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Der Tunnel über der Spree

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Textdaten
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Autor: Fedor von Köppen
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Titel: Der Tunnel über der Spree
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 828–831
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Tunnel über der Spree.
Von Fedor von Köppen.

Am 3. December dieses Jahres begeht in Berlin ein Verein das Fest seines fünfzigjährigen Bestehens, welcher sowohl durch seine Tendenz wie durch die eigenthümlichen Formen seines Wirkens die Theilnahme unserer Literaturfreunde verdient. Sein Streben und Schaffen ist allein der Pflege des Schönen in der Kunst, vorzugsweise in der Dichtkunst, gewidmet, und wenn er auch nicht mit glänzenden Erfolgen vor die Oeffentlichkeit getreten ist, so haben wir doch dem treuen Zusammenwirken geistiger Kräfte in diesem Vereine so manche duftige Blüthe, manche edle Frucht zu danken. Große Ereignisse sind während eines halben Jahrhunderts an uns vorübergegangen; sie haben unsere Staatseinrichtungen umgewandelt und die Physiognomie der preußischen Hauptstadt verändert, aber unabhängig von den Zeit- und Tagesfragen versammelte sich das Völkchen Berliner Poeten, welches den Namen des „Literarischen Sonntagsvereins“ oder des „Tunnels über der Spree“ führt, allsonntäglich an den Winternachmittagen in den bescheidenen Räumen des Café Belvedere, um sich dort seine Gedichte vorzulesen und den Maßstab einer unbefangenen Kritik daran zu legen. Die langjährige Versammlungsstätte ward ihm genommen und das Café Belvedere zu einem stattlichen Hause umgebaut; die Sänger sahen ihr altes Nest zerstört und bauten sich ein neues im Café Zennig (Unter den Linden Nr. 13), um dort weiter zu „tunneln“ bis auf den heutigen Tag.

Es war am 3. December 1827, als sich auf die Einladung des bekannten Humoristen M. G. Saphir „zur Vermählung der Fräulein Sahne mit dem Herrn Kaffee“ ein gemüthlicher Freundeskreis zusammenfand und auf seine Anregung den Beschluß faßte, nach dem Muster der früher in Wien bestehenden „Ludlamshöhle“ in Berlin einen Verein zu gründen, welcher sich mit dem Vorlesen heiterer Gedichte und Prosaarbeiten unterhalten, dieselben seiner Beurtheilung unterziehen und dabei den Humor in voller Ungebundenheit und Freiheit walten lassen wollte. Schon am nächsten Sonntage (9. December) fand die erste ordentliche Sitzung statt; Saphir ward zum Vorsitzenden, der damalige Hofschauspieler Ludwig Schneider zum Schriftführer der neugegründeten Gesellschaft erwählt.

Schon der Name des Vereins „Tunnel über der Spree“ (nach der Lage des ersten Versammlungsortes und als neckische Parodie des damals gerade durch Brunel in Bau genommenen Tunnels unter der Themse) und seine ältesten Statuten bekunden, wie in seiner ersten Jugendzeit Alles sich in das Gewand fröhlicher Thorheit hüllte, ja bis zur Unkenntlichkeit verhüllte und in luftigen Scherz verlor. In der buntesten Mischung standen bedeutungsvolle Zeichen und Bestimmungen neben inhaltslosen Gebilden einer phantastischen Laune. Tyll Eulenspiegel, der Hauptrepräsentant unseres deutschen Volkshumors, ward aus seinem Grabe zu Mölln heraufbeschworen, um das Patronat zu übernehmen. Das Siegel des Vereins stellte eine Eule dar, welche in der einen Klaue einen Spiegel, in der andern einer Stiefelknecht hält, dessen Zinken in einen Schafskopf und in ein Ziegenohr auslaufen und die beiden Pole des Schaffens im Tunnel, die „unendliche Wehmuth“ und die „ungeheure Ironie“, versinnbildlichen sollen. Sämmtliche Mitglieder führen im Verein nicht ihre eigenen Namen, sondern diejenigen verstorbener berühmter Männer – meistens Dichter oder Künstler – mit denen sie in gewisser Beziehung geistesverwandt sind. Der witzsprudelnde Saphir ward in „Aristophanes“, der Schauspieler Lemm in „Roscius“, L. Schneider in „Campe“ umgetauft. Außerdem ward jedem Mitgliede nach gewissen Eigenthümlichkeiten, die es im Laufe der Zeit verrieth, noch ein scherzhafter Spitzname beigelegt; es dürfte für den Uneingeweihten schwer zu ergründen sein, welche Bedeutung die Beinamen „der Karaibe“, „der Runenspecht“, „die hüpfende Schulhymne“, „die brüllende Philomele“ etc. im Tunnel hatten.

