Der Schatz des Kurfürsten
Das Jahr 1807 nahte sich seinem Ende. Napoleon hatte durch einige neue blutige Schlachten, durch einige neue Vergewaltigungen empörter Völker im Laufe desselben die Welt seinem großen Ziele, der Herrschaft des ewigen Friedens, um mehrere Etappen näher gebracht. Er hatte in demselben Gedanken, in seinem rastlosen Drang, die Segnungen der Civilisation zu sichern – so priesen es die kaiserlichen Hofrhetoren – ein ganz neues Königreich geschaffen. In Ermangelung eines besseren hatte er ihm den Namen Westphalen gegeben. Die Hauptstadt dieses „Westphalens“ war die alte Landgrafenresidenz Cassel geworden. Seine Provinzen waren aus aller Herren Ländern zusammengeschnitten; die Grenzen waren von der Willkür gezogen worden, und dieselbe Willkür hatte einen hoffnungsvollen jungen Marineofficier als König desselben angestellt, dem der zusammengeflickte Herrschermantel vortrefflich zu seinem krausen Haar und seinem lustigen Italienergesichte stand.
Der Hof des „niedlichen Königs“ Jerôme residirte auf der Wilhelmshöhe, die nun die Napoleonshöhe hieß; hoch über dem Frontispiz des Schlosses erhob sich eine schlanke Fahnenstange und daran flatterte die französische Tricolore, mit dem neuen Wappen des neuen Königs eines neuen Reiches in der Mitte. Der junge Seemann ließ lustig seine Flagge wehen, dem scharfen, kalten Nordwinde zum Trotz, der zornig über den Habichtswald herüberblies und sie hin- und herpeitschte, als ob er sie in Stücke zerreißen wollte, aber vergebens; der Sturm, der sie in Stücke zerriß, sollte von einer andern Seite kommen.
Derselbe scharfe Winterwind, der sich so mit König Jerôme’s Flagge raufte und an der Stange rüttelte, ohne sie bezwingen zu können, spielte auch mit dem langen, grünen Reitermantel eines hohen, starkgebauten jungen Mannes, welcher, die Allee von Cassel herauf kommend, dem Schlosse zuschritt und zuweilen sich wenden mußte, um die Enden seines Mantels, wenn der Wind sie weit auseinander geweht hatte, wieder um sich schlagen zu können. In solchen Augenblicken sah man, daß er die hübsche grüne Uniform eines neu gebildeten westphälischen Regiments trug … unter dem Mantelkragen verrieth sich eine auf der linken Schulter liegende Epaulette; der junge Mann mußte also Lieutenant sein.
Er hatte ein hübsches, höchst gewinnendes Gesicht, welches weit davon entfernt war, Züge classischer Schönheit zu zeigen; es war mit seiner stark ausgebildeten Stirn, seinen breiten Wangen, seiner kurzen Nase gewiß nicht danach angethan, zum Modell eines Bildhauers zu dienen, aber es verrieth die volle Kraft und Frische der Jugend. Die unter starken Brauen ein wenig tief liegenden braunen Augen leuchteten von Intelligenz, von Jugendmuth und vielleicht auch Uebermuth; um die vollen rothen Lippen des Mundes lag ein Zug von großer Gutmüthigkeit, und Alles in Allem, auch der beste Patriot konnte dies blühende, vom Sturm und der Anstrengung des Kampfes mit ihm doppelt geröthete Gesicht nicht ansehen, ohne diesem „deutschen Jünglinge“ in der französischen Uniform gut zu werden.
Von dieser französischen Uniform konnte ja auch er wohl sagen: „Ach, es war nicht meine Wahl!“ wie es Tausende mit ihm sagten!
Von einem der Baumstämme in seinem Wege leuchtete ihm ein großer weißer Anschlagzettel entgegen, halb abgerissen, so daß unten die Fetzen des Papiers im Winde flatterten und gegen die Rinde des alten Baumes schlugen – oben aber stand die Zahl 100,000 mit weithin sichtbaren großen Ziffern darauf gedruckt.
„Hunderttausend Franken!“ murmelte der junge Mann, flüchtig den Zettel mit den Augen streifend und weiter schreitend. „Ein Schuft würde für weniger zum Verräther! Wozu so viel?“
Er schritt, als er in die Nähe des Schlosses bis an das große Bowlinggreen gekommen, rechts ab, dem Gebäude des Marstalls zu. Die Seitenthür zu demselben stand weit offen und ließ in eine lange düstere Perspective blicken, aus der wie eine monotone Musik der Schall von aufgestampften Hufen und das Auf- und Niederrollen der Halfterketten – dazwischen das ungeduldige Gewieher und Schlagen eines Pferdes, der zornige Ausruf eines Stallknechts drangen. Dunkle Gestalten, Männer in grauen Stalljacken, bewegten sich im Mittel- und Hintergrunde dieser Perspective, aber kaum sichtbar mehr, denn in dem tiefen, langen Raum herrschte bereits völlige Dämmerung. Ganz hinten wurde schon die erste der in der Mitte des breiten Ganges hängenden Laternen angezündet.
Der Officier warf seinen Mantel zurück, als er in die behaglich warme Atmosphäre eintrat, welche den Raum erfüllte.
Bei einem der Pferdestände, in welchem ein Stallbedienter beschäftigt war, einem stattlichen Rappen die Abendstreu unterzuwerfen, blieb er stehen.
„Guten Abend, Wilhelm,“ sagte er, „ich komme aus der Stadt und bringe Dir einen Gruß von Deiner Mutter.“
„Ich danke Ihnen, Herr Lieutenant,“ antwortete der junge Mann, wie es schien, mißvergnügt.
[2] „Wie geht es Euch, meinem Rappen und Dir?“
„Wie es eben geht, dem Rappen besser als mir … heut’ zu Tage geht’s den Thieren besser als den Menschen; die Thiere bleiben, was sie waren, die Menschen aber müssen sich in Dinge fügen, welche ihnen an der Wiege wahrhaftig nicht vorgesungen sind. Meine arme Mutter, die ihre Wittwenpension verloren, sie hat eine Schneiderin werden müssen, und ich habe meinen Graveurstichel fortwerfen müssen, um diese lange Strohgabel in die Hand zu nehmen und Piqueur im Leibstall Seiner königlichen Majestät zu werden … Gott besser’s!“
„Darüber solltest Du eigentlich nicht so bitter klagen,“ antwortete der Lieutenant zu dem Pferde tretend und seinen glänzenden Hals klopfend, „ich kann Dir sagen, daß mit der Luft da draußen verglichen eine außerordentlich behagliche Atmosphäre in Seiner Majestät Leibstall herrscht, und wenn Dir Deine alte Liebhaberei für Pferde, Reiten und Fahren zu Deiner jetzigen bescheidenen Stelle verholfen hat, so dank’ Du Gott dafür; es giebt Leute, die mehr verloren haben, als ihre Gehülfenstelle beim Hofgraveur und die Aussicht, einmal selber ein schlecht bezahlter Hofkünstler zu werden. Und übrigens da Du mir in melancholischer Stimmung zu sein scheinst, will ich Dir noch einen Gruß bringen, der Dich heiterer stimmen wird … Du weißt, von wem er kommt.“
Wilhelm warf einen fragenden Blick aus seinen großen blauen Augen auf den Lieutenant.
„Wirklich?“ sagte er.
Der Lieutenant nickte lächelnd. „Ich habe die Frauenzimmer,“ fuhr er fort, „bis über die Ohren in Sammet, Seide, Blumen und Flittertand versunken gefunden … sie hatten Arbeit vollauf mit Maskenanzügen für die Damen vom Hofe, Deine Elise stichelte sich die Finger wund an einem Griechinnencostüm für Mademoiselle de Boucheporn …“
„Aha,“ sagte Wilhelm lächelnd, „und im Auftrage der Mademoiselle de Boucheporn haben der Herr Lieutenant auch wohl nur bei meiner Mutter vorgesprochen, um dann im Schlosse berichten zu können, wie weit die Arbeit gefördert ist …“
„Da irrst Du, Wilhelm, ich habe Deine Mutter besucht, um nach der guten Frau, bei der ich fünf Jahre im Hause gewohnt habe und die mich in dieser Zeit wie einen Sohn verpflegt hat, zu schauen. Und diesem Umstande verdankst Du es ganz allein, wenn ich Deine Elise gesehen habe und Dir Nachrichten von ihr bringen kann. Sie sieht ein wenig blaß und angegriffen aus, Deine Elise; ich hoffe, Du hast ihr keinen Kummer gemacht,“ setzte der Lieutenant scherzend hinzu.
„Ich? nein, ich bin’s nicht,“ entgegnete Wilhelm mit einem Seufzer.
„Du bist’s nicht? Das lautet, als ob’s ein Anderer wäre, der ihr Kummer machte? Ist’s etwa die Sorge um ihren Vater? Der gute Steitz sieht freilich schon lange wie ganz verändert und umgewechselt aus – ich glaube, es ist im ganzen Lande Keiner, dem, was geschehen ist, so zu Herzen geht, wie dem alten Steitz. Er scheint ohne seinen gnädigen Kurfürsten nicht leben zu können, der Mann schleicht umher wie ein Gespenst, so still und gebückt und in sich versunken.“
Wilhelm stützte das Kinn auf seine Hand und nachdenklich zu Boden blickend antwortete er:
„Was er eigentlich hat, weiß ich nicht, aber so viel ist gewiß, daß Elise sehr schwer mit ihm auskommt und daß er ihr auch zornig erklärt hat, sie müsse sich das Verhältniß zu mir ganz und gar aus dem Kopf schlagen, und ich solle mich nicht mehr in seiner Wohnung betreten lassen …“
„In der That?“ fragte der Lieutenant überrascht, „das hat der gute alte Herr doch wohl nur im Zorn gesagt …“
„Im Zorn, ja, doch ist es sein bitterer Ernst gewesen – und was ist am Ende auch daran Wunderbares? Als meine Mutter noch ihre Pension als Predigerwittwe hatte und ich die Aussicht auf eine kleine Hofanstellung, da mochte ich dem Herrn Steitz willkommen sein als Schwiegersohn. Seitdem ist meine Mutter eine Schneiderin, eine Putzmacherin und ich bin Reitknecht geworden – nichts als ein armer Reitknecht … Sie müssen gestehen, Herr Lieutenant, daß das die Sachen ändert,“ fügte Wilhelm mit einem bittern Lächeln hinzu.
Der Lieutenant war still geworden.
„Willst Du, daß ich einmal mit dem Herrn Steitz rede?“ sagte er dann.
„Nein,“ versetzte Wilhelm, „das ist für’s Erste unnütz und würde nichts helfen. Es ist unnütz, denn die Elise und ich bleiben uns doch treu, das weiß ich von ihr und sie weiß es von mir, ein glühendes Eisen brächte uns nicht auseinander. Und helfen wird uns nichts, als bis einmal der Wind von einer andern Seite bläst und diese Franzosen …“
„Pst!“ machte der Lieutenant und räusperte sich … Der Stallbediente, welcher die Laternen anzündete, war bis zu der gekommen, welche unmittelbar neben ihnen hing, und zog sie jetzt tief zu sich herab, um den Docht darin zu entflammen.
Als er sie wieder in die Höhe geschoben und Wilhelm zu dem aufflammenden Lichte empor sah, nahm der Lieutenant in den Zügen des jungen Mannes, in welche der helle Schein fiel, einen tief schmerzlichen Ausdruck wahr … Dieser blonde, so ernst und nachdenklich aussehende jugendliche Kopf paßte nicht zu der grauleinenen Stalljacke und der langen Strohgabel Wilhelm’s.
„Du hast Recht,“ sagte der Lieutenant, als der Laternenanzünder gegangen war … „auch ich denke, es können und es müssen andere Zeiten kommen … ich glaube jedoch nicht, daß sie so rasch kommen, wie Viele sagten, und ich fürchte, Du und Deine Elise, Ihr könntet Beide darüber alt werden. Aber deshalb verliere den Muth nicht, Du weißt, der König beehrt mich mit seiner besonderen Gunst …“
„Das thut er freilich,“ fiel Wilhelm ein, „sonst hätte er Ihnen den Rappen da nicht geschenkt …“
Unten im Stalle wurde in diesem Augenblick ein lauter Stimmenwechsel hörbar, und die in dem langen Raume Anwesenden versammelten sich dort zu einer Gruppe, die immer dichter wurde.
Der Lieutenant schritt hinab, um zu sehen, was der Grund des kleinen Auflaufes sei.
Als er näher kam, sah er inmitten der Gruppe einen großen, stattlichen Mann in Uniform, der alle Andern überragte und in großer Heftigkeit auf einen kleinen, in einen braunen Civilrock gekleideten Herrn einredete und dabei im höchsten Zorn weit lauter schrie, als es nöthig war, um sich dem dicht vor ihm stehenden Civilisten verständlich zu machen.
„Aber so nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Oberst,“ rief dieser, „wenn ich Sie doch versichere, daß wir gar keinen Platz für Ihre zwei Pferde haben …“
„So werfen Sie meinethalben zwei Dienstklepper hinaus, um Platz zu schaffen,“ schrie der Oberst, „ich sage Ihnen, daß ich ein Pferd für mich und eins für meine Ordonnanz hier untergebracht und versorgt sehen will, und das schon morgen, mein Herr Moulard.“
„Ich werde die Befehle des Königs darüber einholen und befolgen, nicht die Ihrigen, mein Herr La Croix,“ schrie der Stallmeister Moulard dagegen; „bis dahin müssen Sie sich gedulden, und wenn der Graf Boucheporn mich als Maître de Logis versichert, daß Sie auch die Zimmer im Schloß nicht haben werden, welche Sie verlangen, so weiß ich überhaupt nicht, was Sie mit dem Platz für Ihre Pferde wollen!“
„Das hat Graf Boucheporn Sie versichert? Also Graf Boucheporn ist einmal wieder der, welcher hinter der Sache steckt? Jarnitonnerre! Graf Boucheporn wird nicht müde, mir Liebesdienste zu beweisen. Nun, wir werden doch sehen, ob der König oder sein Maître de Logis im Schlosse zu befehlen hat. Graf Boucheporn soll sich hüten vor mir! Ah, Lieutenant Mensing – Sie sind da? … Sie sind ja so etwas wie Hausfreund bei Boucheporn und seiner hübschen Tochter … Sie mögen gehen und es ihm sagen – ich kümmere mich den Teufel drum!“
Der Lieutenant Mensing legte, als er sich so unvermuthet von dem Obersten angeredet sah, salutirend die Hand an seine Dienstmütze, der Stallmeister Moulard aber kehrte ihm den Rücken und ging davon; der Oberst wandte sich jetzt auch und ging fluchend und wetternd den langen Mittelgang hinab, um den Stall zu verlassen.
„Diese Franzosen haben immer Zank und Streit,“ sagte Wilhelm, als der Lieutenant wieder zu ihm getreten war, „und dann gerathen sie gleich in einen Zorn und in ein Toben, daß man meint, sie werden sich wenigstens den Hals brechen. Was war’s?“
„Der Gensd’armerie-Oberst La Croix beansprucht eine Wohnung für sich im Schlosse und Platz für zwei Pferde im Stalle,“ antwortete der Lieutenant, „und der Graf Boucheporn, der sich, ich glaube schon früher, in Paris mit ihm überworfen hat, will sie ihm nicht einräumen.“
[3] „Es thäte Noth, daß man noch ein neues Schloß, doppelt so groß wie das alte, und noch einen neuen Marstall baute,“ erwiderte Wilhelm, „für all das gierige Hofvolk, das freie Wohnung und Pferdefutter verlangt!“
„Ich muß gehen und meinen Rapport abliefern,“ bemerkte der Lieutenant, „gehab’ Dich wohl, Wilhelm, und sei guten Muthes.“
Der Officier ging in’s Schloß und wandte sich hier den der Generaladjutantur eingeräumten Bureaux zu, wo er einen Rapport abzugeben und eine Meldung zu machen hatte. Als er das Schloß wieder verlassen wollte und, auf der Portalschwelle stehen bleibend, seinen Mantel eben dichter um sich schlug, um in das Wetter draußen hineinzuschreiten, fühlte er eine Hand leise, beinahe wie zitternd, sich auf seine Achsel legen; er blickte um und sah im Schein der zwei auf der Rampe flammenden und im Winde hin und her flackernden Lichter in das Gesicht eines ältlichen Mannes, der aus großen Augen mit einem eigenthümlichen Blicke zu ihm aufschaute, fast wie hülfeflehend, wie ganz namenlos geängstigt, in dessen bleichen Zügen etwas unheimlich Gespanntes lag und dessen zitternde Stimme doch mit einer solchen Unbefangenheit und Heiterkeit „Guten Abend, mein lieber Herr Mensing!“ sprach, daß Niemandem das Gezwungene des Tones hätte entgehen können; ein Kind hätte es wahrgenommen, wie sehr sich dieser Mann Gewalt anthat, um so unbefangen zu sprechen.
„Ah, Sie sind es! … Guten Abend, Herr Inspector,“ antwortete der Officier dem Manne, der sehr elegant in Frack, kurze, seidene Beinkleider und seidene Stümpfe gekleidet war, die dargestreckte, aus glänzend weißen Manschetten hervorragende Hand schüttelnd … „aber um Himmelswillen, wie sehen Sie denn aus, Sie blicken mich ja an, als ob Sie einen Geist sähen, lieber Steitz … sind Sie nicht wohl?“
„Wohl? gewiß sehr wohl; weshalb meinen Sie, ich wäre nicht wohl? ich befinde mich à merveille, lieber Freund…“
Der blasse und jetzt plötzlich scheu um sich blickende ältliche Herr rief dies mit einem auffallenden Eifer und einem erzwungenen Lachen aus, daß es unheimlich anzuhören war.
„Hören Sie, lieber Steitz,“ sagte der Lieutenant, seinen Arm unter den des Inspectors schiebend, „gehen Sie in Ihre Wohnung zurück?“
„Das wollte ich eben … wollen Sie mich begleiten?“
„Wenn Sie’s erlauben, ja; wir sind alte Freunde, denk’ ich, oder besser, Sie sind immer voll Freundlichkeit und Güte gegen mich gewesen, und darum möchte ich mir jetzt herausnehmen, Ihnen eine kleine Strafpredigt zu halten; das mag von einem so jungen Menschen, wie ich bin, einem so respectabeln Herrn wie Ihnen gegenüber, sehr anstandswidrig sein … thut aber nichts, es geht nun einmal nicht anders; die Strafpredigt verdienen Sie, und es kann sie Ihnen kein Anderer halten, denn kein Anderer hier oben kennt das Geheimniß, das Sie drückt, als ich …“
Die beiden Männer waren während dieser Worte aus dem Schloßportal hinausgeschritten und gingen auf dem Kieswege davor links dem Nebengebäude zu, in welchem die Wohnung des Schloßinspectors Steitz lag.
Bei den letzten Worten des Officiers aber war der Inspector plötzlich, wie von einem elektrischen Schlage berührt, stehen geblieben … Mensing fühlte, daß eine Erschütterung durch seine ganze Gestalt ging, daß der Arm, der auf dem seinen lag, zitterte.
„O mein Gott,“ sagte er, wie nach Athem ringend, „Sie wissen – Sie, Mensing, Sie wissen …?“ und wie mit einem Ausbruch von Leidenschaft, aber mit ängstlich gedämpfter Stimme rief er dann: „Was – was sagen Sie? Was wissen Sie?“
Mensing schaute, betroffen von dieser gewaltigen Aufregung des Mannes, in die Züge desselben, deren Ausdruck ihm die dunkelnde Nacht verbarg, aber die noch entsetzter und bleicher, als vorhin, auszusehen schienen.
