Der Winterschlaf der Thiere
Zu Mariä Geburt, heißt es im Volksmunde, ziehen die Schwalben fort. Die lieben Vöglein wandern in ferne fremde Länder, weil der kalte, unheimliche Winter naht und sie daheim keine Nahrung finden. Kommt aber der Frühling wieder in’s Land, da kehren sie zurück zum heimathlichen Heerd, denn wo sie geboren sind, wo sie bauten, da ist ja ihr wahres Vaterland. Dieses Wandern ist also eine Nothwendigkeit, es ist ein Kampf um das Dasein. Die Vögel freilich können schnell wandern, sie haben Flügel, welche sie in raschem Schwung weit über Berg und Thal, weit über das Meer tragen; aber der Igel, der Hamster, die Blindschleiche,
[488] die Schnecke, sie alle können nicht den weiten Weg nach dem Süden zurücklegen, sie würden schon während der langen Reise vom Winter überfallen werden und unfehlbar zu Grunde gehen. Wie also sorgt die Natur, daß diese Thiere, welche im Winter keine Nahrung finden, dennoch am Leben bleiben? Ganz einfach durch den Winterschlaf. Man nennt ihn den Winterschlaf, weil er in unserem Klima mit dem Winter zusammenfällt. In den Tropen beobachtet man dieselbe Erscheinung im Sommer, wenn nämlich die Temperatur ihre äußerste Grenze erreicht; denn große Kälte und übermäßige Hitze bieten dieselben Erscheinungen. Hier wie da erhärtet der Boden, die Pflanzen verlieren ihre Blätter und die Thiere sind genöthigt, auf verschiedene Weise sich dem Einflusse der ungünstigen Temperatur zu entziehen.
Wenn wir die Säugethiere betrachten, so finden wir, daß keines derselben in unmittelbarer Berührung mit der freien Luft den Winterschlaf hält; jedes sucht sich zu verbergen oder in Höhlen zu verstecken, welche es gewöhnlich verstopft, um eben gegen jeden Witterungswechsel geschützt zu sein. Alle treten den Winterschlaf wohlgemästet an und zehren während dieser Zeit, wo sie gar keine Nahrung zu sich nehmen, von ihrem Fette. So wissen wir vom Igel, daß er schon während des Herbstes Stroh, Heu, Laub und Moos in seine Höhle trägt, um sich ein weiches Lager zu bereiten. Sobald der erste starke Frost eintritt, verscharrt er sich tief in dasselbe, um hier die kalte Zeit bis zum Ankunft des Frühlings abzuwarten.
Die Erscheinung des Winterschlafes ist bei den Murmelthieren am genauesten beobachtet worden. Gegen den Herbst zu graben sie sich in ihre Winterwohnung, die jedoch selten tiefer als vier Fuß unter dem Rasen liegt. Sie ist nach Tschudi immer niedriger im Gebirge gelegen als die Sommerwohnung. Der Jäger erkennt die bewohnte Winterhöhle sowohl an Heu, das vor ihr zerstreut liegt, als auch an der gutverstopften faustgroßen Mündung der Höhleneingänge, während die Röhren der Sommerwohnung immer offen sind. Gräbt nun der Jäger eine solche Winterwohnung auf, so findet er daselbst eine Wärme von acht bis neun Grad Réaumur. Die Thiere liegen nahe beieinander, den Kopf am Schwanze in todesähnlicher Erstarrung. Ein Murmelthier, das fest schläft, ruht immer so, daß sein Körper einen Kreisbogen beschreibt, der Kopf nach hinten sieht und zugleich gegen die Brust und den Unterleib gewendet ist. Man findet gewöhnlich den Schwanz nach vorn eingeschlagen. Die erstarrten Thiere haben die Augenlider geschlossen. Ihre Pupille ist in der Regel merklich erweitert. Man sieht keine Athemzüge bei festem Winterschlafe. Das Thier scheint während der Dauer des Winterschlafes nichts zu genießen, obwohl der bekannte Naturforscher Schinz sagt, daß Murmelthiere von dem eingetragenen Heu fressen, wenn sonnige Frühlingstage ein allzu frühes Aufwachen veranlassen und sie draußen noch keine Nahrung finden. So viel steht nun fest, daß der Winterschlaf ein völliger Scheintod ist, indem man vor erstarrten Murmelthieren eine Pistole abfeuern kann, ohne daß sie erwachen. Die Igel werden leichter durch äußere Reize erweckt; das bloße Anfassen, ein Knall oder ein anhaltendes Geräusch kann hier hörbare Athemzüge zur Folge haben.