Diese Einrichtungen und Formen sind als Ueberlieferungen aus einer fröhlichen, harmlosen Jugend bis auf die neueste Zeit beibehalten worden, obgleich die Tendenz des Vereins schon in den ersten Jahren eine Wandlung erfuhr. Durch die Stellung, welche Saphir in seiner journalistischen Thätigkeit dem Berliner Publicum gegenüber einnahm, ward der Tunnel in einer für seine Entwickelung nicht förderlichen Weise in die Oeffentlichkeit hineingezogen und gerieth in eine Krisis, durch welche sein junges Leben in Frage gestellt wurde. Die Zahl der Mitglieder und die Theilnahme an den Versammlungen ward geringer und es kam vor, daß „Campe, der Karaibe“, als treuer Schriftführer sich mit dem Protocoll allein zur Sitzung einfand. Es zeigt von dem gesunden Lebenskerne des Tunnels, daß er diese Krisis glücklich überwand. Die wenigen Tunnelgenossen, welche den fast erlöschenden Funken damals bewachten, blieben in der deutschen Redlichkeit ihres Strebens um so inniger verbunden und pflegten fortan eine ernstere Richtung im Tunnel, ohne die Gemüthlichkeit ihres frühern Zusammenwirkens aufzugeben. Der Humor verlor seine unbeschränkten Herrscherrechte; es kamen auch Arbeiten ernsten Inhalts zum Vortrage, und die Beurtheilung, die sich früher in spielenden Formen bewegt hatte, ward eingehend und sachlich.

[830] Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 brachte dem Tunnel manchen achtbaren Zuwachs, als A. Wollheim da Fonseca (Byron), Heinrich Smidt (Bürger; † 1867), den ehemaligen Assessor und spätern Staatsminister H. von Mühler (Cocceji; † 1874), Dr. Adolf Löwenstein (Hufeland), Bernhard von Lepel (Schenkendorf), Dr. Werner Hahn (Cartesius) und Andere.

Zu diesen gesellten sich in der nächstfolgenden Zeit Wilhelm von Merkel (Immermann; † 1861), Chr. Fr. Scherenberg (Cook), Dr. Rudolf Löwenstein (Spinoza), Theodor Fontane (Lafontaine), Emanuel Geibel (Bertran de Born), Dr. Fr. Eggers (Anakreon; † 1872), Moritz Graf Strachwitz (Götz von Berlichingen; † 1847), Georg Hesekiel (Claudius; † 1874), Paul Heyse (Hölty), Franz Kugler (Lessing; † 1858), Friedrich von Gaudy (Zieten; † 1866), Hugo von Blomberg (Maler Müller; † 1871), K. Bormann (Metastasio), Max Ring (Zinzendorf) etc. Und nicht allein Dichter und Schriftsteller zählte der Tunnel zu seinen Mitgliedern, sondern auch bildende Künstler, Maler und Tonkünstler wurden gern aufgenommen und brachten ein neues, belebendes Element in den Tunnel, so der Bildhauer Wilhelm Wolff (Peter Vischer), die Maler Adolf Menzel (Rubens), Th. Hosemann (Hogarth; † 1875), Stilke (Raphael Mengs; † 1860), L. Burger (Graff) und der Obercapellmeister Taubert (Dittersdorf). Die meisten der Obengenannten traten in ihrer vollen frischen Schaffenskraft in den Tunnel und haben sich durch die Gaben ihrer Muse später in weiten Kreisen Anerkennung erworben. Außer diesen arbeitenden Mitgliedern der sogenannten „Maculaturen“ gab es auch eine Anzahl von Nichtarbeitenden oder „Classikern“, welche den Tunnel durch ihre lebhafte Theilnahme an seinem Schaffen erfreuten und sich an der Beurtheilung der „Spähne“ – so nannte man die zum Vortrage kommenden Arbeiten der Maculaturen – betheiligten. So zählte der Tunnel nach fünfundzwanzigjährigem Bestehen bereits einhundert Namen in seiner Mitgliederliste und feierte sein silbernes Jubiläum (3. December 1852) unter der lebhaften Betheiligung von Mitgliedern und Gästen oder „Runen“.