„Es kommt mir vor, als ob dieser alte Steitz über all das, was der arme Mensch in der letzten Zeit hat erleben müssen, verrückt geworden wäre!“ sagte sich der Officier, und den Arm des alten Herrn wieder ergreifend, antwortete er: „Ich weiß, was Ihnen im Stillen am Herzen nagt, lieber Inspector. Es ist nicht allein, daß Sie, der alte, treue Diener, der sein Blut und sein Leben hingeben möchte für seinen Herrn, sich nicht in die Wendung, die unser Aller Schicksal genommen hat, finden kann – das ist es nicht allein … es liegt Ihnen noch etwas Anderes auf der Seele …“
„Mir liegt nichts, gar nichts auf der Seele!“ unterbrach ihn abermals stehen bleibend und mit der leidenschaftlichsten Erregung seines ganzen Wesens der Inspector … „Mensing, ich bitte Sie, was sollte mir auf der Seele liegen – der König hat mich in meinem Amt, in vollen Würden und Einkommen gelassen und …“
„Nur gemach, rufen Sie nicht so laut, alter Herr,“ versetzte der Officier mit ruhiger Bestimmtheit, „und kommen Sie weiter, damit wir in Ihrem stillen Zimmer gemüthlich und unbelauscht von der Sache reden können!“
„Ja, ja, kommen Sie,“ fiel der Inspector jetzt leise aufathmend, flüsternd ein, als ob eine innere Angst ihm alle Kraft des Widerspruchs und des Widerstandes plötzlich gebrochen habe, „kommen Sie, Mensing, kommen Sie, lassen Sie uns reden, reden davon – o mein Gott, es bricht mir das Herz ab, wenn ich nicht endlich einmal mit einem ehrlichen Menschen davon reden kann … von … den guten alten Zeiten.“
Und so langsam und schleppend, wie der Inspector bisher geschritten, so aufgeregt hastig eilte er jetzt, den jungen Mann mit sich fortziehend, davon, seiner Wohnung zu.
Die Wohnung des Inspectors lag in einem ansehnlichen Nebengebäude, zu ebener Erde. Man trat aus dem Gange in das Wohnzimmer, dann in ein zweites dahinter liegendes; es war das Arbeitszimmer des Inspectors. Obwohl dieser, der in seiner Jugend mit Landgraf Friedrich dem Zweiten in Paris und Italien gelebt, der als bevorzugter Diener mit seinem Kurfürsten, Wilhelm dem Ersten, in tägliche persönliche Berührung kam, in seiner äußern Erscheinung, in seinem sorgfältigen gewählten Anzuge, in seinem ganzen Wesen den Hofmann zeigte, waren die Zimmer doch mit ganz bürgerlicher Bescheidenheit, fast Aermlichkeit eingerichtet. Aber der Ofen flackerte behaglich in dem Arbeitszimmer; eine mit einem Schirm verhüllte Lampe erleuchtete es; hinter dem Tisch mit der Lampe breitete ein lederüberzogener Ruhesessel einladend seine Arme aus, – kurz, der kleine Raum machte einen höchst behaglichen Eindruck, und der Inspector seufzte wie erleichtert auf, als er die Thür hinter sich geschlossen und nun matt sich in seinen Sessel fallen ließ.
Der Officier warf seinen Mantel ab und zog sich einen Stuhl an den Tisch, so daß er dicht neben den Inspector zu sitzen kam.
„Sehen Sie, lieber Steitz,“ sagte er, indem er seine Hand auf den Arm des alten Mannes legte, der mit den großen, eingesunkenen und feuchten blauen Augen die Lampe anstarrte, „sehen Sie, ich wohne drunten in der Stadt bei der Frau Momberg, und zur Frau Momberg geht Ihre Tochter, um Nähen, Schneidern und was weiß ich Alles von ihr zu erlernen; und weil nicht allein die Frau Momberg, sondern auch die Elise wissen, daß sie mir vertrauen können, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern, daß ich in das ganze Geheimniß eingeweiht bin …“
Der Inspector Steitz hatte, während der Officier so sprach, ihm langsam sein Gesicht zugewendet und ihn mit einem Blick furchtbarer Spannung angesehen.
„Die Elise … die Momberg … Mensing, ich bitte Sie um Christi unseres Herrn willen, Sie wollen nicht sagen, daß die Momberg, die Elise wissen …“
„Nun, was sollten sie nicht?“ fiel Mensing erstaunt ein. „Sie haben ja selber der Elise gesagt, daß der junge Mensch, den Elise als ihren Bräutigam betrachten durfte, jetzt, seitdem er nichts mehr als ein Reitknecht ist, Ihre Schwelle nicht mehr …“
„Wie? der Wilhelm?“ fuhr Steitz auf, „und davon reden Sie? von dem?“
„Wovon anders – Sie haben geglaubt, Steitz, als Vater so handeln zu müssen, und sehen doch, daß Ihres einzigen Kindes Herz dabei bricht, und nun …“
„Also das ist Alles, das ist das ganze Geheimniß, das Sie wissen?“ rief der Inspector mit einer Erleichterung aus, welche er gar nicht zu verbergen bemüht war.
Mensing sah ihn höchst überrascht und mit scharf prüfendem Blick an.
„So handelt es sich um etwas Anderes, Schlimmeres, Steitz, das Ihnen am Herzen nagt?“
Der alte Herr antwortete nicht; er hatte den Kopf auf die Hand gestützt und seufzte wieder aus tiefster Brust.
„Hören Sie, lieber Inspector,“ fuhr der junge Mann fort, „ich denke, Sie kennen mich. Sie wissen auch, wer ich bin und wem ich meine Existenz verdanke! Ich bin der Sohn eines ehrlichen Handwerkers. Die Prinzessin Marie, die Schwester Ihres alten Landgrafen, dem Sie Alles verdanken, hat mich erziehen [4] lassen; sie hat für mich gesorgt, sie hat mich in Verhältnisse gebracht, die mir ohne ihre Güte unerreichbar geblieben wären. Der geächtete Kurfürst hat mich zum Officier gemacht; ihm gehört nicht allein unsere Treue als unserem angestammten Landesherrn, wir gehören auch durch die Dankbarkeit, Sie wie ich, unserem Fürstenhause an, und wären schlechte Menschen, wenn wir das je vergäßen! Darum lassen wir uns als ein paar gute Hessen die Hand geben und … einander vertrauen! Sie haben ein wichtiges Geheimniß auf dem Herzen – also eines, das unsern gnädigen Herrn betrifft … ich sehe das … und Sie sollen sich jetzt das Herz erleichtern, indem Sie reden. Sehen Sie mir in’s Gesicht, Steitz; sehe ich aus, wie ein Mann, der Sie verrathen könnte?“
„Nein, Mensing, nein,“ sagte gepreßt der alte Mann, indem er die Hand des Officiers ergriff und krampfhaft drückte. „Sie sehen nicht so aus, und ich will Ihnen vertrauen; ich will Sie um Ihren Rath, Ihre Hülfe bitten, – ich muß, ich muß ja, denn wird mir nicht Rath, nicht Hülfe, so bringt mich die Geschichte unter die Erde!“
„Also, was ist es? Um was handelt es sich? … Es will nicht über Ihre Lippen, Steitz … soll ich rathen? Handelt es sich am Ende um des Kurfürsten Schatz?“
Steitz machte zusammenschreckend eine Bewegung, als ob er dem Officier das Wort auf den Lippen zurückhalten wolle, dann flüsterte er: „Um Gottes willen, sprechen Sie leise …“
„Also, Sie haben ihn, diesen vielgesuchten Schatz, auf dessen Angabe die Regierung einen Lohn von hunderttausend Franken gesetzt hat?“
„Und Todesstrafe für den, der ihn fortbewegt oder dabei Hülfe leistet!“ flüsterte Steitz kaum hörbar.
„Ihnen, Ihrer Obhut hat der Kurfürst ihn überlassen?“
„Es ist so, Mensing, es ist so … ich will Ihnen Alles sagen, ich will mein Leben in Ihre Hände geben, ich will Ihnen vertrauen, Mensing …“
„Bei Gott, Steitz, das dürfen Sie!“
„So hören Sie zu. Als der Kurfürst entfloh in der Hast jener schrecklichen Nacht des ersten November vorigen Jahres, konnte er nur einen Theil seines Reichthums mit sich nehmen. Das übrige, es sind mehrere Millionen in gemünztem Gold, in Papieren, in Noten der Bank von England, in Goldgeräthen, – das Alles wurde in Kisten verpackt, und mir vertraute der Kurfürst diesen Schatz an … als er eingepackt wurde, waren die Minister von Waitz und von Witzleben zugegen, dann aber blieb Alles allein in meiner Obhut. Anfangs bangte ich nicht um meinen Schatz; ich hatte ihm ein sicheres Versteck gegeben, wo ihn Niemand fand, und ich wußte, unter Denen, welche darin eingeweiht waren, war kein Verräther. Erst als König Jerôme den Entschluß faßte, auf der Wilhelmshöhe zu residiren, begann mein Leiden, meine Äugst … denn denken Sie sich, Mensing, mein Erschrecken, als eines Tages ein königlicher Ingenieurofficier zu mir kommt und mir befiehlt, ihn auf das Dach des Schlosses zu geleiten; da oben über dem Frontispiz in der Mitte habe er eine große Fahnenstange errichten zu lassen für das königliche Banner …“
„War denn der Schatz auf dem Dache verborgen?“
„Auf dem Dache nicht allein,“ flüsterte der Inspector, „nein, just über dem Frontispiz war er eingemauert, just da, wo dieser schreckliche Franzose seine Fahnenstange wollte errichten lassen … wer in aller Welt hätte denken können, daß dieser Schiffscapitän von König werde auf der Wilhelmshöhe eine Flagge aufziehen lassen wollen …“
„Das konnten Sie freilich nicht denken, denn es ist eine ganz neue Mode, eine absonderliche Marotte unserer Majestät … aber was begannen Sie?“
„Was ich begann? Mein Gott, ich stand wie vernichtet, ich zitterte an allen Gliedern, die Gedanken gingen mir wirr durch den Kopf, – es war ein Glück, daß der Ingenieur durch mein Stottern, mein Ausflüchtesuchen nicht argwöhnisch wurde, weil er sich vorstellte, daß ich mit der französischen Sprache nicht fertig werde. Endlich gab mir der stürmische Regentag den Vorwand, ihn fortzubringen; ich erklärte ihm, daß ich bei solchem Wetter ein Arbeiten auf dem Dache nicht verstatten könne, weil es in den unter dem Frontispiz liegenden Saal durchregnen und die Decke desselben verderben werde; ich müsse dawider erst Vorkehrungen treffen lassen … und so gelang es mir, den Menschen für einen oder zwei Tage los zu werden.“
„Welche Lage!“ rief Mensing aus. „Was begannen Sie?“
„Ich rannte zu den ehemaligen Ministern des Kurfürsten, zu Waitz und Witzleben; aber sie sandten mich achselzuckend fort, der Schatz sei mir anvertraut, nicht ihnen, sagten sie … ich mußte mir anderswo Hülfe schaffen … und ich fand sie … ich fand treue hessische Männer … drunten in Wahlershausen … wir gingen, mit dem nöthigen Geräth versehen, in der nächsten Nacht in’s Schloß, wir erstiegen den Dachraum und zogen die Millionen aus ihrem Versteck … und dann trugen wir sie still und sacht hinab, zum Schlosse hinaus, bis …“
„Bis?“ fragte Mensing, den Athem anhaltend.
[17] Steitz warf einen scheuen Blick um sich, als er antwortete:
„Bis an die große, äußere, freiliegende Treppe vor dem linken Schloßflügel dort drüben, der nach dem Thiergarten hin liegt ... unter dieser Treppe ist der Schatz eingemauert.“
„Dort? Dort also! Nun – die Stelle ist so gut wie eine andere. Die Hauptsache ist, daß Sie derer sicher sind, Steitz, welche Ihnen bei dem Transport und dem Vermauern halfen.“
Steitz nickte mit dem Kopf. „Ich bin’s,“ sagte er, „ich bin’s ... obwohl,“ setzte er mit leisem Kopfschütteln hinzu, „mir vorkam, als ob eine kurze Zeit nachher die Franzosen mehr als je von dem Schatze redeten und die Gewißheit, daß er noch im Lande sein müsse, aussprachen! ... Die amtliche Verkündigung des Preises für die Entdeckung erfolgte sechs Wochen nachher, zugleich mit der Anordnung nächtlicher Patrouillen, die vom Oberst La Croix ausging! Ist darin ein Zusammenhang, Mensing?“
Der Officier schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, daß wir dies anzunehmen brauchen, lieber Steitz,“ sagte er. „Es ist besser, wir halten an Ihrem Glauben an die Treue jener Männer fest. Und dann, wenn wir dies thun – weshalb dann diese Angst, die Sie quält?“
„Ich bin nicht zu Ende … hören Sie weiter,“ flüsterte Steitz hastig den Officier unterbrechend. „Sie wissen, was der Kurfürst von seinem Gelde mitgenommen, hat er Rothschild anvertraut …“
„Ich weiß es.“
„Nun wohl, vor zehn Tagen bringt mir ein Agent Rothschild’s, der sich als Weinreisender bei mir eingeführt, ein Handbillet des Kurfürsten aus Schleswig. Der Mann hatte es zwischen die Sohlen seiner Stiefel genäht … es enthielt wenige Worte, nicht viel mehr als: ‚Ich will meinen Schatz nach Itzehoe herübergeschafft sehen, ohne Verzug. Er kann dem Ueberbringer, der ihn an der Grenze in Empfang nehmen wird, vertrauen und hat mit demselben das Nähere zu berathen. Sein wohlaffectionirter Wilhelm der Erste. Kurfürst.‘ Den Brief habe ich verbrannt, mit dem Mann habe ich geredet, überlegt – der Mann wartet jetzt in einem Ort an der Grenze, und ich, ich soll nun handeln, ich soll es vollführen, ich, ich allein, und ich bin so rathlos, so hülflos wie ein Kind, die entsetzliche Noth und Angst nimmt mir meinen Verstand, meine Ueberlegung, es kommt kein Schlaf mehr in meine Augen, ich erschrecke, wenn die Thür aufgeht, ich zittere, wenn der König mich anblickt, wenn der letzte Lakai von diesen Franzosen mich anruft; wenn Jemand mich anspricht, fühle ich das Herz in mir stille stehen, als ob er sagen würde: ‚Wissen Sie schon, Steitz, der Schatz ist gefunden‘ … o, es ist eine Qual, über der ich den Verstand verlieren werde … und wenn es mich nun niederwirft, wenn ich krank werde, sehr krank, Mensing, wenn ich zu phantasiren beginne, wenn ich so im Fieber mein Geheimniß verrathe: was dann, Mensing, was dann?“
Der Officier blickte voll tiefer Theilnahme den gepeinigten Mann an.
„Das darf nicht sein,“ sagte er langsam und sinnend, „krank dürfen Sie nicht werden … Sie müssen wie ein Mann diese Angst, die durch Ihre erhitzte Phantasie in’s Unerträgliche gesteigert ist, bekämpfen.“
„Kann ich denn das, so lange der Schatz da draußen unter der Treppe steckt und ich ihn fortschaffen soll und doch nicht im Entferntesten sehe, wie ich’s machen, was ich damit beginnen kann …“
„Sie brauchen sich dann ja nur einfach zu sagen: ich allein kann es nicht; also muß ein Anderer helfen, also muß es ein Anderer mit mir ausführen! Weshalb sprachen Sie nicht eher mit mir?“
„Mit Ihnen, Mensing? Nun, Sie sehen ja, ich habe mich Ihnen anvertraut, ich habe mein Leben in Ihre Hände gelegt, Sie können jetzt hingehen und dem Könige sagen …“
Der Officier legte, um Steitz die weitere Rede abzuschneiden, die Hand auf den Arm des Inspectors und sagte leis und ruhig:
„Ich werde dem Könige nichts sagen, seien Sie ohne Sorge! Ich habe ihm, als ich in seinen Dienst übernommen wurde, in Reih und Glied den Fahneneid geleistet, das ist wahr. Aber meine Existenz verdanke ich meinem alten Herrn, und wenn ich das auch nicht thäte, er ist mein wahrer rechter Herr und meine Treue gehört ihm. Und auch sein Schatz gehört ihm und nicht dem fremden Manne da oben! Wir wollen ihm diesen Schatz retten, Steitz!“
„Sie – Sie wollen mir helfen, Mensing?“
„Ja – ich denke, ich kann’s.“
„Nun, dann sei Gott gelobt, der Sie mir sandte. Was ist zu beginnen, wie meinen Sie, daß es gemacht werden könnte …“
Der Officier stand auf und ging nachsinnend auf und ab.
„Haben Sie Geld?“ fragte er nach einer Pause.
„Ja, der Agent hat mir mehrere tausend Gulden da gelassen, falls ich sie zu Bestechungen brauchte.“
[18] „Das ist gut! Ich glaube wir werden sie brauchen,“ antwortete der Lieutenant.
Steitz schüttelte den Kopf. „Wer bestochen werden muß, fürchte ich, der widersteht der Lockung, den Lohn von hunderttausend Franken zu verdienen, nicht,“ sagte er. „Und den Lohn können wir nicht bieten!“
„Still, kommt da nicht Jemand?“
Draußen im Wohnzimmer ging die Thür auf, der Inspector sprang hastig empor … dann setzte er sich beruhigt wieder nieder und sagte:
„Es ist Elise, die zurückkommt, ich erkenne ihren Schritt.“
Gleich darauf öffnete sich auch die Thür des Arbeitszimmers und die Tochter des Inspectors trat herein, um den Vater zu begrüßen.
Es war ein hübsches, schlank gewachsenes junges Mädchen von etwas über mittlerer Größe. Ihre nicht regelmäßigen, aber anziehenden Züge zeigten einen großen Ernst; sie sprach leise, in ihrem ganzen Wesen lag etwas Apathisches, man sah auf den ersten Blick, daß ein Kummer an ihr zehrte, der Ausdruck ihres Gesichts war wie der Widerschein dessen, was so sprechend aus den Zügen ihres gepeinigten Vaters blickte.
Der Officier wechselte einige Worte mit ihr, dann wandte er sich zum Gehen.
„Adieu, Steitz,“ sagte er, dem Inspector die Hand zum Abschiede reichend … „ich will nachdenken und morgen reden wir weiter. Bis dahin seien Sie ruhig und werfen getrost alle Sorge auf mich. Gute Nacht, Elise!“
Er hüllte sich in seinen Mantel und schritt rasch davon, in die dunkle Nacht hinein, um trotz Wind und Wetter noch lange sinnend aus den Kiespfaden auf und nieder zu schreiten, die sich vom Schlosse nach dem großen Teich hin erstreckten.
Der Lieutenant Mensing wurde am andern Morgen durch seinen Dienst im Schlosse zurückgehalten. Er gewann nur eine Viertelstunde vor Mittag, um in der Wohnung des Maître de Logis, Grafen Boucheporn, einen Besuch zu machen.
Graf Boucheporn war ein kleiner, beweglicher Franzose, lebhaft, rasch in seinen Entschlüssen, ehrgeizig und eitel und im Uebrigen gutmüthig genug, wenn seine Leidenschaften nicht in’s Spiel kamen.
Zu seinen Leidenschaften gehörte die Eifersucht auf seine Autorität.
Die Gräfin war eine unbedeutende Frau; der Stern des Hauses war die älteste Tochter Julie, eine brünette, ein wenig kokette, aber mehr, als es bei diesen Kindern der Revolutionszeit gewöhnlich, unterrichtete junge Dame, die sich die Huldigungen des jungen deutschen Officiers sehr gern gefallen ließ, obwohl dies sie nicht abhielt, auch die der andern Herren vom Hofe anzunehmen, die Sr. vielhuldigenden Majestät, König Jerôme’s, nicht ausgeschlossen.
Der Lieutenant fand die Dame mit einer Stickerei beschäftigt, welche zu der in einigen Tagen stattfindenden maskirten Redoute verwendet werden sollte. Gräfin Julie hatte bei seinem Eintreten rasch ein Tuch darüber geworfen.
„Lassen Sie sich nicht stören, Comtesse,“ sagte Mensing lächelnd, „arbeiten Sie ruhig fort, Sie sticken da irgend einen Epheuzweig oder dergleichen mit Goldfäden in den feinen Fez, den Sie als Griechin tragen werden.“
„Aber – ich bitte Sie,“ fuhr Comtesse Julie überrascht und erschrocken auf, „wer sagt Ihnen, Herr Lieutenant, welches Costum ich tragen werde? Ich – eine Griechin? Sie sind vollständig im Irrthum!“
„Ich glaube nicht,“ antwortete der Officier, „es würde mir wenigstens sehr leid thun, denn ich freue mich unendlich darauf, daß Comtesse Julie, welche für alle Welt auf dem Balle maskirt sein wird, es für mich nicht sein wird!“
„Aber, frage ich Sie noch einmal, wie können Sie wissen …“
„Sie sehen, Comtesse Julie, mein Geist umschwebt Sie ungesehen und ich bin eingeweiht in Ihre heimlichsten Entschlüsse … ich kann Ihnen auch noch mehr sagen: Ihr reizendes Costum, welches den allerbesten, allergeschicktesten Händen zur Vollendung anvertraut war, ist in Gefahr, von diesen Händen nicht vollendet, sondern den plumperen einer gewöhnlichen Arbeiterin anvertraut zu werden …“
„Ah,“ rief das junge Mädchen spöttisch aus, „ich merke, der Herr Lieutenant haben Connexionen unter diesen – Arbeiterinnen!“
„So ist es – es hälfe nichts, einer so klugen jungen Dame, wie Comtesse Julie ist, dies verbergen zu wollen!“ antwortete der Officier.
