Der Weinstock
Am Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegen einander, frohlockend ein jeglicher über sein eigenes Daseyn. „Mich hat der Herr gepflanzt, sprach die erhabene Ceder; Vestigkeit und Wohlgeruch, Stärke und Dauer hat er in mir vereinigt.“ „Jehovahs Güte hat mich zum Segen gesetzt, sprach der umschattende Palmbaum; Nutzen und Schönheit hat er in mir vermählet.“ Der Apfelbaum sprach: „wie ein Bräutigam unter den Jünglingen, prange ich unter den Bäumen des Waldes.“ Und die Myrthe sprach: „wie unter den Dornen die Rose, stehe ich unter den niedrigen Gesträuchen.“ So rühmten alle, der Oel- und Feigenbaum, selbst die Fichte und Tanne rühmten –
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Mir, sprach er zu sich selbst, scheint [209] Alles versagt zu seyn, Stamm und Aeste, Blüthen und Früchte; aber so wie ich bin, will ich hoffen und warten.“ Er sank danieder, und seine Zweige weinten.
Nicht lange wartete und weinte er; siehe da trat die Gottheit der Erde, der freundliche Mensch zu ihm. Er sah ein schwaches Gewächs, ein Spiel der Lüfte, das unter sich sank und Hülfe begehrte. Mitleidig richtete ers auf und schlang den zarten Baum an seiner Laube hinauf. Froher spielten anjetzt die Lüfte mit seinen Reben, die Glut der Sonne durchdrang seine harten, grünenden Körner, bereitend in ihnen den süßen Saft, den Trank für Götter und Menschen. Mit reichen Trauben geschmückt neigete bald der Weinstock sich zu seinem Herren nieder und dieser kostete seinen erquickenden Saft und nannte ihn seinen Freund, seinen dankbaren Liebling. Die stolzen Bäume beneideten ihn jetzt: denn viele
[210] standen entfruchtet da; Er aber freuete sich voll Dankbarkeit seines geringen Wuchses, seiner ausharrenden Demuth.
Darum erfreut sein Saft noch jetzt des traurigen Menschen Herz und hebt empor den niedergesunkenen Muth und erquicket den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus. Im unansehlichen Rohre quillt der süßeste Saft; die schwache Rebe gebiert den erquickendsten Trank der Erde.