Den glänzendsten Zeitraum in der fünfzigjährigen Geschichte des Tunnels bildet wohl das dritte Jahrzehnt seines Bestehens (1847 bis 1857), das ist die Zeit des Ueberganges von der Poesie des Weltschmerzes und der politischen Verzweiflung zu einer auf gesunden und naturwahren Empfindungen beruhenden Richtung, welche in unserer Literatur sich durchzuarbeiten begann. Damals ließ Geibel seine „Gedichte“ und „Juniuslieder“ in immer neuen Auflagen in die Welt hinausflattern; in den Liedern und Balladen von Strachwitz schien die Muse der Romantik wieder erwachen zu wollen; Paul Heyse dichtete mit Wieland’scher Grazie seine formvollendeten „Novellen in Versen“ und „Idyllen aus Sorrent“; Th. Fontane brachte aus dem schottischen Hochlande schwungvolle „Balladen“ heim und B. von Lepel erfreute den Tunnel mit seinen in Platenscher Formgewandtheit gedichteten Oden und Hymnen und mit den heiteren Reimen seiner „Zauberin Kirke“. Das Drama war durch Wollheim da Fonseca („Rafael Sanzio“, „Sebastian“) und die epische Dichtung durch Scherenberg’s vaterländische Schlachtgesänge („Waterloo“, „Leuthen“) vertreten, während G. Hesekiel und H. Smidt das Gebiet des Romans und der Novelle cultivirten. Die meisten dieser Geisteswerke bestanden erst im Tunnel die Feuerprobe der Kritik, ehe sie in das große Publikum hinausgesandt wurden.

Versetzen wir uns einmal in den alten Tunnel zurück, um einer Arbeitssitzung in jener Zeit beizuwohnen! Ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Mitglieder haben sich in den wohlbekannten Räumen des Café Belvedere zusammengefunden. Franz Kugler, W. von Merkel oder K. Bormann bekleiden die Würde des Vorsitzenden, während B. von Lepel, Th. Fontane oder H. von Blomberg das Amt des Schriftführers verwalten. Der Vorsitzende oder das „angebetete Haupt“, wie der Tunnel nach altem Herkommen sein erwähltes Oberhaupt anredet, führt als Attribut seiner Würde einen mächtigen, schwarzen Stab, auf welchem eine vergoldete Eule mit dem Spiegel und Stiefelknecht in den Klauen thront. Ein Stoß mit dem Eulenstabe auf den Fußboden bedeutet eine Aufforderung an die Mitglieder, ihre Plätze einzunehmen; ein zweiter Stoß giebt das Zeichen zum Beginn der Sitzung.