So lange die Murmelthiere keine Nahrung zu sich nehmen, ruht auch die Verdauung und Absonderung; der Blutumlauf und die Athmung gehen zwar fort, aber so schwach, daß man es kaum bemerkt. Die Thiere sind kalt, die Glieder derselben steif und gegen Verletzungen fast unempfindlich. Der Magen ist zusammengezogen. Alle Beobachtungen deuten darauf hin, daß sich eine wässerige Flüssigkeit im Anfange des Winterschlafes in ihm ausscheidet, in der ersten Zeit erhält und später schwindet. Der Darmcanal ist enger als im wachen Zustande und seine Wände liegen aneinander. Die Leber nimmt während des Winterschlafes so ab, daß ihr geringer Umfang schon beim ersten Anblick auffällt. Die Milz bietet keine erwähnenswerthen Eigenthümlichkeiten dar, auch die Nieren besitzen ihren gewöhnlichen Bau; ebenso findet man keine besondere Veränderung an Gehirn und Rückenmark. Das merkwürdigste Organ, welches wir im Murmelthiere und vielen anderen erstarrungsfähigen Säugethieren antreffen, ist die Winterschlafdrüse. Sie erstreckt sich mit mächtigen Lappen vom Halse nach den Schultern, setzt sich nach der Achselhöhle und Brusthöhle fort und begleitet die Körperpulsader mit langen lappigen Ausläufern, welche die entsprechenden Abschnitte des sympathischen Nerven bedecken. Auch sie büßt ebenso wie die Leber den größten Theil ihres Gewichtes im Laufe der Erstarrungszeit ein. – Die Menge der Blutkörperchen nimmt gleichfalls ab. Ein und dasselbe Thier liefert 5,744,000 Körperchen am Anfang der Erstarrung, 5,107,000 fünf Wochen später und nur 2,356,000 einen Monat darauf für je einen Cubikmillimeter seiner Blutmasse. Beobachtungen, die man an Murmelthieren und Fröschen anstellte, gaben deutliche Beweise, mit welcher Trägheit die Erscheinungen des gesammten Stoffwechsels während der Erstarrung vor sich gehen. Hatte man einem Murmelthier die Haut an verschiedenen Stellen des Kopfes und der Hinterbeine am Anfange des Winterschlafes kahl geschoren, so waren die Haare nach einer fünfmonatlichen Erstarrung nicht nachgewachsen, Tasthaare und ein Nagel hatten sich nicht ersetzt.
Erhält ein Mensch oder ein Thier unzureichende Nahrung, so nimmt sein Körpergewicht ab, weil die Ausgaben die Einnahmen überschreiten. Die Winterschläfer machen aber eine eigenthümliche Ausnahme. Man findet hier, daß das Körpergewicht der erstarrten Murmelthiere für einige Zeit steigt, um in der Folge zu sinken. Erwachen sie oder kommen sie in Verhältnisse, welche ihre Athmungsthätigkeit, wenn auch nur in geringem Maße, erhöhen, so verlieren sie mehr, als sie früher gewonnen haben. Ihr Körpergewicht sinkt daher im Laufe des Winterschlafes immer mehr. Die eigenthümlichen Verhältnisse der Winterschläfer machen eine lange Enthaltsamkeit unschädlich. Die Murmelthiere zum Beispiel schlafen beinahe sechs Monate. Wenn sie auch in der Zwischenzeit aufwachen, so pflegen sie nicht zu fressen, ja sie gehen sogar zu Grunde, wenn die Außenverhältnisse ein Wiedereinschlafen unmöglich machen. Ein Murmelthier, das in der Zwischenzeit aufwacht, verliert täglich eine weit größere Menge seiner Körpermasse, weil es dann soviel Kohlensäure, wie ein anderes waches Geschöpf, ausscheidet. Man findet häufig in der Erstarrung, daß nur zwei Herzschläge auf die Minute kommen, selbst wenn man eine Insectennadel in der Gegend, wo man den Herzstoß am deutlichsten fühlt, einsticht. Ein Athemzug greift dann immer erst nach einer oder mehreren Minuten ein. Es