„Wissen Sie aber, daß Sie mir damit alle Freude verderben, die ganze Freude an dem Fest?“
„Das würde mir unendlich schmerzlich sein. Trauen Sie mir denn zu, daß ich Ihr Geheimniß an irgend eine Menschenseele verrathen würde?“
„Wenn Sie mir feierlich geloben, schwören, daß Sie es nicht thun wollen, dann nicht,“ antwortete Comtesse Julie, ihre feurigen, braunen Augen mit einem sprechenden Blick zu ihm erhebend.
„Ich gelobe es, ich schwöre es!“ fiel Mensing lächelnd ein, die Hand auf seine Brust legend.
„Nun wohl denn,“ sagte sie, „alle Götter des Orcus und alle Dämonen der Hölle werden Sie strafen, wenn Sie den Eid brechen!“
„Fürchten Sie nichts, schöne Gräfin, ich werde verschwiegen sein, und wenn Sie auf der Redoute sehr bald erkannt sein werden, so, das glauben Sie mir, wird nicht meine Indiscretion, sondern nur der Geist und der Witz, womit die schöne Griechin ihre Neckereien ausführt und ihre Antworten giebt, Comtesse Julie verrathen …“
„Statt mir Fleuretten zu sagen, Sie böser Mensch,“ fiel die junge Dame ein, „sollten Sie mir lieber erklären, weshalb mein Costum denn nicht von derselben Arbeiterin ausgeführt wird, die es begonnen?“
Comtesse Julie sprach das mit einem Ausdruck von großer Unzufriedenheit und Sorge.
„Auch das will ich Ihnen sagen … das aber ist ein Geheimniß, worüber ich von Ihnen einen feierlichen Schwur bei allen Göttern des Orcus und allen Dämonen der Hölle verlange!“
„Ich schwöre!“
„Wohl denn, so hören Sie. Ich wohne in der Stadt bei der Frau, in deren Atelier Ihr Costum angefertigt wird. Die gute Frau Momberg hält mich für einen sehr verschwiegenen, soliden und vernünftigen jungen Mann, und so ist mir der Eintritt in die geheime Werkstätte, in welche sonst kein profanes Auge blicken darf, nicht verwehrt. Trotz des bescheidenen Gebrauchs, den ich von dieser Begünstigung mache, habe ich wahrgenommen, daß Demoiselle Elise Steitz, die Tochter des Schloßinspectors, die zu ihrer Ausbildung in dem Geschäft arbeitete, mit Ihrem Costum betraut war, und heute habe ich erfahren, daß Demoiselle Steitz nicht in das Atelier zurückkehren wird.“
„Nicht? Und weshalb nicht? Ist sie krank?“
„Krank, nein! Es hält sie etwas Anderes ab, täglich in die Stadt zu gehen und in den Abendstunden von dort zurückzukehren. Sie ist ein sehr hübsches, junges Mädchen und sie hat eine dringende Veranlassung gefunden, den Weg, auf welchem ihr Vater nicht im Stande ist, sie durch einen Diener begleiten zu lassen, nicht mehr allein zu machen!“
„Ah!“ sagte die Comtesse mit einem flüchtigen Erröthen.
„Es ist so!“ fuhr der Lieutenant fort, „sie hat die Augen eines Mannes auf sich gezogen, dessen unternehmende Keckheit sie ängstigt.“
„Und wer ist dieser Mann, dessen unternehmende Keckheit – mir mein Costum verdirbt? Wenn ich ihn kenne, soll er seiner Strafe nicht entgehen!“
„Pst, Comtesse, Sie vergessen, was Sie mir geschworen haben!“
„Ja so, – in der That! Aber reden Sie, wer beunruhigt den Frieden dieser schneidernden Unschuld?“
„Werden Sie sich von nun an besser Ihres Schwures entsinnen?“
„Gewiß, gewiß!“
„Wohl denn, es ist ein Mann, mit dem nicht gut Kirschenessen ist, wie das deutsche Sprüchwort sagt: der Oberst der Gensd’armerie.“
[19] „La Croix?“
Der Officier nickte.
„Der?“ sagte Comtesse Julie gedehnt. „Das arme Geschöpf!“
„Er ist so vernarrt in sie und betreibt die Sache so ernsthaft, daß er blos, um in der Nähe des jungen Mädchens zu sein, Ihren Herrn Vater zu veranlassen gewußt hat, ihm eine Wohnung hier im Schlosse einzuräumen!“
„Deshalb hat er sie verlangt!“ rief Comtesse Julie überrascht aus, „daher der Aerger für meinen Vater! Mein Vater, müssen Sie wissen, hat sie ihm durchaus nicht einräumen wollen, aber ein Befehl des Königs, an den sich der Oberst gewandt hat, ist dazwischen gekommen … mein Vater war so zornig, daß er im ersten Augenblick davon redete, seine Entlassung nehmen zu wollen.“
„Ihr Herr Vater – denn ihm gegenüber dispensire ich Sie von Ihrem feierlichen Gelöbnis, Comtesse Julie – Ihr Herr Vater wird sich jetzt deuten können, woher der leidenschaftliche Eifer des Obersten, sich hier zu installiren, rührte.“
„Es ist ein böser brutaler Mensch, dieser Oberst,“ rief Gräfin Julie aus, „das junge Mädchen hat Recht, daß sie sich den Begegnungen mit ihm nicht mehr aussetzen will. Aber ich will doch den Nachmittag in die Stadt fahren, um zu sehen, was bei alledem aus meinem Costum wird!“
„Hoffen wir, daß es nicht zu sehr darunter leidet!“
„Und entdecken wir etwas, um diesem Obersten zum Lohne einen recht schlimmen Streich auf der Maskerade zu spielen! Wollen Sie mir dabei helfen?“
„Mit Freuden!“
„Nun wohl denn – ich werde darüber nachsinnen; es muß etwas sein, das ihn furios ärgert… mir fällt sicherlich etwas ein, und ich zähle dabei auf Sie, wenn ich Sie nöthig habe.“
„Nichts könnte mich mehr freuen, als die Ehre, Ihr Verbündeter zu sein!“ antwortete Mensing sich erhebend.
„Und unsere Geheimnisse …“
„Sind uns heilig, das versteht sich!“
Der Officier küßte die Hand, die ihm Comtesse Julie reichte, und empfahl sich. –
Einige Stunden später trat er in das Wohnzimmer des Inspectors. Dieser saß in seinem Sorgenstuhl am Ofen, in welchem er sonst seinen Nachmittagsschlummer hielt; heute, wie schon so viele Tage, war der Schlummer nicht auf seine müden Augenlider gekommen.
Als er den Officier erblickte, stand er hastig auf und bat ihn, in sein Arbeitszimmer zu treten, welches er dann sorgfältig hinter sich verschloß.
„Nun?“ sagte er gespannt und angstvoll in Mensing’s Züge blickend.
Mensing streckte seinen Arm aus und die Hand auf des alten Herrn Schulter legend antwortete er: „Mein Plan ist gemacht!“
„So danke Ihnen der Himmel dafür,“ entgegnete Steitz, aus der beklommenen Brust tief aufathmend, „wenn er nur ein guter ist!“
„Hören Sie!“
„Setzen wir uns,“ sagte der Inspector, einen Stuhl herbeischiebend.
„Sagen Sie mir zuerst,“ begann Mensing, als die beiden Männer auf den alten Plätzen sich dicht gegenüber saßen, „haben Sie dieselben vertrauten Leute zur Hand, welche damals den Schatz unter der Treppe einmauerten?“
„Ja, ich habe sie zur Hand, zwei vertraute Männer.“
„Und sie werden kommen, um in der Nacht den Schatz zu heben und rasch auf einen Wagen zu laden?“
„Dafür, glaube ich, kann ich einstehen; der eine,“ setzte er kaum hörbar flüsternd hinzu, „ist der Justizamtmann Brethauer, der andere der frühere Leibchirurg Mann.“
„Wohl denn! Und der Ort, wo der Schatz abgeliefert werden soll?“
„Ist das Städtchen D. jenseits der Grenze. Dort im Wirthshaus zum weißen Roß erwartet ihn der Agent, der ihn in Sicherheit auf dänisches Gebiet, nach Itzehoe, bringen wird.“
„Nun gut. Jetzt hören Sie, Steitz. Die Schwierigkeit, welche wir zu besiegen haben, ist eine doppelte. Erstens, einen Wagen, einen Fuhrmann zu finden. Es wird Niemand zu finden sein, der sein Leben an die Fortführung wagt; Niemand, dem man nur mit der Zumuthung, es zu thun, das Geheimniß anvertrauen dürfte!“
„Als ob ich das nicht selbst längst bedacht hätte!“ fiel Steitz ein.
„Die zweite Schwierigkeit, die sich uns entgegenstellt,“ fuhr Mensing fort, „ist die, durch die Gensd’armerie-Patrouillen des Obersten La Croix zu kommen, ohne von ihnen angehalten und durchsucht zu werden.“
Steitz nickte mit dem Kopfe und stützte dann sein Kinn auf die Hand, um Mensing gespannt in’s Gesicht zu blicken.
„Wir müssen uns also,“ sprach dieser weiter, „geradezu einen königlichen Wagen verschaffen und uns dazu einen officiellen Durchgangsschein, ein Laissez-passer, geben lassen.“
„Aber, mein Gott, wie wollen Sie das erhalten?“
„Das soll Ihre Sorge sein, Steitz“, antwortete lächelnd der Lieutenant, „Sie sind ein alter Hofmann, und ich denke, Sie haben sich so viel Diplomatie angeeignet, wie dazu nöthig sein wird. Hören Sie nur: Ihr nächster Vorgesetzter ist der Graf Boucheporn!“
„So ist es, er ist Maître de Logis und Gouverneur du Palais.“
„Und Sie stehen nicht just in Ungnade bei ihm – ich weiß es, ich habe ihn noch neulich von Ihren feinen Manieren und Ihrem guten Französisch reden hören –“
„Er ist immer passabel höflich gegen mich,“ fiel Steitz ein.
„Und er ist es, der Ihnen den Wagen und den Schein schaffen soll, … wann werden Sie den Grafen sprechen?“
„Morgen Vormittag; er hat mich morgen Vormittag um elf nach dem Lustschlosse Schönfeld hinausbestellt; ich soll dort Aufträge wegen der Instandsetzung des Schlosses erhalten.“
„Vortrefflich! Sie werden dort mit ihm allein sein. Sie werden ihn mit voller Muße sprechen können …“
„Und was soll ich ihm sagen?“
„Sie werden zunächst nichts thun, um Ihre Unruhe, Ihren Gemüthszustand zu verbergen; Sie werden sich zerstreut zeigen, tief gedrückt, verstört; er wird Sie fragen, was Ihnen sei, und Sie werden nach einigem Sträuben antworten: Sie befänden sich in der peinigendsten Lage, worin ein Vater sich befinden könne; Ihre Tochter sei der Gegenstand einer ganz frivolen Neigung des Obersten La Croix geworden; sie würde von ihm bedrängt, verfolgt, und Sie sähen kein Mittel, sie seinen Verfolgungen zu entziehen …“
„Ah,“ fuhr Steitz auf, „das ist ja durchaus nicht wahr, und …“
„Es ist nicht wahr, aber Boucheporn wird es Ihnen auf der Stelle glauben, dafür stehe ich Ihnen ein!“
„Der Obrist kennt meine Tochter gar nicht …“
„Einerlei, er gilt als ein Mädchenjäger und Ihre Tochter ist hübsch und – wir leben an König Jerôme’s Hof! Aber wäre das Alles auch nicht, der Graf würde Ihnen doch glauben, denn Sie müssen wissen, daß ich die Sache bereits eingeleitet habe und daß dieselbe Geschichte gerade jetzt vielleicht des Breitesten bei dem Grafen besprochen wird!“
„Was haben Sie gethan? Sie bringen ja da meine Tochter in ein Gerede …“
„Ich denke nicht, lieber Inspector … man hat mir Schweigen versprochen und die Sache wird für Elise keine Folge haben, dafür glaube ich Ihnen einstehen zu können. Und auch dafür, daß der Graf Ihnen auf das Bereitwilligste Gehör schenken wird … dafür bürgt uns, daß er den La Croix haßt wie die Sünde. Sie werden dann fortfahren, ihm Ihr Herz auszuschütten; Sie werden ihm sagen, daß Ihr sehnlichster Wunsch sei, das Mädchen fortzusenden, zu einer älteren Verwandten, jenseits der Fulda, und … nennen Sie ihm, welchen Ort da drüben Sie wollen. Er wird Sie fragen: ,aber, mein Gott, lieber Steitz, weshalb thun Sie denn das nicht!?’ Und Sie, Sie werden antworten: ,kann ich das, Herr Graf? La Croix’ Patrouillen schweifen überall, man kann die Wilhelmshöhe nicht verlassen, ohne aus zwei oder drei derselben zu stoßen, und seit das Märchen vom Schatze des Kurfürsten in den Köpfen spukt, halten sie jeden Wagen an, durchsuchen sie jedes Fuhrwerk! Und ich kann das Mädchen doch in dieser Jahreszeit nicht zu Fuße laufen lassen, nicht ohne Koffer und Gepäck für längere Zeit fortsenden. Und denken Sie, Herr Graf, wenn das arme Geschöpf so in die Hände der Leute des Obersten fiele, wenn er – ach, ich mag den Gedanken nicht weiter denken, es würde für mein Kind und mich der Tod sein!’“
[20] „Und das Alles,“ fiel der ehrliche alte Herr erschrocken ein, „soll ich dem Grafen sagen?“
„Das Alles sollen Sie ihm vorklagen, mit dem betrübtesten Gesichte von der Welt … und daß Sie es gut machen, davon hängt zunächst Alles ab.“
„Nun wohl denn, ich will es versuchen, versetzte Steitz, „und dann?“
„Dann schließen Sie Ihre Worte mit dem Stoßseufzer: ,wenn ich nur einmal über einen königlichen Wagen zu verfügen hätte, den man nicht anhalten dürfte, mit dem ich sie still in der Nacht fortsenden könnte … denn bei Tage wage ich es gar nicht, der Oberst hat ja seine Mouchards, seine Spione überall’ …“
„Und darauf wird der Graf einen Wagen zur Verfügung stellen,“ unterbrach Steitz eifrig den Officier, „glauben Sie es?“
„Er wird Ihnen zur Verfügung stellen, was Sie wollen, verlassen Sie sich darauf, um nur diesem La Croix einen Streich zu spielen. Freilich muß die Sache einen Vorwand haben. Der Maître de Logis kann nicht königliche Wagen requiriren, um junge Mädchen spazieren fahren zu lassen. Es muß den Anschein haben, als ob er sich dabei in seiner Amtsthätigkeit befinde.“
Seitz nickte wieder mit dem Kopfe. „Und das,“ sagte er, „wäre ja wohl zu machen. Der Graf läßt oft durch Fourgons aus dem Marstall Gegenstände, die zur königlichen Hofhaltung gehören, Meubel und dergleichen transportiren.“
„Und darum,“ fuhr Mensing fort, „müssen Sie ihm den Vorschlag machen, einen Fourgon zum Transport von leichten Sachen, z. B. von Matratzen und Betten, die nach demselben Schlosse Schönfeld gefahren werden sollen, wo Sie morgen diese Unterredung mit dem Grafen haben werden, zu requiriren, und dabei das Stallmeisteramt aufzufordern, diesen Fourgon Ihnen als Inspector zur Disposition zu stellen.“
„Das ist Alles ganz gut,“ sagte Steitz, „aber es wird zu sehr auffallen, wenn ich einen solchen Fourgon für die Nacht verlange …“
„Nicht zu sehr, denke ich,“ antwortete Mensing, „man sagt eben, im Schloß Schönfeld solle augenblicklich für die Aufnahme eines Gastes gesorgt werden, der König habe es befohlen – wer verwundert sich darüber, wenn unsere lustige Majestät vielleicht einem hübschen weiblichen Gaste plötzlich in einem seiner Schlösser ein Quartier bereiten läßt …“
„Das ist wahr, und ich räume Ihnen ein, daß Alles sich so weit ganz gut machen läßt, – aber ich sehe nicht ein, wie wir über die letzte und größte Schwierigkeit wegkommen. Wer soll den Wagen fahren? Ein Wagen aus dem königlichen Stalle wird nur einem königlichen Stallbedienten anvertraut, und der wird uns verrathen!“
„Darin liegt freilich eine Schwierigkeit,“ erwiderte Mensing, „die zweite große Schwierigkeit, von der ich reden wollte. Wir können dem Mann unsere heimliche Fracht nicht verbergen, und wenn wir es könnten, würde er nicht zugeben, daß ein königlicher Fourgon über das Ziel hinaus, in Nacht und Nebel weiter, über die Grenze entführt würde. Wir dürfen auch keinen Bestechungsversuch machen, so wenig wie bei einem Fuhrmann aus der Stadt, darüber sind wir uns auch klar. Es nimmt Niemand eine Bestechung von einem Paar tausend Gulden, wenn er hunderttausend verdienen kann. Aber beruhigen Sie sich darüber, Steitz. Ich kenne glücklicherweise einen Stallbedienten, welcher jeden Wagen zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht nach jedem Orte auf Erden, und wäre es der Nordpol, fährt – wenn sich Demoiselle Elise Seitz auf dem Wagen befindet!“
Des Inspectors Züge zuckten eigenthümlich.
„Sie meinen den Wilhelm Momberg,“ sagte er mit einem hastigen, heftigen Tone.
„Den meine ich!“
„Aber wollen Sie denn, daß meine Tochter wirklich …“
„Daß sie wirklich mit dem Fourgon abfährt? Gewiß will ich das! Denn erstens darf Ihre Tochter nachher nicht mehr hier oben gesehen werden, und zweitens wäre es möglich, daß Graf Boucheporn sich so sehr für die Sache interessirt, daß er persönlich in der Nacht der Abfahrt sich zu Ihnen herüber begiebt, um zu sehen, daß Demoiselle Elise glücklich wegkommt. Und drittens wird Wilhelm Momberg nicht Leib und Leben an des Kurfürsten Schatz wagen, wenn er es nicht thut, um nebenbei seinen Schatz für sich in Sicherheit zu bringen! Also, daß Elise dabei ist, das ist eine Nothwendigkeit, in welche Sie sich fügen müssen …“
„Aber mein Gott, wie kann ich mich dazu entschließen? Wenn ich Elise mit dem Wilhelm fortfahren lasse, so …“
„So müssen Sie sie eben fortfahren lassen,“ fiel der Officier lächelnd ein, „auf die Gefahr hin, daß sie sich unterwegs in einer Weise verständigen …“
„Daraus kann doch nie etwas werden,“ rief Steitz eifrig, fast zornig aus, „ich kann meine Tochter doch keinem Stalldiener geben!“
„Lieber Steitz,“ sagte Mensing, ihm die Hand auf den Arm legend, „diesen Einwurf hätte ich von Ihnen nicht erwartet! Der Stallbediente ist ein tüchtiger, ehrlicher Mensch, er ist guter Leute Kind und hat eine ordentliche Erziehung erhalten, für einen bessern Stand, als seinen jetzigen, das wissen Sie so gut wie ich! Sie wissen auch, daß Ihre Tochter ihn liebt – und wenn Sie ihm unter den Umständen, von denen wir reden, Ihre Tochter geben, so geben Sie diese nicht dem Stalldiener, sondern dem Manne, der eine gute Zukunft vor sich hat – glauben Sie nicht, daß der Kurfürst den Dienst, den er leisten soll, ihm so reich belohnen wird wie uns Beiden, was wir thun?“
Steitz starrte nachdenklich auf den Tisch
„Ja, ja,“ murmelte er, „ich denke, er wird ihn lohnen … es ist vorauszusetzen, daß er ihn lohnt … wir wollen es hoffen, Mensing! Aber wir handeln nicht deshalb!“
„Nein,“ versetzte der Officier, „davon ist nicht die Rede. Wir handeln um der Sache des Rechts und um unseres Herrn, um unserer Treue willen! Deswillen allein setzen wir unser Leben ein – Sie wie ich! Für Momberg aber, den nichts von dem an den Kurfürsten bindet, was uns bindet, müssen wir einen Lohn haben, und den zu bieten, muß sich der Vater entschließen. Es geht nun einmal nicht anders. Und wenn Sie sich damit auch ein Stück von Ihrem Herzen reißen müßten, es geht nicht anders!“
Steitz schwieg, das Kinn auf seine Hand gestützt, die Augen auf die Tischdecke heftend.
