Zum Inhalt springen

Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven/2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Der Zwerg Nase Märchen-Almanach auf das Jahr 1827 von Wilhelm Hauff
Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (Fortsetzung)
Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

[53] So erzählte der Sklave aus Frankistan; nachdem er geendet hatte, ließ der Scheik Ali Banu ihm und den andern Sklaven Früchte reichen, sich zu erfrischen, und unterhielt sich, während [54] sie aßen, mit seinen Freunden. Die jungen Männer aber, die der Alte eingeführt hatte, waren voll Lobes über den Scheik, sein Haus und alle seine Einrichtungen. „Wahrlich“, sprach der junge Schreiber, „es gibt keinen angenehmern Zeitvertreib, als Geschichten anzuhören. Ich könnte tagelang so hinsitzen, die Beine untergeschlagen, einen Arm aufs Kissen gestützt, die Stirne in die Hand gelegt, und, wenn es ginge, des Scheiks große Wasserpfeife in der Hand und Geschichten anhören – so ungefähr stelle ich mir das Leben vor in den Gärten Mahomeds.“

„Solange Ihr jung seid und arbeiten könnt“, sprach der Alte, „kann ein solcher träger Wunsch nicht Euer Ernst sein. Aber das gebe ich Euch zu, daß ein eigener Reiz darin liegt, etwas erzählen zu hören. So alt ich bin, und ich gehe nun ins siebenundsiebenzigste Jahr, so viel ich in meinem Leben schon gehört habe, so verschmähe ich es doch nicht, wenn an der Ecke ein Geschichtserzähler sitzt und um ihn in großem Kreis die Zuhörer, mich ebenfalls hinzuzusetzen und zuzuhören. Man träumt sich ja in die Begebenheiten hinein, die erzählt werden, man lebt mit diesen Menschen, mit diesen wundervollen Geistern, mit Feen und dergleichen Leuten, die uns nicht alle Tage begegnen, und hat nachher, wenn man einsam ist, Stoff, sich alles zu wiederholen wie der Wanderer, der sich gut versehen hat, wenn er durch die Wüste reist.“

„Ich habe nie so darüber nachgedacht“, erwiderte ein anderer der jungen Leute, „worin der Reiz solcher Geschichten eigentlich liegt. Aber mir geht es wie Euch. Schon als Kind konnte man mich, wenn ich ungeduldig war, durch eine Geschichte zum Schweigen bringen. Es war mir anfangs gleichgültig, von was es handelte, wenn es nur erzählt war, wenn nur etwas geschah; wie oft habe ich, ohne zu ermüden, jene Fabeln angehört, die weise Männer erfunden, und in welche sie einen Kern ihrer Weisheit gelegt haben, vom Fuchs und vom törichten Raben, vom Fuchs und vom Wolf, viele Dutzend Geschichten vom Löwen und den übrigen Tieren. Als ich älter wurde und mehr unter die Menschen kam, genügten mir jene kurzen Geschichten nicht mehr; sie mußten schon länger sein, mußten von Menschen und ihren wunderbaren Schicksalen handeln.“

[55] „Ja, ich entsinne mich noch wohl dieser Zeit“, unterbrach ihn einer seiner Freunde. „Du warst es, der uns diesen Drang nach Erzählungen aller Art beibrachte. Einer eurer Sklaven wußte so viel zu erzählen, als ein Kameltreiber von Mekka nach Medina spricht; wann er fertig war mit seiner Arbeit, mußte er sich zu uns setzen auf den Grasboden vor dem Hause, und da baten wir so lange, bis er zu erzählen anfing, und das ging fort und fort, bis die Nacht heraufkam.“

„Und erschloß sich uns“, entgegnete der Schreiber, „erschloß sich uns da nicht ein neues, niegekanntes Reich, das Land der Genien und Feen, bebaut mit allen Wundern der Pflanzenwelt, mit reichen Palästen von Smaragden und Rubinen, mit riesenhaften Sklaven bevölkert, die erschienen, wenn man einen Ring hin und wider dreht oder die Wunderlampe reibt oder das Wort Salomos ausspricht, und in goldenen Schalen herrliche Speisen bringen. Wir fühlten uns unwillkürlich in jenes Land versetzt, wir machten mit Sindbad[1] seine wunderbaren Fahrten, wir gingen mit Harun Al Raschid, dem weisen Beherrscher der Gläubigen, abends spazieren, wir kannten Giaffar, seinen Vezier, so gut als uns selbst, kurz, wir lebten in jenen Geschichten, wie man nachts in Träumen lebt, und es gab keine schönere Tageszeit für uns, als den Abend, wo wir uns einfanden auf dem Rasenplatz und der alte Sklave uns erzählte. Aber sage uns, Alter, worin liegt es denn eigentlich, daß wir damals so gerne erzählen hörten, daß es noch jetzt für uns keine angenehmere Unterhaltung gibt?“

Die Bewegung, die im Zimmer entstand, und die Aufforderung zur Aufmerksamkeit, die der Sklavenaufseher gab, verhinderte den Alten, zu antworten. Die jungen Leute wußten nicht, ob sie sich freuen sollten, daß sie eine neue Geschichte anhören durften, oder ungehalten sein darüber, daß ihr anziehendes Gespräch mit dem Alten unterbrochen worden war; aber ein zweiter Sklave erhob sich bereits und begann:


  1. Sindbad, Name eines an Abenteuern reichen Reisenden in der orientalischen Märchensammlung „Tausendundeine Nacht“ (abgedruckt in Meyers „Volksbüchern“, Nr. 1001–1004).
Der Zwerg Nase Nach oben Abner, der Jude, der nichts gesehen hat
{{{ANMERKUNG}}}