Der Prozeß gegen den Leutnant a. D. von Zastrow
Im fernen Norden Berlins, hinter der Kaserne des Garde-Füsilier-Regiments, liegt ein freier Platz, der dem Regiment noch heute als Exerzierplatz dient und im Volksmunde noch jetzt „der Grützmacher“ heißt. In der Nähe dieses Platzes fließt ein kleiner, schmaler Bach.
Am Morgen des 27. Februar 1867 wurde in diesem Bach die Leiche eines fünfzehnjährigen Bäckerlehrlings, namens Corny, gefunden. Der Knabe, der beim Morgengrauen Backwaren zu den Kunden seines Meisters fuhr, war augenscheinlich in gewaltsamer Weise geschändet, alsdann ermordet und in den Bach geworfen worden. Das Gefährt mit den Backwaren stand etwa 20 Schritt weit vom Bach entfernt.
Die Nachricht von diesem furchtbaren Morde verbreitete sich mit Windeseile in Berlin, in ganz Deutschland, ja in der ganzen Kulturwelt und erregte überall eine furchtbare Entrüstung. Für die Entdeckung des Täters wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt. Es wurden mehrere Verdächtige, unter diesen auch Leutnant a. D. von Zastrow, der sich als Kunstmaler bezeichnete und ein für damalige Verhältnisse nicht unerhebliches Vermögen besaß, verhaftet. Die Verhafteten mußten jedoch wegen Mangel an Beweisen sehr bald wieder entlassen werden. Der Täter blieb unentdeckt. König Wilhelm I. ließ sich täglich von dem damaligen Berliner Polizeipräsidenten v. Bernuth Bericht erstatten. Da die emsigen Bemühungen der Polizei erfolglos blieben, fiel der Polizeipräsident beim König in Ungnade; er mußte seine Entlassung einreichen.
Im Januar 1869 wurde am hellichten Tage auf dem Boden eines Hauses am Grünen Weg in der Nähe des Küstriner Bahnhofes ein ganz ähnliches Verbrechen verübt. Der in dem betreffenden Hause wohnende achtjährige Knabe Emil Handtke, der noch kurze Zeit vorher mit anderen Kindern auf der Straße gespielt hatte, war von einem großen Mann auf den Boden geführt, dort mißbraucht und dabei so arg verletzt worden, daß die Aerzte an dem Aufkommen des Kindes zweifelten.
Die Entrüstung über dieses neue Verbrechen war ganz furchtbar. Der Verdacht lenkte sich wiederum auf v. Zastrow. Einmal paßte die Beschreibung jenes Mannes ziemlich genau auf ihn, auch soll er in der Nähe des Küstriner Bahnhofs oftmals gesehen worden sein. Außerdem hatte der Attentäter an der Stätte des Verbrechens seinen Stock stehen lassen. Sowohl v. Zastrows Wirtschafterin als auch ein Drechslermeister, der den Stock einmal repariert hatte, bezeichneten letzteren mit Bestimmtheit als Eigentum des Leutnants a. D. v. Zastrow. Dieser versicherte hoch und teuer seine Unschuld, gab aber schließlich zu, daß der stehengebliebene Stock ihm gehöre, er sei ihm vor längerer Zeit abhanden gekommen. Er könne jedoch unmöglich der Täter sein, denn er sei in der Lage, durch einwandsfreie Zeugen den Nachweis zu führen, daß er am Tage des Verbrechens nachmittags gegen 3 Uhr in einer an der Potsdamer- und Lützowstraßen-Ecke belegenen Konditorei gesessen habe, während das Verbrechen bereits nachmittags 3½ Uhr geschehen sei.
Diese Angaben wurden vollauf bestätigt. Der damalige Kriminalkommissar v. Stutterheim setzte sich an der Potsdamer- und Lützowstraßen-Ecke in eine Droschke erster Klasse (Taxameterdroschken und Autos gab es damals in Berlin noch nicht) und fuhr in schnellstem Trabe nach der Stätte des Verbrechens. Er legte die Tour innerhalb einer halben Stunde zurück. Damit war das Alibi nachgewiesen, zumal doch nicht anzunehmen war, daß v. Zastrow sich mit dem Knaben vorher verabredet hatte.
v. Zastrow wurde trotz des vollständig geführten Alibibeweises wegen Mordversuchs und widernatürlicher Unzucht angeklagt. Die Verhandlung fand im Oktober 1869 vor dem Berliner Stadtschwurgericht statt. Die Erregung des Berliner Publikums war so groß, daß man es nicht wagte, den Angeklagten von der Stadtvogtei, dem damaligen Untersuchungsgefängnis am Molkenmarkt, nach der Klosterstraße zu transportieren. Es wurde deshalb der Verhandlungssaal am Molkenmarkt, in dem die fünfte und siebente Kriminaldeputation abwechselnd Sitzungen abhielten, als Schwurgerichtssaal eingerichtet. Infolgedessen brauchte man den Angeklagten nicht über die Straße zu führen, er konnte von der Stadtvogtei über einen sehr langen Gang, den man „die Kegelbahn“ nannte, nach dem Sitzungssaale gebracht und ebenso wieder zurückgeführt werden.