„Wird es Ihnen so schwer, auch das für Ihren Herrn zu thun? Kennt Ihre alte Hessentreue eine Grenze, Steitz?“ fragte der Officier vorwurfsvoll.
„Sie haben Recht, Mensing,“ antwortete der Inspector. „Nein, wenn auch Jedermann sein Recht hat, in das keine Pflicht gegen einen Andern, wer es auch sei, hineingreifen darf – ich will auch das thun – ich will es Elisen sagen und ich will Ihnen folgen in Allem! Bestimmen Sie nur den Tag, die Nacht, wenn es sein soll!“
„Das ist brav von Ihnen, und ich wußte es, daß Sie so reden würden, Steitz. Wohl denn – Sie geben mir also die Erlaubniß, mit Momberg zu reden?“
„Ich gebe sie Ihnen.“
„Und Sie reden mit Ihrer Tochter?“
„Noch heute!“
„So gehe ich, Momberg aufzusuchen. Ich muß mit ihm verabreden, wie es zu machen ist, daß der Stallmeister gerade ihm die Führung des Fourgons anbefiehlt. Nötigenfalls muß er, falls ein Anderer den Auftrag erhält, diesem anvertrauen, daß es sich um Elisens Entführung handle, er muß ihn bestechen, daß er ihm, dem Wilhelm, den Wagen überläßt …“
„Das wird keine Schwierigkeit bieten, denk’ ich,“ fiel Steitz ein.
„Hoffentlich nicht,“ sagte Mensing. „Und was die Nacht, welche wir wählen, angeht, so wird es am besten sein, die der großen Maskerade zu benutzen – das Fest wird alle Diener, Alles, was das Schloß bewohnt, beschäftigen und in den inneren Räumen festhalten – der stille Flügel drüben wird nie unbeachteter sein! Es ist die Nacht vom einundzwanzigsten auf den zweiundzwanzigsten – also in drei Tagen!“
Der Inspector war auch damit einverstanden, und so trennten sich die beiden Männer, nachdem sie noch einmal sich über das ausgesprochen, was Jeder von heute an als seine Rolle zu betrachten hatte, mit einem warmen Händedrucke von einander. –
Steitz saß dann noch lange so, wie er vorhin gesessen, das Kinn auf die Hand gestützt und starr ans die Platte des Tisches vor ihm niederblickend. Er überdachte und überlegte Alles, was Mensing zu ihm gesprochen, was eintreten könne, wem vorzubeugen sei, so lange, bis er sich ordentlich wirr im Kopfe fühlte von allen den Wendungen, welche die Sache nehmen könnte, allen den Zufälligkeiten, [21] allen den Gefahren, denen sie ausgesetzt war, bis er fühlte, daß er nichts zu thun vermöge, als sich ganz auf den Officier zu verlassen und ihm in Allem mit dem unbedingtesten Vertrauen zu folgen. Der Officier forderte, seine Tochter, sein einziges Kind für das Gelingen der Unternehmung. Mochte er es nehmen – mochte es so sein … es ging ja nicht anders – der Inspector mußte sein Kind ziehen lassen im Schutze Gottes und des Mannes, den sie liebte; er konnte nichts thun, als den Himmel anflehen, daß er sie geleite auf dem gefährlichen Wege!
Aber wo blieb Elise heute? Es wurde Abend, es wurde dunkel und sie kam nicht zurück. Steitz erhob sich endlich beunruhigt und hüllte sich in einen Mantel gegen das rauhe Wetter, um ihr auf dem Wege zur Stadt entgegen zu gehen. Er hatte draußen. noch das Ende des Bowlinggreens nicht erreicht, als er wahrnahm, daß er nutzlos sich beunruhigt. Er sah zwei dunkle Gestalten, die eines Mädchens und die eines Mannes, zusammen stehen, an der Stelle des Weges, wo sich der Pfad zu des Inspectors Wohnung abzweigte; als er näher kam, erkannte er Elisen an ihrer Stimme.
„Wenn mein Vater es will, so werde ich es thun, Wilhelm,“ flüsterte sie eben, „und dann, dann magst auch Du es thun! Ich würde nicht dulden, daß Du Dein Leben gefährdetest, um aller Schätze der Welt willen nicht. Ich würde es nun und nimmer dulden. Ich würde Deine Mutter auffordern, Dich zu hindern, es Dir zu verbieten.“
„Dein Wort würde genug sein, mich davon abzuhalten, Elise,“ fiel Wilhelm ein, „das weißt Du!“
„Ich weiß es, aber wenn mein Vater es will, so werde ich gehen“, fuhr sie fort, „und dann wirst Du mit mir sein – Du hast dann das Recht bei mir zu sein, Wilhelm, denn wir haben uns geschworen und gelobt, uns anzugehören, und wo Einer von uns in Noth und Gefahr ist, da darf er nicht allein, da muß er verlangen, daß auch der Andere sei bei ihm zu seinem Schutz und seiner Hülfe.“
[22] „So denk’ auch ich,“ erwiderte Wilhelm, „es war mein erster Gedanke, wenn wir unser Leben wagen, so thun wir es Einer um des Andern willen, und Gott, hoffe ich, wird uns deshalb in seinen Schutz nehmen. – Aber um Eines bitte ich Dich, Elise.“
„Und was ist es?“
„Sag’ es meiner Mutter nicht!“
„Nein,“ versetzte sie. „Es ist nicht nöthig, daß auch sie leide, wie ich meinen Vater leiden sehe unter der Sache. Sieh, Wilhelm, wenn ich so guten Muthes, so rasch entschlossen dabei bin, so kommt es daher, weil ich jetzt endlich erfahre, was in all’ der Zeit so furchtbar schwer auf meinem armen Vater gelastet hat, und weil ich nun sehe, wie ihm die Last vom Herzen genommen werden, wie ich selbst dabei behülflich sein kann! Darum …“
„Still!“ flüsterte Wilhelm, ihren Arm ergreifend, „da ist Jemand … fort!“
[33] „Elise – bleibt, bleibt!“ rief gedämpften Tones der Inspector hinter ihnen, und an sie herantretend fuhr er fort: „Hat Mensing mit Ihnen gesprochen, Wilhelm?“
„Er hat es, Herr Inspector!“
„Und welche Antwort haben Sie ihm gegeben?“
„Die Antwort, die er von mir erwartete. Wenn Sie wünschen, daß Elise thut, wie Mensing will, so werde ich Ihren Schatz fahren – aber ohne sie nicht!“
„Und Du, Elise?“ fragte der Inspector seine Tochter.
Sie umarmte ihn, und ihren Kopf an seine Brust legend, sagte sie: „Ich sehe nur das Eine, daß ich helfen kann, Deinen Kummer und Deine Sorge zu enden!“
„Du bist ein gutes, gutes Kind,“ sagte der Inspector weich, „und Sie, Wilhelm, Sie verdienen Elise nicht zu theuer, wenn Sie sie verdienen durch eine muthige That, bei der Sie das Leben auf’s Spiel setzen …“
„Das weiß ich, Herr Inspector,“ versetzte Wilhelm, „und es freut mich, daß ich die That gefunden habe, durch welche ich sie verdienen kann!“ –
Die Aufgabe, welche dem Inspector zugefallen, war von diesem über Erwarten glücklich gelöst. So zagend und so kleinlaut er die ersten Worte, welche Mensing ihm angegeben, auch fallen lassen, als er mit dem Grafen Boucheporn die Besichtigung des kleinen Lustschlosses zu Schönfeld vorgenommen, so leicht war es ihm geworden, seine Rolle weiter zu spielen. Graf Boucheporn nämlich war mit einer solchen lebhaften Theilnahme und bereitwilligen Gläubigkeit auf das, was ihm Steitz mittheilte, eingegangen, daß dieser nicht zu sorgen brauchte, von ihm durchschaut zu werden – und bereit zu Allem zeigte sich der Graf.
„Ja, ja, Sie haben Recht, Inspector,“ rief er aus, Steitz am Knopfe seines Rockes fassend, „wenn es so ist, so senden Sie das Mädchen weg; es ist das Beste, das Einzige, was Sie thun können; einen königlichen Fourgon dazu sollen Sie haben und ein Laissez-Passer auch – jeden Augenblick können Sie es bekommen …“
„Ich bin gerührt von Ihrer Güte, Herr Graf,“ versetzte der Inspector. „Ihr Rath bestimmt vollends meinen Entschluß! Wenn es nur ganz in der Stille, ohne Aufsehen und Gerede, geschehen könnte! Es müßte Alles dabei gemieden werden, was meine Tochter in den Mund der Leute brächte …“
„Natürlich!“
„Darum,“ fuhr Steitz fort, „müßte die Abreise Nachts geschehen, auch schon deshalb, damit La Croix sie nicht bemerkt!“
„Nachts, gewiß,“ fiel Boucheporn ein, „ich will das dem Stallmeister selbst sagen und schon begreiflich machen!“
„Aber, Herr Graf versprechen mir …“
„Schweigen? Discretion? verlassen Sie sich darauf, lieber Steitz!“
„Sie sind so gnädig für mich, Herr Graf,“ sagte der Inspector, „daß ich wagen möchte, noch Eines hinzuzufügen.“
„Und was ist das? sprechen Sie doch frei heraus, Steitz.“
„Ich wäre der Verschwiegenheit des Stallknechtes, der den Wagen führt, nicht sicher; nur Einer ist unter dem Stallpersonal, welchem ich ganz vertrauen könnte, es ist der Sohn einer Wittwe, einer mir wohlbekannten Frau, er heißt Wilhelm Momberg …“
„Und Sie wünschen, daß dieser Wilhelm Momberg die Ordre bekommt …“
„Es wäre mir außerordentlich erwünscht, wenn er den Fourgon fahren würde … wenn es zu machen wäre, würde es Ihrer Gnade die Krone aufsetzen!“
„Weshalb sollte es nicht zu machen sein? Ich sage Ihnen, ich werde selbst mit dem Stallmeister reden.“
„Und auch ihn um Discretion bitten, Herr Graf?“
„Das versteht sich, verlassen Sie sich auf mich,“ fiel der eifrige Franzose lebhaft ein, „werfen Sie deshalb Ihre übermäßigen Sorgen von sich, ich sehe, Sie sind in gewaltiger Aufregung, alter Herr, die Schweißtropfen stehen Ihnen auf der Stirn, kommen Sie, damit wir sehen, was in den übrigen Zimmern dieses Schlosses zu thun ist, und dann können Sie heimkehren, um Ihrer Tochter zu sagen, daß sie sich reisefertig machen darf.“
Der Graf schritt weiter, Steitz folgte ihm, sich mit seinem Taschentuche die Stirn wischend. Es war dem alten Mann bei den Lügen, die er vorgebracht hatte, entsetzlich heiß geworden.
„Das also ist vortrefflich gelungen!“ sagte Mensing, als ihm der Inspector am Abend den Ausgang berichtete, „Sie haben jetzt nur noch mit Brethauer und Mann zu reden, Steitz!“
„Es soll morgen geschehen,“ antwortete Steitz, dessen Zuversicht und Muth sich wunderbar gehoben hatten nach diesem ersten Erfolge.
Aber freilich, es war mit diesem Gelingen des ersten vorbereitenden Schrittes noch gar wenig erreicht, und Mensing trat am andern Morgen ziemlich sorgenbedrückt in die Bureaux der Adjutantur im Schlosse. Dort erbat er sich einen Urlaub für den Rest des Tages. Er benutzte ihn zu einem Ritt in die Gegend jenseits der Fulda, wo eine herrschaftliche Domaine, ein Meierhof lag, auf welchem seine Mutter als Pächterin wohnte. Er mußte [34] seine Mutter in’s Geheimniß ziehen. Ihr Haus, so war sein Plan, sollte das nächste Ziel der Fahrt sein; von dort aus sollte sie, nachdem man die Sicherheit der Wege ausgekundschaftet, in der nächsten Nacht weiter gehen. Seine Mutter mußte deshalb vorbereitet sein. Sie mußten Maßregeln gegen die Neugier ihrer Domestiken, Vorwände für diese, um ihnen die Ankunft des Fourgons zu erklären, in Bereitschaft haben; es war unumgänglich nothwendig, daß Mensing die Mutter sprach.
Nach einem tüchtigen scharfen Ritte kam Mensing auf dem Hofe an. Dieser lag in der Ebene, zwischen Garten und Obstgarten in der Mitte; den eigentlichen Hof umgab eine Mauer, mit einem vorderen Einfahrtsthor, das durch ein Paar hölzerner Thorflügel von etwas über halber Manneshöhe geschlossen war. Diesem Thor gegenüber lag das zweistöckige, aus Fachwerk aufgebaute Wohnhaus; neben diesem und hinter ihm eine kleine Gruppe von Oekonomiegebäuden; von dort, von dem hintern Theile des Hofes, führte ein Thor, dem vorderen ähnlich, auf die Ackerfelder hinaus.
Als Mensing seiner Mutter die ersten Eröffnungen über sein Vorhaben gemacht, erschrak die arme Frau auf’s Heftigste. Sie beschwor ihn, von einem so gefährlichen Beginnen abzustehen, sie sagte ihm Alles, was die mütterliche Sorge ihr nur eingeben konnte, sie bat und flehte, und als sie Mensing’s feste Entschlossenheit sah, wurde sie zornig … erst als er ihr auseinandersetzte, welcher Antheil an der Rettung des Schatzes ihres flüchtigen Fürsten ihrer Thätigkeit, ihrer Klugheit zufallen solle, gelang es ihm, ihren Widerstand zu besiegen und sie für seine Pläne zu gewinnen, bis er endlich zu seiner Freude sah, daß er den unverkennbaren Eifer der rüstigen und gewandten kleinen Frau für die Sache geweckt habe. Nun sie selbst dabei thätig sein, eine Aufgabe übernehmen, durch Verschwiegenheit und Klugheit helfen sollte, das Gelingen zu sichern, kam ihr das Ganze in einem andern Lichte vor; sie sah nicht mehr blos die Gefahr, oder die Gefahr bekam einen Reiz für sie, und sie versprach endlich Alles zu thun, was ihr Sohn verlangte.
„Es ist unter dem Gesinde Keiner, den wir als Verräther zu fürchten hätten?“ sagte Mensing.
„Es wäre das Beste,“ versetzte sie, „wenn wir das Gesinde ganz uneingeweiht lassen könnten. Die zwei Mägde schließe ich während der Nacht auf ihrer Bodenkammer ein, das hat keine Schwierigkeit. Und von den zwei Knechten sende ich den einen, den Andres, fort, er hat mich schon lange um einen Urlaub aus ein paar Tage zu seinen Eltern gebeten …“
„Das trifft sich gut! Und der Andere?“
„Der Andere ist der Jakob, weißt Du, der schläft bis in den Tag hinein, wenn man ihn nicht weckt.“
„Der Jakob ist eine ehrliche Seele, dem man sich im Nothfall auch entdecken könnte …“
„Im Nothfall, ja – wir werden sehen, ob es nöthig wird,“ antwortete sie.
„Laß die Nacht hindurch Licht in der Wohnstube brennen, es soll uns ein Zeichen sein, daß Alles in Ordnung ist … und vergiß nicht, nach dem Schloß an dem Scheunenthor zu sehen, ob es in gutem Stande ist …“
„Das will ich, das will ich … Gott gebe, daß Alles gut geht … ich werde die Stunden bis dahin halb todt sein vor Spannung und Angst … ich bitte Dich um des Himmels willen, sei nur besonnen und klug und überlege Alles, und sobald Du etwas bemerkst, was bedrohlich ist, so säume nicht, Dich durch die Flucht in Sicherheit zu bringen … gieb mir die Hand darauf, daß Du es willst!“
„Da ist meine Hand darauf, Mutter, daß ich vorsichtig und besonnen sein werde … und nun muß ich zurück, lebe wohl, Mutter!“
„Lebe wohl, lebe wohl und denk’ an mich … denke, wie mir die Stunden vergehen werden, bis ich Dich glücklich in Sicherheit weiß!“
Der junge Mann umarmte seine Mutter und eilte dann, wieder in den Sattel seines Rappen zu kommen.
Als er im Dunkel des späten Abends die Wilhelmshöhe wieder erreicht hatte und sein Pferd in den Marstall führte, kam ihm Wilhelm entgegen, um ihm das Thier abzunehmen.
„Ich war vor einer halben Stunde drüben,“ flüsterte er dabei, eine Handbewegung nach des Inspectors Wohnung hin machend.
„Nun, und?“
„Herr Steitz hat mit den Andern gesprochen, Sie wissen, mit dem …“
„Ich weiß, ich weiß … und sind sie bereit und willfährig? Beide?“
Wilhelm nickte.
„Sie werden Schlag halb elf in der nächsten Nacht in dem Gebüsch zwischen dem Wasser und dem linken Schloßflügel sein.“
„Das ist brav von ihnen. Und Du, hat der Stallmeister Dir die Ordre gegeben …“
„Er hat es, heut’ Mittag. Er hat mir den Fourgon angezeigt und die zwei Dienstpferde, die ich nehmen soll, um damit eine Fuhre für den Inspector zu machen. Es werde vielleicht Nachts sein, sagte er, und es brauche sonst Niemand davon zu erfahren, es könne mir einerlei sein, wozu der Inspector den Wagen brauche, und dabei blinzelte er mich höchst schlau an und nickte verschmitzt und legte den Finger auf den Mund; es war ihm sehr daran gelegen, mir Schweigen zu empfehlen, dem guten Stallmeister!“
„Vortrefflich!“ versetzte Mensing lächelnd; „so läßt sich Alles gut an, auch meine Mutter ist unterrichtet; wir werden bei ihr den Wagen in eine wenig gebrauchte, verschließbare Scheune bringen und dann zusammen weiteren Kriegsrath halten. Den Weg zum Mulang hinab, dann durch die Schönfelder Allee, von dort zur Fulda, die wir bei der neuen Mühle passiren, und dann zum Hof meiner Mutter…“
„Ich kenne den Weg bei Nacht so gut wie bei Tage,“ versetzte Wilhelm, „die Wege auf vier, fünf Meilen in der Runde kenne ich …“
„Ich weiß, ich weiß, Wilhelm – also gehab Dich wohl; ich gehe zu Steitz, um dort zu melden, was ich ausgerichtet habe!“
Mensing schritt davon, um die Wohnung des Inspectors zu erreichen. Auf dem Wege dahin, als er vor dem Schloßportal vorüberging, wurde er aufgehalten.
Es war der Oberst La Croix, der heraustrat und ihn anrief: „Ah, Monsieur Mensing,“ sagte er, „Sie kommen mir wie gerufen – Sie sind ein Deutscher und werden sich darauf verstehen – lesen Sie dies Billet und sagen Sie mir: hat das ein Deutscher oder ein Franzose geschrieben?“
Mensing nahm das Billet, welches ihm der Oberst reichte, und entfaltete es im Schein der nächsten vor dem Portal brennenden Laterne. Es lautete:
„Nehmen Sie sich in Acht, mein Herr Oberst, und stürzen Sie sich nicht zu sehr mit verlorenem Kopf in die Genüsse der Redoute, welche in der morgigen Nacht statthaben wird. Denn damit Sie es wissen, man wird in dieser Nacht den verborgenen Schatz des Kurfürsten entführen.“ –
Mensing hatte kaum diese Zeilen überflogen, als er sein Herz still stehen fühlte; in seinem furchtbaren Erschrecken hatte er nur noch die Geistesgegenwart, sich vom Oberst abzuwenden, als ob er das Blatt noch mehr dem Schein der Flammen zukehren wolle, um es besser lesen zu können – sein tiefes Erblassen hätte ihn sonst dem Obersten verrathen müssen!
„Nun?“ fragte der Oberst, „was sagen Sie dazu?“
Mensing zuckte die Achseln – es war eine Antwort, welche ihn nicht zum Sprechen zwang und ihm Zeit ließ, sich zu fassen.
