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Der Sprung in den Abgrund

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Textdaten
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Titel: Der Sprung in den Abgrund
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 373-375
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[373]
Der Sprung in den Abgrund.

Einer der englischen Touristen, die mit Bischof Clayton vor Kurzem den Berg Sinai besucht hatten, kam auf seinem Rückwege nach Sicilien. Mit seiner Vorliebe für Fuß- und Bergwanderungen, für Verspätung in wilden Wäldern und Abendbrod unter einem Felsendache am selbstbereiteten Feuer, kam er auch auf den Gedanken, den Aetna zu besteigen, dessen ungeheuere Kastanienbäume zu sehen und den [374] üppigen, großen Gürtel wunderbarer Vegetation, der dessen Kegel als Grenze der feurigen Lavaströme umgibt, zu bewundern.

Der Name unseres Reisenden klingt, wie alle englische Namen, sehr unromantisch: Fennel. Seine Gefährten, ein Geistlicher und ein Advocat, sind gar nicht genannt, eben so wenig zwei Diener, welche mit einer dauernden, stillen Wuth über Mangel an Porterbier und englischen Fleischkeulen die drei Herren begleiten und mit gemietheten Führern bedienen.

Sie folgten von der Stadt Catania, der nächsten am Aetna, ihren Führern durch ein wildes Labyrinth von Wald und Wildniß, Schlünden und Schluchten, Höhlen und Höllen, welche den Kegel des Vulcans wie warnende Ungeheuer umlagern. Schon seit einer Woche hatte der Krater Spuren innerer Unruhe verrathen. Erdbeben zitterten leise unter der Stadt hin und wogten mit dem Steinpflaster unter den Füßen der Menschen, als sei’s Wasser, gaben dem Kopfkissen des Schlafenden die Bewegungen eines geschaukelten Kahns und stießen Gläser und Tassen zusammen, jedoch ohne Häuser einzustürzen und die Catanier zu beunruhigen. Sie waren ja von der Wiege an so gewiegt worden. Ihre Häuser stehen auf Lava, gebaut von Lava. Ihre üppigen Blumen und Früchte nähren sich von zersetzter Lava, sie selbst leben von Lava und sind halb Lava, halb Vulcan, wie in einem gewissen Grade alle Sicilianer: von Außen kalt, inwendig voll Feuer, sehr leidenschaftlich fühlend, gedankenlos, stets auf dem Sprunge zu einer wüthenden Eruption.

Unser Herr Fennel wollte gern eine Eruption sehen, aber die Catanier sagten ihm, da könne er vielleicht lange warten. Manchmal grolle und grunze der Aetna sechs bis acht Wochen lang, ehe er sich seiner innern Qual wirklich entledigen könne. Manchmal komm’ es auch schnell, doch könne man’s nie vorher wissen. Der Engländer meinte, er könne und werde Monate lang warten; inzwischen sei es gut, sich den Krater mal in der Nähe anzusehen. So hatte er sich mit zwei Landsleuten, Dienern und Führern aufgemacht. Ein dünner brauner Rauch aus dem Aetnaschlunde spann sich in einem scharfen Westwinde zu langen Fäden aus durch die Luft, bis die eintretende Nacht zuweilen rothe Funken und Streifen durch die geschlängelten Rauchfelder zog. Die Funken und Streifen wurden zuweilen zu ganzen feurigen Athemzügen, welche mit einem tiefen, dumpfen, hörbaren Unmuthe aus der Brust des Kraters ausgestoßen wurden.