Nachdem der Secretär das Protocoll der vorigen Sitzung vorgelesen, ergeht von Seiten des Hauptes die Frage nach „Spähnen“. Diese sollen statutenmäßig bereits vor dem Beginn der Sitzung auf dem Bureau des Hauses niedergelegt werden, aber an Stelle des gedachten Statuts hat sich bereits das Herkommen gesetzt, daß die Mitglieder es vorziehen, ihre Spähne in der Tasche zu behalten, und es bedarf oft einer zweiten oder noch öfteren Aufforderung des Hauptes, um sie daraus hervorzulocken. Nicht immer ist dem Dichter auch die Gabe des Vortrages eigen, und mit einer gewissen Befangenheit hatte wohl Jeder zu kämpfen, der einmal den Platz an dem grünen Tische dem Haupte gegenüber einnahm, aber der lebendige Vortrag durch den Dichter selbst hat einen besonderen Reiz und läßt zugleich die Eigenart des Dichters durchklingen. Leicht und liebenswürdig klangen Heyse’s Dichtungen; frisch und ursprünglich, als wären sie eben aus lebendigem Quell geschöpft, wirkten Fontane’s Hochlandsballaden; gleich stürmenden Schwadronen, über Stock und Stein, brausten Scherenberg’s Schlachtgesänge vorüber, oft so wild und heftig, daß man noch eine Weile sich besinnen mußte, was man eigentlich gehört. Ruhigen, breiten Schrittes, als wär’ er noch an Bord, ging der gemüthliche Holsteiner, der wohlbeleibte Heinrich Smidt, an den Vorlesertisch, um seine Seegeschichten oder seine Devrient-Novellen vorzutragen; plötzlich und unvermuthet, wie sein Taufpathe „Zieten aus dem Busch“, tauchte der schlanke Garde-Officier Friedrich von Gaudy[1] aus dem Hinterhalte hervor, um den Tunnel mit einer militärischen Humoreske zu überfallen.

Bei Spähnen, deren Vorlesung mehr als eine Stunde füllte, wurde die Besprechung derselben auf den nächstfolgenden Sonntag vertagt; bei lyrischen Gedichten, Balladen, kurzen Novellen oder Lustspielen knüpfte sie unmittelbar an die Vorlesung an. Es gab keine Fractionsbildung im Tunnel, keine Rechte und Linke und noch weniger ein Centrum; dennoch waren bei der Handhabung der Kritik die Standpunkte sehr verschieden. Einige suchten ihr Urtheil über einen mißlungenen Spahn womöglich dadurch zu mildern, daß sie noch eine gute Seite daran hervorhoben; Andere schwangen rücksichtslos die Geißel der Kritik, wo die Wahl des Stoffes, die Art der Behandlung oder die dichterische Form einen Anlaß zum Tadel boten. Oft waren die Urtheile sehr abweichend; die Gemüther erhitzten sich und das angebetete Haupt hatte Mühe, die Debatte in ihrem ruhigen Geleise zu erhalten. Aber auch die schärfste Beurtheilung schloß bei der stets vorwaltenden Gemüthlichkeit jede Bitterkeit aus, und die Vertreter eines liebenswürdigen Humors – W. v. Merkel, L. Schneider, Ad. und Rud. Löwenstein, C. Erich – wußten durch eine in die Debatte hineingeworfene witzige oder wortspielende Bemerkung, vielleicht auch durch einen zur rechten Zeit explodirenden Kalauer, die schwüle Atmosphäre zu theilen und die heiterste Temperatur in den Tunnel zurückzuführen.

Vortrefflich verstand es Franz Kugler als Haupt beim Schluß der Debatte die verschiedenen Ansichten in einem Gesammturtheil zusammenzufassen, aber das Gesetz forderte noch eine namentliche Abstimmung, bei welcher jedes anwesende Mitglied sein Urtheil über den vorgelesenen Spahn in Form eines der fünf Prädikate: „sehr gut“, „gut“, „verfehlt“, „ziemlich“ oder „schlecht“ abzugeben hatte, deren Mehrheit als Tunnel-Votum dem Verfasser mitgegeben wurde. Zuweilen war die Wirkung eines vorgelesenen Spahnes der Art, daß der Tunnel sich der Kritik enthielt und sein Wohlgefallen nur durch ein allgemeines Geräusch mit den Füßen zu erkennen gab, welches „Acclamation“ genannt wurde und die höchste Anerkennung ausdrückte, die der Tunnel zollte.