„Was denken Sie, von wem kommt der Brief?“
„Sie wollen meine Ansicht wissen, ob er von …“
„Ob er von einem Deutschen oder einem Franzosen kommt – darnach richtet sich das Gewicht, das ich darauf lege!“
„Der Brief,“ antwortete Mensing, der fühlte, daß er seine Stimme wieder in seiner Gewalt habe, „der Brief kommt von einer Französin.“
„Von einer Französin? Und woraus schließen Sie das?“
„Die Handschrift ist die eines Frauenzimmers, sehen Sie das nicht?“
„Sie mögen Recht haben,“ antwortete der Oberst, „ich verstehe mich nicht auf deutsche Handschriften …“
„Und der Styl ist französisch, in Deutsch übersetztes Französisch!“
„Erkennen Sie das mit solcher Bestimmtheit?“ fragte La Croix.
„Ja, es heißt da zum Beispiel ,stürzen Sie sich nicht zu sehr mit verlorenem Kopf‘; das sagt man nur im Französischen: se jetter à tête perdue – im Deutschen kennt man diese Redensart [35] nicht! ,Die morgige Nacht’ – das ist ebenfalls nicht reines, Deutsch – man sagt: die folgende, die nächste Nacht!“
„In der That? Sie glauben also, daß eine Französin es geschrieben hat, so gut sie es vermochte, ihre französischen Sätze in’s Deutsche übersetzend?“
Mensing überblickte noch einmal das Billet.
„Ich glaube,“ sagte er, „daß eine Deutsche und zwar eine Deutsche, welche im Schreiben nicht sehr geübt ist …“
„Das sieht man freilich,“ fiel der Oberst ein, „es ist schief und gar nicht schön geschrieben!“
„Also,“ fuhr Mensing fort, „eine Deutsche es geschrieben hat, wie eine Französin es dictirte!“
„Ah,“ machte der Oberst, „ich denke, so ist es – ein französischer Styl und die Hand einer Deutschen, einer Zofe, einer Magd, einer Grisette!
„Legen Sie Gewicht auf diese anonyme Anzeige?“ fragte Mensing.
„Hm, nicht gar zu sehr … es wäre thöricht, sie ganz unbeachtet zu lassen … aber, wenn sie von französischer Seite ausgeht …“
„In der That,“ fiel Mensing ein, „so verdient sie nicht viel Berücksichtigung!“
„Sie meinen?“
„Ich meine, ein Franzose oder eine Französin würde nicht anonym auftreten, sie würden, wenn sie etwas über diesen, wie ich glaube, überhaupt chimärischen Schatz mitzutheilen hätten, offen hervortreten und ihren Theil von dem ausgesetzten Preise verlangen. Nur ein Deutscher hätte Ursache sich zu verstecken, um nicht unter seinen Landsleuten als Verräther dazustehen, um nicht später, wenn der Kurfürst zurückkehren sollte – denn diesen Glauben läßt sich ja der große Haufen nicht nehmen – seiner Rache anheimzufallen! Und wozu sollte ein Deutscher dann überhaupt Ihnen diese geheimen Denunciation senden? Welchen Vortheil hätte er dabei?“
„Das ist Alles sehr richtig bemerkt,“ entgegnete der Oberst, „und wenn ich ganz sicher wäre, daß es so ist, wie Sie sagen, daß eine Französin es dictirt hat, so würde ich nicht das mindeste Gewicht auf den Wisch legen … Uebrigens kann es ebenso gut ein Mann dictirt haben, wie eine Frau, und darauf kommt auch nichts an – es fragt sich nur, geht es von französischer Seite aus?“ –
Mensing schwieg einen Augenblick; er sah, daß er dem Obersten diese Ueberzeugung beibringen müsse, um den ganzen fatalen Querstrich, der ihn Anfangs so furchtbar erschreckt hatte, unschädlich zu machen – und Gottlob, er konnte dem Obersten diese Ueberzeugung beibringen – er glaubte ja das Geheimniß dieses Billets zu durchschauen –er brauchte dem Oberst nur geradezu die Quelle zu verrathen.
„Das Billet ist nichts,“ sagte er deshalb, dem Obersten das Blatt zurückgebend, „als eine Mystification für Sie. Es mag eine ziemlich boshafte Absicht dabei sein. Während Alle, die zum Hofe gehören, sich den Vergnügungen des Festes hingeben, sollen Sie in Nacht und Wetter hinausgesprengt werden und dort auf einen unfindbaren Schatz lauern, um am andern Tage weidlich ausgelacht zu werden!“
„Sacré!“ fluchte der Oberst, „wer sollte sich einen solchen Spaß mit mir erlauben?“
„Eine Dame, die fürchtet, daß Sie ihre Handschrift kennen, und die deshalb ihrer Zofe dictirt …“
„Und die eine deutsche Zofe hat, der sie dictiren kann …“
„Kennen Sie eine Dame vom Hofe, die eine solche Zofe hat?“ – „Nein, das Dienstpersonal hier im Schlosse ist, wenigstens so viel ich weiß, ganz französisch!“
„Doch giebt es Ausnahmen,“ sagte Mensing ruhig lächelnd.
„Sind Sie so gut darüber unterrichtet’?“
„Ich weiß nur, daß Comtesse Julie de Boucheporn ein Mädchen aus Kassel in Dienst genommen hat.“
„Ah sieh doch … daß Sie darüber unterrichtet sind, kann ich mir denken, Lieutenant Mensing,“ antwortete der Oberst La Croix. „Also Sie glauben, Comtesse Julie will mir einen Streich spielen …“
„Das habe ich nicht gesagt … aber …“
„Nun aber?“
„Oberst La Croix,“ sagte Mensing nach einer kurzen Pause, während der er dein Obersten ruhig lächelnd in’s Gesicht gesehen hatte, „ich kann es nicht zugeben, daß Sie so schmählich mystificirt werden – es wäre zu grausam – ich kann es schon deshalb nicht zugeben, weil ich selbst einige Schuld an der Sache trage …“
„Sie … Sie tragen Schuld an der Sache, Lieutenant? Was soll das heißen? Verturbleue, Sie sind mit dieser Boucheporn in einem Complot, um …“
„Das bin ich nicht, ganz und gar nicht! Hören Sie nur, wie ich denke, daß Alles zusammenhängt. Ich war gestern bei Comtesse Julie – ich sah sie hastig ein Stück des Maskenanzugs verbergen, an welchem sie eben arbeitete – ich neckte sie mit diesem Eifer, ihr Geheimniß zu bewahren – ich betheuerte ihr, daß ich längst von Ihnen, Herr Oberst, im Vertrauen erfahren habe, daß sie als Griechin verkleidet erscheinen werde …“
„Das wollten Sie von mir erfahren haben . . ?“
„Ich hatte es nur an dem schönen rothen Fez errathen, welchen ich von Comtesse Julie verbergen sah – aber um sie zu necken, sagte ich ihr, daß der Chef unserer Polizei, der gefürchtete Oberst La Croix, der Mann der Alles wisse, längst das Costum kenne, das jede Dame vom Hofe für sich vorbereiten lasse; daß er mir anvertraut, sie, Comtesse Julie, würde als Griechin erscheinen! Comtesse Julie aber ging mit der liebenswürdigsten Gläubigkeit und auch mit dem größten Zorn gegen die böse argusäugige Polizei auf meinen Scherz ein, und sie verschwor sich hoch und theuer, Ihnen einen Streich zu spielen, um sich zu rächen, oder etwas zu erdenken, um dem Abscheulichen, der jeder Maske werde den Spaß verderben können, ganz von dem Feste fortzubringen! Da haben Sie die Geschichte, Oberst La Croix!“
„Und diese Geschichte klärt freilich Alles auf,“ fiel der Oberst ein, indem er das Blatt nahm und es in kleine Stücke zerriß.
„Sie werden jetzt, nachdem ich so aufrichtig war, mir nicht damit lohnen, daß Sie mich an Comtesse Julie als den verrathen, der ihre Mystification zu Schanden gemacht hat?“
„Nein,“ sagte der Oberst, „ich werde Sie nicht verrathen, Lieutenant … seien Sie ruhig, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit – Sie haben mich davor bewahrt, mich sehr lächerlich zu machen – aber wenn ich auf dem Fest Ihre kleine Griechin – sie wird als Griechin erscheinen, sagen Sie?“
„So ist es!“
„Nun wohl, wenn ich Ihre kleine Griechin ein wenig auf’s Korn nehme und schraube, so müssen Sie sich das gefallen lassen, Tudieu, ich denke, sie wird mir keine anonymen Briefchen wieder schreiben.“
Der Oberst nickte dem Lieutenant seinen Gruß zu und ging.
„Dem Himmel sei Dank!“ sagte Mensing lief aufathmend für sich … „das war ein abscheulicher Zwischenfall, der Alles zu stören drohte! Aber er ist parirt, er ist unschädlich gemacht, er ist uns zum Glücke ausgeschlagen … vor dem Obersten sind wir morgen sicher; er wird keinen Augenblick vom Feste weichen! Wie merkwürdig, daß dieser Comtesse Julie – denn von ihr war das Billet, von wem sonst hätte es kommen können? – nichts Anderes einfiel, dem Obersten einen Possen zu spielen, als gerade dies! Man sollte ja sagen, sie sei eine Hellseherin!“
Damit schritt Mensing, erregt von der eben stattgehabten Scene, der Wohnung des Inspectors zu.
Er fand Steitz und Elise zusammen in des Inspectors Arbeitsstube sitzen und erzählte ihnen sofort den Vorfall.
„Es ist als ob der liebe Gott seine schützende Hand über uns ausstreckte“ sagte er dabei; „denken Sie, es wäre ein anderer deutscher Officier oder Beamter von der Bekanntschaft des Obersten diesem zuerst begegnet und wir hätten von diesem unglücklichen Billet nichts erfahren …“
„In der That,“ fiel Steitz ein, „wir haben alle Ursache, dem Himmel zu danken, daß just Sie dem Obersten begegneten – und dennoch beunruhigt mich die Sache noch immer …“
„Dem Obersten muß doch am Ende, wenn er nachdenkt, etwas dabei auffallen,“ sagte Elise dazwischen.
„Und was, Elise?“
„Er halt Sie für einen Verehrer der Comtesse …“
„Das thut er in der That, für einen sehr eifrigen,“ antwortete der Officier.
„Nun, dann muß ihm doch ausfallen, daß Sie so rasch bei [36] der Hand waren, ihm die Sache aufzuklären, ihm die Quelle, aus welcher das Billet kam, zu enthüllen, ihm den Maskenanzug, den die Comtesse tragen wird, zu verrathen – glauben Sie nicht, daß ihn das stutzig machen wird?“
„Er wird es für deutsche Gutmüthigkeit, für kindische Ehrlichkeit halten.“
Elise schüttelte den Kopf und Steitz blickte ebenfalls, als ob sein erster Schrecken noch nicht beruhigt sei. Mensing sagte deshalb nach einer Pause: „Sollen wir eine andere Nacht wählen?“
„Brethauer und Mann haben mir ihre Hülfe gerade für diese zugesagt,“ antwortete Steitz.
„Und für dieselbe Nacht hält sich meine Mutter in Bereitschaft, uns zu empfangen,“ fiel Mensing ein, „ich bin gegen ein Aufschieben, das uns unheilvoll werden könnte.“
„Wenn Sie,“ sagte Elise, „vielleicht so viel über Comtesse Julie vermöchten, daß sie dem Obersten auf irgend eine Weise bestätigte, was Sie ihm mitgetheilt …“
Mensing machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
„Nein, nein,“ rief er aus, „ich kann Comtesse Julie nichts darüber sagen, ohne sie in das Geheimniß zu ziehen, und das ist viel zu gefährlich! Ich habe einen besseren Plan, uns zu retten, falls dieser abscheuliche Spaß der Comtesse uns dennoch den Obersten auf den Hals zöge! Sie, Elise, Sie sind es, die dabei helfen muß.“
„Ich? Was soll ich thun?“
„Ihre kunstfertigen Hände rühren … Sie sollen sich das Costum einer Griechin machen – können Sie das bis morgen Abend?“
„Gewiß! Ich brauche nur diese Nacht ein wenig zu Hülfe zu nehmen …“
„Wohl denn, so eile ich in die Stadt, Ihnen zu holen, was Sie dazu bedürfen. Sagen Sie mir es.“
„Aber erklären Sie, wozu?“
„Sie sollen uns in diesem Costume begleiten, in diesem Costume eine Rolle spielen, wenn es nöthig ist … Der Oberst La Croix mag uns dann begegnen, uns erwischen, ich stehe Ihnen dafür, daß er uns ungehindert durchläßt – ich sage Ihnen später Alles, geben Sie mir nur rasch an, was Sie bedürfen – erstens eine Gesichtsmaske, dann Goldtressen – wie viel Ellen?“
Elise gab die Gegenstände und das Maß derselben an, deren sie bedurfte, um sich einen Anzug ungefähr so, wie ihn Comtesse Julie bestellt hatte, wenn auch einfacher und weniger kostbar, zu verfertigen.
Mensing hatte Alles rasch in sein Taschenbuch eingezeichnet und eilte dann fort, der Stadt zu, während Elise ging, ihrem eigenen Kleidervorrath diejenigen Sachen zu entnehmen, die sie für ihre Arbeit verwenden konnte. –
Die Nacht vom 21. auf den 22. November des Jahres 1808, die für unsere Freunde so verhängnißvolle Nacht, war gekommen.
Das Schloß „Napoleonshöhe“ strahlte in vollem Lichtglanze; den Weg zur Stadt hinab erhellten zahllose Flammen und zwischen den Lichterzeilen herauf waren die Equipagen gerollt, welche König Jerôme’s Gäste zu König Jerôme’s Carnevalfeste gebracht hatten.
Alles Leben, alle Bewegung aber hatte sich längst aus dem Dunkel der regnerischen und stürmischen Nacht draußen in’s Innere des Schlosses zurückgezogen. Dort war Licht und Wärme und Glanz, die Herrlichkeit eines Zauberfestes in einem Feenschloß – draußen war nichts als Kälte und Nässe, Laternen, die trübe im Winde flackerten, und dann und wann ein Hall der rauschenden Musik, die mit ihren Tonwellen die Säle erfüllte und zuweilen wie ein Strom, der sein Bett überfluthet, in gedämpften Klängen hinausschwoll in die stille brütende Nacht.
Die Glocke der Schloßuhr gab elf Schläge, die weithin durch den schweigend daliegenden Park nachhallten.
In diesem Augenblicke wurden in einem hinter dem Marstall liegenden Remisengebäude zwei Flügel eines Thores aufgeschoben; gleich darauf kam ein mit zwei Pferden bespannter Fourgon langsam daraus hervorgefahren. Er nahm die Richtung nach der Wohnung des Inspectors Steitz.
Vor derselben hielt er. Der Mann, der ihn führte, sprang vom Bock ab, ging die an der Hinterseite des Fourgons angebrachte Thüre aufzuschließen, und zu gleicher Zeit traten zwei Gestalten aus der Wohnung des Inspectors hervor, die mit Gegenständen beladen waren … der Führer des Fourgons nahm sie ihnen ab und warf sie leicht in seinen Wagen – es waren Bettkissen und Decken.
Während er die Thür wieder schloß, kletterte die eine der Gestalten, eine weibliche, rasch und behende auf den vorn am Fourgon angebrachten verdeckten Sitz … die andere, ein Mann, holte aus dem Hausgange eine Blendlaterne hervor, reichte sie dem Führer und flüsterte:
„Jetzt um das Bowlinggreen herum, Wilhelm, Du weißt …“
Damit verschwand er in der Dunkelheit. Wilhelm aber barg die Laterne neben Elisens Sitz, schwang sich auf den Bock und fuhr langsam, fast unhörbar über den weichen Kies der Pfade davon, in einem weiten Umkreise, der ihn Anfangs vom Schloss entfernte, dann auf der anderen Seite wieder näher brachte. So kam er an die Außenseite des linken Flügels des Schlosses.
Hier war Alles still und dunkel. Nur einige der Fenster oben waren erleuchtet und warfen ihren Schimmer auf den nächsten Rasengrund.
Im Dunkel lag die große Freitreppe da.
Zur Seite der Freitreppe, dicht an der Mauer des Schloßflügels aber nahm Wilhelm, noch ehe er anhielt, vier sich rasch bewegende Gestalten wahr; sie standen inmitten kleiner Haufen von Mauerschutt, sie bückten sich und in dem Augenblick, wo Wilhelm hielt und eilte, seinen Fourgon wieder aufzuschließen, trugen zwei von ihnen eine dem Anscheine nach sehr schwere kleine Kiste herbei; zwei Andere – es waren Mensing und Steitz, der von seiner Wohnung quer über das Bowlinggreen dem Fourgon vorausgeeilt war – brachten eine zweite. Wilhelm half die kostbare Last im Innern des Wagens bergen; bald waren vier größere schwere und drei kleinere Kisten in den Fourgon geschoben, die Kissen und Decken darüber gepackt und die Thüre wieder zugeschlagen. Wilhelm zog dann den Schlüssel ab, den er sorgfältig zu sich steckte, und eilte zum Bock.
„Nun vorwärts und geleite Euch Gott!“ flüsterte Steitz tief bewegt.
„Er wird uns geleiten – Adieu, Steitz – zum Abschiednehmen ist nicht Zeit,“ flüsterte Mensing zurück und schwang sich in den vorn angebrachten Sitz neben Elise. „Fort, Wilhelm!“
Die Pferde zogen an, der Wagen rollte fort.
[49] Die drei zurückbleibenden Männer sahen dem Wagen eine Weile
stumm nach. Dann wandten sie sich zu ihrem Werke zurück.
Ihre Arbeit war erst halb gethan. Sie mußten die in die Untermauerung
der Treppe gerissene Oeffnung wieder ausfüllen, so gut
es irgend ging. Eine schwierige Aufgabe in der Dunkelheit! Doch
war sie nicht so gefährlich mehr wie der erste Theil ihrer Arbeit,
das Aufbrechen, gewesen. Wenn jetzt Jemand kam und sie dort
überraschte, so hatten sie den Vorwand bereit, daß sie dort nach
dem Schatze gesucht, aber vergebens, durch eine falsche Angabe
irre geführt … Auch kam es nur darauf an, die durchbrochene
Stelle so wieder herzustellen, daß nicht gerade der erste Beste,
welcher am andern Tage an dieser Schloßseite vorüberkam, den
Schaden sofort entdeckte. Nach einigen Tagen, wenn der Schatz
geborgen, mochte er immerhin entdeckt werden.
Nach einer halben Stunde war die Arbeit verrichtet, der zurückgebliebene Schutt fortgetragen, die ganze Stelle rings umher mit einem Rechen geglättet; mit demselben Instrument waren nur noch die Geleise des Fourgons zu vertilgen.
Auch dies gelang, ohne daß unsere drei nur zuweilen wenige Worte sich zuraunenden Männer gestört worden wären.
„Mensing hat Recht gehabt,“ sagte endlich Steitz, „wir hätten keine bessere Nacht wählen können!“
„Es ist wahr,“ versetzte der Amtmann Brethauer, „ich denke, wir können beruhigt heimgehen und Jeder im stillen Kämmerlein Gott danken, daß es bis soweit so gut geglückt ist. Was wir thun konnten, ist wenigstens gethan!“
„Es ist gethan,“ erwiderte der Leibchirurg Mann, „und je rascher wir nun verschwinden, desto besser; kommen Sie, Brethauer, gute Nacht, Steitz!“
„Gute Nacht, gute Nacht!“
Nach einem warmen Händedruck gingen sie auseinander. Brethauer und Mann verschwanden in dem sich dicht bis an den Schloßflügel erstreckenden Gebüsche.
Wilhelm hatte unterdeß seinen Fourgon in das links vom Schlosse liegende Thal gelenkt, das vom Octogon herabströmende Gewässer auf einer Brücke oberhalb des Lac passirt und sich dann links gehalten, bis er das chinesische Dörfchen „Mulang“ erreicht hatte.
Von hier führte eine Allee nach dem Lustschlosse Schönfeld oder Augustenruhe; der Boden derselben war mit Rasen bedeckt, [50] Wilhelm konnte seine Pferde auf dem ebenen Boden in den raschesten Trab fallen lassen; kein Rasseln und kein Geklirr und kein Hufschlag verrieth die eilige Fahrt. So war das Lustschloß in einer Zeit erreicht, welche in Folge der Spannung, in der sich die drei den Wagen begleitenden Personen befanden, ihnen nur noch kürzer erschien.
