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Der Pfadfinder im Hochgebirge

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Textdaten
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Autor: R.
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Titel: Der Pfadfinder im Hochgebirge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 135–137
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Pfadfinder im Hochgebirge.

Unter den verschiedenen Racen und Spielarten des Hundegeschlechts erwarb sich keine ein so ungetheiltes Interesse und eine so tiefe Sympathie, wie die Bernhardinerhunde. Das mächtige, starkknochige Thier mit dem intelligenten Kopfe und den frommen, milden Augen muß auch dem geschworenen Hundefeinde Zuneigung einflößen. Unauslöschlich ist aber der Eindruck, den diese Hunde in der Seele des Wanderers zurücklassen, der sie am Schauplatze ihres segensreichen Wirkens, auf dem großen St. Bernhardsberge, kennen lernte. Auf beschwerlichen Saumpfaden kam er hinaufgestiegen, an schwindligen Abgründen vorüber, bei der grausigen Morgue vorbei; immer höher gelangte er hinauf in diese Felseneinöde der Hochgebirgswelt, wo alles organische Leben aufzuhören scheint, unersteigbar schien die Höhe, unerreichbar das gastfreundliche Dach des Hospizes; ein Gefühl der Verlassenheit, der menschlichen Schwäche, wie es so oft auch den Lebensfrohen bei der einsamen Wanderung in den Hochalpen befällt, drückt seine Seele nieder. Siehe da, auf einmal, nach einer raschen Wendung des Weges, liegt das stattliche Kloster vor seinem Blicke und gleichzeitig springt ihm ein halbes Dutzend der riesigen Rüden entgegen, mit lautem, fröhlichem Gebell; sie begrüßen ihn wie einen alten Bekannten, zeigen ihm wedelnd und kläffend den Weg und geleiten ihn bis an die Thür des Hauses.

Aber auch diejenigen, welche den „Mons Jovis“ nie bestiegen, haben schon von den liebenswürdigen Hunden, den eigentlichen Pfadfindern des romantischen Bergpasses, gelesen, ohne welche derselbe während des größten Theils des Jahres ungangbar wäre. Und jeder Gebildete hat schon von Barry sprechen hören, dem berühmtesten dieser eigenthümlichen Geschöpfe, der während zwölf Jahren auf dem Hospize wirkte, als der Liebling der Mönche und als Lebensretter zahreicher Verunglückter. Obschon er vor mehr als fünfzig Jahren als Invalid in’s Thal heruntergesandt wurde, ist er im Hospiz noch immer in treuer Erinnerung. Unter den ausgestopften Thieren des naturhistorischen Museums von Bern ist Barry der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Und wie er durch seine Leistungen im Dienste der Menschheit und seine wunderbare Intelligenz sich auszeichnete, so müssen wir ihn auch als den reinsten Vertreter des Racentypus betrachten und jeden zweifelhaften Bernhardiner nach den Merkmalen beurtheilen, welche er mit Barry gemein hat.

So sehr nun auch die Bernhardinerhunde das Interesse und dem Dank der Menschen beanspruchen dürfen, so ist doch die Kenntniß über Racencharakter, Geschichte und Leistungen derselben noch sehr mangelhaft. Die Kunst und die Romantik haben überflüssigerweise die Thaten der braven Thiere bis in’s Fabelhafte ausgemalt, die Reisehandbücher eine Menge von flagranten Unwahrheiten unter das Publicum gebracht. Selbst was Friedrich von Tschudi in seinem classischen Buche „das Thierleben der Alpenwelt“ über die Bernharderhunde schreibt, enthält verschiedene Unrichtigkeiten. Von Zeit zu Zeit brachten die Zeitungen die Nachricht, die Race im Hochgebirge sei ausgestorben oder am Aussterben. So hieß es im Jahre 1812, daß bei einem furchtbaren Schneesturm sämmtliche Weibchen beim Aufspüren Verunglückter zu Grunde gegangen seien. Tschudi läßt in seinem genannten Buche, dreißig Jahre später, die Race noch bestehen, aber sehr gefährdet sein, da das einzige Weibchen regelmäßig todte Junge werfe. Später las man denn auch, daß die Mönche Neufundländer zum Dienste abgerichtet haben, die sich vortrefflich bewähren. Dagegen brachten fremde Touristen sehr häufig Hunde mit nach Hause, die sie auf dem Gotthard, in Airolo oder im Wallis gekauft hatten und die eine auffallende Aehnlichkeit mit den echten Bernhardinern darboten. Vor etwa zehn Jahren wollte ein Herr Essig in Leonberg (Würtemberg) durch verschiedene Kreuzungen die alte Race erzeugt haben. Ein Paar seiner Leonbergerhunde wurden dem Hospiz geschenkt und sollten die Stammeltern einer neuen Generation werden. Endlich stellte ein Herr Schumacher-Bachler in Holligen bei Bern im Jahre 1867 an der Weltausstellung in Paris Bernhardiner aus, die den einzigen ersten Preis errangen. Eine Urkunde des Priors vom St. Bernhardhospiz erklärte die Thiere, welche die frappanteste Aehnlichkeit mit Barry im Museum zu Bern haben, für echte Hunde der „Race dite du grand St. Bernhard“. Bei den vielen Widersprüchen in diesen Angaben und bei dem naturwissenschaftlichen und reinmenschlichen Interesse, das der Gegenstand verdient, dürften vielleicht ein paar aufklärende actenmäßige Mittheilungen über diese Frage den Lesern der Gartenlaube willkommen sein.