So war es früher Brauch, und so ist es bis heute geblieben. Viele von Denen, welche das schöne Fest des fünfundzwanzigjährigen Bestehens im Kreise ihrer Genossen fröhlich feierten, sind seitdem hinübergegangen; Andere wurden durch die Lebensverhältnisse später in andere Bahnen gezogen und tauchten nur hin und wieder bei besonderen Gelegenheiten im Tunnel auf. Aber Einige sind doch auch regelmäßige Besucher des Tunnels geblieben und die Führer einer jüngeren Generation geworden, die unterdessen nachgewachsen ist. Es würde verfrüht sein, auch aus der Reihe der jüngeren Talente hier einzelne Namen hervorzuheben [831] – sie sind der Nachwelt vorbehalten. Eine Tugend aber, welche die Alten auszeichnete, scheint dieser Generation abzugehen – es ist die Beständigkeit im Schaffen für den Tunnel. Viele von diesen jüngeren Singvögeln haben sich nur flüchtig auf den Zweigen des Tunnelbaums gewiegt, um einige Male mit einzustimmen in den Chor und dann wieder auf und davon zu fliegen. Auch von den Alten hat mancher müde Sänger die Harfe an die Wand gehängt und läßt die Spinnen Netze darin bauen; nur zuweilen flüstert ein melancholischer Windshauch durch die Saiten, daß sie ertönen, wie die Erinnerung an entschwundene Tage. So sind es keine glänzenden Früchte, welche der Tunnel aus neuerer Zeit aufzuweisen hat, aber die Liebe zum Schönen wirkt und schafft noch weiter unter alten und jungen Tunnelgenossen. Auch in den Jahren, als Aller Augen auf die großen, blutigen Thaten gerichtet waren, durch welche Deutschlands Größe und Einheit begründet ward, ging der Tunnel still und liebevoll seiner friedlichen Aufgabe nach, und nur wie das Grollen fernen Donners tönte das, was die Zeit bewegte, in Kriegs- und Siegesliedern wieder. Und als das ersehnte Ziel errungen war, wie tönten da im Tunnel so begeistert die Lieder zu Ehren des neuerwachten Vaterlandes! Wie klang da (beim Stiftungsfest 1871, den 3. December) so volltönig „Anakreon's“ Kaisertoast:

„Was unsre Herzen zwingen soll
In eines Freudenrufes Drang,
Muß sein uralten Zaubers voll,
Muß haben einen hohen Klang.
Das freie, einige deutsche Reich,
Das ist ein hohes Wort, fürwahr:
Die deutschen Kronen allzugleich
Auf unsers Kaisers Silberhaar! –“ etc.

Aber auch die Lieder von Lenz und Liebe verstummten nie, und während die Kriegsstürme von 1870 durch die Welt brausten, sang eines der liederreichsten jüngeren Mitglieder, Heinrich Seidel (Frauenlob) im Tunnel:

„Lieder wie Schmetterlinge
Gaukeln genug in der Luft;
Sie schwanken im Windeswehen;
Sie schweben im Blumenduft;
Sie schwingen sich auf aus den Gründen;
Sie flattern herab von den Höh’n,
Und das sind eben die Dichter,
Die sich auf das Fangen versteh’n.“

Auch der Humor hat sein Pathenrecht behauptet. Alljährlich um die Fasnachtszeit findet ein Fest zu Ehren des Schutzpatrons, das „Eulenspiegelfest“, im Tunnel statt. Dann überlassen sich die Tunnler völlig den Eingebungen ihrer heiteren Laune, und nur närrische Spähne kommen zum Vortrage. Die alte Muhme Kritik verstummt an solchen Tagen oder sie versieht ihr Amt auf so neckische Weise, daß der Schalk Tyll, dessen Conterfei von der Wand herabschaut, sein herzliches Behagen darüber empfinden mag. Ja, es kam einmal vor, daß Tyll in leibhaftiger Gestalt, in Schellentracht und Kappe, unter seine Jünger trat, dem angebeteten Haupte das Eulenscepter abforderte und selbst den Vorsitz übernahm. Zuweilen waren bei dem Eulenspiegelfeste schwierige Preisfragen gestellt, an deren Lösung sich Witz und Scharfsinn der Tunnler in den verschiedensten poetischen Formen üben konnten, z. B. die Frage, ob im Falle einer Feuersbrunst im Tunnel von den beiden Symbolen der Spiegel oder der Stiefelknecht zuerst zu retten sei, oder woher es komme, daß unsere Jungen nur Schneemänner und nie Schneefrauen bauen.

