Der Schäfer und die Sirene
Ein Schäfer aus der goldnen Zeit,
In seinem stillen Hirtenstande
Ganz Ruhe, ganz Zufriedenheit,
Trieb öfters an des Meeres Strande,
Gefiel ihm Daphne ja zuweilen bey dem Spiel:
So konnte sie doch nichts gewinnen,
Als daß sie flüchtig ihm gefiel.
Ein junger Schäfer glücklich war!
Doch seinem Herzen droht Gefahr.
Welch eine reizende Sirene
Schwimmt dort! Kaum wird er sie gewahr:
Er steht, und will nicht stehen bleiben,
Erstaunt, blickt auf die Sängerinn,
Will abwärts mit der Heerde treiben
Und treibt nur mehr ans Ufer hin.
Der Schäfer hat für euch itzt keine Zeit.
Er klagt durch Lieder und Geberden
Der Schönen seine Zärtlichkeit;
Verspricht ihr alle seine Heerden
Sie, wohl in ihrer Kunst erfahren,
Hört nichts von dem, was er verspricht,
Scherzt mit der See, putzt an den Haaren,
Als sähe sie den Schäfer nicht,
Den Antrag ihr noch oft zu thun.
Ich, singt sie, bin nicht mein. Neptun bestimmt mein Glücke;
Und wenn ich dich nicht flüchtig nur entzücke:
So geh und bitte den Neptun.
Wenn ich die Bitte dir gewähre,
Gewähr ich dir dein Unglück nur.
Der Schäfer schleicht betrübt nach seiner Hütte;
Nun lacht ihm weiter keine Flur.
So wiederholt er seine Bitte.
„Neptun! So soll das Meer die trefflichste Gestalt,
Die mich entzückt, in seinen Schoos begraben?“
Nein, rief der Gott, du sollst sie haben;
Wie hurtig schwamm nunmehr die Schöne
Dem Ufer zu! Wie schön sang sie, wie zauberisch!
Er reicht ihr seine Hand. „Komm, göttliche Sirene!“ – – –
Doch welch Entsetzen! Seine Schöne,
Mit Zittern floh Damöt vom Meere
Und gab nachher der Flur sehr oft die Lehre,
Daß unser liebster Wunsch oft große Thorheit wäre.
- ↑ Ich habe mich über diese und die folgenden Fabeln und Erzählungen in der Vorrede, die ich ehedem der Sammlung meiner vermischten Schriften vorgesetzt, also erkläret: „Ich erfülle hiermit das Versprechen, das ich unlängst öffentlich, (in dem 123sten Stücke des Hamburgischen Correspondenten vom Jahre 1756.) obgleich gezwungen, gethan habe, und liefere meinen Lesern den größten Theil der Fabeln und Erzählungen aus den Belustigungen, verbessert, und an vielen Orten geändert. Vielleicht ist diese Arbeit eine der undankbarsten, die ich jemals unternommen habe; so wie sie mir eine der unangenehmsten gewesen ist. Gesetzt, es wäre mir geglückt, diese meine ersten Versuche von den meisten Fehlern zu reinigen: so ist doch die Abwesenheit der Fehler in den Werken des Geschmacks mehr eine Nothwendigkeit, als Verdienst. Man kann einer Poesie durch Verbesserungen kleine Schönheiten geben; das ist gewiß. Aber die Hauptschönheit, die in der ganzen Anlage, in der ungezwungenen Einrichtung, in der Farbe der Schreibart selbst besteht; wie kann diese einem Werke ertheilet werden, wenn sie nicht in seiner Geburt mit ihm erzeugt wird, wenn sie nicht, wie die Seele, mit ihrem Körper zugleich da ist? Dadurch, daß man dem Gesichte die Flecken entzieht, wird die Miene noch nicht einnehmend.“