Bekanntlich sind die Bernhardinerhunde keine ursprüngliche Race. Ihre Entstehung reicht vielleicht bis in’s vierzehnte Jahrhundert zurück. Durch was für Kreuzungen sie entstanden ist, kann durch positive Thatsachen oder vorhandene Ueberlieferungen nicht historisch sicher ermittelt werden. Die frommen Augustiner Chorherren führten über diese Angelegenheit nicht Stammregister, wie die Emire über ihre edlen Pferde, und wenn sie es auch gethan hätten – durch wiederholte Feuersbrünste hat das Kloster sein ganzes werthvolles Archiv eingebüßt. Es scheint, daß man ursprünglich im Hospize auf alle großen Hunde Jagd machte, deren man habhaft werden konnte, ohne Rücksicht auf Race, und daß aus der Kreuzung der verschiedenen Thiere im Laufe der Jahrhunderte Barry und Genossen hervorging. Eine weitverbreitete Ansicht nimmt an, daß das Stammelternpaar der Bernhardiner eine dänische Dogge und ein Walliser Schäferhund gewesen sei; die letzteren langhaarigen Thiere sollen ursprünglich aus den Pyrenäen stammen und finden sich weitverbreitet im Canton Wallis. Für diese Annahme spricht nicht nur der ganze Habitus der Barryrace, sondern auch namentlich die Thatsache, daß bei den verschiedenen Meuten noch jetzt von Zeit zu Zeit bald mehr die Eigenschaften des Stammvaters, bald mehr die Eigenschaften der Ahnmutter zu Tage treten, wie das ja immer mit solchen Kreuzungsproducten zu geschehen pflegt. So sind z. B. zum Dienste auf dem Hospize [136] nur Hunde mit kurzer Behaarung zu verwenden (wie sie auch Barry besaß), weil im zottigen Vließ der Schnee sich zu sehr ansammeln und das Thier zu Boden drücken würde. Nun erscheinen aber immer bei einzelnen Jungen solche lange Zottenhaare, die an die Pyrenäenschäferhunde erinnern, und diese Thiere werden, als dienstuntauglich, verkauft oder an Gönner des Hospizes verschenkt. Hieraus ergiebt sich auch die Unrichtigkeit der Behauptung, daß je Neufundländer als Stellvertreter der echten Bernhardiner verwendet worden seien.