Obwohl die Verhandlung unter Ausschluß der Oeffentlichkeit, jedoch mit Zulassung der Vertreter der Presse, stattfand, war der Zuhörerraum während der volle vierzehn Tage dauernden Verhandlung von Juristen, Aerzten, Schriftstellern und anderen Herren der Gesellschaft stets Kopf an Kopf gefüllt.
Die Verhandlung war reich an dramatischen Szenen. Der kleine Emil Handtke, der inzwischen wieder genesen war, ein hübscher, aufgeweckter, blondgelockter Knabe, erschien vor dem Schwurgericht als Zeuge. Der Angeklagte mußte sich den Havelock anziehen und den Hut aufsetzen, die er am Tage des Verbrechens getragen hatte. In dieser Bekleidung wurde er dem Knaben gegenübergestellt. Der kleine Handtke erschrak vor dem Anblick des Mannes, er konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, daß v. Zastrow der Attentäter gewesen sei.
Aus Anlaß der Zeitungsberichte meldete sich eines Tages eine alte Frau. Sie brachte ein mit Blut besudeltes, feines, weißes Taschentuch, gezeichnet A. v. Z., mit der Bemerkung, dies Taschentuch habe sie am Morgen des 27. Februar 1867 in der Kesselstraße gefunden. Der Angeklagte leugnete nicht, daß das Taschentuch sein Eigentum sei! Es wurde außerdem festgestellt, daß der Mörder des Bäckerlehrlings Corny auf dem Nachhauseweg die Kesselstraße passiert haben mußte. Trotzdem bestritt der Angeklagte mit aller Entschiedenheit, zu dem Cornyschen Morde in irgendeiner Beziehung zu stehen.
Eines Nachmittags eröffnete der Vorsitzende, Stadtgerichtsdirektor Delius, nach einer längeren Pause die Sitzung mit folgenden Worten: „Angeklagter v. Zastrow, wie ich aus den Akten ersehe, wollten Sie einmal zur katholischen Kirche übertreten?“ Angekl.: „Jawohl, es bedrückte mich damals mein Gewissen.“ – Vorsitzender (ruhig vor sich hinsprechend): „Das war nämlich zu der Zeit, als der Bäckerlehrling Corny ermordet wurde.“ Der Angeklagte sprang so erregt auf, daß die ganze Anklagebank zitterte, und rief mit sichtlicher Entrüstung: „Wer sagt das?“ – Vors.: „Das sage ich. Ich behaupte, Sie wollten zur katholischen Kirche übertreten, weil Ihr Gewissen Sie bedrückte, und zwar gerade zu der Zeit, als der Bäckerlehrling Corny ermordet wurde. Es ist Ihnen bekannt, daß Sie stark im Verdacht standen, diesen Mord begangen zu haben. Sie waren auch deshalb eine Zeitlang verhaftet. Es ist nun, ganz abgesehen davon, daß am Morgen des Mordes ein Ihnen gehörendes, blutiges Taschentuch in der Kesselstraße gefunden wurde, sehr bezeichnend, daß Sie zu der Zeit, als der Bäckerlehrling Corny ermordet wurde, Gewissensbisse empfanden!“ Der Angeklagte wurde bei diesen Worten kreidebleich. Er setzte sich und sprach an diesem Tage kein Wort mehr.
Die Beweise für seine Schuld an dem Attentat des kleinen Handtke waren ziemlich haltlos, zumal v. Zastrow, wie erwähnt, fast überzeugend sein Alibi nachgewiesen hatte. Die Geschworenen bejahten aber trotzdem, wie man später erfuhr, einstimmig die Schuldfragen wegen versuchten Mordes und widernatürlicher Unzucht, begangen an einem achtjährigen Knaben. Die Geschworenen sollen der Ansicht Ausdruck gegeben haben, wenn der Angeklagte in dem Fall Handtke unschuldig sei, so ist er jedenfalls im Fall Corny schuldig. v. Zastrow wurde zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt.
Er wurde in dem in der Lehrterstraße belegenen Berliner Zuchthaus interniert und mit Tütenkleben beschäftigt. Im Februar 1877 ist er an den Folgen von Wassersucht im Zuchthause gestorben.