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Der Ziegenhirt

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Textdaten
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Autor: Johann Karl Christoph Nachtigal
unter dem Pseudonym Otmar
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Titel: Der Ziegenhirt
Untertitel: Volks-Sagen in der goldnen Aue
aus: Volcks-Sagen, S. 153–158
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1800
Verlag: Wilmans
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Erscheinungsort: Bremen
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Ziegenhirt.

„Peter Klaus, ein Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde am Kyffhäuser weidete, pflegte sie am Abend auf einem mit altem Gemäuer umschloßnen Platz ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt.

Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, daß eine seiner schönsten Ziegen bald nachher, wenn er auf diesen Platz gekommen war, verschwand, und erst spät der Heerde nachkam. Er beobachtete sie genauer, und sahe, daß sie durch eine Spalte des Gemäuers durchschlüpfte. Er wand sich ihr nach, und traf sie in einer Hölung, wo sie fröhlich die Haferkörner auflas, die einzeln von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Hafer-Regen, konnte aber durch alles Hinstarren nichts weiter entdecken. Endlich hört’ er über sich das Wiehern und Stampfen einiger muthigen Hengste, deren Krippe der Hafer entfallen muste.

So stand der Ziegenhirt da staunend über die Pferde in einem ganz unbewohnten Berge. Da kam ein Knappe, und winkte schweigend, ihm zu folgen. Peter stieg einige Stuffen in die Höhe, und kam, über einen ummauerten Hof, an eine Vertiefung, die ringsum von hohen Felsenwänden umschlossen war, in welche durch überhangende dickbelaubte Zweige einiges Dämmerlicht herab fiel. Hier fand er, auf einem gutgeebneten, kühlen Rasenplatz, zwölf ernste Ritter-Männer, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Peter wurde schweigend angestellt, um die Kegel aufzurichten.

Anfangs that er dies mit schloddernden Knien, wenn er, mit halbverstohlnem Blick, die langen Bärte und die aufgeschlitzten Wämser der edeln Ritter betrachtete. Allmählig aber machte die Gewöhnung ihn dreister; er übersah alles um sich her mit immer festerm Blick, und wagte es endlich, aus einer Kanne zu trinken, die neben ihm hingesetzt war, und aus welcher der Wein ihm lieblich entgegenduftete. Er fühlte sich wie neubelebt; und so oft er Ermüdung spürte, holte er sich aus der nie versiegenden Kanne neue Kräfte. Doch endlich übermannt’ ihn der Schlaf.

Beim Erwachen fand er sich auf dem umschloßnen grünen Platz wieder, wo er seine Ziegen ausruhen zu lassen pflegte. Er rieb sich die Augen, konnte aber weder Hund noch Ziegen entdecken, staunte über das hochaufgeschoßne Gras, und über Sträucher und Bäume, die er vorher hier noch nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter, alle die Wege und Steige hindurch, die er täglich mit seiner Heerde zu durchirren pflegte; aber nirgends fand sich eine Spur von seinen Ziegen. Unter sich sah’ er Sittendorf, und endlich stieg er, mit beschleunigtem Schritt herab, um hier nach seiner Heerde zu fragen.

Die Leute, die ihm vor dem Dorfe begegneten, waren ihm alle unbekannt, waren anders gekleidet, und sprachen nicht so, als seine Bekannten; auch starrten ihn alle an, wenn er nach seinen Ziegen fragte, und faßten sich an das Kinn. Endlich that er fast unwillkührlich eben das, und fand, zu seinem Erstaunen, seinen Bart um einen Fuß verlängert. Er fing an, sich und die ganze Welt um sich her, für verzaubert zu halten; und doch kannte er den Berg, den er herabgestiegen war, wohl als den Kyffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen alle wohlbekannt. Auch nannten mehrere Knaben, auf die Frage eines Vorbeireisenden, den Namen: Sittendorf.

Kopfschüttelnd ging er in das Dorf hinein und nach seiner Hütte. Er fand sie sehr verfallen, und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe in zerrißnem Kittel, neben einem abgezehrten Hunde, der ihn zähnefletschend angrinzte, als er ihm rief. Er ging durch die Oeffnung, die sonst eine Thür verschloß, hinein, fand aber alles so wüste und leer, daß er, einem Betrunkenen gleich, aus der Hinterpforte wieder hinaus wankte, und Frau und Kinder, bei ihren Namen rief. Aber keiner hörte, und keine Stimme antwortete ihm.

Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen eisgrauen Bart, Weiber und Kinder, und fragten ihn um die Wette: Was er suche? Andre vor seinem eignen Hause nach seiner Frau oder seinen Kindern zu fragen, oder gar nach sich selbst, schien ihm so sonderbar, daß er, um die Fragenden los zu werden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen. „Kurt Steffen!“ Die meisten schwiegen und sahen sich an, endlich sagte eine bejahrte Frau: Seit zwölf Jahren wohnt der unter der Sachsenburg, dahin werdet ihr heute nicht kommen. „Velten Meier!“ Gott habe ihn selig! antwortete ein altes Mütterchen an der Krücke, der liegt schon seit funfzehn Jahren in dem Hause, das er nimmer verläßt.

Er erkannte zusammenschaudernd seine plötzlich alt gewordenen Nachbarinnen; aber, ihm war die Lust vergangen, weiter zu fragen. Da drängte sich durch die neugierigen Gaffer ein junges, rasches Weib, mit einem einjährigen Knaben auf dem Arm, und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. „Wie heißt ihr?“ fragte er erstaunend. Marie. „Und euer Vater?“ Gott habe ihn selig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahr, daß wir ihn Tag und Nacht suchten auf dem Kyffhäuser, da die Heerde ohne ihn zurückkam; ich war damals sieben Jahr alt.

Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht halten. Ich bin Peter Klaus, rief er, und kein anderer! und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arm. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme, und noch eine Stimme rief: Ja, das ist Peter Klaus! Willkommen Nachbar! nach zwanzig Jahren willkommen!“