Der Riedelsche Chorverein zu Leipzig
[344] Der Riedel’sche Chorverein zu Leipzig feiert am 17. Mai dieses Jahres die Erinnerung seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens. Die Gründung, Fortentwickelung und Blüthe dieses Instituts sind für das gesammte Kunstleben von solcher Bedeutung, daß wir es für unsere Pflicht halten, den Ehrenbezeigungen, welche dem Verein und seinem Stifter und Leiter, Professor Karl Riedel, an diesem Tage zu Theil werden, auch unsere Glückwünsche hinzuzufügen. Von allen Künsten ist die Musik die volkstümlichste; von allen ist die Gesangmusik die einzige, welche einer Menge Menschen zugleich Gelegenheit giebt, sich wahrhaft künstlerisch zu bethätigen, die einzige in welcher der Dilettantismus nicht blos Sache des Vergnügens zu sein braucht, sondern künstlerisch zur Darstellung der herrlichsten und großartigsten Tonschöpfungen verwerthet werden kann. Daß hierdurch die Musik eine Bildungskraft in ästhetischer Beziehung erhält, wie keine andere Kunst, indem der bei Hervorbringung des Musikwerkes mitwirkende Laie genöthigt wird, sich bewußt in alle Einzelschönheiten desselben zu vertiefen, giebt gerade dieser Musikgattung noch einen besondern Werth; er kommt um so mehr zur Geltung, wenn, wie es im Riedel’schen Chorverein von Anfang an unentwegt geschehen ist, strenge, reine Kunstpflege ohne alle weiteren geselligen und vergnüglichen Nebenzwecke als Aufgabe betrachtet wird. Zudem wählte Riedel in einer Zeit, als in der altberühmten Musikstadt Leipzig, der Stadt Sebastian Bach’s, die höhere religiöse Tonkunst Pflege fand, zum Felde seiner Wirksamkeit gerade dieses Gebiet, auf dem die meisten Kunstepochen ihre höchsten musikalischen Offenbarungen erlebt haben. Das sind die Momente, auf Grund deren sich der Riedel’sche Verein, aus kleinen Anfängen, immer seinen idealen Zweck im Auge behaltend, zu einem weltberühmten Kunstinstitut entwickelt hat.
Durch sein Beispiel sind in vielen anderen Städten Vereine verwandten Charakters entstanden, deren unübertroffenes Vorbild er ist. Die hohe culturelle Bedeutung dieser Art Kunstpflege kann nicht genug hervorgehoben werden, und es war nur ein kleines Zeichen gerechter Anerkennung, wenn sie in einer der letzten Sessionen des Reichstages durch den Abgeordneten Dr. Loewe-Calbe rühmend hervorgehoben ward. Und wem verdankt dieser Verein seine Stellung, seinen Ruf, seine Fähigkeit, die schwierigsten und großartigsten Oratorien alter und neuer, fremder und deutscher Meister zu musterhafter Darstellung zu bringen, ohne erhebliche Opfer seitens seiner Mitglieder? Allein der Kraft und Energie eines einzelnen Mannes, seines opferfreudigen Gründers. Opferfreudigkeit, diese hohe Tugend des echten Künstlers, hat Riedel in hohem Grade entwickeln müssen, ehe er sein von vornherein fest vorgezeichnetes Ziel in solcher Weise erreichte. Schon früher hat die „Gartenlaube“ (vergl. den Artikel „ein Dilettantenverein und sein Dirigent“ von Prof. J. C. Lobe, Jahrgang 1869, S. 564) ein ausführliches Bild des dornenvollen Pfades gegeben, welchen Riedel bis zur glücklichen Ausführung seiner Idee zurücklegen mußte. Noch heute besteht der Verein wesentlich durch Riedel’s Wollen und Können. Ganz im Geiste dieses Kunstinstituts ist die Art, wie nunmehr das Fest seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens begangen werden wird. Mittelpunkt desselben bildet die Aufführung einer bedeutenden bisher noch nicht dargestellten Tonschöpfung, der „Messe in B, für Doppelchor, Solostimmen und Orchester“ des begabten Componisten Albert Becker, zu welcher am 17. Mai die Freunde und Schüler Riedel’s und seines Vereins, darunter manche Koryphäe unseres Musiklebens, aus weiter Ferne als Gäste sich einfinden werden. Das weitere Gedeihen des Vereins unter Riedel steht außer Frage. Möge die Zukunft des verdienstvollen Instituts frei bleiben von jenen mannigfachen Kämpfen und Sorgen, an denen seine Vergangenheit so reich gewesen ist!