vergehen im Normalzustande Wochen und Monate, ehe die erstarrten Murmelthiere erwachen, um geringe Mengen von Koth und Harn zu entleeren. Stört man sie, indem man sie täglich auf die Wage bringt, so erwachen sie nach kürzeren Zwischenräumen. Der tägliche Verlust an Gewicht, den sie erleiden, beträgt etwa soviel, als der eines Frosches, den man ohne Nahrung im Wasser aufbewahrt. Der Verlust, den die einzelnen Organe erleiden, gestaltet sich in eigenthümlicher Weise. Er weicht von dem der hungernden Thiere wesentlich ab. Das Fett schwindet fast gänzlich, während die Muskeln verhältnißmäßig wenig abnehmen. Der Gewichtsverlust der Skeletgebilde rührt wahrscheinlich zum Theil vom verschwundenen Fette her. Da nun bei den Winterschläfern der Kreislauf und die Athmung sehr schwach sind, so sind sie eigentlich hungernde Geschöpfe, in welchen nur sehr geringe Mengen stickstoffhaltiger Gebilde aufgebraucht werden. Das wachende hungernde Thier genießt diesen Vortheil nicht. Seine stickstoffhaltigen Ausgaben wachsen mit der Lebhaftigkeit des Kreislaufes, der Athmung, der übrigen Körperthätigkeit, vornehmlich der Muskelbewegung. Die Gallenbildung dauert während der ganzen Erstarrungszeit fort. Grünschwarze Kothmassen, die aus Gallenresten, Schleim etc. bestehen, werden immer nach längeren Zwischenpausen entleert. Der Leberzucker erhält sich in merklichen Mengen in der ersten Hälfte des Winterschlafes. Die tägliche Harnabsonderung ist auf ein Minimum zurückgeführt. Es kann wohl somit keinem Zweifel unterliegen, daß der Winterschlaf sich von dem gewöhnlichen Schlafe wesentlich unterscheidet. Murmelthiere, die sich bei einem in der Nähe abgefeuerten Pistolenschusse kaum rührten, denen man den herumschweifenden Nerv durchschneiden konnte, regten sich lebhaft, sowie man eine geringe Zahl von Schlägen des Magnetelektromotors durch das Auge leitete. –
Unter den Säugethieren, an welchen der Winterschlaf beobachtet wurde, sehen wir drei Familien: Fledermäuse, Raubthiere und Nager. Bei den Fledermäusen ist der Winterschlaf bekannt von der langohrigen, der gemeinen und der Zwergfledermaus, der Hufeisennase und der frühfliegenden Fledermaus. Die Dauer des Winterschlafes ist jedoch sehr verschieden; am ersten soll die Hufeisennase und die Zwergfledermaus erwachen und selbst im Winter bei gelinder Witterung herumflattern; auch die gemeine Fledermaus und die langohrige sollen schon in warmen Tagen des Januar und Februar hervorkommen. Am regelmäßigsten ist der Schlaf bei der frühfliegenden Fledermaus, wo derselbe nahezu fünf Monate dauert.
[489] Den Igel haben wir bereits erwähnt. Gegen den Herbst zu wird er ungemein wohlbeleibt und dann gräbt er im Versteck unter Laub und Gebüsch eine Vertiefung, füttert dieselbe weich aus und legt sich mit eintretender Winterkälte in tiefen Schlaf. Der gemeine Bär hält auch in einer Höhle oder Grube eine Art Winterschlaf, die jedoch nicht wie bei dem Murmelthiere eine vollkommene Erstarrung ist. Namentlich schlafen die Weibchen nicht fest und anhaltend, ja, man weiß sogar, daß sie mitten im Winter ihre Jungen werfen. Selbst das Männchen bringt nur die kälteste Zeit lethargisch schlafend zu, erwacht aber oft schon im Januar in der Höhle, wenn milde Witterung eintritt, um später bei wieder eintretender Kälte seinen Winterschlaf fortzusetzen. Mit noch größeren Unterbrechungen schläft das Weibchen, da es gerade zu dieser Zeit für seine Jungen zu sorgen hat.