Unter der regen Theilnahme zahlreicher Gäste, unter denen auch das schöne Geschlecht vertreten ist, begeht der Tunnel jährlich sein Stiftungsfest. Die Mitglieder erscheinen dazu im Schmucke ihres – von Tyll bei der silbernen Jubelfeier gestifteten – Tunnelordens. Auch aus der Ferne finden sich alte liebe Freunde zu dieser Feier ein; andere senden dem Geburtstagskinde Grüße und „Spähne“. Die Festsitzung wird zum größten Theile durch eine „Concurrenz“, d. i. ein Wettringen und Wettsingen um einen Ehrenpreis für den besten Spahn, sei es in gebundener oder in ungebundener Rede, ausgefüllt. Es verbindet sich mit dieser sogenannten „Immermanns-Concurrenz“ die dankbare Erinnerung an den dahingeschiedenen Freund W. von Merkel, welcher die Zinsen eines gewissen Capitals für diesen Zweck dem Tunnel vermachte. Mit offenem Visir treten die Kämpen nach einander in die Schranken, die sämmtlichen anwesenden Tunnel-Mitglieder bilden das Schiedsgericht. Eine beliebte Form der Preisbewerbung ist die Tenzone, bekanntlich ein dichterischer Zweikampf, in welchem zwei Dichter für verschiedene Ansichten eintreten und sich gegenseitig mit Gründen zu schlagen suchen. Die Spannung steigert sich von Strophe zu Strophe, und der Zweikampf wird oft erst durch den Schiedsspruch eines von Beiden angerufenen unparteiischen Dritten beendigt. Nicht immer ist das Thema so zart und sinnig, wie „die Rose mit Dorn und die Rose ohne Dorn“, „die Kunst der Rede und die Kunst des Schweigens“, sondern es ist oft den Kämpfenden anheimgegeben, ein scheinbar trockenes oder gar ein so ledernes Thema, wie den „Wettstreit von Stiefel und Schuh“, durchgefochten von „Hufeland“ (A. Löwenstein) und „Willamow“ (F. von Köppen), durch ihre Kampfesweise anmuthig zu beleben. Forderte „Hufeland“ seinen Gegner heraus:

„Auf, das Leben ruft zum Kampfe!
Wo bleibt der Soldat, der Mann?
Recht und Freiheit zu vertheid'gen,
Zieh’ – Kanonenstiefeln an!“

so entgegnete ihm „Willamow“:

„Kämpfst Du mit Kanonenstiefeln?
Ich verharr’ in stolzer Ruh';
Auch Du eilst durch Kampf zum Frieden,
Kämpfst in Stiefeln für den Schuh;
Daß dem König Friede werde,
Steht das Volk in Waffen ein:
Jeder Schuh der deutschen Erde
Soll mit Blut vertheidigt sein.“

Die Versöhnung erfolgte schließlich unter dem Zeichen des Stiefelknechts, den der Tunnel in seinem Wappen führt.

An die Festsitzung schloß sich auch stets ein Festmahl, gewürzt durch Trinksprüche und Tischreden, durch Gesang und musikalische Vorträge.

So hat der Tunnel neunundvierzig Mal seinen Geburtstag gefeiert und schickt sich nun an, ihn zum fünfzigsten Male zu begehen. In denselben Lufträumen, in denen er gestiftet worden – jetzt Kaisergalerie, Restaurant Kothe – versammeln sich am 3. December die alten und neuen Freunde des Tunnels; „Campe, der Karaibe“, welcher vor fünfzig Jahren als Schriftführer das erste Protocoll aufnahm, schwingt jetzt als „angebetetes“ weißes Haupt das goldene Eulenscepter über dem Tunnelreiche. Möchte dasselbe noch lange fortblühen und edle Früchte zeugen, und möchten an den Tunnelgenossen die Verse aus Spinoza-Löwenstein's altem Tunnelliede sich bewähren:

„Im Tunnel stets die Alten, im Lehen jung und neu,
So woll'n wir sein und halten an uns in alter Treu';
Und wenn auch manche Triebe im Grabe schlummern ein,
Soll doch vom Baum der Liebe kein 'Spahn' verloren sein.“


  1. Friedrich von Gaudy war der Stiefbruder des Dichters Franz von Gaudy; er fiel als Oberstlieutenant im Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment im Gefecht bei Alt-Rognitz den 28. Juni 1866.