In der Nähe des kleinen Schlosses führte ein Weg aus der Allee, der sich in die Felder hineinschlug, rechts ab. Das Dunkel der Nacht hatte sich ein wenig gelichtet. Der Wind trieb die Regenwolken an der eben sichtbar werdenden Mondsichel vorüber. Mit Hülfe dieses Lichtes fand Wilhelm die Abzweigung dieses Weges ohne Schwierigkeit, er zog die Zügel an und lenkte hinein, ohne die Hülfe der Laterne zu gebrauchen, die Mensing hervorholen wollte.
„Sie blendet mich nur durch den Widerschein,“ sagte er, „bis zur neuen Mühle finde ich den Weg, auch wenn es noch dunkler wäre. Jenseits der Fulda aber bin ich nicht mehr so sicher – Sie werden dann schon absteigen und mit der Laterne vorausschreiten müssen …“
„Das will ich gern, sag’ mir’s nur, sobald Du’s wünschest … wenn wir nur erst die Strecke hinter der Mühle glücklich hinter uns hätten; in der Gegend, wo der Pachthof meiner Mutter liegt, kenn’ ich die Wege ganz genau.“
„Still,“ flüsterte hier Elise, „hören Sie nicht etwas?“
„Ich höre nichts!“
„Und ich ein Geräusch wie Hufschlag!“
„Das wäre verdächtig … Wilhelm, halt’ einmal!“ rief Mensing aus.
Wilhelm, der bereits eine Strecke weit dem Feldweg nachgefahren war, hielt an.
Alle Drei lauschten.
„Es ist erstorben – aber ich hörte es deutlich,“ flüsterte Elise.
„Wo?“
„Ich weiß das nicht genau, ich denke, vor uns.“
„Soll ich weiter fahren?“ fragte Wilhelm.
„Nur immer zu!“
Wilhelm trieb sein Gespann an, der Wagen rollte mit mäßigem Gerassel auf den weichen Wegen weiter; nur zuweilen wurde ein Klirren und Stoßen laut, wenn der Wagen aus einem Geleise in’s andere fiel oder einen Feldstein berührte.
„Halt, um Gotteswillen!“ rief Elise plötzlich aus, ihre Hand auf die Schulter des vor ihr sitzenden Wilhelm Momberg legend.
Dieser hatte bereits die Zügel angezogen und Mensing war im selben Augenblick aufgefahren.
Das Geräusch, welches Elisen erschreckt hatte, war zu gleicher Zeit von allen Dreien vernommen worden. Es war der Hufschlag schreitender Pferde, die eben in Trab zu fallen begannen.
Das Geräusch war vor ihnen, es war keinen Augenblick zu zweifeln, mehrere Reiter kamen ihnen entgegen – es war eine der gefürchteten Gensd’armerie-Patrouillen, was konnte es anders sein?
„Soll ich querfeldein?“ fragte Wilhelm rasch.
„Nein,“ rief Mensing, „wenn wir auch noch Zeit hätten, aus ihrem Gesichtskreise zu kommen, so würden sie uns immer noch hören können. Also nur vorwärts, nur ruhig vorwärts, fahr’ Schritt.“
Wilhelm fuhr weiter; Elise faltete in ihrer Angst krampfhaft die Hände und sprach ein Stoßgebet.
„Mein Gott, die Maske, die Maske, Elise!“ rief Mensing aus, „verlieren Sie den Kopf nicht jetzt, nur jetzt nicht!“
Während man die Reiter näher und näher kommen hörte, fuhr Elise mit der zitternden Hand unter ihren Mantel und zog eine Maske darunter hervor; Mensing half dem geängstigten Mädchen, sie vor ihrem Gesichte zu befestigen.
Noch einige Minuten und aus dem Dunkel vor ihnen tauchte die Gestalt eines Reiters auf, dann zwei, dann noch einer …
Im nächsten Augenblick war der Wagen erreicht, der vorderste Reiter hielt sein Pferd an und rief ein gebieterisches: „Halte-là – Halt! … Wer seid Ihr?“
„Königlicher Fourgon!“ versetzte Wilhelm laut, während Mensing Elisen zuraunte: „Es ist der Oberst selbst – Gott Lob – Alles wird gut gehen!“
Die andern Reiter hielten neben dem ersten.
„Ein königlicher Fourgon …“ schrie jetzt der Oberst La Croix, „Vertubleue … hier auf den Feldern? … in der Nacht? Du lügst, verdammter Schlingel …“
„Es ist ein Marstall-Fourgon!“ sagte einer der Gensd’armen, der um den Wagen herumgeritten war.
„Aber verdammt verdächtig,“ brummte der Oberst; „Du steigst ab, Bursche, und, die Personen da vorn ebenfalls, ich will wissen, was in dem Wagen ist, er muß geöffnet werden …“
In diesem Augenblick sprang Mensing von dem Vordersitz, unter dessen Verdeck es zu dunkel war, als daß er hätte vom, Obersten erkannt werden können, auf den Boden. Er näherte sich dem Obersten und, die Hand auf den Hals seines Pferdes legend, flüsterte er ihm zu:
„Oberst La Croix, ich bin es, der Lieutenant Mensing –“
„Wer?! Was Teufel? … Sie, Lieutenant Mensing?“
„Ich! Darf ich Sie um eine kleine Unterredung abseits vom Wege bitten?“
„Tudieu – was hat das zu bedeuten? Eine Unterredung abseits vom Wege?“
„Ein paar Schritte hierher … ich bitte dringend darum …“
Der Oberst lenkte sein Pferd ein paar Schritte weit auf das nächste Stoppelfeld.
„Nun, also?“ sagte er hier anhaltend, „heraus damit … wie kommen Sie hierher, wie kommt der Marstall-Fourgon hierher, und was ist darin?“
„Drin ist Bettzeug für das Schloß Schönfeld … es soll Ihnen gezeigt werden, wenn Sie darauf bestehen; das ist aber nur hineingeworfen, um den ostensiblen Vorwand für die Fahrt zu bieten. Der eigentliche Zweck derselben ist ein anderer – er ist der, eine Dame, die Dame, die Sie sich in die Ecke des Vordersitzes drücken sehen und deren Name nicht zur Sache gehört, zu entführen …“
„Eine Dame – was Teufel – die Sie entführen, Mensing?“
„Ich verlasse mich auf Ihre Loyalität, Obrist La Croix … und bitte Sie flehentlich, der Dame die Angst und die peinigende Situation, worin sie sich in diesem Augenblicke befindet, abzukürzen; die Beschämung, von Ihren Reitern angestarrt und gemustert zu werden … seien Sie ritterlich, Oberst!“
„Aber Mensing, Sie sind ja ein Teufelskerl. Ritterlich? Gewiß, so viel es der Dienst zuläßt. Wer ist die Dame?“
„Verstatten Sie mir, den Namen zu verschweigen. Genug, wenn ich Ihnen sage, daß ich nur so hoffen durfte, ihre Hand zu gewinnen, und daß ich sie in dieser Nacht zu meiner Mutter bringe, die ihr ein Asyl geben wird, von wo aus wir die Verzeihung der Eltern anflehen werden … wir haben den Maskenball auf dem Schlosse benutzt, um ungehindert zu entfliehen; die Dame ist noch in der Maske, die sie auf dem Balle trug.“
„Ein vollständiger Roman also!“ rief der Oberst lachend aus, und dabei warf er sein Pferd herum und war im nächsten Augenblick dicht neben dem Vordersitz des Fourgons.
„Brigadier,“ rief er dabei, „kommen Sie heran, steigen Sie ab.“
Einer der Gensd’armen warf sich aus dem Sattel.
„Nehmen Sie die Blendlaterne, die da in der Ecke steht, öffnen Sie sie und leuchten Sie damit; ich möchte diese Dame hier sehen! – Madame,“ wandte er sich dann an Elise, „ich hoffe, Sie halten meinem Diensteifer diese kleine Indiscretion zu Gute.“
Der Brigadier hatte mit dem Arm in den Vordertheil des Fourgons gelangt und die Laterne, die sich durch einen schwachen Schimmer verrathen hatte, ergriffen. Er öffnete sie jetzt und erhob sie so, daß der volle Schein auf die Gestalt Elisens fiel.
„Maskirt … in der That …“ sagte der Oberst, „als Griechin maskirt … ah … schöne Maske, ich kenne Dich!“ setzte er plötzlich hellauflachend hinzu … „Lieutenant Mensing, ich wünsche Ihnen Glück … dacht’ ich mir’s doch gleich! Vortrefflich, vortrefflich … fahren Sie zu, in’s Teufels Namen – der Wagen kann fahren, Leute … Lieutenant, ich eile von hier auf den Ball … dort werde ich Ihren Schwiegervater von Ihnen grüßen …“
„Oberst,“ rief Mensing aus, „das werden Sie nicht thun – es würde Ihnen einen schlechten Dank bringen …“
[51] „Glauben Sie, ich thu’s des Dankes wegen?“ lachte der Oberst auf.
„Nein – aber wenn die Sache ruchbar wird, so kann es nicht in Ihrem Interesse liegen, wenn man hinzusetzt: Oberst La Croix ist dem flüchtigen Paare mit einer Patrouille begegnet! Es wäre möglich, daß der König Sie früge: ,weshalb haben Sie die flüchtige Schöne ihren Eltern nicht zurückgebracht, mein Herr Oberst?“ –
„Nun ja, mag sein!“ antwortete der Oberst, „Sie haben Recht. Aber das ist meine Sache. Sorgen Sie nur, daß der König Ihnen nicht Dinge sagt, die ärger lauten. Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen – adieu beau masque!“
Damit warf der Oberst lachend sein Pferd herum und ritt davon, der Schönfelder Allee zu. Seine Gensd’armen folgten ihm.
„Bei meiner Seele,“ sagte Wilhelm tiefausathmend und wieder auf seinen Bock kletternd, „das ist wunderbar gut gegangen … ich hätt’s nun und nimmer geglaubt!“
Auch Mensing nahm seinen Platz wieder ein.
„Ich habe zehnfache Todesangst ausgestanden,“ flüsterte Elise ihm zu.
„Aber, ich denke, wir haben jetzt alle Gefahr überstanden,“ sagte Mensing – „die schlimmste wenigstens liegt hinter uns. Jetzt vorwärts, Wilhelm, so rasch es nur geht!“
Wilhelm ließ seine Pferde eilen, so gut es bei dem Dunkel der trüben Nacht möglich war.
So wurde bald die Fulda erreicht. Man kam glücklich durch die Fuhrt und ohne weitere Fährlichkeiten bis zum Pachthofe der Mutter Mensing’s. Es mochte gegen zwei Uhr sein, als sich hinter dem Fourgon die Flügel des Hofthores schlossen. –
Als der Oberst La Croix die Schönfelder Allee erreicht hatte, ließ er sein Pferd in einen gestreckten Trab fallen und ritt zur Napoleonshöhe hinauf, auf’s Lebhafteste mit der Begegnung beschäftigt, welche er eben gehabt hatte. Und zwar in der heitersten Stimmung darüber. Dieser kecke Lieutenant, der mit der Tochter Boucheporn’s bei Nacht und Nebel davon ging, rächte ihn auf’s Gründlichste an seinem alten Widersacher und Feinde. Wie ergötzlich mußte es für ihn sein, da oben im Schlosse den Grafen und die Gräfin in vollster Heiterkeit zu erblicken, ganz dem Vergnügen und dem Genuß des Augenblicks hingegeben, ohne eine Ahnung davon, daß unter den vielen Hundert Masken, welche in den Sälen durcheinander wirbelten, Comtesse Julie nicht mehr sei, daß unter den vielen Griechencostumen, die sicherlich nicht fehlen würden, nicht einer dieser rothen goldgestickten Fez das braune lockige Haupt ihres koketten Töchterchens bedecke! Und welche Scene mußte es später, wenn Alles sich demaskirte, geben … wenn Comtesse Julie fehlte, wenn Graf und Gräfin durch die Menge irren würden, vergebens das theure Haupt, welches ihnen fehlte, suchend! Welches Aufsehen, welche Bewegung, welcher Scandal! Es war doch ein wenig leichtsinnig und unüberlegt gehandelt von diesem deutschen Lieutenant, seine Geliebte just von einem Maskenball bei Hofe zu entführen! Freilich, eine vortreffliche Gelegenheit, um unerkannt mit ihr zu entkommen, mochte es gewesen sein – dafür mußte aber auch der Lärm, welcher darüber entstand, hundert Mal größer werden. Man war an König Jerôme’s Hof an starke Dinge gewöhnt. Es waren tollere Liebesabenteuer da vorgekommen, und gegen die Verführungen der Leidenschaft mußte man Nachsicht zu üben. Doch wer wußte, ob der König nicht diesen Streich, der auf seinem Balle ausgeführt, zu dem sein Fest wenigstens benutzt worden, desto ernsthafter, wohl am Ende gar als eine persönliche Beleidigung nahm und den Lieutenant sehr schwer die Folgen seiner Verwegenheit fühlen ließ?
Aber was ging das Alles den Oberst an – er hatte nur Ursache, sich recht herzlich darüber zu freuen, und das that er aus dem Grunde seiner Seele, und wäre es nicht Nacht gewesen, man hätte die Schadenfreude aus seinen Augen leuchten sehen können, wie er jetzt trotz der Dunkelheit raschen Trabes durch die Schönfelder Allee dahinritt.
Als er vor dem Schlosse oben angekommen war, sprang er aus dem Sattel, gab sein Pferd einem seiner Leute, damit dieser es in den Marstall führe, und entließ die Gensd’armen.
Er eilte alsdann in’s Schloß, durch das hell erleuchtete, mit exotischen Pflanzen geschmückte Vestibül, die Treppen, an deren Fuß zwei Gardes du Corps in ihrem theatralischen, mit Gold bedeckten Costüme Wache standen, hinauf, durch die Gruppen geschäftiger Dienerschaft, an den Festsälen vorüber und in den obern Stock empor, in die Zimmer, welche Graf Boucheporn dort zu seinem Aerger ihm hatte einräumen müssen.
Sein Kammerdiener erwartete ihn. Er hatte Alles, was zum Ballanzuge des Obersten gehörte, zurecht gelegt.
„Wie spät ist es, Jean? – ich glaube, wir müssen uns sputen,“ rief der Oberst eintretend aus.
„Es ist ein Viertel nach Zwölf, Herr Oberst,“ antwortete der Kammerdiener. „Sie kommen also noch immer früh genug zum Souper, das um ein Uhr für die Damen und um halb zwei für die Herren beginnen wird.“
„Und wie ist das Fest?“
„Im höchsten Grade animirt,“ antwortete Jean, eben damit beschäftigt, die Reiterstiefel des Obersten auszuziehen, „der König hat noch kein schöneres, glänzenderes gegeben, höre ich, – die Masken sollen ganz ausgezeichnet schön und reich sein. Hier sind die Ballschuhe und hier die seidenen Strümpfe. Majestät trägt nur einen rosaseidenen Domino. Der Herr Oberst haben sich für Ihren Dienst wahrhaft aufgeopfert, daß Sie unterdeß draußen in dem abscheulichen Wetter umhergeritten sind!“
„Was willst Du, Jean – Dienst ist Dienst und außerdem – gieb mir den Schuhlöffel – außerdem hatte ich besondere Veranlassung, einmal selbst ein wenig zu vigiliren und zu sehen, ob die Posten auf dem Qui vive! sind. Es war mir da eine kleine anonyme Warnung zugekommen … wegen des Schatzes, weißt Du, Jean, der noch immer irgendwo hier auf der Napoleonshöhe verborgen sein muß, weil alle unsere Informationen dahin gehen, daß ihn der Kurfürst nicht mitgenommen hat …“
„Ich weiß, ich weiß,“ sagte Jean aufhorchend. „Der Herr Oberst haben ja geschworen, sich die hunderttausend Franken, die auf die Entdeckung gesetzt sind, nicht entgehen zu lassen – zum Troste gewisser ungeduldiger Leute in Paris …“
„Ach, das Gesindel kann warten!“ sagte der Oberst, „aber die Hunderttausend will ich ma foi verdienen …“
„Und eine anonyme Warnung war Ihnen wegen des Schatzes zugegangen?“
„Eine Andeutung, daß er just in dieser Nacht entführt werden solle …“
„Ah!“ machte der Kammerdiener, seinem Herrn den Frack mit dem Stern der Westfälischen Eichenkrone und dem Kreuz der Ehrenlegion reichend.
„Anfangs,“ fuhr der Oberst fort, „hielt ich die Sache für einen schlechten Spaß, eine Mystifikation, um mich vom Ball fern zu halten, – dann dacht’ ich später, es sei doch leichtsinnig, gar kein Gewicht darauf zu legen, und so ließ ich mich denn hinaus locken … und ma foi, Jean, auch nicht ganz umsonst …“
„Wie, Sie haben doch nicht den Schatz aufgefangen, Herr Oberst?“ rief Jean, seinem Herrn in den Frack helfend, aus.
Der Oberst antwortete nicht. Er reckte die Arme, um den Frack auf die Achseln zu ziehen, dabei aber blickte er, als ob ihn etwas plötzlich stutzig gemacht, starr vor sich hin.
„Wunderlich!“ murmelte er für sich. „Der Lieutenant versicherte mich, die junge Boucheporn habe das Billet geschrieben oder schreiben lassen, – aber wenn sie mit ihm in dieser Nacht durchgehen wollte, so war es doch gegen ihr Interesse, mich in dieser selben Nacht in den Sattel zu bringen! C’est drôle! Vielleicht war die Flucht damals, als sie schrieb, noch nicht beschlossen! So muß es sein!“
Der Oberst legte die letzte Hand an seine Toilette, ließ sich von Jean ein parfümirtes Taschentuch reichen, einen schwarzseidenen Domino an die Schultern befestigen und eilte davon, auf den Maskenball zu gelangen.
Er war an solche Feste zu sehr gewöhnt, um sich lange mit der Bewunderung des glänzenden Schauspiels, das ihn umfing, als er den ersten Saal betreten, aufzuhalten. Er schritt durch das wogende Gedränge dem Saale zu, worin sich die königlichen Herrschaften aufhielten, um sich in der Nähe der Majestät zu befinden, falls diese seine Abwesenheit bemerkt haben sollte und die Gnade haben würde, ihn deshalb zu interpelliren. Aber es schien nicht, daß er durch seine Abwesenheit „geglänzt“ hatte. König Jerôme flatterte in seinem rosafarbenen „Flügelkleide“ viel zu beschäftigt [52] von einer Dame zur andern, hatte bald diese, bald jene reizende Maske am Arm, bald hier bald dort eine pikante Neckerei zu erwidern – er kümmerte sich heute sehr wenig um seine Gensd’armerie-Officiere. Die Königin Katharine saß, von einigen älteren Damen umgeben, in einem blau ausgeschlagenen Boudoir hinter dem Thronsaal, um vom Tanzen auszuruhen.
So hatte der Oberst nichts Besseres zu thun, als die Zeit bis zum Souper, nach welchem sein durch den nächtlichen Ritt gesteigerter Appetit sich sehnte, dadurch auszufüllen, daß er seinerseits begann eine der Masken zu intriguiren. Aber eben begann die Musik zu einem neuen Tanze, dem letzten vor der allgemeinen Demaskirung; die Masken strömten dazu in dem vordern Saal zusammen – Oberst La Croix folgte dahin und sah die Paare antreten.
Dabei fiel sein Blick auf eine reich costumirte, höchst graciöse Griechin, die den kleinen Kopf mit einem Uebermuth umherwarf, daß sie höchst lebhaft an Comtesse Julie Boucheporn erinnerte.
Auch die Gestalt war dieselbe.
„Tudieu!“ murmelte der Oberst, „das ist doch nicht … ah bah, wie wäre das möglich!“ Dabei eilte er in die Nähe der schönen Griechin zu kommen.
Als er sich bis zu dem Platze hinter ihr durchgedrängt hatte, reichte ihr eben ihr Tanzpartner, ein hochgewachsener Bergschotte, die Hand, um sie in die Verschlingungen des beginnenden Tanzes zu führen.
Je angestrengter aber die Blicke des Obersten ihr folgten, desto beunruhigender wurde ihm die ganze Erscheinung der jungen Dame – ihr ganzes Wesen legte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem der Comtesse Julie Boucheporn an den Tag.
„Zum Teufel,“ sagte er sich, „das muß sie sein und kann es doch nicht sein – oder …“
Sie kehrte aus dem Tanze zu ihrem Platz zurück; dabei blitzte sie aus den Augenlöchern ihrer Maske mit ihren braunen Augensternen den Obersten an und sagte lachend:
„Wenn Sie auch nicht maskirt sind, mein Herr Oberst, treten Sie doch in einer Rolle auf – in der als Ogre! Sie verzehren mich ja mit Ihren Blicken!“
„Comtesse Julie de Boucheporn!“ schrie wie elektrisirt vom Klänge dieser Stimme, welche die schöne Griechin sich nicht die Mühe gegeben hatte zu verstellen, der Oberst auf, „sind Sie’s oder ist’s ein Blendwerk der Hölle? Lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen, nehmen Sie die Maske ab, die Maske fort …“
Damit streckte er die Hand aus, wie um die Maske zu erfassen.