Was sie auf dem so stoßweise beleuchteten nächtlichen Wege sahen, fühlten, dachten und sprachen, würde kaum in einem Bande zu sagen sein. Sicilien ist jeden Zoll breit voller Wunder. Es ist noch keinem Reiseschriftsteller gelungen, diese erhabene, furchtbare, hier überschwenglich liebliche, dicht daneben bleichen Schrecken athmende Scenerie der Aetnainsel zu schildern. Mit jedem Schritte geht man thatsächlich Über einen unermeßlichen Abgrund dünn überkrusteten ewigen Feuers. Die dünne Kruste kann jeden Augenblick wogen wie das Meer, oder zersprengt werden wie ein Hauch. Von dem Aetnakegel her strecken sich weit unter dem Boden hin, meilenweit unter dem Meere fort, ungeheuere Lager von Schwefel, welche der ewig brennenden Hölle unter dem Himmel Siciliens seit Jahrtausenden Feuermaterial liefern, der Hölle, dessen Schornstein sich 10,000 Fuß hoch erhebt im Aetna-Krater. Mit jedem Athemzuge fühlt man etwas von der Wärme dieses innern ewigen Schwefelfeuers, der innern Heizung, welche, durch Erdrinde und Felsen dringend, einen ewig blühenden Himmel von Gewächshausvegetation treibt, unbekannt in andern Himmelsgegenden unter gleichen Breitengraden. Aber ungeachtet dieser Kenntniß setzt man mit den Bewohnern Vertrauen in die himmlische Oberfläche und giebt sich gern dem Glauben hin, daß diese ungeheuern, kochenden Schwefelmeere, auf denen die blühende Insel schwimmt, und alle die fürchterlichen Apparate unten, welche den Paradiesesglanz oben bedingen, dem Paradiese oben vorläufig noch erlauben werden, heiter und ruhig weiter zu schwimmen.

Man braucht auf gewöhnlichem Wege mit guten Führern etwa zwölf Stunden, um den Aetna zu besteigen. In der Regel wird Abends aufgebrochen, wenn man die Sonne oben aufgehen sehen will. Tüchtige Maulesel, die derb zuschreiten, erlauben Zeit, nach Mitternacht ein Stündchen zu ruhen, und etwa um drei Uhr die Reise zu vollenden.

Mr. Fennel’s Führer, despotisch wie alle Führer und Herren, so lange ihre Function dauert, erklärten erst um ein Uhr in der Nacht, daß jetzt Zeit und hier die Stelle zum Halten und Rasten sei. Jeder war damit zufrieden, da die Nachtreise bisher körperlich wie geistig eine Tortur gewesen war. Man hat keine Idee von der furchtbaren Erhabenheit einer Nachtreise in Sicilien, besonders von Catania nach dem Aetnakrater. Welche Abgründe von riesigen Schatten und Schreckbildern dunkeln vor den angestrengten Augen aus den Tiefen und Höhen und unergründlichen Fernen! Ungeheuere, monströse Riesen von Berghäuptern winken und drohen von oben; aus hohler, tiefer, tiefer Unterwelt brummt und murmelt es unheimlich herauf an den jähen Felsen, auf dessen schmaler Kante des Maulthiers Fuß vorsichtig knattert. Aus Wald und Weite dringen seltsame, unerklärliche Töne, heulende, kreischende, rauschende, ängstliche, drohende, pfeifende Laute herauf. Man springt den Führern nach über Klüfte, zwischen denen ein losgebröckelter Stein hohl und dumpf anprallt und mit langsam verschwindendem Geräusch dem Abgrunde verfällt. Im wilden Zickzack geht’s weiter und weiter, höher und höher über die Gesichter verzerrter Klippen hinweg, in immer wildere Verschlingungen und Verlegenheiten, über welche die Führer nur spärliche Auskunft geben, so daß man ihnen, vor Angst und Anstrengung schwitzend, unbedingt folgen muß. Unter solchen Umständen klingt ihr gebieterisches Halt! gar angenehm, wie in dem vorliegenden Falle. Die Diener und Führer machten Feuer, um Kaffee zu kochen und den scharfen Zug der kalten Nachtluft zu erwärmen, während Fennel die kolossalen Terrassen hinunter nach dem Meere schaute, in ein dämmerndes Chaos von Landschaft und Städten, begrenzt von dem leuchtenden Silberbande des Meeres. Das Meer schaut auch während der Nacht mit leuchtender Brust in die Sterne hinauf. Diese Nacht funkelten außerdem schwimmende Lichtinseln der Phosphorescenz bis zum Tarentinischen Vorgebirge hin auf. Die Wissenschaft mag diese Phosphorescenz eben so deutlich erklären, wie den Gedankenproceß im Menschen, der ja nach einer Autorität auch blos eine Phosphorescenz sein soll. „Kein Gedanke ohne Phosphor.“ Aber wer antwortet dabei auf die Unruhe von tausend himmelhohen Fragezeichen, die aus dem brennenden Wasser aufsteigen, aus den schwimmenden Feuerinseln, den meilenlangen Gewinden von Gluthwärmern, die auf den Wellenkämmen sich hinschlängeln, verschwindend, aufleuchtend, in neuen Gestalten und Lichttönen abdunkelnd und wieder hell aufschießend? Auf die Gefühle, Stimmungen und Ahnungen, welche die Menschenbrust vor solchen Scenen durchschauern?

