzterer als Zeuge, von Soldaten an die Wagen geleitet. v. Wiltberg hatte dem Hauptmann die Schlüssel zum Geldschrank gegeben, und Bürgermeister Langerhans, der sich dem Hauptmann als Reserveoffizier zu erkennen gegeben, hatte dem Hauptmann auf Ehrenwort versichert, daß er nicht die Flucht ergreifen werde. Alsdann befahl der Hauptmann, daß auf jedem Wagen ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett auf dem Kutschbrett Platz nehme.

In Berlin auf der Neuen Wache angelangt, war man über den eigenartigen Transport nicht wenig erstaunt. Der Kommandierende der Wache fragte telephonisch bei der Kommandantur an. Als diese antwortete, daß von einem Haftbefehl nichts bekannt sei, gelangte man zu der Überzeugung, daß der angebliche Hauptmann ein geriebener Gauner sein müsse. Letzterer hatte in Köpenick dem Gefreiten Klapdohr den Befehl gegeben: nach einer halben Stunde die Posten einzuziehen und alsdann mit der Mannschaft nach Berlin zurückzufahren. Der Hauptmann selbst begab sich zur Bahn und war seit dieser Zeit verschwunden. Dieser eigenartige Gaunerstreich machte begreiflicherweise in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen.

Eine hohe Belohnung wurde sogleich auf die Ergreifung des Gauners ausgesetzt. Am 26. Oktober 1906 gelang es der Kriminalpolizei, unter Leitung des Kriminalkommissars jetzigen Polizeiinspektors Wehn, den falschen Hauptmann in der im Osten Berlins belegenen Langestraße 22 zu verhaften. Es war der Schuhmacher Friedrich Wilhelm Voigt, ein vielfach wegen Eigentumsvergehen mit Gefängnis und Zuchthaus, zuletzt wegen Einbruchs in die Gerichtskasse zu Wongrowitz mit 15 Jahren Zuchthaus, Ehrverlust und Polizeiaufsicht bestrafter Mensch. Voigt hatte am 16. Oktober 1906 Hauptmannsuniform, die er bei einem Trödler gekauft hatte, angelegt und alsdann auf der Straße die Ablösungen der Schwimmanstalts- und Schießstandswache in Plötzensee, als diese in die Kaserne marschierten, angehalten und befohlen, mit ihm zu gehen, er habe einen Befehl des Kaisers auszuführen. Auf dem Bahnhof in Köpenick hatte Voigt den Soldaten Mittagessen geben lassen. Voigt, der am 13. Februar 1849 zu Tilsit geboren war, hatte sich am 1. Dezember 1906 vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin II wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung, Betruges, Urkundenfälschung, unbefugter Ausübung eines öffentlichen Amtes und unbefugten Tragens einer Uniform auf Grund der §§ 239, 263, 267, 268 Ziffer 1, 360 alin. 8, 132 und 73 des Strafgesetzbuches zu verantworten. Er war in vollem Umfange geständig. Er sei, so sagte er, genötigt gewesen, einen Gaunerstreich auszuführen, da, nachdem er im Februar 1906 aus dem Zuchthause entlassen war, er von der Polizei von Stadt zu Stadt gehetzt worden sei. Er habe in Wismar bei einem Hofschuhmachermeister lohnende Arbeit gefunden. Er sei dort, obwohl man seine Vergangenheit kannte, wie ein Familienmitglied behandelt worden. Sehr bald sei er aber von der Polizei aus ganz Mecklenburg ausgewiesen worden. Auch aus Berlin hatte ihn die Polizei ausgewiesen. Er wohnte deshalb unangemeldet in der Langenstraße 22 als „Schlafbursche“. Er konnte nirgends Arbeit finden, er habe deshalb beschlossen, die Militärbehörde gegen die Polizeibehörde auszuspielen.

Voigt bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Dietz: er sei seiner Bestrafungen wegen nicht Soldat gewesen. Seine Eltern haben in Tilsit gegenüber der Dragonerkaserne gewohnt. Sein Vater, ein Schuhmachermeister, bei dem er das Schuhmacherhandwerk erlernt, habe viel für die Offiziere und Mannschaften gearbeitet. Er hatte daher Gelegenheit, viel in der Kaserne zu verkehren; dadurch habe er alle militärischen Kommandos kennen gelernt. – Die als Zeugen vernommenen Soldaten erklärten auf Befragen des Vorsitzenden: sie hätten auf Kommando des Hauptmanns auch von ihren Bajonetten oder Schußwaffen Gebrauch gemacht. – Trotzdem bleibt es ein Rätsel, daß Bürgermeister Dr. jur. Langerhans, ein Reserveoffizier, den Mann für einen richtigen Hauptmann halten konnte. Abgesehen davon, daß der Mann das Aussehen eines hohen Sechzigers hatte und die Kokarde an der Mütze falsch angemacht war, so merkte man bei genauer Aufmerksamkeit, daß der Mann falsch deutsch sprach. Der Staatsanwalt beantragte 5 Jahre Zuchthaus und 5 Jahre Ehrverlust. Nach eingehender Verteidigung der Rechtsanwälte Bahn und Dr. Schwindt wurde der Angeklagte, unter Zubilligung mildernder Umstände, zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die bürgerlichen Ehrenrechte ihm aber nicht aberkannt. Im August 1908 wurde Voigt begnadigt.