„Oberst La Croix,“ sagte zornig der Bergschotte, ihm in den Arm fallend, „Sie vergessen, wo Sie sind …“
„Ich vergesse nichts, nehmen Sie die Maske ab, ich verlange es amtlich, ich fordere es im Dienste des Königs!“ schrie der Oberst ganz außer sich.
„Herr,“ rief der Schotte zwischen ihn und die Griechin tretend, „ich werde nicht dulden, daß …“
„Um Gotteswillen, es wird ja Alles aufmerksam auf uns,“ rief die Griechin dazwischen, „ich will lieber die Maske abnehmen.“
Sie löste die Maske von ihrem Gesichte, und zornig den Obersten anschauend sagte sie: „Nun sehen Sie mich! Was wollen Sie von mir, Oberst La Croix?“
Es war Comtesse Julie de Boucheporn.
„Ich bin betrogen,“ knirschte in höchster Wuth der Oberst mit den Zähnen, „Höll’ und Teufel – betrogen!“
Damit wandte er sich und stürzte davon, durch die Säle, die Treppe hinauf, in seine Wohnung zurück.
Jean war nicht mehr da – aber die Lichter brannten noch. Der Oberst riß sich den Domino ab, nahm seinen Säbel, seinen Mantel, seine Feldmütze und stürzte wieder hinaus.
Wenige Minuten nachher war er unten im Zimmer der Ordonnanzen; die Leute waren durch das Fest wach erhalten; er gab ihnen einige rasche Befehle und dann stürmte er in den Marstall, um sich mit Hülfe der Stallwache selber ein Pferd zu satteln.
[78] Wir haben den Fourgon mit seiner kostbaren Ladung glücklich auf dem Pachthofe der Mutter Mensing’s bergen sehen. Er war in eine versteckt hinter den andern liegende Scheuer gebracht worden; Mensing hatte den Schlüssel der Scheuer zu sich gesteckt, und während nun Wilhelm ging, die Pferde, die in einen Stall gezogen worden, zu versorgen, wandte der Lieutenant sich dem erhellten Wohnzimmer im Pachthause zu, wo seine Mutter eben in Aufregung und Herzensangst beschäftigt war, für Elisen zu sorgen und sie durch ein warmes Getränk zu stärken.
Mensing setzte sich ihr gegenüber und nachdem er seiner Mutter auf ihre sich überstürzenden Fragen Bescheid gegeben, sagte er: „Was nun, Elise? Wir müssen Kriegsrath halten und rasch zu einem Entschlusse kommen.“
„Haben Sie denn den Plan, in der nächsten Nacht weiter zu fahren, aufgegeben?“ fragte das junge Mädchen.
„Ja,“ versetzte Mensing. „Der Transport mit dem Fourgon ist zu gefährlich. Ein Mann kann Verfolgungen leicht entgehen, ein Wagen aber nur schwer. Und man wird uns verfolgen.
Man wird uns verfolgen, sobald der Oberst La Croix entdeckt, daß er getäuscht wurde, sobald es im Stalle auffällig wird, daß Wilhelm mit seinem Wagen nicht zurückkehrt. Ich fühle etwas wie eine Gefahr über uns hängen. Deshalb habe ich meinen Plan geändert. Er lautet so: wir verbergen den Schatz in einem alten trocknen, zur Hälfte mit Feldsteinen angefüllten Brunnen, der sich auf einem entlegenen Grundstücke meiner Mutter befindet.
Dann fährt Wilhelm den Fourgon in eine andere Gegend und läßt ihn dort durch einen Burschen, den ersten, besten, der ihm aufstößt, zum Schlosse zurückfahren, wo der Mensch angiebt, er habe ihn leer und verlassen auf dem Felde stehen sehen und als königliches Eigenthum erkannt. Es hat dies nebenbei das Gute, daß König Jerôme alsdann nicht sagen kann, wir hätten ihm Pferde und Wagen gestohlen.“
„Und dann?“ fragte Elise.
„Dann wird es meine und Wilhelm’s Aufgabe, den Schatz getheilt, jedes Mal so viel wie ein Mann davon bei sich tragen kann, fortzuschaffen. Wir werden dazu verkleidet, bald in diesem, bald in jenem Costüme und hauptsächlich des Nachts wandern müssen. Die nöthigen Kleidungsstücke können wir uns in dem Grenzorte, bei dem Agenten, der uns erwartet, verschaffen.“
„Das scheint mir allerdings besser,“ sagte Elise, „als wie Sie es ursprünglich vorhatten. Und wo bleibe ich?“
„Sie bleiben hier, bei meiner Mutter … verborgen, unter einem andern Namen … als eine Hausarbeiterin, welche sie angenommen hat. Sind Sie damit einverstanden?“
„Ich bin es zufrieden.“
„Nicht wahr, es ist auch besser, als wenn Sie die Gefahren einer heimlichen Reise mit dem Wagen theilten?“
„Es ist besser, gewiß!“
„So wollen wir nicht säumen!“
Mensing sprang auf und ging hinaus. Nach etwa einer Viertelstunde kam er zurück. Er trug vier lederne Beutel, die er auf den Tisch stellte.
„Wir haben eine der Kisten geöffnet,“ sagte er zu Elisen, die er auf ihrem alten Platze fand, während die Mutter hinausgegangen war. „Hier ist, was unsern ersten Transport bilden soll. Wilhelm spannt eben die Pferde wieder ein, um zu dem Brunnen zu fahren … es ist noch so dunkel und nächtig draußen, daß uns Niemand entdecken wird – –“
Er hatte kaum ausgesprochen, als draußen ein Hufschlag erscholl – gleich darauf hörte man das Hofthor rütteln und den Ruf:
„Holla he!“
„Teufel,“ rief Mensing erschrocken auffahrend, „was ist das?
… wenn das La Croix mit seinen Gensd’armen ist …“
„So sind wir verloren!“ fiel tief erblassend Elise ein.
„Nur die Ruhe bewahrt,“ flüsterte Mensing, „ich will sehen, was es ist. …“
„Holla he!“ scholl noch einmal ein donnernder Ruf durch die Stille der Nacht.
„Es ist der Oberst – kein Zweifel – ich erkenne seine Stimme. Elise, zu meiner Mutter; sie soll Wilhelm mit dem Fourgon über den hintern Hof auf’s Feld hinaus zu dem Brunnen führen – rasch fort – nur rasch … ich öffne dem Obersten unterdeß und denke ihn schon zu beschäftigen, bis Ihr fort seid.“
Dabei warf er die vier Beutel unter den Tisch und eilte hinaus.
„Ich komme, ich komme,“ rief er, über die Schwelle der Hausthür tretend, um auf einen dritten Anruf zu antworten.
Ueber den Hofzaun herüber sah er die Gestalt eines Reiters, der eben abstieg; ein Fußgänger im Kittel stand neben ihm.
Es war der Oberst La Croix, der Mensch neben ihm ein Müllerbursche, den der Oberst in der Neuen Mühle bei seiner nächtlichen Arbeit gefunden und als Wegweiser zu dem Pachthof mitgenommen.
„Oeffnen Sie … öffnen Sie!“ rief der Oberst.
„Ich werde den Schlüssel holen,“ versetzte Mensing, „im Augenblick.“
Er ging zurück und ließ ein paar Minuten verfließen, ehe er kehrte.
„Zum Teufel, wo bleiben Sie? Auf mit dem Thor!“
Mensing öffnete langsam und zögernd das Hofthor.
„Wie, Sie, Oberst?“ sagte er mit dem Tone großer Ruhe, als La Croix, sein Pferd hinter sich ziehend, in den Hof kam.
„Ich bin’s, mein Herr Lieutenant, um Sie für den Maskenanschlag, den Sie sich mit mir erlaubt haben, zur Rede zustellen und mir ein wenig genauer Ihren Fourgon anzusehen. Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet, Lieutenant Mensing.“
„Ich beuge mich vor dem Namen des Königs,“ antwortete Mensing mit demselben äußern Gleichmuth.
„Führen Sie mich augenblicklich zu dem Wagen.“
„Der Wagen … was wollen Sie bei ihm?“
„Das ist meine Sache.“
„Er ist nicht mehr hier …“
„Herr,“ donnerte der Oberst, „gehorchen Sie oder …“
Der Oberst griff zu seinem Säbel.
„Herr Oberst,“ versetzte Mensing achselzuckend, „Ihr Säbel ist keine Zauberruthe, womit Sie den verschwundenen Wagen wieder herbeizaubern. Er ist nun einmal fort und aus Ihrem Bereich!“
„Halte mein Pferd,“ schrie der Oberst den Müllerburschen an.
Der Bursche sprang herbei, das Pferd zu nehmen. In diesem Augenblick wurde aus der Gegend des zurückliegenden Oekonomiegebäudes das Rollen eines Wagens vernehmbar.
[79] „Ah – das ist er, da ist der Wagen!“ rief der Oberst erregt und machte einen Schritt, dorthin zu eilen, von woher das Geräusch erscholl.
Im selben Augenblick hatte Mensing ein Reiterpistol aus seiner Brusttasche hervorgezogen. Er setzte es mit gespanntem Hahn dem Obersten auf die Brust.
„Noch einen Schritt weiter, und ich jage Ihnen eine Kugel durch die Brust, Obrist La Croix!“ sagte er.
„Sacre!“ fluchte der Oberst, seinen Säbel fallen lassend … er sah, daß sein Gegner die Ueberlegenheit der Waffe für sich hatte.
„Sie werden mir Ihr Ehrenwort geben,“ fuhr Mensing fort, „daß Sie mir ruhig in’s Haus folgen und dort anhören werden, was ich Ihnen zu sagen habe … Ihr Ehrenwort … binnen zwei Minuten … oder ich tödte Sie – bei meinem Ehrenwort! … Nur eine Bewegung mit Ihrem Arm, als ob Sie mir das Pistol aus der Hand schlagen wollten … und Sie haben die Kugel im Leib!“
„Desperater Schurke!“ knirschte der Oberst in seiner Wuth.
„Hab’ ich Ihr Wort oder hab’ ich’s nicht?“
„Zum Teufel, ich gebe es Ihnen! Was fragen Sie, da Sie sehen, daß ich muß?“
„So kommen Sie … hierher … in’s Haus!“
Der Oberst folgte – Mensing führte ihn in’s Haus, in das Wohnzimmer neben dem Flur, und hier wies er auf den Stuhl, den eben Elise eingenommen.
Der Oberst setzte sich, die wuthblitzenden Augen auf Mensing richtend, der ihnen gefaßt und ruhig begegnete.
Mensing setzte sich an die andere Seite des Tisches; er legte das Pistol vor sich nieder, ohne den Hahn zur Ruhe zu setzen.
„Was ich Ihnen zu sagen habe, Oberst La Croix,“ hub er an, „ist kurz gefaßt dies: Der Fourgon enthält den Schatz des entflohenen Kurfürsten. Ich habe mich entschlossen, diesen Schatz seinem Eigenthümer zu retten. Ich weiß, daß es nur auf Gefahr meines Lebens geschehen kann. Desto weniger Federlesens werde ich dabei mit dem Leben Anderer machen, die mir hemmend in den Weg treten. Sie begreifen das?“
„Vollkommen!“
„Sie begreifen also die Bedeutung dieses Pistols für Sie, der Sie weniger gut bewaffnet, wie ich sehe, noch im Ballcostum sind?“
„Ich begreife auch das!“
„Aber Ihre Leute werden Ihnen folgen – Sie hoffen darauf, daß sie jeden Augenblick da sind?“
„Ich hoffe darauf; sie würden mich bald gerächt haben, mein Herr Lieutenant.“
„Möglich! Doch ist das Gerächtwerden ein schlechter Trost für einen Todten! Lassen Sie uns deshalb eilen, zu Ende zu kommen.“
Mensing faßte rasch unter den Tisch und hob einen der Beutel darauf; er legte ihn neben das Pistol.
„In diesem ledernen Sack,“ sagte er dabei, „sind fünfzigtausend Thaler in gutem, vollwichtigem Gold. Eine Summe, fast doppelt so groß als der Preis, der auf die Entdeckung des Schatzes gesetzt ist. Und hier daneben ist das geladene Pistol. Ich aber, mein Herr Oberst, das werden Sie einsehen, bin in einer Lage, worin ich mein Heil nur durch rasches und rücksichtsloses Handeln finde. Also Eins oder das Andere. Wenn Sie ruhig heimkehren und dabei auch Die, welche Ihnen auf Ihrem Rückwege begegnen mögen, mit sich zurücknehmen wollen; wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen, daß Sie mich weder selbst, noch durch Andere, weder direct noch indirect verfolgen oder hindern werden, mein Vorhaben auszuführen und dem früheren Herrn dieses Landes ein Eigenthum zu sichern, das nur ihm gehört und Niemandem in der Welt sonst … dann sind diese fünfzigtausend Thaler für Sie! Wo nicht, so ist es die Kugel in diesem Laufe, und, wenn sie fehlt, die zweite in diesem!“
Mensing zog dabei den Griff eines zweiten Pistols aus seiner Brusttasche hervor.
Der Oberst betrachtete ihn mit einem eigenthümlichen Zucken der Gesichtsmuskeln – sein Auge irrte von Mensing’s Zügen zu dem schweren Lederbeutel und zu der Mündung des Pistols und wieder zu Mensing’s Zügen, worin er nichts als den entschlossensten und drohendsten Ernst wahrnahm.
„Wenn ich für das Geld meine Dienstpflicht verrathe, wer steht Ihnen dafür, daß ich nicht auch mein Ehrenwort verrathe?“
„Ich glaube an das Ehrenwort eines guten Soldaten – das sind Sie, Oberst …“
„So könnte ich auch an das Ihrige glauben, das ich mir doch auch ausbitten müßte …“
„Ich verstehe Sie und sehe, daß Sie gewählt haben!“ fiel Mensing hochaufathmend ein. „Ja, Sie können an mein Ehrenwort glauben, daß nie Jemand diesen Handel erfahren soll … ich werde schon deshalb nie vergessen, was ich Ihnen schuldig bin, weil Sie mir eine der größten Wohlthaten erweisen, die ein Mensch dem andern erweisen kann … weil Sie mir die Nothwendigkeit ersparen, einen Mord zu begehen! Nehmen Sie das Geld! Es gehört Ihnen!“
Der Oberst zog es mit raschem Griff an sich und stand auf.
„Der Teufel mag lange wählen,“ sagte er plötzlich auflachend. „Lieutenant[WS 1] Mensing, ich will Ihnen wünschen, daß Sie glücklich durchkommen! Von mir sollen Sie nichts mehr zu befürchten haben. Aber täuschen Sie sich nicht darüber, wenn Sie auch mit mir fertig geworden sind, verfolgt werden Sie doch – die Sache wird doch ruchbar werden und ich kann meine Mouchards nicht hindern, zu spüren. Es wäre schade um Sie, wenn man Sie faßte und füsilirte. Sie sind ein Mensch von respektabler Entschlossenheit. Aber der König würde gegen einen solchen Deserteur keine Gnade kennen. Also – nehmen Sie sich in Acht – und Adieu!“
„Ich habe Ihr Ehrenwort, Herr Oberst,“ antwortete Mensing; „Ihre Mouchards ängstigen mich nicht!“
„Sie haben mein Wort!“
Der Oberst ging und Mensing begleitete ihn auf den Hof.
Das Pferd stand draußen an der Thür angebunden – der Müllerbursche hatte sich aus dem Staube gemacht.
Mensing hielt das Pferd und den Beutel, während der Oberst aufstieg – dann reichte er diesem die goldene Last hinauf – Oberst La Croix verbarg sie unter seinem Mantel und ritt mit einem letzten lakonischen „Adieu!“ davon, über den einsam und stille daliegenden Hof.
Mensing blickte ihm hoch und frei aufathmend nach. „Dem Himmel sei Dank!“ sagte er. „Der wäre unschädlich gemacht! Und nun sehen wir nach unserem Schatze!“
Der Schatz war für’s Erste gerettet. Mensing eilte auf die Felder hinaus, und beim Grauen der Dämmerung fand er bald den Fourgon und Wilhelm, Elise und die Mutter beschäftigt, die schweren Kisten in den Brunnen zu versenken, der etwa nur sechs Fuß Tiefe hatte. Er selbst griff wacker zu, und bald war Alles geschehen; die Oeffnung des Brunnens wurde mit Feldsteinen ausgefüllt und überdeckt.
Wilhelm nahm nun sein Gespann und fuhr damit in der Richtung eines nordwestlich, nach Cassel hinaus liegenden Dorfes. Noch bevor er dies Dorf nach einer halben Stunde erreicht hatte, begegnete er einem auf sein Geschäft ausziehenden Metzgergehülfen.
„Wollt Ihr ein starkes Trinkgeld verdienen?“ redete er ihn an.
„Weshalb nicht?“
„So fahrt diesen Wagen auf die Wilhelmshöhe – in den Marstall.“
„Wem gehört der Wagen?“
„Dem König.“
„Ah – und ich soll ihn auf die Wilhelmshöhe bringen?“
„Ja. Aber Ihr sollt sagen, Ihr hättet ihn so, wie er ist, ohne Führer hier in dem Felde haltend gefunden, und da Ihr an der Krone daran das königliche Eigenthum erkannt, brächtet Ihr ihn zurück. Wollt Ihr das?“
Der Mensch sah ihn mißtrauisch an.
„Wollt Ihr nicht, so finde ich schon einen Andern, der sich das Trinkgeld verdient!“
„Nein, nein, gebt nur die Zügel her!“
Wilhelm sprang vom Bock und ließ den Menschen aufsteigen, der mit dem Wagen weiter dem Dorfe zufuhr, aber, von Zeit zu Zeit sich zur Seite beugend, verwundert dem zurückeilenden Wilhelm nachblickte.
[80] „Der Geselle wird mich wahrscheinlich da droben verrathen und ganz genau beschrieben, wie ich ausgesehen und aus welcher Richtung ich gekommen,“ sagte sich Wilhelm, während er querfeldein den Pachthof wieder zu erreichen suchte, „aber was schadet’s jetzt?!“
Als er auf dem Hofe ankam, fand er Mensing bereits in voller Verkleidung. Er stak im Kittel eines Schäferknechts; die schwarze lederne Tasche, die quer über seiner Schulter hing, bauschte sich ziemlich hoch über den Goldsäcken, welche hineingeschoben waren.
„Schlüpf’ auch Du jetzt in einen solchen Kittel!“ sagte Mensing; „es liegt Alles bereit dazu – der ganze Anzug eines Knechts – hier in der Kammer. Es ist gut, wenn wir fortkommen, bevor die Hausmägde auf sind!“
Eine Viertelstunde später schritten die beiden jungen Männer mit ihrem ersten Goldtransport in den nebeligen Morgen hinaus. Der Tag drohte mit Regen, wie die vorigen ihn gebracht hatten.
„Es ist desto besser,“ bemerkte Mensing, „der Regen wird desto schneller die Geleise vertilgen, welche unser Wagen über die Felder gezogen hat. Beim Brunnen sind meine Mutter und Elise beschäftigt, mit Schaufel und Rechen die Geleise auszulöschen, so gut es geht.“
„Führt unser Weg uns an der Stelle vorüber?“ fragte Wilhelm.
„Gewiß, ich will Dich nicht fortführen auf unsern gefährlichen Pfad, ohne daß Du Deiner Elise Lebewohl gesagt hast.“
Auf dem halben Wege zum Brunnen begegneten ihnen die Frauen. Sie hatten gethan, was sie gekonnt hatten, die Spuren des Wagens zu vertilgen, und kamen jetzt heim, weil der Morgen vorrückte und bereits ein Arbeiter auf dem Felde in der Ferne sichtbar geworden war.
Mensing drückte einen Kuß auf die Stirn seiner Mutter, die ihm mit bebender Lippe ihre Segenswünsche mit auf den Weg gab.