Als Racenmerkmale Barry’s und seiner ebenbürtigen Nachkommen im Besitze des Herrn Schumacher fallen vor Allem der große Kopf, der breite Nacken, die bedeutende Dimension des Brustkorbs und die weiten Rippen auf. Es giebt gewiß Hundearten, welche an Höhe der Rückenlinie die Bernhardiner übertreffen, in den obigen Merkmalen aber dürften diese unerreicht sein. Der Kopf hat namentlich bedeutende Dimensionen in der Achse zwischen den Schläfenbeinen, verschmälert sich zierlich nach vorn und endet in eine ungespaltene Nase, die in der Form zwischen der Schnauze des Hühnerhundes und der Nase der dänischen Dogge die Mitte hält. Die Haare des Körpers sind kurz und rauh; unter dieser oberen Schichte zeigt sich aber eine tiefer gelegene, mehr flaumartige, was die Hundekenner die doppelte Behaarung nennen, eine Eigenthümlichkeit, die sich sonst besonders bei den Pelzthieren des hohen Nordens findet. Charakteristisch ist auch der Schweif von Barry; die Haare desselben sind etwas länger als diejenige des Körpers, ohne daß aber die Ruthe zum Federschweif wird. Das Thier trägt den Schweif immer zu Boden gesenkt und nur das untere Drittel erhebt sich geringelt nach oben. Diese eigenthümliche Formation findet man schon bei Jungen von zwei bis drei Monaten. Die Farbe der Thiere ist vorwiegend weiß; am Rücken, an den Flanken, dem Kreuze, auf der Stirn und den Ohren finden sich aber große lohbraune, mit Schwarz gesprenkelte Flecken. Die Hinterfüße sind doppelsporig. Die Weibchen sind auffallend zart und fein gebaut, und ein neun Monate altes Männchen ist bereits weit größer, stärker und kräftiger, als die erwachsene Hündin. Im Charakter sind die Bernhardiner edel, stolz, großmüthig, wie die meisten großen Hunde, auffallend ernst und bedächtig, ihrem Herrn ausschließlich ergeben und gleichgültig für fremde Liebkosungen. Zur Brunstzeit werden sie auf dem Hospiz nicht selten störrisch, bekämpfen und beißen sich gefährlich, und nicht selten büßt der Unterliegende mit dem Leben.

Daß die Bernhardinerrace auf dem Hospiz je ausgestorben sei, beruht auf Täuschung und irrigen Angaben. Selbst wenn die tragische Geschichte vom Tode sämmtlicher Weibchen wahr gewesen wäre, so hätte dies die Fortexistenz der Race nicht in Frage gestellt, da eine Anzahl Hunde in Martigny und Line andere auf dem Hospize des Simplon, das ebenfalls den Augustinern angehört, gehalten werden. Unzweifelhaft ist dagegen, daß die Race auf dem großen Sanct Bernhard einer Degeneration entgegenging, sowohl was die körperlichen, als die geistigen Eigenschaften betraf; die Jahrhunderte lange Vermischung verwandtschaftlichen Blutes konnte nicht ohne nachteilige Folgen sein. Schon lange hatte man auf dem Hospiz keine Thiere von der hübschen Zeichnung Barry’s, sondern entweder ausschließlich weiße oder einfarbig dunkelbraune Thiere, deren Kopf plumper, massiver geworden war. Für ihren Dienst dagegen waren sie vortrefflich brauchbar.

Die sogenannten Leonbergerhunde kennt Referent nicht aus eigener Anschauung: Gewährsmänner, welche Exemplare dieser Hunde gesehen haben, streiten ihnen alle Verwandtschaft mit den Bernhardinern ab. Im günstigsten Falle wären sie Bernhardiner in partibus infidelium, indem das zur Zeit dem Kloster geschenkte Paar sich nicht fortpflanzte, zu Grunde ging und also keine Dienste leistete.

Herr Schumacher, Gutsbesitzer bei Bern, der von jeher ein großer Hundefreund gewesen war, beschäftigte sich schon seit dreizehn Jahren mit der Züchtung von Bernhardinerhunden. Nach dem Grundsatz der Inzucht verfahrend und immer Barry als reinsten Racentypus betrachtend, wählte er zur Fortpflanzung immer solche Individuen, die an Gestalt, Größe und Farbe dem großen Ahnhund am ähnlichsten waren. So gelangte er vor ungefähr zwei Jahren zu Thieren, welche an Reinheit der Race den Hunden auf dem Hospiz weit überlegen waren und wie Doppelgänger des alten Barry aussahen. Ein prächtiges Paar dieser Thiere machte er im Jahre 1866 dem Kloster zum Geschenke und brachte sie selbst in die Priorei von Martigny, im Kanton Wallis, wo die ältern Conventualen des Hospizes sich aufzuhalten pflegen. Der älteste der frommen Väter, der Barry noch gekannt und verpflegt hatte, wurde beim Anblick der neuen Ankömmlings zu Thränen gerührt. „Mein Gott, das ist ja der alte Barry!“ rief er aus und freute sich, daß der alte verloren gegangene Typus wieder gefunden war. Das Männchen jenes Paares, gleichfalls Barry genannt, wurde, als es fünf Viertel Jahre alt geworden war, zum Dienste auf dem Hospize verwandt, entwickelte ausgezeichnete Eigenschaften und galt nun als der beste Hund des Klosters. Die Thiere haben sich seither vermehrt und die Jungen sollen allen Anforderungen entsprechen. Damit ist die herrliche Race wieder in ein neues Stadium getreten, durch frisches Blut verjüngt und ihre Zukunft ist gesichert. Bei der letztjährigen großen Ausstellung in Paris hatte Herr Schumacher ein Paar seither gezüchteter Bernhardiner ausgestellt und erhielt für dieselben den ersten Preis. Trotz der seltenen Schönheit dieser Thiere wäre ihnen vielleicht diese Auszeichnung nicht zu Theil geworden, hätte nicht ein Document des hochw. Herrn I. G. Rochernaire, Priors auf dem Hospiz des großen St. Bernhardsberges, die Reinheit der Race derselben bezeugt. Seitdem hat sich die allgemeine Aufmerksamkeit diesen Bernhardinern des Herrn Schumacher zugewandt und eine Menge von Abkömmlingen seiner Zucht ist nach England, Frankreich und selbst nach andern Welttheilen verkauft worden.