Vom Hamster wissen wir, daß er sich in seine Höhle begiebt, sobald der rauhe Herbst in’s Land zieht. Da er jedoch nur ein sogenannter halber Winterschläfer ist, so wacht er an milden Wintertagen auf und wagt einen Blick in’s Freie, kehrt aber wieder zurück und schläft, bis die Frühlingssonne den Boden erwärmt. Dann kommt er abgemagert aus seinem Versteck hervor, um sich eine Gattin aufzusuchen. – Auch unsern gemeinen Dachs befällt keine eigentliche Erstarrung. Sobald die erste Winterkälte eintritt, findet man ihn in seinem Baue zusammengerollt auf dem Bauche liegen, den Kopf zwischen die Hinterbeine gesteckt, wobei er nicht besonders fest und keineswegs ununterbrochen schläft. Denn bei nicht anhaltender Kälte und dem Eintritte gelinder Witterung wird er bald aus seinem Schlafe geweckt und geht sogar zuweilen des Nachts aus seiner Wohnung, um zu trinken, sowie er diese auch oft schon im Januar und Februar bei anhaltend warmer Witterung verläßt, um Wurzeln auszugraben und Bucheckern zu suchen.
Die Nager haben wieder eine bedeutende Anzahl Winterschläfer unter sich, nämlich den eigentlichen Siebenschläfer, welcher eben von seinem siebenmonatlichen Winterschlafe den Namen erhalten hat. Er verbringt denselben in einem Baumloche neben seinen Vorräthen an Eicheln, Bucheckern, Nüssen und verschiedenen anderen Kernen, welche er während des Sommers aufgehäuft hat. Dieselben Erscheinungen finden wir bei der Eichelmaus, der Haselmaus und bei dem Ziesel. Die Eichhörnchen versinken nur auf Tage in Winterschlaf, so daß man also hier blos von einem Schlafe des Eichhörnchens im Winter sprechen kann.
Die Amphibien, deren Zahl bei uns nur gering ist, sind sehr empfindlich gegen die Kälte. Sie vergraben sich, wie unsere Frösche und Kröten, in Erdlöcher, hohle Bäume und Schlamm. Von unserer gemeinen Eidechse wissen wir, daß sie sich im Winter den Eingang in die Wohnung mit Erde oder dürrem Laub verstopft und in völliger Erstarrung daliegt, so lange die Kälte dauert. Dasselbe thut unsere Blindschleiche, welche jedoch an warmen Wintertagen bisweilen erwacht, den Kopf hervorstreckt, um zu athmen, und sich dann wieder scheu zurückzieht.
Ueber die Fische selbst haben wir wenig Kenntniß, doch muß man annehmen, daß viele im Schlamme überwintern, wie wir dies von unserem Aal, dem Schlammbeißer und dem Karpfen genau wissen. Den merkwürdigsten Sommerschlaf hält der Schuppenmolch des Senegal, welcher sich nach Ende der Regenzeit, wo die Erde allmählich auszutrocknen anfängt, in den Schlamm eingräbt. Er streckt sich so, daß der Mund oben herausragt, und erweitert das Loch durch Umdrehung seines Körpers. Auch sondert er einen Schleim ab, wenn er sich einbettet. In dieser Lage athmet er Luft und genießt keine Nahrung, bis die Regenzeit wieder eintritt, wo er sich dann als Fisch gerirt.
Die ausgebildeten Insecten suchen sich, nicht ohne große Beunruhigung, im September oder October einen geeigneten Platz in Ritzen, unter Steinen in Steinmoos, Erdlöchern und Gebäuden, um daselbst den Winterschlaf abzuhalten. Nur sehr wenige bleiben den ganzen Winter hindurch munter. In der Tropenzone ruht wieder während der heißen Zeit das bunte Leben, welches sich in der Regenzeit so üppig entfaltet hatte. Unsere Käfer überwintern zum Theil im vollkommenen Zustande, zum Theil als Larven, meist unter Laub und Steinen; die Schmetterlinge findet man im Winter nur als Raupen und als Puppen. Alle Landschnecken, sowohl die nackten als die mit Schalen versehenen, verbergen sich in der Erde.
Fassen wir nun Alles zusammen, so finden wir, daß der Winterschlaf ein Schutzmittel gegen die ungünstige Temperatur ist, welcher die Thiere unfehlbar erliegen müßten, andererseits aber ein Mittel bietet, sie vor dem Verhungern zu bewahren. Mögen wir ihn in den Tropen oder in unserm Klima beobachten, überall finden wir dasselbe Bild, überall verhütet er das Zugrundegehen der Art, überall ist er, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, eine Bedingung des Daseins.