„In der zweiten oder dritten Nacht kommen wir zurück,“ sagte er. „Laß das hintere Hofthor unverschlossen – ich werde an das Fenster des Wohnzimmers klopfen. Hat sich etwas ereignet, was uns bedroht, so laß ein Licht hinter dem Fenster des obern Giebelstübchens brennen. Das soll heißen: ‚Bleibt zurück?‘ So lange es brennt … man sieht es fast eine halbe Stunde weit, denk’ ich … so lange es brennt, werden wir uns fern halten. Wenn man kommt und Untersuchungen anstellt, so weißt Du, was Du zu sagen hast. Ich bin in der Nacht mit einem Fourgon gekommen und gleich darauf wieder weitergefahren – das ist Alles, was Du weißt, Mutter ... auch bei dem Gesinde, wenn dies etwas erfahren und nachfragen sollte ... Du mußt Dich schon ein wenig im Lügen üben, Du gutes Mütterchen … auch wegen Elisen, um über sie dem Gesinde Auskunft zu geben …“
„Sorg’ nicht, ich werde es ja können, da es so sein muß,“ antwortete sie … „und so geh’ mit Gott, mein Kind!“
„Geh’ mit Gott!“ war auch Elisens letztes Wort beim letzten Händedruck zu Wilhelm … dann wandte sie sich ab, um ihr Schluchzen zu verbergen, während die beiden jungen Männer davongingen und nach wenigen Augenblicken in der Nebelluft verschwunden waren.
[94] Wir wollen ihnen auf ihrem gefahrenumgebenen Wege nicht folgen, genug, daß es Mensing’s Umsicht, Behutsamkeit und seiner Geistesgegenwart gelang, mit Wilhelm glücklich die Grenzstadt zu erreichen, wo der Agent des Kurfürsten ihn erwartete, ihnen die Last, die sie Beide getragen, abnahm, und ihnen eine neue Verkleidung zur Rückkehr schaffte. In dieser traten sie den Heimweg an, um dann mit einer neuen Last zurückzukehren und unter ihren goldenen Bürden so lange hin und her zu wandern, bis der ganze Schatz unverkürzt geborgen und in Sicherheit war. Und sowie dann das Gold nach dem dänischen Auslande (zunächst Itzehoe), wo sein Eigenthümer sich befand, geschafft wurde, so war es auch für die beiden Retter Zeit, sich in den Bereich dieses völlig sichernden Auslandes zu begeben.
Sie hatten auf Lohn für ihr muthiges und gefährliches Thun nicht gehofft. Und in der That, sie bekamen auch keinen. Kurfürst Wilhelm schien in dem Gethanen nur eine erfüllte Pflichtleistung zu erblicken. Doch dankte er ihnen mit gnädigem Lächeln, als sie vor ihm erschienen und Mensing ihm die Einzelheiten der Rettung berichtet hatte, wobei man des Obersten La Croix nur als eines französischen Officiers erwähnte, ohne den Namen zu nennen.
„Er ist ein recht durchtriebener Bursche, Mensing; Er hat sich klug und brav dabei benommen,“ sagte er. „Ich werde Ihm das nicht vergessen! Er kann die Rechnung über seine Auslagen einreichen; ich will sie Ihm erstatten lassen.“
„Eine Rechnung?“ antwortete Mensing betroffen; „aber Durchlaucht werden nicht verlangen, daß ich mich all’ der kleinen einzelnen Ausgaben entsinnen soll. Der Inspector Steitz hat mir tausend Gulden gegeben; die sind beim Hin- und Widerreisen, zum Anschaffen von Verkleidungsstücken, Bestechungen, Trinkgeldern in größeren, kleinern und kleinsten Posten daraufgegangen … das ist meine Rechnung!“
„Nun, ist auch gut, ist auch gut!“ versetzte der Kurfürst, den ein wenig zornigen Ton, worin Mensing gesprochen, beschwichtigend.
„Und,“ fuhr Mensing fort, „zu der Bestechung des französischen Officiers, von der ich die Gnade hatte, berichten zu dürfen, sind fünfzigtausend Thaler von dem Schatze selber genommen.“
„Fünfzigtausend Thaler!“ rief der Kurfürst wie erschrocken aus, „zum Teufel, weiß Er, daß das viel ist?!“
„Ja – viel, just so viel wie nöthig war!“
„Hm,“ machte der Kurfürst, Mensing scharf fixirend, „und Er will mir den Namen dieses Officiers nicht nennen?“
„Ich gab mein Ehrenwort, es nicht zu thun.“
„Auch den Grad und die Waffe nicht?“
„Ich glaube nicht, daß ich es darf, Durchlaucht.“
„Da werd’ ich ja wohl Sein bloßes Wort gelten lassen müssen?“
„Ich bitte darum!“
Mensing sprach diese Worte in einem Tone aus, daß der Kurfürst nicht recht den Muth fand, dem Manne, welchem er so viel verdankte, zu antworten. Er entließ Mensing und seinen Begleiter und hielt Beide an seinem bald darauf nach Prag verlegten Hoflager bei sich, wo sie für die Verfolgungen der Franzosen nicht zu erreichen waren.
Denn diese Verfolgungen blieben nicht aus, wie eine Untersuchung dessen, was in der Nacht vom 21. auf den 22. November auf der Napoleonshöhe geschehen, nicht ausblieb. Das Verschwinden Momberg’s, die Entdeckung der erbrochenen und nur nothdürftig wieder hergestellten Mauerstelle unter der Treppe am südwestlichen Flügel reichten hin, um dem ganzen Hofe Jerôme’s die Ueberzeugung zu geben, daß von den Verschwundenen der Schatz entführt sei. Die Aussagen der Gensd’armen, welche dem Fourgon begegnet waren, und die ihres Obersten konnten es nur bestätigen, indem sie von der kecken Ausrede berichteten, womit sie von Mensing getäuscht waren. Der Oberst La Croix hielt dabei an seinem Ehrenworte ehrlich fest. Er gab an, wie er auf dem Balle entdeckt, daß er von Mensing überlistet sei, wie er zu einer Verfolgung des Lieutenants davon gestürzt sei, aber wie alle seine Bemühungen, ihn einzuholen, vergeblich gewesen.
Eine Haussuchung auf dem Pachthofe der Mutter Mensing’s und die Vernehmungen dieser Frau gaben keine Resultate. In Folge von Graf Boucheporn’s Angaben, unter welchem Vorgeben der Inspector Steitz ihn bewogen, ihm den Fourgon zur Disposition zu stellen, wurde Steitz wiederholt vernommen. Er blieb in seiner Vertheidigung consequent bei der Angabe, daß er nichts beabsichtigt habe, als seine Tochter zu entfernen, und zwar aus den Gründen, die er dem Grafen Boucheporn vertraut; daß, wenn der Lieutenant Mensing diese Gelegenheit benutzt, den Schatz zu entfernen, er völlig ohne Mitschuld daran sei; daß er nimmermehr, wenn er geahnt, wie gefahrvoll diese Fahrt werden solle, geduldet haben würde, daß sein einziges Kind solche Gefahren theile … es müsse Jedermann einleuchten, daß, wenn er auch seinem früheren Herrn noch anhänglich sein sollte, diese Anhänglichkeit doch nimmermehr so weit gehen würde, um sein eigenes Leben nicht blos, sondern auch das seines Kindes auf’s Spiel zu setzen!
Dieser Grund leuchtete ein und er schlug durch. Daß althessische Dienertreue so weit gehen könne, konnte den Franzosen allerdings nicht in den Sinn kommen anzunehmen. Und so mußten sie davon abstehen, Steitz zu inquiriren, wie sie überhaupt davon abstehen mußten, hinter das Geheimniß zu kommen, wer Gehülfe und wer Mitwisser gewesen bei der mit so viel Verwegenheit wie Glück ausgeführten That. Sie trafen eben bei allen Nachforschungen auf die große einträchtige Verschwörung des ganzen Volkes wider die aufgedrungene fremde Herrschaft.
Ein gewisser Verdacht blieb jedoch stets auf dem Inspector Steitz haften, und damit hing es wohl zusammen, daß der alte Herr plötzlich als Inspector nach dem königlichen Schlosse Corvey an der Weser versetzt wurde.
Die Herrlichkeit des „niedlichen“ Königs hatte, Gott Lob, keine lange Dauer. Am 30. September 1813 verscheuchten die Kosaken Czernitschew’s König Jerôme aus seinem Reich. Der Inspector Steitz hatte kaum diese Freudenbotschaft vernommen, als er sich hochklopfenden Herzens auf den Weg machte, um seine geliebte Wilhelmshöhe zu erreichen, von der er sofort als Inspector wieder Besitz nahm. Aber ach, der Jubel war so voreilig gewesen, wie Czernitschew’s Streifzug keck und ohne unterstützenden Rückhalt unternommen; nach achtzehn Tagen war Jerôme wieder da! Die russischen Truppen hatten sich zurückgezogen und Jerôme war wiedergekommen, um sich zu retten und mitzunehmen, worauf er die Hand legen konnte. Nur acht Tage lang dauerte diese zweite Herrschaft, aber es waren acht Tage des Schreckens. Der Inspector Steitz wurde nebst zahlreichen Anderen verhaftet und in das Casseler „Castell“ gesperrt. In Angst und Zagen harrte er dort seines Schicksals, bis die russischen Vortruppen noch einmal vor den Thoren der Stadt erscheinen und Jerôme mit der gesicherten Beute die Flucht zum zweiten Male, und diesmal für immer, ergreift. Die Kerkerthüren öffnen sich und Steitz ist frei.
Im November 1813 kehrte Kurfürst Friedrich Wilhelm der Erste in die Residenz seiner Väter zurück, umjubelt von seinen getreuen Unterthanen, von ihren Armen statt von Pferden durch die Straßen Cassels zu seinem Schlosse gezogen.
„Er habe nur sieben Jahre geschlafen,“ sagte der alte Herr, und in der That, er sah, wie er aufrecht in dem offenen Wagen stand, ganz so aus, als ob er viele, viele Zeit, nicht sieben Jahre, sondern ein Vierteljahrhundert verschlafen habe, dieser häßliche alte Mann in einer lächerlichen Uniform, mit einem dicken Zopf an der Perrücke und einem großen Gewächs am Halse, das ihn zwang, den Kopf seitwärts zu halten.
Den Jubel seiner vom Druck und Drang der Fremdherrschaft befreiten Unterthanen aber störte das nicht. Die Enttäuschungen sollten erst später kommen; doch für Niemanden so früh, wie für den treuesten aller Treuen, für den Schloßinspector auf der Wilhelmshöhe.
Steitz harrte in freudigster Aufregung des ersten Besuchs seines Herrn auf der Wilhelmshöhe; sein Herz pochte dem seligen Augenblicke entgegen, wo er ihn wieder sehen werde, wo er ihm die Hand küssen und glücklich sein werde durch ein Wort des Dankes von seinen eigenen Lippen.
[95] Dieser Tag ließ nicht auf sich warten; die Meldung, daß der Kurfürst auf sein schönes Landschloß kommen werde, traf bei dem Inspector ein … Steitz stand im Begriff, noch einmal durch die Schloßgemächer zu wandern, um zu sehen, ob Alles wieder am rechten Ort und möglichst so, wie es früher gewesen … da tritt der Officier, der eben mit einer Abtheilung die Schloßwache bezogen hat, vor ihn, einen schriftlichen Befehl in der Hand.
„Lieber Inspector,“ sagte er, „es thut mir leid … ich habe da eben einen unangenehmen Auftrag bekommen … sehr unangenehm … aber …“
„Einen Auftrag, der mich betrifft?“ fragte Steitz verwundert.
„Ja … ich muß Sie verhaften!“
„Verhaften? Mich?“
„So ist es … sehen Sie da … der Befehl ist von Seiner Durchlaucht eigener Hand.“
„Unmöglich!“
„Sehen Sie selbst!“
„Unglaublich … unbegreiflich,“ stammelte Steitz.
„Es ist mir selbst nicht erklärlich…“
„Das hab’ ich, bei Gott, nicht verdient!“ ruft der Inspector empört aus.
„Freilich … aber …“
„Da der Kurfürst es befohlen, so müssen Sie gehorchen. Ich folge Ihnen.“
„Ich bitte darum … auf die Wache. Sie können für’s Erste auf meinem Zimmer bleiben, Herr Steitz.“
Der Inspector folgte dem Officier, vollständig niedergeschmettert, nicht fähig, auch nur Vermuthungen aufzustellen, was ihm dies Schicksal zugezogen habe. Es war ihm, als ob ein böser Traum ihn bedrücke.
Willenlos und wie gelähmt und matt in sich zusammengesunken setzte er sich in einer Ecke der Stube des Officiers nieder und harrte dessen, was weiter mit ihm geschehen werde.
Nach einer Stunde etwa kam der Kurfürst auf der Wilhelmshöhe an. Kurz darauf trat ein Fourier in die Wachstube und brachte den Befehl, der Inspector solle ihm in die Bibliothek zum gnädigsten Herrn folgen.
Wankenden Schritts stieg Steitz die Treppen hinauf; die Bibliothekthüren öffneten sich vor ihm, er trat ein, und sah den Kurfürsten sofort rasch auf sich zu schreiten.
„Steitz, die fünfzigtausend Thaler hätten auch nicht zu fehlen brauchen,“ rief der Kurfürst ihm zornig entgegen. „Er muß wissen, daß ich Ihn habe arretiren lassen und daß ich durch eine Commission Alles scharf untersuchen lassen werde.“
„Eine solche Commission kann mir nur erwünscht sein, Durchlaucht,“ stammelte Steitz athemlos heraus, „und … und ich fordere sie jetzt … ich verlange sie … obwohl,“ fuhr der Inspector, in welchem jetzt über diese ganze Behandlung der Zorn sich zu regen begann und, wie er weiter sprach, höher und höher schwoll, fort … „obwohl ich nicht geahnt habe, daß dies Eurer Durchlaucht Lohn für den treuesten Ihrer Diener sei, der für Sie gethan hat, was tausend Andere nicht gethan hätten, dessen Haar gebleicht ist in Ihren Diensten und in der Noth und Angst um Ihren Schatz, der Ihretwegen in den Kerker geworfen ist …“
„Nun, nun,“ sagte der Kurfürst beschwichtigend, „sieht Er, Steitz, es war so übel nicht gemeint …“
„Uebel gemeint oder nicht übel gemeint, Durchlaucht, dies ist keine Behandlung, wie sie ein gerechter Fürst für den Mann hat, der bereit war, für ihn sein Leben auf’s Spiel zu setzen … daß Sie durch eine schimpfliche Verhaftung einem Manne wie mir seine Ehre antasten …“
„Na, so höre Er doch auf, mich auszuzanken, Steitz, ich glaube ja, Er ist eine ehrliche Haut! Ich will Ihm auch Alles erklären, ich wollte ja nur wissen, wie es mit den fünfzigtausend Thalern eigentlich zusammenhänge. Sieht Er, der Mensing hat mir darüber nicht reinen Wein einschenken wollen, und Er muß gestehen, daß das verdächtig war …“
„Bei einem Ehrenmann wie Mensing?“ fiel der Inspector zornig ein. „Nein, Durchlaucht. Er hat sein Wort gegeben, den, der die Summe bekommen hat, nicht zu nennen.“
„Ja, ja, so sagte er. Aber ich wollte das aus Seinem Munde auch hören, Steitz. Er sollte mir berichten, wie es eigentlich zugegangen. Er, Steitz! Und damit Er nicht vorher mit Mensing, der in meinem Gefolge ist, den Kopf zusammenstecke, ließ ich Ihn auf die Wache bringen. Darum! Will Er sich jetzt beruhigen? So gebe Er mir die Hand. Er weiß es, daß ich Ihn gern habe!“
Steitz fühlte durch diese Worte seinen Zorn entwaffnet. Er nahm die gebotene Hand. Der Kurfürst schüttelte die seine warm und herzlich.
„Also, es bleibt beim Alten zwischen mir und Ihm,“ fuhr der Kurfürst fort. „Wenn Er einen Wunsch hat, so sag’ Er’s mir. Er bleibt natürlich in Seiner alten Stelle. Ich werde Ihm auch eine besondere Gnadenzulage zu Seinem Gehalte bewilligen. Er soll jährlich fünfzig Thaler Zulage erhalten!“
Steitz verbeugte sich.
„Ich danke, Durchlaucht,“ sagte er kühl. „Das Wichtigste ist mir, daß ich erhalte, was ich früher hatte, Euer Durchlaucht unbedingtes Vertrauen!“
„Gewiß, gewiß … und kann ich Ihm sonst noch einen Wunsch erfüllen, so rede Er.“
„Ich habe allerdings einen Wunsch, Durchlaucht. Er betrifft Wilhelm Momberg.“
„So so … den hab’ ich ja untergebracht … er hat in Prag im Marstall gute Dienste geleistet, und ich habe ihn zum Bereiter gemacht.“
„Durchlaucht hatten die Gnade – aber er kann in der Stellung keine Frau ernähren und er wünscht meine Tochter zu heirathen, die ich ihm verlobt habe. Die jungen Leute haben jetzt in der That lange genug gewartet!“
„Hm, ja … da hat Er Recht, Steitz!“ antwortete der Kurfürst, „was machen wir denn da? … aber zum Teufel, Steitz, was ist das?“ unterbrach sich der Kurfürst, den Inspector an der Schulter fassend und um ihn herumgehend. Er hat ja keinen Zopf!“
„In der That, Durchlaucht müssen zu Gnaden halten …“ antwortete Steitz ein wenig verblüfft, „es ist so aus der Mode gekommen …“
„Das hätte ich von Ihm nicht erwartet, Steitz,“ fiel der Kurfürst zornig ein, „komm’ Er nicht wieder so … und dann hör’ Er, noch Eins … in dem blauen Salon drüben war der schöne kleine Bologneserhund aufgestellt, an dem mein höchstseliger Vater hing … der Professor Schaumburg hatte ihn ausgestopft und in dem blauen Salon unter einen Glassturz gestellt. Ich sehe meinen Herrn Vater noch davor stehen und ihn betrachten …“
„Ja, ja“, fiel Steitz ein, „der hochselige Herr hing sehr daran, er hatte ihn aus Italien mitgebracht …“
„Nun ja, wo ist er?“
„Der Professor Schaumburg wünschte ihn in seinem naturhistorischen Cabinet zu haben, und ich habe ihn ihm überlassen, weil man ihn hier fortschaffen wollte.“
„Schaff’ Er mir das Hündlein sofort wieder zur Stelle, Steitz, hört Er?“ rief der Kurfürst aus, „oder, weiß Er was … wenn der Narr, der Schaumburg, auf das ausgestopfte Thier Werth legt, so kann er es halten … aber der Hund hatte ein kleines silbernes Halsband – das soll er zurückschicken!“
Steitz verbeugte sich abermals.
„Nun kann Er gehen, Steitz; wir bleiben Ihm in Gnaden gewogen.“
„Mit welcher Botschaft für meine Tochter und für … Wilhelm Momberg?“
„Hm, ja – Er ist hartnäckig, Steitz.“
„Nicht für mich, Durchlaucht … aber …“
„Nun wohl, weil der Momberg Sein Schwiegersohn ist, mag’s drum sein. Er kann dem Momberg sagen, daß ich ihn zum Stallmeister ernenne. Ist Er nun zufrieden?“
„Ich danke Eurer Durchlaucht von ganzer Seele,“ antwortete Steitz.
Die Audienz war zu Ende – wie wir es sind mit unserer Erzählung, nachdem wir sie bis zu der glücklichen Wendung geführt, welche das Schicksal Wilhelm’s und Elisens nach siebenjährigem ziemlich hoffnungslosem und dennoch so treuem und ausdauerndem Harren genommen. Die weitern Schicksale des eigentlichen Helden unserer Darstellung liegen außerhalb des Rahmens derselben. Wir können darüber nur angeben, daß, wenn über so viele der treuen Hessenherzen so bald das Gefühl tiefer und niederschlagender Enttäuschung kommen sollte, es bei keinem rascher einziehen [96] mußte, als bei dem warmen, aufopferungsvollen und zum Glück auch leicht entsagenden Herzen des tapfern Lieutenant Mensing, des Mannes, welcher der eigentliche Retter jenes Schatzes geworden war, der, zum Theil aus den Seelenverkäufen der Hessen-Cassel’schen Landgrafen stammend, im vorigen Jahre noch ein Gegenstand des Tages-Interesses wurde, als Bestandtheil des hessischen Staatsschatzes, welchen das annectirte Land von dem Gerechtigkeitsgefühl des Siegers von Sadowa zurückerstattet erhielt.
- ↑ Auf Grundlage mündlicher Mittheilungen und mit Benutzung einer Aufzeichnung des Herrn F. W. Hagedorn in Minden. D. Verf.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Leutenant