Die Thätigkeit der Bernhardinerhunde auf dem Hospize, beschränkt sich während der drei bis vier Sommermonate auf den Empfang und die Begrüßung der Fremden. In den acht bis neun Wintermonaten dagegen fängt ihre Bedeutung als Pfadfinder und Menschenerretter an; sie müssen dann täglich wenigstens zwei Mal den Weg vom Hospiz gegen Martigny und auf der italienischen Seite gegen Aosta zurücklegen, bis man zu menschlichen Wohnungen gelangt. Ihre Aufgabe ist, kleinen Karawanen als Führer zu dienen, Verirrte auf den rechten Weg zu bringen, Verunglückten beizuspringen und von Lawinen Verschüttete aufzuspüren. Für diese Dienstleistungen ist ihre Hülfe geradezu unentbehrlich. Von gebahnten Wegen ist in jenen Einöden, wo der Schnee oft eine Höhe von vierzig Fuß erreicht, natürlich keine Rede, und selbst die Conventualen und die Knechte des Klosters würden trotz der genauesten Terrainkenntniß bei Nebel und Sturm sich ohne den nie fehlenden Spürsinn dieser Thiere nicht zurecht finden.

Die in allen Reisehandbüchern stehende Angabe, daß die Hunde gewöhnlich ohne menschliche Begleitung auf ihre Streifereien ausgehen, ist unrichtig; stets wird ihnen wenigstens ein Knecht mitgegeben. Bei außerordentlichen Anlässen, Nebel, Ungewitter, Schneestürmen und dergleichen, macht sich aber fast die ganze Einwohnerschaft des Klosters mit den Hunden auf den Weg, mit Tragbahren, Stärkungsmitteln und allen Erfordernissen für Unglücksfälle ausgerüstet.

Nie werden weniger als zwei Hunde, und zwar ein älterer, wohlabgerichteter, mit einem jüngeren, auf die Streiferei ausgesandt; der ältere ist dann gleichsam der Lehrer und Mentor des jüngeren, und der letztere wird in Folge dieser gemeinschaftlichen Ausflüge zur Dressur geeigneter. Die Anordnung hat aber auch den Zweck, damit der eine Hund, wenn dem andern und seinem menschlichen Begleiter ein Unglück zustoßen sollte, Hülfe herbeirufen kann. Das schöne Werk der Menschenliebe, dem sich die frommen Mönche des heiligen Bernhard auf dem Mons Jovis hingeben, ist nämlich mit großen Gefahren verbunden. Viele erliegen den Beschwerden des anstrengenden Berufes und des rauhen Klimas, und mehr als einer dieser Edeln hat unter Lawinen und im Schnee des Hochgebirgs ein frühes Grab gefunden.

Zu den gewöhnlichen Patrouillen werden nur männliche Hunde genommen; ihr weit kräftigerer Körperbau macht sie dazu geeigneter. Die Weibchen haben nebst der feineren Organisation auch noch den Fehler weiblicher Neugierde. Jeder schwarze Fleck seitwärts vom Pfade muß untersucht und berochen werden und verleitet sie zu zeitraubenden Zickzackwanderungen, während die Männchen, von solchen Schwachheiten unangefochten, ruhig den geraden Weg der Pflicht gehen. Gerade diese Neugierde macht hinwiederum die Weibchen für solche Fälle zu werthvollen Spürern, wo ein Unglück geschehen ist und wo es sich darum handelt, die Opfer rasch aufzufinden.

