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Der alte Glöckner

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Textdaten
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Autor: Ernst Ziel
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Titel: Der alte Glöckner
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 18
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[18]
Der alte Glöckner.


Sylvesternacht – auf hohem Glockenstuhle
Webt um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;
Fahlgelb und öd’, in ungewissem Licht
Hängt gähnend um den Thurm die Himmelsleere,

5
Und alles schweigt – nichts regt sich in den Höh’n;

Kaum daß ein Vogel durch die Lüfte schweift
Und in des Nebels Abgrund untertaucht.
Nur wo im engen Stübchen, wolkennahe,
Der Glöckner wohnt, der müde, altersgraue,

10
Deß’ Antlitz einst der Schlachtendampf gebräunt,

Da flammt am Fenstersims die Lampe noch.

„O, laß mich,“ ruft er aus dem Polstersessel
Und streckt die hag’re Hand dem Sohn entgegen,
Der jugendfrisch an seiner Seite lehnt,

15
„O, laß mich einmal noch die Glocke ziehn!

Ist’s doch, als ob mir jung die Kräfte wüchsen
Mit dieses Jahres Flucht – das Siechthum weicht;
Es schwillt mir mächtig die Soldatenbrust,
Und meines Amtes walten will ich wieder.

20
Den Glockenstrang! Gieb her den Strang –“ und schon,

Indem ihm Jener liebreich wehrt, steht er
Auf schwanken Füßen aufrecht – hebt sich – zieht –
Und voll und feierlich und allgewaltig
Tönt in die Nacht des Jahres letzt’ Geläute.

25
Und wie um Giebel und Gethürm die Klänge

Sich abwärts schwingen in die Stadt da unten
Und aufwärts brausen um des Thurms Gemäuer –
„O zaubrisches Erinnern,“ ruft er da,
„Wie sprichst Du seltsam mit metall’ner Zunge

30
Zu mir aus der Sylvesterglocke Hall!

In blondem Haar, das Schwert an meiner Linken,
Seh’ ich mich singend ziehn zum Thor hinaus;
In den Franzosenkrieg mit den Cam’raden
Fühl’ ich mich wundermächtig fortgerissen –

35
O Zeit des Ruhms, o Zeit der großen Schlachten,

Im Ohre tönt mir ehern noch dein Schritt,
Und schneller fließt mein Blut, gedenk’ ich dein.“

Da zieht er hastiger den Glockenstrang;
Er zieht ihn feurig mit der müden Hand.

40
„Hörst Du, mein Sohn, die Glocke weithin donnern?

Die Donner sind’s von Leipzig, Waterloo –
In Schmach der Corse und sein Reich in Trümmern,
Doch Deutschland, Deutschland siegreich, mächtig, frei – –“

Es schwankt der Alte, und sein Arm erlahmt;

45
Die Glocke schweigt, doch nur secundenlang –

Und wieder in die stille Nacht hinaus
Tönt, Hall auf Hall, das ernste Festgeläute,
Doch diesmal tönt es nicht wie Schlachtendonner;
Wie Wehmuth weint es, wie verhaltner Groll,

50
Und schwillt, aufächzend zu des Himmels Wolken,

In wilden Klagen an.
„Verhaßte Ernte,“ stöhnt er zornig auf,
„Die, ach! solch edlen Krieges Saat entsproß!
Am blut’gen Lorbeer fraß des Volkes Gram;

55
Denn heil’ges Fürstenwort ward eitel Dunst;

Den Helden folgten der Bedrückung Schergen
Und großen Vätern kleine Enkel nach.
Der Höfling herrschte; schnöde Staatskunst schlug
In’s Pfaffenjoch die ewige Vernunft,

60
Und mit dem Bürger, der ein Knecht geworden,

Saß die Verbitterung am kargen Tisch.
Da“ – voller weckt den Glockenklang der Alte,
Und kräft’ger schwingt sich das beseelte Erz –
„Da kam ein Tag: Die Langmuth ging zur Neige;

65
Der Funke glomm; die Gluth schlug auf – und kämpfend

Auf Barricaden stand ich mit den Brüdern.“
Schwer seufzt der Greis; es hallt so matt die Glocke –
„Ein Wahn, ein Traum!“ haucht er mit müder Stimme,
„Das Ziel war groß, allein die Kraft war schwach;

70
Dem Aufschwung folgte die Ernüchterung.“


Nun aber plötzlich hebt er stolz sein Haupt;
Er zieht die Glocke stürmisch, hochgemuthet,
Und „Heil Dir!“ spricht er, zu dem Sohn gewandt,
„Heil Dir, daß Du ein Spätgeborner bist!

75
Was wir gewollt, Ihr habt’s erreicht; denn glorreich

Erstrahlt in seines jungen Ruhmes Glanze
Das theure Vaterland.
Den Kranz, den Du bei Sedan miterrungen,
O, sieh, Europens Völkern stolz voran,

80
Trägt flügelmächtig ihn der deutsche Aar

Zu des Jahrhunderts höchster Staffel auf.
Und ob auch heut’ an Deutschlands bestem Mark
Mit gift’gem Zahn die inn’re Zwietracht nagt,
Obsiegen wird es über Roms Trabanten,

85
Obsiegen über der Empörung Brut,

Wie es gesiegt in allen edlen Schlachten – –“

Er schweigt. Sein Auge flammt prophetenhaft,
Als schaut’ es ahnend in entlegne Fernen,
Und wie Verklärung weht’s von seinen Lippen:

90
„Aufragen seh’ ich in der Zukunft Zeiten

Dein heiliges Panier, mein Vaterland,
Ein Hort dem Recht, ein Schrecken allem Bösen
Und eine Leuchte in dem Sturm der Zeit.
Ich seh’ Dich thronen an der Völker Spitze;

95
Dir huldigt neidlos die bewohnte Erde,

Und freudig harren Deines Richterspruchs
In Demuth und Bewundrung die Nationen.
Drum, die Ihr heut im Licht der Sonne wandelt,
Seid eingedenk der Tage, die da kommen!

100
Mein Sohn, mein Sohn, steh treu auf Deiner Wacht

Und schirme, was die Väter einst erstritten,
Tritt ein für Freiheit, Volk und Vaterland –
Tritt ein – tritt ein – –“

 Er wankt; er bebt – noch einmal
Zieht er die Glocke – leise stirbt ihr Klang,

105
Und an die Brust, Begeistrung noch im Blicke,

Sinkt lautlos er dem Sohn – –
Nun dröhnt vom Thurm der Jahres letzte Stunde
Und hallt und schweigt.

 Auf hohem Glockenstuhle
Weht um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;

110
Nichts regt sich in den Höh’n –

Nur in des Glöckners Stübchen, wolkennahe,
Knie’t bei dem todten Vater stumm der Sohn,
Und in die kalte Rechte des Soldaten
Schwört er der Freiheit und der Volkes Sache,

115
Schwört er dem Vaterland den Eid der Treue.
Ernst Ziel.