Mr. Fennel ward von diesem Genusse zu dem körperlichen, den die Diener bereitet hatten, gerufen. Nachher wickelte sich Jeder, mit Ausnahme einer Wache, in seinen Mantel vor dem Feuer, worauf die Führer sofort fest schliefen, wie rothe Indianer. Doch schon nach einigen Dutzend Minuten sprang einer derselben mitten aus seinem tiefen Schlafe auf, und roch prüfend in die Luft hinein, die plötzlich wärmer und wärmer ward. Er rief sofort alle Schläfer auf und zeigte auf den blutrothen Glanz, mit welchem sich der Himmel bedeckte und die furchtbare landschaftliche Scenerie unten recht schwarz färbte mit seinem Lichte.

„Der alte Bursche kommt uns zuvor!“ rief der Hauptführer. „Brechen wir auf!“

Die Eruption war in vollem Gange. Auf dem runden, von Bäumen umgebenen Knollen, wo sie standen, konnten sie deutlich rothe, breite, langsam sich fortwälzende, Bäume, Felsen niederkrachende und mit sich fortreißende Feuerwogen sehen, welche beide Seiten des Kegels, auf dem sie standen, in kurzer Zeit einschließen mußte. Ein unsäglicher Anblick.

„Wie entkommen wir?“ fragte endlich Fennel die vor Schreck stummen Führer.

„Wissen’s nicht. Nie in solcher Lage gewesen. Aber fort, rasch fort. Hier würden wir bald Asche sein bis auf die Knochen. Die Bäume krachen. Die Lava verfolgt ihre beiden Hauptwege in den Abgründen auf beiden Seiten, um sich jenseits jenes Hügels zu vereinigen. Kommen wir nicht rechtzeitig über diesen hinaus, sind wir verloren.“

In einer Minute war die ganze Gesellschaft in wilder Flucht. Die heranglühende Hitze der Lava und die krachenden Bäume gaben jedem Flügel mit den Eisenstangen, mit denen sie abwärts über Abgründe sprangen. Alles Andere war zurückgelassen worden. Ringsum erhob sich ein wahrer Höllenlärm durch die kurz vorher noch so schweigende Gegend: Geblöke und Geheul von Heerden, Hundegeheul, Menschengekreisch, Geknister rasch aufflackernder Flammen und Feuersbrünste, dumpfes Donnern zersprengter Felsen, Krachen und Knacken niedergebrochener und aufflammernder Wälder. Jeden Augenblick stieg die sich heranwälzende Gluth höher [375] und wurde die ganze Gegend umher flammenröther. Die Fliehenden kamen in ihrer wilden Hast plötzlich vor einen Abgrund, der in tiefe, dunkele Nacht hinabgähnte. Zur Rechten und zur Linken hinter ihnen wogten die Lavagluthen heran. Vor ihnen eine unbekannte Tiefe. Hinter ihnen das sich rasch heranwälzende, mit Bäumen krachende und sich selbst beleuchtende Lavagluthmeer.

„Was thun wir jetzt? Kennt Ihr diesen Abgrund?“ fragte Fennel seine Führer.

„Ganz aus dem Wege gekommen, ganz unbekannt,“ hieß es. Die ganze Gesellschaft schwieg. Aeußerster Schreck, höchste Gefahr lähmt alle Mittel sich zu äußern. „Wenn unserm Blick was Ungeheures begegnet, steht unser Geist auf eine Weile still,“ sagt Goethe. Jeder fühlte deutlicher und deutlicher, daß aus der ringsum heranprasselnden Höllengluth nur noch eine Möglichkeit der Rettung sei, der Sturz in den Abgrund. Ganz Sicilien schien in Feuer. Die Erde glühte und brannte von allen Seiten zu dem glühenden Himmel hinauf. Dazwischen flogen und flackerten Feuerbrände im Westwinde heran und verbreiteten eine sengende, unerträgliche Luft.