[137] Wenn man mit Recht von Tausenden spricht, welche den herrlichen Thieren ihr Leben zu verdanken haben, so ist das nicht so zu verstehen, als ob durch ihre Vermittlung schon so Viele unter Lawinen hervorgegraben worden wären. Sie finden aber Verirrte auf, die halberstarrt am Wege liegen oder, am Weiterkommen verzweifelnd, unter Schutzdächern oder Felsenvorsprüngen sich zum letzten Schlaf ausstrecken; sie belecken und erwärmen die Halberstarrten, muntern sie durch freudiges Bellen zum Weitersteigen auf und rufen Hülfe herbei, wo ihr Beistand nicht ausreicht. Die tiefen Fährten, welche sie im Schnee zurücklassen, haben schon Manchen, wie die weißen Kieselsteine im deutschen Märchen, den Weg zu den gastlichen Räumen des Klosters gewiesen. Auch ihr beständiges lautes Bellen bei diesen Streifzügen hat schon viele Verirrte aus Todesnoth gerettet. Wenn man den Eifer sieht, mit welchem die herrlichen Thiere diese Wanderungen antreten, die ungestümen Sprünge, mit denen sie zum Kloster hinstürmen, wenn sie Hülfe herbeiholen müssen, und den Triumph, mit welchem sie die Geretteten in’s Hospiz geleiten und die Liebkosungen für ihre Leistung entgegennehmen, so muß man mit Unwillen die Theorie derjenigen zurückweisen, die für das Handeln der Thiere nur die gemeinsame Triebfeder des Instinctes annehmen. Nie ist eine geistlosere und albernere Hypothese in der Geschichte der Naturwissenschaften aufgestellt worden, als die Theorie des Instinctes. Wer möchte bei dem, was Tschudi in seinem „Thierleben der Alpenwelt“ über Barry sagt, noch von Instinct sprechen?

„Das unermüdlich thätige und treue Thier rettete mehr als vierzig Menschen das Leben,“ heißt es darin. „Sein Eifer war außerordentlich. Kündigte sich auch nur von ferne Schneegestöber oder Nebel an, so hielt ihn nichts mehr im Kloster zurück. Rastlos suchend und bellend durchforschte er immer von Neuem die gefahrvollsten Gegenden. Seine liebenswürdigste That während des zwölfjährigen Dienstes auf dem Hospiz war folgende: Er fand einst in einer eisigen Grotte ein halberstarrtes, verirrtes Kind, das schon dem zum Tode führenden Schlafe unterlegen war. Sogleich leckte und wärmte er es mit der Zunge, bis es aufwachte; dann wußte er es durch Liebkosung zu bewegen, daß es sich auf seinen Rücken setzte und an seinem Halse sich festhielt. So kam er mit seiner Bürde triumphirend in’s Kloster.“

Das Convict auf dem Sanct Bernhard hat in der Regel zehn bis zwölf Hunde, nie so viele, wie man eigentlich bedürfte. Thiere mit langen Haaren oder solche, die sonst Fehler darbieten, werden verschenkt oder verkauft.

Die Luft auf dem großen Sanct Bernhard ist ungewöhnlich rauh; das Thermometer steigt im Hochsommer nie über sechszehn Grad Réaumur und fällt im Winter bis auf siebenundzwanzig Grad R. unter Null. Vollkommen klare, nebelfreie Tage giebt es höchstens fünfzehn im Jahre. Immer sind die Nächte rauh, so daß der hinter dem Hospiz, der italienischen Seite zu, gelegene kleine Alpensee in manchen Jahren nie aufthaut. Die mittlere Temperatur stimmt nach sorgfältigen meteorologischen Beobachtungen mit derjenigen von der Südspitze von Spitzbergen überein.

Es ist bei diesen Verhältnissen klar, daß nur wenige Thiere in dieser rauhen Bergeshöhe sich akklimatisiren, und man versteht die Liebe und ängstliche Sorgfalt, welche die Conventualen auf die Zucht und Erhaltung der braven, wunderbar begabten Thiere verwenden, der eigentlichen Pfadfinder des Urgebirgs.

R.