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Der Tag der Siedler

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Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Der Tag der Siedler
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 379–382
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1921
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: erstdruck in der „neuen freien presse“, 3. april 1921, s. 10. Wieder abgedruckt in Karl Marilaun, Adolf Loos, Wien 1922, s. 25 ff.
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung:
Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[379]
DER TAG DER SIEDLER
(1921)

Der Vater sah das freie, unbebaute land. Er, der sich den ganzen tag in der fabrik müdegearbeitet hatte, nahm die schaufel in die hand und begann die erde umzugraben. Ackerland entstand, der schrebergarten, neues und selbstgeschaffenes vaterland, diesmal das wirkliche: die selbstbebaute scholle des siedlers. Ergebnis einer revolution, die der arbeiter gegen den kasernenzwang der fabriken unternommen hat. Ergebnis einer unblutigen menschheitsbewegung und daher mit einem menschlichen resultat.

Man glaube nicht, daß die schrebergärtnerei eine augenblickliche psychose ist. Für alle kommenden zeiten wird das stück land, das sich der mensch selbst bebaut, das bleiben, was es heute ist: die zuflucht zur mutter natur, sein wahres glück und seine einzige seligkeit.

Die ernährung eines volkes wird bestimmt durch die nahrungsmittel, die das bebaute land liefert. Jedes Volk hat daher seine eigene ernährungsart, seine eigene küche.

Man sprach sehr viel von der österreichischen küche. Aber erst heute werden wir gewahr, daß diese küche nur dadurch möglich wurde, daß ein staatengebilde, das man die österreichisch-ungarische monarchie nannte, durch jahrhunderte bestand.

Mähren, Polen und Ungarn lieferten das mehl, Südungarn und Böhmen pflaumen, Böhmen und Mähren zucker. Die natur hatte die nichtdeutschen länder in verschwenderischer weise ausgestattet. Weite ebenen, schwarze ackererde, brennende sonne. Alles, was uns einst ernährte, haben wir heute verloren. Und da heißt [380] es umlernen. Die böhmischen knödel, die mährischen buchteln, die italienischen schnitzel – lauter dinge, die jahrhundertelang zum eisernen bestand der wiener küche gehörten, müssen durch heimische nahrungsmittel ersetzt werden.

Der mehlreichtum der alten monarchie hatte zur folge, daß die österreichische küche die mehlreichste der ganzen welt war. Wir waren stolz auf die vielen mehlspeisen. In jede speise wurde mehl getan. Kein gemüse kam auf den tisch, das nicht zur hälfte mit mehl versetzt wurde. Die hausfrau nannte das „strecken“, denn das gemüse war teuer und das mehl billig. Der österreichische spinat war daher ein grauer kleister, der durch spinatzusatz eine grünliche färbung annahm. Diese mehlverschwendung kostet aber heute das volk jährlich ungezählte milliarden – die summe, die der staat auf das mehl, das nun aus dem ausland eingeführt werden muß, daraufzuzahlen hat. Keine industrielle kraftanwendung wäre imstande, einen ausgleich für solchen import zu schaffen.

Die rettung? Jener doktor Daniel Gottlieb Schreber hat sie geahnt, der vor siebzig jahren spielenden kindern in den von mietskasernen flankierten straßen zusah und sich sagte:

Die kinderreichen familien mögen sich zusammentun, ein kleines stück land vor den toren der stadt pachten und die kinder unter freiem himmel, fern von dem getümmel und staub der großstadt, in luft und sonne spielen lassen. Das kleine grundstück möge von laubhütten eingefaßt werden, wo vater und mutter nach getaner arbeit ihren feierabend verleben können.

Und so geschahs. Was aber Daniel Gottlieb Schreber nicht ahnen konnte, erlebt man siebzig jahre nach dem [381] idylliker der volkswirtschaft: der schrebergarten rettet nicht nur die menschen, er rettet den staat.

Aufgabe dieses staates wird es nun sein, eine arbeitsleistung, der sich ein teil der stadtbewohner freiwillig unterziehen will, für die allgemeinheit am besten auszunützen. Die arbeit des schrebergärtners bringt nahrung, die ohne diese arbeit aus dem ausland bezogen werden müßte. Die schrebergärtner Wiens haben im jahre 1920 für eine milliarde nahrungsmittel gewonnen.

Die summe zu erhöhen, gibt es zwei mittel. Das erste ist, daß man jedem, der sich der freiwilligen mitarbeit an der erzeugung von nahrungsmitteln erbötig macht, land zuweist. Es gibt hunderttausende in Wien, millionen in Österreich, die sich zur gärtnerarbeit in ihren mußestunden drängen, deren arbeitslust und arbeitskraft nicht ausgenützt wird. „Eight hours to work, eight hours to play, eight hours to rest and eight shillings a day“ lautet der englische gewerkschaftsspruch. Die acht stunden „spiel“ wollen von einem teil unserer arbeiter nutzbringend angelegt werden. Der einwand, daß diese acht stunden der facharbeit schaden, weil der arbeiter sich in seinem garten überanstrengt und dadurch kräfte verloren gehen, ist falsch. Die gartenarbeit ist ein tonisches mittel ersten ranges. Es braucht nicht ausgemalt zu werden, wie diese acht stunden „to play“ sonst verwendet würden.

Zweitens: der schrebergärtner möge dort wohnen, wo sein garten liegt. Der heutige, von der wohnstätte weit entfernte schrebergarten ist ein stundenfresser; mancher verbringt eine stunde hin, eine stunde zurück auf der straßenbahn. Also nicht nur garten, sondern: heim. Und dies weiter ermöglicht durch ungeteilte arbeitszeit, abschaffung der unökonomisch auf den ganzen tag verteilten [382] arbeitspausen. Acht stunden ununterbrochen der facharbeit, dem bureau, der fabrik.

Der rest aber – ist das heim. Der tisch, um den sich die familie versammeln kann. Weiß man es in der welt, daß es eine millionenstadt gibt, in der achtzig prozent der einwohner ihre mahlzeiten nicht bei tisch einnehmen?

Dieser tisch, der dem wiener arbeiter gegeben werden soll, wird mahlzeiten verabreichen, die eine neue, moderne, wirklich österreichische küche repräsentieren. Die siedlerfrau wird nicht mehr ihr gemüse zu strecken brauchen. Die intensive gärtnerische bodenbearbeitung, die im jahr drei ernten ergibt, wird jene ernährungsform zeitigen, die andere kulturvölker schon lange besitzen, zum unterschied von jenen völkern, die mit extensiven jahresernten rechnen. Das gärtnerisch gezogene gemüse wird das mehl ersetzen. Wir werden durch arbeiten ersetzen, was uns an fruchtbringendem boden fehlt.