Ersticken und Verbrennen oder Selbstmord! Das waren jetzt die zwei Wege zum Tode, denn die zum Leben waren auf die entsetzlichste Weise ringsum verschlossen. Aller Augen stierten in den Abgrund vor ihnen. Sich hinunterstürzen und mit einem einzigen Sprunge in die Nacht des Abgrundes sich von diesen heranwüthenden Höllenqualen befreien? So standen sie vielleicht eine Minute dicht vor dem dunkeln Schlunde schweigend, nach Hoffnung aufblickend, dann wieder zusammenschauernd. Fennel hielt sich und Andere einen Augenblick mit der Hoffnung, daß die Lava nicht höher steigen werden; doch einer der Führer bemerkte mit der größten Bestimmtheit, daß die Lavaströme sich jenseits des Abgrunds vereinigen, sich stauen und Alles ringsum mit flüssigem Feuer überschwemmen würden. Aber man zögerte noch, man athmete noch. Doch bald wurde letzteres Höllenqual, schlimmer als Tod. Die Luft drang mit unerträglicher Gluth und tödtlichem Geruch in die Lunge ein. Man wagte nicht mehr zu athmen, und kam so in Gefahr, sich freiwillig zu ersticken, um den Tod nicht einzuathmen. Jetzt trat der junge Geistliche noch einen Schritt vor.

„Ich gehe zuerst!“ rief er. Sein Gesicht blauete in Leichenfarbe, trotz der vulcanischen Gluth umher. Er sprang nicht, er stürzte sich nicht kopfüber hinunter – er wandte sich um, hielt sich mit der Hand an die Felsenkante, ließ sich hinab, hing eine Zeit lang und verschwand dann geräuschlos in dem dunkeln Abgrunde.

Welche Laute von unten? Krachende Gebeine, von Felsen zu Felsen geschmettert, hinunter, hinunter in eine unergründliche Tiefe? War es das Knattern der Flammen oder der sich zerschmetternde Körper des Geistlichen? Die Zurückgebliebenen schrieen mit erstickender Stimme hinunter, einen Laut von sich zu geben, wenn er noch lebe. Keine Antwort. Jetzt rief Mr. Fennel: „Nun komme ich!“ und ließ sich eben so bedächtig hinunter, bis er die Hände losließ und verschwand.

Eine zweite Pause der entsetzlichsten Qual, als keine Antwort kam. Dann folgte der dritte Engländer, und getrieben von Gluth und Pestluft, stürzten sich die Uebrigen, Führer und Diener, rasch hinterher. Nun war es still oben und auch unten im Abgrunde, bis es in letzterem allmählich wieder lebendig ward. Der Abgrund war eine sumpfige Wiese dicht an einem jäh aufspringenden Felsen. Warum hatte aber Niemand aus der weichen Erlösung unten hinaus geantwortet? Jeder hatte in einen tiefen, schaudervollen Tod hinabzuspringen geglaubt, und war bewußtlos, sprachlos unten in das weiche Gras gefallen. Nach dem ersten Sprunge waren die Andern rasch gefolgt, so daß sie alle verworren, zweifelnd an ihrem Leben, staunend neben einander lagen und nach und nach zum Bewußtsein kamen und sich sahen, als die Gluth von oben herunterleuchtete. Dies brachte sie Alle auf die Beine, auf welchen sie rasch über das Bereich der Lavaströmungen hinabeilten, die Felsen um Catania bestiegen, in die Stadt hinabstürzten und sich in Sicherheit brachten. Mit unsäglichen, fieberhaften Gefühlen der Dankbarkeit gegen den rothglühenden Himmel sah man nun zu, wie die rothen Gluthen aus dem Krater gen Himmel stiegen und sich donnernd und verwüstend über das Land hinwälzten, um zu einer neuen Rinde überschwenglicher Fruchtbarkeit und Blüthe zu erkalten, und über tausendfachem Höllentode eben so plötzlich wieder das üppigste, lachendste Leben hervorzuzaubern.